Die Blinde
Viertes Kapitel - Die Brüder treffen sich
Ein schwacher Schrei drang vom anderen Ende des Zimmers an mein Ohr und erinnerte mich, daß der Pfarrer und seine Frau noch immer zugegen waren. Die schwache Frau Finch lag in ihren Stuhl zurückgelehnt und weinte und winselte über das Vorgefallene. Ihr Gatte hatte das Baby auf dem Arm und war bemüht, sie zu beruhigen. Ich hätte vielleicht meine Hilfe anbieten sollen, aber ich gestehe, daß der Zustand der armen Frau Finch nur einen sehr vorübergehenden Eindruck auf mich machte. Mein ganzes Herz war von Theilnahme für Oscar erfüllt. Ich vergaß den Pfarrer und seine Frau und kehrte zu Oscar zurück.
Dieses Mal rührte er sich, er erhob den Kopf, als er meiner ansichtig wurde. Nie werde ich das stumme Elend dieses Gesichts, das dumpfe schreckliche Starken dieser thränenlosen Augen vergessen.
Ich ergriff seine Hand, ich empfand für den armen entstellten, verstoßenen Menschen, wie nur seine Mutter für ihn hätte empfinden können, ich gab ihm einen mütterlichen Kuß. »Trösten Sie sich, Oscar«, sagte ich, »verlassen Sie sich auf mich, daß ich die Sache wieder in Ordnung bringe. «
Zitternd athmete er schwer auf und dankte mir mit einem Händedruck. Ich versuchte es wieder, mit ihm zu reden, er hielt mich zurück, indem er plötzlich wieder nach der Thür blickte.
»Ist Nugent draußen?« fragte er flüsternd.
Ich ging auf den Corridor hinaus, er war leer. Ich sah in Lucilla‘s Zimmer nach. Da waren nur Lucilla, Herr Grosse und Zillah. Ich winkte Zillah, herauszukommen, um mit ihr zu reden. Ich fragte nach Nugent. Er hatte Lucilla plötzlich an der Thür ihres Schlafzimmers verlassen und war fortgegangen. Ich fragte, ob sie wisse, wohin er gegangen sei. Zillah hatte ihn auf dem Felde am Ende des Gartens rasch nach der Richtung der Hügel zugehen sehen.
»Nugent ist fort!« sagte ich zu Oscar, als ich wieder zu ihm zurückgekehrt.
»Machen Sie das Maß Ihrer Güte für mich voll«, antwortete er. »Lassen Sie mich auch fortgehen.«
Mich durchfuhr die Besorgniß, daß er seinem Bruder möchte folgen wollen.
»Warten Sie ein wenig«, sagte ich, »und beruhigen Sie sich erst.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich muß allein sein«, sagte er und fragte dann, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte: »Ist Nugent nach Browndown gegangen?«
»Nein, Nugent ist nach den Hügeln zugegangen.«
Er ergriff wieder meine Hand. »Haben Sie Erbarmen mit mir«, sagte er, »lassen Sie mich gehen.«
»Nach Hause? Nach Browndown?«
»Ja.«
»Lassen Sie mich mit Ihnen gehen.
Er schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie mir; Sie sollen noch heute wieder von mir hören.«
Er vergoß keine Thräne; da war nichts von jener leidenschaftlichen Aufwallung, die ich so gut an ihm kannte. In seinem Gesicht, in seiner Stimme, in seinem Wesen drückte sich nichts aus, als eine jammervoll anzusehende Fassung, die Fassung der Verzweiflung.
»Lassen Sie mich Sie wenigstens bis an die Pforte begleiten«, sagte ich.
»Gott segne Sie und vergelte Ihnen Ihre Güte«, antwortete er, »aber — lassen Sie mich geben.«
So trennte er sich von mir mit sanften Worten und doch mit einer Festigkeit, die mich im höchsten Grade überraschte — und ging fort. Ich vermochte mich nicht länger aufrecht zu erhalten, zitternd sank ich in einen Stuhl. Ich konnte mich der Ueberzeugung nicht erwehren, daß noch schlimmere Verwickelungen, noch furchtbareres Unheil in Aussicht stehe. Ich war ganz außer mir und brach leidenschaftlich in wilde französische Verwünschungen aus. Frau Finch brachte mich wieder zur Besinnung. Sie erschien mir wie in einem Traum, wie sie ihre Thränen trocknete und mich besorgt ansah. Der Pfarrer näherte sich mir mit einer Fülle von Betheuerungen der Sympathie und Beistandsanerbietungen. Ich bedurfte keines Trostes, ich hatte eine harte Schule des Lebens durchgemacht, hatte mich zeitig zum Ertragen von Ungemach geschickt gemacht.
»Ich danke Ihnen, Herr Finch«, sagte ich, »sorgen Sie nur für Frau Finch.«
Auf dem Corridor war die Luft frischer. Ich ging wieder hinaus, um mich draußen zu er holen.
Ein kleiner, auf einer der Fensterbänke liegender Gegenstand zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war Jicks, die da kauerte.
Das Kind mußte instinktmäßig gefühlt haben, daß etwas nicht in Ordnung sei. Sie blickte hinter ihrer Puppe hervor verstohlen nach mir auf; sie war offenbar gegen meine Absichten in Betreff ihrer sehr mißtrauisch.
»Willst Du Jicks schlagen?« fragte das sonderbare kleine Geschöpf, indem es sich noch weiter in die Ecke drängte. Ich setzte mich zu ihr und hatte bald ihr Vertrauen wieder gewonnen. Sie fing wieder an so rasch wie gewöhnlich zu schwatzen. Ich hörte ihr zu, wie ich keiner erwachsenen Person in jenem Augenblicke zugehört haben würde. Die Gesellschaft des Kindes gewährte mir in einer mir selbst unerklärlichem geheimnisvollen Weise Trost. Allmählig erfuhr ich, was sie von mir gewollt hatte, als sie es versuchte, mich zum Zimmer hinauszuziehen. Sie hatte Alles, was im Schlafzimmer vorgegangen war, mit angesehen, und war zu mir gelaufen, um mich zu holen und mir den wunderbaren Anblick Lucilla‘s mit ihren von der Binde befreiten Augen zu zeigen. Wenn ich klug genug gewesen wäre, auf Jicks zu hören, so hätte ich vielleicht der Katastrophe vorbeugen können. Ich wäre vielleicht Lucilla auf dem Corridor begegnet und hätte sie in ihr Zimmer zurückbringen und sie dort einschließen können.
Jetzt war es zu spät, das Geschehene zu beklagen.
»Jick‘s ist gut gewesen«, sagte ich, indem ich meiner kleinen Freundin mit schwerem Herzen den Kopf streichelte. Das Kind horchte auf, versank einen Augenblick in tiefes Nachdenken, stieg dann von der Fensterbank hinunter und verlangte ihren Lohn für ihr gutes Betragen mit der ihr eigenen merkwürdigen Kürze des Ausdrucks. »Jicks will ausgehen.«
Mit diesen Worten nahm sie ihre Puppe über die Schulter und ging von dannen. Ich sah nach, wie sie die Treppe wie ein von der Leiter herabsteigender Arbeiter hinunterstieg, um in den Garten zu gehen und dann vom Garten aus, bei der ersten Gelegenheit, wo die Pforte geöffnet wurde, nach den Hügeln zu lief. Wenn ich mit so leichtem Herzen wie Jicks hätte ausgehen können, ich würde mich ihr angeschlossen haben.
Kaum hatte ich das Kind aus dem Gesicht verloren, als sich die Thür von Lucilla’s Zimmer öffnete und Herr Grosse auf dem Corridor erschien.
»So«, murmelte er mit einer Geberde, die seine Befriedigung auszudrücken schien.
»Sie suche ich gerade; eine schöne Suppe haben wir uns eingebrockt! Ich muß bei der kleinen Person bleiben, ich werde sie am Ende noch wahrhaft hassen! — Können Sie mir für diese Nacht ein Bett geben?«
Ich versicherte ihm, daß wir ihn bequem für die Nacht wurden beherbergen können. Auf meine Frage nach Lucill‘is Zustand, gestand er mir, daß er ihretwegen in ernster Sorge sei. Die verschiedenen heftigen Aufregungen, die sie eben durchgemacht, könnten so erschütternd auf ihr Nervensystem wirken, daß eine Gefährdung ihres wiedergewonnenen Augenlichts davon zu befürchten sei. Absolute Ruhe sei jetzt unerläßlich, darauf beruhe die einzige Hoffnung für sie. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden müsse er ihre Augen genau beobachten. Nach Verlauf dieser Zeit, aber nicht eher, werde er vielleicht zu sagen im Stande sein, ob das geschehene Unheil für ihre Augen verhängnißvoll sein werde oder nicht. Ich fragte ihn, wie sie es angefangen habe, sich die Binde abzunehmen und auf so verhängnißvolle Weise in das Wohnzimmer einzudringen.
Er zuckte die Achseln. »Jedes Weib ist gelegentlich unwiderstehlich«, sagte er cynisch, »und dann werden wir, die Männer, zu Narren. So war es eben bei Lucilla.«
Aus seinen weiteren Mittheilungen ergab sich, daß meine arme Lucilla, nachdem die Amme das Zimmer verlassen hatte, Grosse so dringend gebeten hatte, ihr zu gestatten, ihre Augen zu versuchen, und so fassungslos unglücklich war, als er ihr diese Erlaubniß beharrlich verweigerte, daß er endlich nachgegeben hatte, nicht so sehr ihren Bitten, als der Ueberzeugung, daß es weniger gefährlich sei, ihr zu willfahren, als sich ihr zu widersetzen. Anfänglich hatte er es jedoch zur Bedingung gemacht, daß sie im Schlafzimmer bleiben und sich einstweilen damit begnügen solle, ihre Augen an den im Zimmer befindlichen Gegenständen zu versuchen. Sie hatte Alles versprochen und er war thöricht genug gewesen, ihrem Versprechen zu trauen. Kaum aber hatte er ihr die Binde abgenommen, als sie, taub gegen alles vernünftige Zureden, sich seinen Händen wie eine Wahnsinnige entrang, und noch ehe er sie zurückhalten konnte, in das Wohnzimmer stürzte. Das Weitere ergab sich dann ganz von selbst. So schwach sich auch ihre Sehkraft noch bei dem ersten Versuch zeigte, so war dieselbe doch bereits hinlänglich wieder hergestellt, um sie in den Stand zu setzen Gegenstände, wenn auch unklar, voneinander zu unterscheiden. Von den drei Personen die sich ihr bei ihrem Eintritt in die Thür an der rechten Seite derselben präsentirten war die eine Frau Finch, eine Frau, die zweite Herr Finch, ein kleiner ältlicher Mann mit grauem Haar, die dritte endlich Nugent, in seiner Größe, welche sie erkennen konnte, und mit seiner Hautfarbe, welche sie gleichfalls erkennen konnte, der einzige von den Dreien der möglicherweise Oscar sein konnte. Die darauf folgende Katastrophe war nach Lage der Sache unvermeidlich. Jetzt wo das Unheil einmal angerichtet war, blieb nichts übrig, als einem weiteren Umsichgreifen dieses Unheils womöglich vorzubeugen. Nicht die leiseste Andeutung ihres schrecklichen Mißverständnissen erklärte Grosse, dürfe ihr zu Ohren kommen. Wenn einer von uns ihr ein Wort davon sage, bevor er uns dazu autorisirt habe, so würde er seine Verantwortung für die Folgen ablehnen, und die Behandlung des Falles auf der Stelle aufgeben.
In dieser Weise erklärte mir Herr Grosse das Vorgefallene und gab s eine Ordres für unser künftiges Benehmen.
Niemand darf zu ihr hinein«, schloß er, »als Sie und die gute Zillah Sie müssen abwechselnd bei ihr Wache halten. Sie wird jetzt ein wenig schlafen; ich gehe in den Garten meine Pfeife zu rauchen. Glauben Sie mir, Madame Pratolungo, als Gott die Weiber erschaffen hatte, that es ihm nachher Leid für die armen Männer, und er ließ den Tabak wachsen, um sie zu trösten.«
Nachdem er mir noch diese eigenthümliche Ansicht von dem Plan der Schöpfung mitgetheilt hatte, schüttelte Herr Grosse seinen Krauskopf und wackelte in den Garten.
Leise öffnete ich die Thür des Schlafzimmers und ging hinein, gerade zur rechten Zeit, um dem Pfarrer und seiner Frau, die sich nach dem von ihnen bewohnten Theil des Hauses zurück begaben zu entgehen.
Lucilla lag auf dem Sopha. Mit einer schläfrigen Stimme fragte sie, wer da sei; sie war glücklicherweise eben im Begriff, zu entschlummern. Zillah saß auf einem Stuhl neben ihr. Für den Augenblick war ich nicht nöthig, und zum ersten Mal, seit ich in Dimchurch lebte, war ich froh, wieder zum Zimmer hinaus zu kommen. Ein mir selbst unerklärlicher, sonderbarer Widerspruch in meinem Charakter bewirkte, daß meine Sympathie für Oscar mich gewissermaßen feindselig gegen Lucilla stimmte und mich ihr für den Augenblick entfremdete. Es war nicht ihre Schuld, und doch, ich schäme mich, es zu gestehen war ich fast böse auf sie, daß sie so behaglich ruhen konnte, wenn ich an den armen Menschen dachte, der nun allein in Browndown war, und keinen Menschen hatte, der ihm mit einem freundlichen Worte zusprach.
Als ich wieder auf den Corridor hinaustrat, fragte ich mich, was ich thun solle.
Meine Einsamkeit im Hause war mir unerträglich, meine ängstliche Besorgniß um Oscar bedrückte mich, bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich setzte meinem Hut auf und ging aus.
Da ich kein Verlangen darnach trug, Herrn Grosse in seinem Genuß des Tabakrauchens zu stören, ging ich so rasch wie möglich durch den Garten und war alsbald wieder im Dorfe. Hand in Hand mit meiner ängstlichen Besorgniß für Oscar ging mein erbostes Verlangen zu erfahren was Nugent thun würde. Die Frage war, ob er jetzt, nachdem er gerade das Unheil angerichtet, welches sein Bruder als möglich vorausgesehen hatte, das Unheil, das abzuwenden Oscar ihn gebeten hatte, Dimchurch verlassen — ob er, sage ich, jetzt abreisen und uns ein- für allemal von seinem Anblick befreien würde. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit des Gegentheils, ich meine an die Möglichkeit, daß er bei uns bleiben könnte erfüllte mich mit einer so unaussprechlichen Angst vor dem was daraus entstehen könnte, daß meine Füße mir den Dienst versagten. Ich mußte mich gerade am Ende des Dorfes am Wege niedersetzen und warten, bis mein schwindelnder Kopf sich wieder beruhigt hatte, bevor ich es wagen durfte, weiter zu gehen.
Nach einer Weile hörte ich Fußtritte auf dem Wege herankommen. Mein Herz pochte gewaltig, ich glaubte es sei Nugent.
Im nächsten Augenblick konnte ich die Person erkennen. Es war nur Herr Gootheridge, der Besitzer des Wirthshauses im Dorf, der nach Hause zurückkehrte. Er stand still und zog seinen Hut.
»Sind Sie müde, Madame?« fragte er.
So elend ich mich fühlte, war ich doch so erfüllt von dem einen Gedanken daß ich demselben auch sofort dem Wirth gegenüber in der Frage Ausdruck geben mußte:
»Haben Sie vielleicht etwas von Herrn Nugent Dubourg gesehen?«
»Es sind noch keine fünf Minuten her, daß ich ihn gesehen habe, Madame.«
»Wo das?«
»Auf dem Wege nach Browndown.«
Ich fuhr zusammen, als hatte mich ein Schlag getroffen. Der würdige Herr Gootheridge sah mich verwundert an. Ich sagte ihm Adieu und ging so rasch mich meine Fuße tragen konnten geradenwegs nach Browndown. Hatten sich die Brüder im Hause getroffen? Bei dem bloßen Gedanken Überrieselte mich eiskalt, aber ich ging weiter. Der feste Entschluß, sie zu trennen, ersetzte bei mir den Muth; so sonderbar es klingen mag, ich war gleichzeitig kühn und furchtsam. In einem Augenblick war ich thöricht genug, zu denken: »Sie werden mich umbringen.« Im nächsten Augenblick tröstete ich mich ebenso thöricht damit, daß ich mir sagte: »Bah! sie sind ja Gentlemen, sie werden einer Frau nichts zu Leide thun!«
Der Diener stand müssig vor der Thür, als ich mich dem Hause näherte. Das war schon an und für sich etwas Ungewöhnliches. Er war ein sehr ordentlicher, an fleißige Arbeit gewöhnter Mensch. Sonst sah man ihn nie müssig vor der Thür stehen. Er kam mir einige Schritte entgegen. Ich sah ihm scharf ins Gesicht. Aber nicht das leiseste Anzeichen von Aufregung war in seinem Gesichte wahrzunehmen.
»Ist Herr Oscar zu Hause?« fragte ich.
»Bitte um Vergebung, gnädige Frau, Herr Osscar ist zu Hause, aber Sie können ihn nicht sprechen.
Herr Nugent ist bei ihm.«
Ich stützte meine Hand auf die niedrige Gartenmauer und machte einen verzweifelten Versuch, ruhig auszusehen.
»Herr Oscar wird mich gewiß sprechen wollen«, sagte ich.
»Ich habe die strengste Ordre von Herrn Oscar, gnädige Frau, mich hier vor der Thür aufzuhalten und Allen, die ihn sprechen wollen, ohne Ausnahme zu erklären, er sei beschäftigt.«
Die Hausthür war halb geöffnet. Ich horchte scharf auf, während der Diener mit mir sprach. Wenn sie in einem lauten Wortwechsel begriffen gewesen wären, so hätte ich es bei der tiefen rund umher herrschenden Stille hören müssen. Ich hörte aber Nichts.
Es war sonderbar, unbegreiflich, beruhigte mich aber doch. Da waren sie bei einander, ohne daß es bis jetzt zu etwas Schlimmen geführt hätte.
Ich gab dem Diener meine Karte und ging eine kleine Strecke um die Ecke der Gartenmauer. Sobald der Diener mich nicht mehr sehen konnte, kehrte ich wieder an die Seite des Hauses zurück und wagte mich soweit ich konnte an das Fenster des Wohnzimmers vor. Ich hörte ihre Stimmen, aber nicht was sie sagten. Beide sprachen leise und in vertraulichem Ton.Ich mochte horchen so scharf ich wollte, kein zorniger Laut war zu hören. Ich ging, außer mir vor Erstaunen und, so rasch wechseln bei uns Frauen die Emotionen, vor Neugierde brennend, wieder von dannen.
Nachdem ich eine halbe Stunde zwecklos im Thal umher gewandert war, kehrte ich nach dem Pfarrhause zurück.
Lucilla schlief noch. Ich nahm ZilIah’s Platz ein und schickte sie in die Küche.
Hier war die Wirthin aus dem Gasthof, um uns bei der Bereitung des Mittagessens zu helfen. Aber allein war sie kaum im Stande, die Bereitung der Gerichte zu bewältigen, die wir Herrn Grosse vorsetzen mußten. Es war hohe Zeit, daß ich Zillah ablöste, wenn wir das Gottesgericht der Kritik unseres Grosse über alle Saucen glücklich bestehen wollten.
Es verging noch eine Stunde, bevor Lucilla aufwachte. Ich schickte einen Boten an Grosse ab; er erschien in eine Tabakswolke gehüllt, untersuchte die Augen Lucilla‘s, fühlte ihr den Puls, beorderte Wein und Gelee für sie, stopfte eine ungeheure Pfeife und kehrte verdrießlich zu seiner Gartenpromenade zurück.
Eine Stunde nach der anderen verging Herr Finch erschien, um sich nach LucilIa’s Befinden zu erkundigen und kehrte dann wieder zn seiner Frau zurück, die sich, wie er sagte, in einem Zustand, »hysterischer Unverantwortlichkeit« befinde und eines zweiten warmen Bades dringend bedürfe. Er lehnte es in seiner pathetischsten Weise ab, mit dem deutschen Arzte zu Mittag zu essen.
»Nachdem was ich gelitten, nach dem was ich gesehen habe, sind diese Gelage, ich möchte sagen, diese Veranstaltungen zum Kitzeln des Gaumens, nicht nach meinem Geschmack. Sie meinen es gut, Madame Pratolungo; Sie, gute Seele! Aber ich bin nicht zu festlichen Schmaußereien aufgelegt. Was mir zugesagt, ist ein einfaches Mahl am Lager meiner Frau, wo ich in meiner Eigenschaft als Selenhirt und Gatte einige Worte des Trostes spende, wenn das Kind ruhig ist. So werde ich meinen Tag zubringen. Leben Sie wohl. Ich habe nichts gegen Ihr kleines Diner. Leben Sie wohl, leben Sie wohl!«
Nach einer zweiten Untersuchung von Lucilla’s Augen war die Stunde des Mittagessens gekommen.«
Beim Anblick des gedeckten Tisches fand Grosse seine gute Laune wieder. Wir Beiden aßen allein zu Mittag; Grosse schickte nach eigener Auswahl Verschiedenes von den Gerichten auf Lucilla‘s Zimmer. Bis jetzt, meinte er, habe sie an ihren Augen noch keinen ernsten Schaden genommen, aber er bestand noch immer darauf, daß sie sich völlig ruhig halte und erklärte, für nichts einstehen zu können, bis die Nacht vorüber sei. Auf meiner Stimmung lastete Oscar’s anhaltendes Schweigen immer drückender. Die Stunden banger Ungewißheit, die ich mit Lucilla im dunkeln Zimmer verbracht hatte, erschienen mir leicht im Vergleich mit der angstvollen Sorge, die ich jetzt empfand. Ich sah, wie Grosses Augen mich durch seine Brillengläser hindurch unzufrieden anglotzten. Er hatte alle Ursache, mich so anzusehen, noch nie in meinem Leben war ich so dumm und so langweilig gewesen.
Gegen Ende des Mittagessens kamen endlich Nachrichten von Browndown.
Der Diener ließ mich durch Zillah bitten, einen Augenblick hinauszukommen. Ich entschuldigte mich bei meinem Gast und eilte hinaus.
Bei dem Anblick des Dieners sank mir das Herz. Oscar’s Güte hatte bei diesem Diener eine wahre Anhänglichkeit an seinen Herrn bewirkt. Seine Lippen zitterten und er wechselte die Farbe, als ich ihn ansah.
»Ich bringe Ihnen einen Brief, gnädige Frau.« Mit diesen Worten übergab er mir einen von Oscar‘s Hand an mich adressierten Brief.
»Wie geht es Ihrem Herrn?«
»Es ging ihm nicht zum Besten, gnädige Frau, als ich ihn zuletzt sah.«
»Als sie ihn zuletzt sahen?«
»Ich bringe schlimme Nachrichten, gnädige Frau Browndowu wird geschlossen.«
»Was wollen Sie damit sagen? Wo ist Herr Oscar?«
»Herr Oscar hat Dimchurch verlassen.«
Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte