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Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

XII.

Mein erster Impuls, nachdem ich Mrs. Catherick’s sonderbaren Brief gelesen, war der, ihn zu vernichten. Die harte, schamlose Verderbtheit des ganzen Schreibens, von Anfang bis zu Ende – der abscheuliche Eigensinn, mit dem sie darauf bestand, mich mit einem Unglücke in Verbindung zu bringen, für das ich in keiner Weise verantwortlich war, und mit einem Todesfalle, den zu verhüten ich mein Leben gewagt hatte – widerten mich in dem Grade an, daß ich im Begriffe war, den Brief zu zerreißen, als mir eine Betrachtung einfiel, die mich bewog, lieber noch ein wenig mit seiner Vernichtung zu warten.

Diese Berücksichtigung hatte durchaus gar Nichts mit Sir Percival zu thun. Die mir gemachten Mittheilungen über ihn enthielten wenig mehr als die Bestätigung meiner eigenen Vermuthungen.

Er hatte das Verbrechen begangen, wie ich es erwartet hatte, und der Umstand, daß Mrs. Catherick in keiner Weise der Abschrift des Kirchenregisters, welche in Knowlesbury bewahrt wurde, Erwähnung that, bestärkte mich in meiner vorher gefaßten Ueberzeugung, daß Sir Percival nothwendigerweise Nichts von dem Dasein derselben und somit von den Folgen, die dasselbe für ihn haben mußte, gewußt haben konnte. Mein Interesse an der Fälschung war jetzt zu Ende; und mein einziger Zweck, indem ich den Brief aufbewahrte, war, ihn für die Zukunft zu benutzen, um das einzige noch für mich übrige Geheimniß aufzuklären, nämlich wer eigentlich Anna Catherick’s Vater gewesen. Ihre Mutter hatte in ihrem Briefe ein paar Bemerkungen fallen lassen, die mir hierin dienlich sein konnten, sobald Sachen von unmittelbarer Wichtigkeit mir Muße ließen, mich damit zu beschäftigen. Ich verzweifelte nicht daran, mir Gewißheit über diesen Punkt verschaffen zu können; ich hatte Nichts von meinem Interesse verloren, zu ermitteln, wer der Vater des armen Wesens sei, das jetzt in Mrs. Fairlie’s Grabe zur Ruhe gelegt war.

Demzufolge versiegelte ich den Brief und legte ihn in mein Taschenbuch, um ihn zur Hand zu haben, sobald die Zeit gekommen sein würde, die Sache wieder aufzunehmen.

Der folgende Tag war mein letzter in Hampshire. Sobald ich abermals vor der Behörde zu Knowlesbury und bei der vertagten Untersuchung erschienen, konnte, ich frei sein, um mit dem Nachmittag- oder Abendzuge nach London zurückzukehren.

Mein erster Gang des nächsten Morgens war, wie gewöhnlich, nach der Post. Der Brief von Marianne war dort, aber mir schien, als man ihn mir in die Hand gab, daß er sich ungewöhnlich leicht anfühlte. Ich öffnete das Couvert voll Besorgniß. Es lag Nichts als ein kleiner, einmal zusammengelegter Papierstreifen darin. Die wenigen eiliggeschriebenen, halbverwischten Zeilen, die derselbe enthielt, waren folgende:

»Komm zurück, so schnell Du kannst. Ich bin genöthigt gewesen, unsere Wohnung zu verlassen. Komm nach Gowers Walk, Fulham (Numero fünf). Ich werde Dich erwarten. Beunruhige Dich nicht um uns: wir sind Beide wohl und in Sicherheit. Aber komm zurück.

Marianne.«

Die Nachricht – eine Nachricht, die ich sofort mit einem Versuche neuer Anschläge von Seiten Graf Fosco’s in Verbindung brachte – überwältigte mich förmlich. Ich stand athemlos mit dem zerknitterten Papiere in der Hand da. Was hatte sich zugetragen? Welche schlaue Schändlichkeit hatte der Graf in meiner Abwesenheit entworfen und ausgeführt? Seit Mariannens Brief geschrieben, war eine Nacht vergangen – es mußten noch viele Stunden vergehen, ehe ich zu ihnen zurückkehren konnte – es konnte sich bereits inzwischen ein Unglück ereignet haben. Und hier, so viele Meilen von ihnen entfernt, hier mußte ich bleiben – zur Verfügung, doppelt zur Verfügung des Gesetzes!

Ich weiß kaum, zu welchem Vergessen meiner Verpflichtungen meine Angst und Besorgniß mich nicht hingerissen haben würden, wäre nicht der beruhigende Einfluß meines Zutrauens zu Mariannen da gewesen. Mein absolutes Vertrauen zu ihr war die einzige Rücksicht hienieden, die mir half, mich zu fassen, und mir den Muth gab, zu warten. Die vertagte Untersuchung war das erste Hinderniß, das sich meinem freien Handeln in den Weg stellte. Ich stellte mich bei derselben zur bestimmten Stunde ein, da meine Anwesenheit im Zimmer für die gerichtlichen Formalitäten erforderlich war; doch war ich, wie sich’s herausstellte, nicht genöthigt, meine Aussage zu wiederholen. Dieser unnöthige Verzug war schwer zu ertragen, obgleich ich mir alle Mühe gab, meine Ungeduld zu bemeistern und dem gerichtlichen Verfahren mit möglichster Aufmerksamkeit zu folgen.

Der Rechtsanwalt des Verstorbenen, Mr. Merriman, war aus London herübergekommen und befand sich unter den Anwesenden, war aber durchaus nicht im Stande, die Zwecke der Untersuchung zu fördern. Er konnte blos sagen, daß er unaussprechlich überrascht und erschüttert, jedoch nicht im Stande sei, irgendwie Licht auf das geheimnißvolle Ereigniß zu werfen. Er schlug von Zeit zu Zeit Fragen vor, welche dann von dem Leichenbeschauer an die Zeugen gerichtet wurden, die jedoch ohne alle Erfolge blieben. Nach einer geduldigen Untersuchung, welche beinahe drei Stunden währte und die jede denkbare Quelle der Auskunft erschöpfte, sprachen die Geschworenen das bei plötzlichen Todesfällen übliche Erkenntniß aus. Sie fügten dem förmlichen Urtheile noch eine Bemerkung hinzu, daß keine Belege für die Art und Weise, in der die Schlüssel genommen worden, vorhanden, und daß der Zweck, zu welchem der Verstorbene in die Sacristei gegangen, unerklärt geblieben. Dies schloß die Untersuchung. Es wurde dem gerichtlichen Repräsentanten des Todten überlassen, für dessen Beerdigung zu sorgen, und die Zeugen durften abtreten.

Entschlossen, keine Minute länger zu verlieren, ehe ich nach Knowlesbury ginge, bezahlte ich meine Rechnung im Gasthofe und bestellte mir einen Fiacre, um desto schneller dort anzulangen. Ein Herr, welcher hörte, wie ich den Befehl ertheilte, und sah, daß ich allein fahren würde, unterrichtete mich, daß er in der Nähe von Knowlesbury wohne und frug, ob ich etwas dawider haben würde, den Wagen und die Ausgabe für denselben mit ihm zu theilen. Ich nahm seinen Vorschlag wie eine Sache an, die sich von selbst versteht.

Unsere Unterhaltung während der Fahrt drehte sich natürlich um den einen Gegenstand des Ortsinteresses.

Mein neuer Bekannter war einigermaßen mit dem Advocaten des verstorbenen Sir Percival bekannt und hatte mit demselben eine Unterhaltung über dessen Vermögensangelegenheiten und den nächsten Erben gehabt. Sir Percival’s Verlegenheiten waren in der ganzen Umgegend so wohl bekannt, daß sein Advocat aus der Nothwendigkeit eine Tugend machte und die Sache unumwunden eingestand. Er war gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen, und selbst, falls er ein solches gemacht, so besaß er kein persönliches Eigenthum, über welches er testamentarisch hätte verfügen können, indem seine Gläubiger bereits das ganze Vermögen verschlungen, das ihm seine Frau zugebracht hatte. Der Erbe des Besitzthums (da Sir Percival keine Leibeserben hinterließ) war der Sohn eines Vetters von Sir Felix Glyde, ein Officier in der königlichen Marine. Er sollte sein Erbtheil tief verschuldet finden; doch konnte es sich mit der Zeit davon erholen, und falls »der Capitain« sparsam war, so konnte er vor seinem Tode doch noch ein reicher Mann werden.

So sehr ich auch mit dem Gedanken, möglichst schnell nach London zurückzukehren, beschäftigt war, hatten doch diese Mittheilungen (welche sich später als vollkommen richtig herausstellten) einiges Interesse für mich. Mir schien danach, daß ich gerechtfertigt sei, meine Entdeckung von Sir Percival’s Fälschung geheim zu halten. Der Erbe, dessen Rechte er sich angemaßt, war derjenige, dem das Besitzthum jetzt zufiel. Das Einkommen desselben während der letzten dreiundzwanzig Jahre, welches von Rechtswegen ihm hätte zufallen sollen, war von Sir Percival bis auf den letzten Heller vergeudet und unwiederbringlich verloren. Falls ich die Wahrheit bekannt machte, so konnte dieselbe doch keinem Menschen den geringsten Nutzen bringen. Bewahrte ich dagegen das Geheimniß, so schützte mein Schweigen den Ruf des Mannes, welcher Laura durch seine Betrügereien vermocht hatte, ihn zu heirathen. Nur um ihretwillen wünschte ich es geheim zu halten – und um ihretwillen erzähle ich diese ganze Geschichte unter verstelltem Namen.

In Knowlesbury schied ich von meinem zufälligen Reisegefährten und ging dann sofort nach dem Gerichtshause. Wie ich erwartet hatte: es stellte sich Niemand, um die Sache weiter gegen mich fortzusetzen – die nothwendigen Formalitäten wurden durchgemacht, und ich war entlassen. Als ich den Gerichtshof verließ, übergab man mir einen Brief von Mr. Dawson. Derselbe benachrichtigte mich, daß er augenblicklich in Berufspflichten abwesend sei, und wiederholte dann sein Anerbieten allen Beistandes, den er mir zu leisten im Stande sein möge. Ich schrieb ihm wieder, indem ich ihm aufs Wärmste meine Anerkennung seiner vielfältigen Güte gegen mich ausdrückte und mich entschuldigte, dies nicht persönlich gethan zu haben, woran ich durch den Umstand verhindert worden, daß ich in dringenden Geschäften nach London zurückgerufen sei.

Eine halbe Stunde später eilte ich mit dem Schnellzuge nach London zurück.



Kapiteltrenner

XIII.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, ehe ich in Fulham anlangte und den Weg nach Gower’s Walk fand.

Marianne und Laura kamen Beide an die Thür, um mich einzulassen. Ich glaube, wir hatten Alle nicht gewußt, welch’ enges Band uns aneinander knüpfte, bis zu dem Abende, der uns wieder vereinte. Wir begrüßten einander, als ob wir statt weniger Tage Monate lang getrennt gewesen. Mariannens armes Gesicht sah sehr besorgt und elend aus. Ich sah auf den ersten Blick, wer in meiner Abwesenheit alle Gefahr gewußt und alle Besorgnisse gefühlt hatte. Laura’s frohere Blicke und blühenderes Aussehen sagten mir, wie sorgfältig ihr alle Kenntniß des furchtbaren Todes und der wahre Grund ihrer Wohnungsveränderung vorenthalten worden.

Die Aufregung des Wegzuges schien sie aufgeheitert und interessirt zu haben. Sie sprach von demselben nur wie von einem glücklichen Gedanken Mariannens; um mich bei meiner Heimkehr durch die Veränderung von der engen, geräuschvollen Straße nach der angenehmen Umgebung von Bäumen, Feldern und dem Fluße zu überraschen. Sie war voller Pläne für die Zukunft – voll von den Zeichnungen, die sie vollendet; von den Käufern, die ich in der Provinz für dieselben gefunden, und von den Schillingen und Sixpencen, die sie gespart hatte und die ihre Börse so schwer machten, daß sie mir dieselbe ganz stolz zum Wägen hingab. Die günstige Veränderung, die während der wenigen Tage meiner Abwesenheit mit ihr vorgegangen, war eine Ueberraschung für mich, auf die ich ganz unvorbereitet war – und das unaussprechliche Glück, dieselbe zu sehen, hatte ich Mariannens Muthe und Mariannen’s Liebe zu danken.

Als Laura uns verlassen und Marianne und ich ohne Rückhalt sprechen konnten, versuchte ich, der Dankbarkeit und Bewunderung, die mein Herz füllten, Ausdruck zu geben. Aber das großherzige Weib wollte mich nicht ausreden lassen. Jenes erhabene Selbstvergessen der Frauen, das so viel giebt und so wenig fordert, wandte alle ihre Gedanken von sich selbst ab mir zu.

»Es blieb mir nur ein Augenblick vor Abgang der Post,« sagte sie, »sonst hätte ich weniger hastig geschrieben. Du siehst angegriffen und elend aus, Walter – ich fürchte, mein Brief hat Dich ernstlich beunruhigt?«

»Nur im ersten Augenblicke,« erwiderte ich. »Mein Gemüth beruhigte sich durch mein Vertrauen auf Dich, Marianne. Muthmaßte ich recht, indem ich diese plötzliche Wohnungsveränderung einer drohenden Belästigung von Seiten Graf Fosco’s zuschrieb?«

»Vollkommen,« entgegnete sie; »ich habe ihn gestern gesehen und, was noch schlimmer ist, ich habe mit ihm gesprochen.«

»Hast mit ihm gesprochen? Wußte er, wo wir wohnten? Kam er ins-Haus?«

»Ja. Er kam ins Haus, aber nicht hinauf. Laura hat ihn nicht gesehen; sie argwöhnt Nichts. Ich will Dir erzählen, wie es kam; ich glaube und hoffe, daß die Gefahr jetzt vorüber ist. Gestern, als Laura in der Wohnstube unserer alten Wohnung am Tische saß und zeichnete und ich ordnend umherging, kam ich zufällig ans Fenster und sah im Vorbeigehen auf die Straße hinab. Da, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße sah ich den Grafen und einen Mann, mit dem er sprach –«

»Bemerkte er Dich am Fenster?«

»Nein – wenigstens glaubte ich es nicht. Ich war zu heftig erschrocken, um es genau zu sehen.«

»Wer war der andere Mann? Ein Fremder?«

»Nein, Walter, kein Fremder. Sowie ich nur wieder athmen konnte, erkannte ich ihn. Er war der Besitzer der Irrenanstalt.«

»Zeigte der Graf ihm das Haus?«

»Nein; sie unterhielten sich, wie wenn sie einander soeben zufällig auf der Straße begegnet wären. Ich blieb am Fenster und schaute hinter der Gardine herum zu ihnen hinunter. Hätte ich mich umgewandt und Laura in diesem Augenblicke mein Gesicht sehen lassen – aber ich danke Gott, daß sie in ihre Zeichnung vertieft war! Sie gingen bald auseinander. Der Mann aus der Irrenanstalt ging nach der einen Seite hin fort und der Graf nach der anderen. Ich fing an zu hoffen, daß sie durch Zufall in die Straße gekommen, als ich den Grafen zurückkommen, uns gegenüber abermals stille stehen, sein Taschenbuch herausnehmen, Etwas auf eine Karte schreiben und dann hinüberkommen und in den Laden unter uns gehen sah. Ich lief an Laura vorbei, ehe sie mich sehen konnte und sagte, ich habe Etwas oben vergessen. Sobald ich aus dem Zimmer war, lief ich auf den Corridor hinunter und wartete – ich war entschlossen, ihn zurückzuhalten, falls er versuchen würde, hinauszukommen. Doch machte er den Versuch nicht. Das Mädchen aus dem Laden kam durch die Verbindungsthür in den Gang hinaus und brachte mir seine Karte – eine große vergoldete Karte mit seinem Namen und einer Krone darüber, und darunter diese Zeilen: ›Theure Dame‹ (ja! der Schurke unterstand sich noch jetzt, mich so anzureden) – ›theure Dame, ich bitte Sie dringend, mir zu gestatten, ein Wort mit Ihnen zu sprechen, das uns Beide sehr ernstlich betrifft.‹ Wenn man in großen Schwierigkeiten überhaupt zu denken im Stande ist, so denkt man schnell. Ich fühlte sogleich, daß es ein unheilvolles Versehen sein könnte, falls ich im Dunkeln bliebe und Dich im Dunkeln ließe, wo ein Mann wie der Graf im Spiele war. Ich fühlte, daß die Ungewißheit über das, was er in Deiner Abwesenheit thun konnte, weit schlimmer zu ertragen wäre – falls ich mich weigerte, ihn zu sehen, als das Zusammentreffen, falls ich in dasselbe willigte. ›Ersuchen Sie den Herrn, im Laden zu warten,‹ sagte ich, ›ich werde sogleich zu ihm kommen.‹ Ich lief hinaus, um meinen Hut zu holen, da ich entschlossen war, ihn nicht im Hause zu mir sprechen zu lassen. Ich kannte seine tiefe, durchdringende Stimme zu gut, und fürchtete, daß Laura dieselbe selbst vom Laden her hören würde. In weniger als einer Minute war ich wieder unten und hatte die Hausthür geöffnet. Er kam aus dem Laden mir entgegen. Da stand er – in tiefer Trauer, mit seiner glatten Stirn und seinem tödtlichen Lächeln; und um ihn her hatten sich ein paar müßige Knaben und Weiber versammelt, die seinen großen Umfang, seine schönen schwarzen Trauerkleider und seinen Spazierstock mit dem Goldknopfe anstierten. Die ganze entsetzliche Zeit in Blackwater kam mir ins Gedächtniß zurück, als ich ihn erblickte. Der ganze alte Widerwille überschlich mich, als er mit einer schwenkenden Bewegung seinen Hut abnahm und mich anredete, wie wenn wir erst gestern auf dem freundschaftlichsten Fuße auseinandergegangen wären.«

»Du erinnerst Dich, was er sagte?«

»Ich kann’s nicht wiederholen, Walter. Du sollst sogleich hören, was er über Dich sagte, aber wie er zu mir sprach, kann ich nicht wiederholen. Es war noch schlimmer, als die höfliche Impertinenz seines Briefes. Mir juckten die Hände, ihn zu schlagen, wie wenn ich ein Mann gewesen wäre! Ich konnte sie nur davon abhalten, indem ich unter meinem Tuche seine Karte in Stücke zerriß. Ohne meinerseits ein Wort zu sagen, ging ich vom Hause fort (aus Furcht, daß Laura uns erblicken könne); und er folgte mir, indem er mir fortwährend sanfte Vorstellungen machte. In der ersten Nebenstraße stand ich still und frug ihn, was er von mir verlange. Er verlangte zweierlei. Erstens, falls ich Nichts dagegen hätte, seine Gefühle auszusprechen. Ich schlug es aus, sie anzuhören. Zweitens, die Warnung in seinem Briefe zu wiederholen. Ich frug, weshalb es nöthig sei, sie zu wiederholen. Er verbeugte sich und  lächelte und sagte, er wolle es mir erklären. Diese Erklärung bestätigte vollkommen die Befürchtungen, die ich aussprach, ehe Du uns verließest. Ich sagte Dir, wie Du Dich entsinnen wirst, daß Sir Percival zu eigensinnig sein werde, um den Rath seines Freundes anzunehmen, wo Du im Spiele seiest; und daß vom Grafen keine Gefahr zu fürchten, bis seine eigenen Interessen bedroht und er selbst zum Handeln aufgereizt würde?«

»Ich entsinne mich, Marianne.«

»Nun, so ist es auch richtig gekommen. Der Graf bot ihm seinen Rath an; aber derselbe wurde zurückgewiesen. Sir Percival wollte nur seiner eigenen Heftigkeit, seiner Halsstarrigkeit und seinem Hasse gegen Dich folgen. Der Graf ließ ihm seinen Willen, nachdem er zuvor (für den Fall, daß zunächst seine Interessen bedroht würden) heimlich ausgekundschaftet hatte, wo wir wohnten. Man folgte Dir, Walter, an dem Abende, wo Du von Deiner ersten Reise nach Hampshire zurückkehrtest – eine Strecke von der Station ab waren es die Spione des Advocaten, von da an bis zu unserem Hause aber der Graf selbst. Wie es ihm gelungen, nicht von Dir gesehen zu werden, hat er mir nicht gesagt; aber es war bei jener Gelegenheit und auf diese Weise, daß er uns fand. Nachdem er diese Entdeckung gemacht, ließ er sie unbenutzt, bis er die Nachricht von Sir Percival’s Tode erhielt – und dann begann er, wie ich Dir vorhergesagt hatte, für sich zu handeln, weil er glaubte, daß Du nun zunächst den Mann angreifen würdest, der an dem Complotte des Todten Theil genommen. Er traf sofort seine Vorbereitungen, um mit dem Besitzer der Irrenanstalt in London zusammenzutreffen und ihn an den Ort zu führen, wo sich seine weggelaufene Patientin befinde; in dem Glauben, daß die Folge hiervon, wie sie auch immer enden möge, die sein würde, Dich in endlose gerichtliche Streitigkeiten und Schwierigkeiten zu verwickeln, und es Dir so unmöglich zu machen, Deine Angriffe gegen ihn zu richten. Dies war sein Zweck, wie er mir selbst bekannte. Das Einzige, was ihn im letzten Augenblicke zögern ließ –«

»Nun?«

»Es ist hart, es eingestehen zu müssen, Walter – und doch muß es sein! Ich war der Gegenstand seiner Rücksicht. Ich habe keine Worte, Dir zu sagen, wie tief dieser Gedanke mich demüthigt – aber die eine Schwäche in jenes Mannes eisernem Charakter ist die wirkliche Bewunderung, welche er für mich fühlt. Ich habe, um meiner Selbstachtung willen, mich so lange wie möglich bemüht, Dies nicht zu glauben; aber seine Blicke und Handlungen zwingen mich zu der beschämenden Ueberzeugung, daß es Wahrheit ist. Die Augen jenes Ungeheuers von Schlechtigkeit wurden feucht, während er zu mir sprach – ja, Walter! Er erklärte, daß in dem Augenblicke, wo er dem Irrenarzte das Haus zeigte, er meines Jammers gedachte, wenn ich von Laura getrennt würde, und der Verlegenheit, falls man mich dafür zur Rechenschaft zöge, daß ich ihre Flucht bewerkstelligt hatte – und daß er um meinetwillen das Schlimmste riskirte, das Du ihm thun könntest. Das Einzige, worum er bat, war, daß ich mich des Opfers erinnern und Deiner Unbesonnenheit Einhalt thun möge – aus Rücksicht für mich selbst, eine Rücksicht, die er vielleicht nicht zum zweiten Male zu nehmen im Stande würde. Ich traf keine solche Uebereinkunft mit ihm, ich wäre lieber gestorben. Aber glaube ihm oder nicht – ob es nämlich wahr oder unwahr sei, daß er den Doctor unter einem Vorwande fortgeschickt – jedenfalls ist es gewiß, daß ich den Mann ihn verlassen sah, ohne ein einziges Mal nach unseren Fenstern oder auch nur nach unserer Straßenseite hinüberzublicken.«

»Ich glaube es wohl, Marianne. Die besten Menschen sind im Guten nicht consequent, – wie sollten es da die Schlimmsten im Bösen sein? Zu gleicher Zeit aber habe ich ihn im Verdacht, Dich blos mit Etwas erschreckt zu haben, was er in Wirklichkeit gar nicht ausführen kann. Ich bezweifle, daß er im Stande ist, uns jetzt, da Sir Percival todt und Mrs. Catherick frei von allem Zwange ist, durch den Besitzer der Irrenanstalt Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch laß mich weiter hören. Was sagte der Graf von mir?«

»Er sprach von Dir zuletzt. Seine Augen wurden klarer und härter, und sein Wesen, wie es mir früher oft erschienen war – es veränderte sich in jene Mischung erbarmungsloser Entschlossenheit und theatralischen Hohnes, durch den er so unergründlich wird. ›Warnen Sie Mr. Hartright,‹ sagte er mit seiner hochtrabendsten Miene. ›Er hat es mit einem Manne von Klugheit zu thun, einem Manne, der den Gesetzen und Gebräuchen der Gesellschaft mit seinen großen dicken Fingern ein Schnippchen schlägt, falls er sich mit mir messen will. Hätte mein armer verstorbener Freund meinen Rath angehört, so wäre die Leichenschau mit Mr. Hartright’s Körper vorgenommen – Aber mein armer verstorbener Freund war halsstarrig. Sehen Sie! Ich betraure seinen Verlust – im Innern meiner Seele und auswendig auf meinem Hute. Dieser unbedeutende Flor drückt Gefühle aus, die ich Mr. Hartright zu achten auffordere. Dieselben können sich in unermeßliche Feindseligkeit verändern, falls er sie zu stören wagt. Sei er zufrieden mit Dem, was er erlangt hat – mit Dem, was ich ihm und Ihnen um Ihretwillen ungestört lassen will. Sagen Sie ihm (mit meiner Empfehlung), daß, falls er mich anrührt, er es mit Fosco zu thun haben wird. Nach volksthümlicher Redeweise benachrichtige ich ihn, daß Fosco vor gar Nichts zurückscheut! Theure Dame, guten Morgen.‹ Seine kalten, grauen Augen hefteten sich auf mein Gesicht – er nahm feierlich seinen Hut ab – verbeugte sich entblößten Hauptes – und ging.«

»Ohne umzukehren? Ohne sonst noch Etwas hinzuzufügen?«

»An der Ecke der Straße wandte er sich um, machte eine Bewegung mit der Hand und legte sie dann theatralisch auf seine Brust. Darnach verlor ich ihn aus dem Gesichte. Er verschwand in der entgegengesetzten Richtung unseres Hauses, und ich eilte zu Laura zurück. Ehe ich noch wieder im Hause anlangte, war ich schon zu dem Entschlusse gekommen, daß wir fort müßten. Das Haus war (namentlich in Deiner Abwesenheit) jetzt, da der Graf es entdeckt hatte, anstatt ein Zufluchtsort zu sein, ein Ort der Gefahr für uns. Wäre ich Deiner Rückkehr gewiß gewesen, so würde ich es bis zu derselben verschoben haben. Aber ich wußte Nichts mit Gewißheit und handelte daher sofort nach meinem Impulse. Du hattest, ehe Du uns verließest, davon gesprochen, daß Du um Laura’s Gesundheit willen eine ruhigere Nachbarschaft und reinere Luft suchen möchtest. Ich brauchte sie blos hieran zu erinnern und vorzuschlagen, daß wir Dich überraschten und Dir Mühe ersparten, indem wir den Umzug während Deiner Abwesenheit hielten, um sie mit dem größten Eifer darauf eingehen zu sehen. Sie half mir, Deine Sachen einpacken – und sie hat sie alle hier in Deiner neuen Arbeitsstube wieder hergeordnet.«

»Wie kamst Du auf den Gedanken, hierher zu ziehen?«

»Durch meine Unkenntniß anderer Theile von London. Ich fühlte die Nothwendigkeit, möglichst weit von unserer alten Wohnung fortzugehen; und ich kannte Fulham etwas, weil ich hier früher einmal in Pension war. Ich schickte in der Hoffnung, daß diese Pension noch existirte, einen Boten an die Besitzerin derselben ab. Die Schule existirte, jedoch unter der Leitung der Töchter meiner alten Lehrerin, welche indessen, nach dem in meinem Briefe ausgesprochenen Wunsche, dieses Logis für mich mietheten. Es war gerade vor Abgang der Post, als der Bote mit der Adresse des Hauses zurückkam. Wir zogen nach dem Dunkelwerden fort – und langten ganz unbemerkt hier an. Habe ich recht gethan, Walter? Habe ich Dein Vertrauen auf mich gerechtfertigt?«

Ich antwortete ihr mit der Wärme und Dankbarkeit, die ich in Wirklichkeit fühlte. Aber der sorgenvolle Ausdruck verließ ihr Gesicht noch immer nicht, während ich sprach, und ihre erste Frage, nachdem ich geendet, bezog sich auf Graf Fosco.

Ich sah, daß sie jetzt in veränderter Weise an ihn dachte. Es entschlüpfte ihr kein neuer Ausbruch des Zornes gegen ihn, keine neuen Bitten an mich, den Tag der Vergeltung an ihm zu beschleunigen. Ihre Ueberzeugung, daß jenes Mannes hassenswerthe Bewunderung für sie wirklich aufrichtig war, schien um das Hundertfache ihren Argwohn seiner unergründlichen Hinterlist und ihre tiefgewurzelte Furcht vor der boshaften Energie und Wachsamkeit all seiner Fähigkeiten vermehrt zu haben. Ihre Stimme wurde leiser, ihr Wesen zögernd, und ihre Augen lasen mit einer eifrigen Angst in den meinigen, als sie mich frug, was ich über seinen Auftrag an mich denke, und was ich demnächst zu thun beabsichtige.

»Es sind seit meiner Unterredung mit Mr. Kyrle erst wenige Wochen vergangen, Marianne,« sagte ich. »Als er und ich von einander schieden, waren meine letzten Worte über Laura zu ihm folgende: ›Ihres Onkels Haus soll sich in Gegenwart Aller, die dem falschen Begräbnisse folgten, öffnen, um sie aufzunehmen; die Lüge, welche ihren Tod angiebt, soll öffentlich und auf Befehl des Hauptes der Familie von dem Grabsteine wieder vertilgt werden; und die beiden Männer, welche ihr so bitteres Unrecht angethan, sollen mir für ihr Verbrechen Rede stehen, wenngleich die Gerechtigkeit, die zu Gerichte sitzt, machtlos ist, sie zu verfolgen.‹ Der eine dieser Männer ist außer meinem Bereiche. Der Andere lebt, und mein Entschluß lebt.«

Ihre Augen leuchteten, und die Farbe stieg in ihre Wangen. Sie sagte Nichts. Doch sah ich in ihrem Gesichte, wie ihre ganze Sympathie sich an die meinige schloß.

»Ich verhehle weder Dir noch mir,« fuhr ich fort; »daß unsere Aussichten im höchsten Grade zweifelhaft sind. Die Gefahren, denen wir bisher bereits ausgesetzt gewesen, waren vielleicht Kleinigkeiten im Vergleich mit denen, die uns noch in Zukunft drohen – aber dennoch soll der Versuch gewagt werden, Marianne. Ich bin nicht so unbesonnen, mich mit einem Manne wie Graf Fosco messen zu wollen, ehe ich nicht wohl auf ihn vorbereitet bin. Ich habe Geduld gelernt; ich kann warten. Wir wollen ihn glauben lassen, daß seine Botschaft an mich ihre Wirkung gehabt; wollen ihn Nichts von uns hören oder erfahren lassen; wir wollen ihm volle Zeit geben, sich sicher zu fühlen – und sein eigener prahlerischer Charakter wird, wenn ich mich nicht sehr in ihm getäuscht habe, den Erfolg beschleunigen. Dies ist ein Grund, um zu warten; aber ich habe noch einen wichtigeren. Meine Stellung, Marianne, Dir und Laura gegenüber, muß noch fester sein als sie jetzt ist, ehe ich unsere letzte Chance versuche.«

Sie beugte sich mit einem Blicke der Ueberraschung zu mir herüber.

»Wie kann sie fester werden?« frug sie.

»Das will ich Dir sagen, wenn die Zeit kommt,« entgegnete ich. »Bis jetzt ist sie noch nicht gekommen, und vielleicht kommt sie niemals. Ich mag vielleicht zu Laura auf immer darüber schweigen, und selbst zu Dir muß ich jetzt noch schweigen, bis ich sehe, daß ich rechtschaffener- und redlicherweise sprechen kann. Doch wollen wir den Gegenstand fallen lassen. Ein Anderer hat noch dringenderes Recht an unsere Beachtung. Du hast Laura – hast sie mitleidsvoll über ihres Mannes Tod in Unwissenheit gelassen –?«

»O Walter, muß sie es nicht noch lange bleiben?«

»Nein, Marianne. Es wird besser sein, daß Du es ihr jetzt sagst, als daß der Zufall, gegen den es uns unmöglich ist, uns zu verwahren, es ihr später verriethe. Verschone sie mit den Einzelheiten – bereite sie sehr sorgfältig darauf vor – aber sage ihr, daß er todt ist.«

»Du hast noch außer dem Grunde, den Du angiebst, einen, der Dich wünschen läßt, sie von dem Tode ihres Mannes zu unterrichten, Walter?«

»Ja.«

»Einen Grund, der mit dem Gegenstande in Verbindung steht, dessen wir noch nicht weiter erwähnen wollen? – dessen vielleicht zu Laura niemals erwähnt werden soll?«

Sie sagte diese letzten Worte mit bedeutungsvollem Ausdrucke, und mit einem ebensolchen gab ich ihr die bejahende Antwort.

Sie erbleichte – und schaute mich eine Weile mit einer traurigen, zögernden Theilnahme an. Eine ungewohnte Zärtlichkeit zitterte in ihren dunklen Augen und verlieh ihren festen Lippen einen weicheren Ausdruck, als sie zur Seite auf den leeren Sessel blickte, in welchem die geliebte Gefährtin all unserer Freuden und Schmerzen gesessen hatte.

»Ich glaube, ich verstehe Dich,« sagte sie. »Ich glaube, ich bin es Dir und ihr schuldig, ihr den Tod ihres Mannes mitzutheilen, Walter?«

Sie seufzte und hielt einen Augenblick meine Hand fest in der ihrigen – dann ließ sie dieselbe plötzlich sinken und verließ das Zimmer. Am folgenden Tage wußte Laura, daß sein Tod sie freigegeben, und daß der Irrthum und das Unglück ihres Lebens mit ihm begraben seien.

Sein Name wurde unter uns nicht mehr erwähnt. Wir vermieden fortan die geringste Annäherung an den Umstand seines Todes; und ebenso gewissenhaft enthielten Marianne und ich uns jeder Erwähnung jenes anderen Gegenstandes, dessen wir für’s Erste nicht wieder zu gedenken übereingekommen waren. Derselbe war deshalb uns nicht weniger gegenwärtig – er wurde im Gegentheil durch die Zurückhaltung, die wir uns auferlegt, noch lebendiger erhalten. Wir beobachteten Beide Laura aufmerksamer denn je; einmal wartend und hoffend, dann wieder wartend und fürchtend – bis die Zeit käme.

Allmälich kehrten wir wieder zu unserer gewohnten Lebensweise zurück. Ich nahm die tägliche Arbeit wieder auf, welche ich durch meine Abwesenheit in Hampshire unterbrochen hatte. Unsere neue Wohnung kostete mehr als die kleinere und weniger bequeme, welche wir verlassen hatten; und die Nothwendigkeit verdoppelter Anstrengungen wurde noch durch das Zweifelhafte unserer ferneren Aussichten vermehrt. Es konnten sich dringende Fälle ereignen, die unser kleines Vermögen beim Banquier erschöpfen würde, und die Arbeit meiner Hände mochte am Ende das Einzige sein, worauf wir für unseren Unterhalt rechnen durften. Es war für unsere Stellung nothwendig, daß ich mich nach einer festeren und einträglicheren Beschäftigung umsah, als mir bisher zu Theil geworden – eine Nothwendigkeit, welcher nachzukommen ich mich jetzt nach Kräften bemühte.

Man denke nicht, daß ich in dem Zwischenraume von Ruhe und Zurückgezogenheit, von welchem ich jetzt schreibe, ganz und gar die Verfolgung des einen Zweckes aufgab, mit dem alle meine Gedanken und Absichten in diesen Blättern verknüpft sind. Dieser Zweck ließ während vieler Monate nicht nach in seinen Forderungen an mich. Das langsame Reisen desselben ließ mir noch immer Zeit, eine Vorsichtsmaßregel zu treffen, eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen und eine zweifelhafte Frage zu lösen.

Die Vorsichtsmaßregel bezog sich natürlich auf den Grafen Fosco. Es war von der höchsten Wichtigkeit, wo möglich zu erfahren, ob seine Pläne ihn nöthigten, in England – oder mit andern Worten innerhalb meines Bereiches – zu bleiben. Es gelang mir durch sehr einfache Mittel, diesen Zweifel zu lösen. Da mir seine Adresse in St. John’s Wood bekannt war, stellte ich in der Nachbarschaft meine Nachfragen an; und als ich ausfindig gemacht, welcher Hausagent über das möblirte Haus zu verfügen hatte, in dem der Graf wohnte, frug ich denselben, ob Numero 5, Forest Road, bald zu vermiethen sein werde. Die Antwort war eine verneinende. Man unterrichtete mich, daß der fremde Herr, welcher es bewohne, seinen Contract auf sechs Monate erneuert habe und bis Ende Juni nächsten Jahres dort wohnen bleiben werde. Wir waren jetzt erst im Anfange des Monat December. Ich verließ den Agenten mit beruhigtem Gemüthe, daß mir der Graf wenigstens für’s Erste nicht entwischen werde.

Die Pflicht der Dankbarkeit, die ich zu erfüllen hatte, führte mich nochmals zu Mrs. Clements. Ich hatte ihr versprochen, wiederzukommen und ihr jene Einzelheiten in Bezug auf Anna Catherick’s Tod und Begräbniß mitzutheilen, welche ich ihr in unserer ersten Unterredung zu verschweigen genöthigt war. Unter den jetzigen veränderten Umständen lag kein Hinderniß im Wege, daß ich der guten Frau so viel von der Geschichte des Anschlages anvertraute, wie zum Verständnisse der Sache nothwendig war.

Sowohl meine Theilnahme als meine freundschaftlichen Gefühle für die arme Frau drängten mich zur schnellen Erfüllung dieser Pflicht – und ich erfüllte sie sorgfältig und gewissenhaft Es ist unnöthig, diese Blätter noch mit Dem zu beladen, was sich bei dieser Unterredung zutrug. Es wird mehr zur Sache gehörig sein, wenn ich sage, daß dieselbe mich nothwendigerweise an die eine schwebende Frage erinnerte, die noch ungelöst geblieben – die Frage nämlich, wer Anna Catherick’s Vater gewesen.

Eine Menge kleiner Betrachtungen in Verbindung mit diesem Gegenstande – die an sich unbedeutend genug, zusammengenommen aber von auffallender Bedeutung waren – hatten mich neuerdings zu einer Muthmaßung geführt, die ich zu bestätigen beschloß. Ich erhielt Erlaubniß von Mariannen, an Major Donthorne auf Varneck Hall zu schreiben (in dessen Hause Mrs. Catherick einige Jahre vor ihrer Verheirathung gedient hatte), um gewisse Fragen an ihn zu thun. Ich that Dies in Mariannen’s Namen und entschuldigte mein Ersuchen dadurch, daß die Sache für gewisse persönliche Interessen der Familie von Wichtigkeit sei. Ich wußte nicht, als ich den Brief schrieb, ob Major Donthorne noch am Leben sei; ich schickte ihn auf gut Glück ab, daß er lebe und sowohl im Stande als geneigt sein werde, mir zu antworten.

Nach Verlauf von zwei Tagen kam der Beweis in der Gestalt eines Briefes, daß der Major lebte und bereit war uns zu helfen.

Der Gedanke, welcher meinen Brief an ihn dictirt, und die Beschaffenheit meiner Fragen wird leicht aus seiner Antwort entnommen werden können. Dieselbe enthielt folgende wichtige Thatsachen:

Erstens war »der verstorbene Sir Percival Glyde von Blackwater Park« in seinem Leben mit keinem Fuße in Varneck Hall gewesen. Derselbe war dem Major Donthorne und seiner ganzen Familie persönlich vollkommen unbekannt gewesen.

Zweitens war »der verstorbene Mr. Philipp Fairlie von Limmeridge House« in seinen jüngeren Tagen Major Donthorne’s vertrauter Freund und häufiger Gast gewesen. Nachdem er sein Gedächtniß dadurch aufgefrischt, daß er in alten Briefen und Papieren nachgesehen, konnte Major Donthorne mit Gewißheit sagen, daß Mr. Philipp Fairlie ihn im Monat August 1826 in Varneck Hall besucht hatte und während der Monate September und October dort zur Jagd geblieben war. Er reiste dann von dort, soviel der Major sich erinnerte, nach Schottland und kehrte erst nach geraumer Zeit einmal wieder, und zwar in der veränderten Eigenschaft eines Neuvermählten, nach Varneck Hall zurück.

An sich selbst war diese Mittheilung vielleicht von geringem positiven Werthe – aber in Verbindung mit gewissen Thatsachen, die sowohl Mariannen wie mir als vollkommen richtig bekannt waren – führte sie zu einem Schlusse, der für uns augenfällig war.

Nachdem uns jetzt bekannt geworden, daß Mr. Philipp Fairlie im Herbste des Jahres 1826 sich als Gast in Varneck Hall aufgehalten, wo zur selben Zeit Mrs. Catherick im Dienste gewesen, wußten wir außerdem: – erstens, daß Anna Catherick im Juni 1827 geboren war; zweitens, daß sie stets eine ganz auffallende persönliche Aehnlichkeit mit Laura gehabt; und drittens, daß Laura ein genaues Ebenbild ihres Vaters gewesen. Mr. Philipp Fairlie war einer der für ihre Schönheit berühmten Männer seiner Zeit gewesen. Indem er seinen Gemüthsanlagen nach seinem Bruder Frederick vollkommen unähnlich, war er der verzogene Liebling der Gesellschaft, besonders aber der Frauen – ein gefälliger, warmherziger, liebenswürdiger Mann; großmüthig bis zum Fehler, ohne besonders feste Grundsätze und bekannt als durchaus rücksichtslos in Bezug auf moralische Verbindlichkeiten gegen Frauen. Dies waren die uns bekannten Facta und dies der Charakter des Mannes. Gewiß bedarf doch der hieraus sich ergebende klare Schluß keiner näheren Erklärung?

In dem neuen Lichte, welches mir jetzt aufgegangen, trug Mrs. Catherick’s Brief wider ihren Willen ein Schärflein dazu bei, mich in dieser meiner Ueberzeugung zu bestärken. Sie hatte Mrs. Fairlie (in ihrem Briefe an mich) als »häßlich« beschrieben und hinzugefügt, daß sie »dem schönsten Manne in England so lange Fallen gelegt, bis er sie geheirathet habe.« Beide Behauptungen waren unaufgefordert von ihr gemacht worden, und beide waren falsch. Eifersüchtiger Haß (der in einer Frau wie Mrs. Catherick sich lieber in kleinlicher Bosheit Luft machte, als daß sie ihn gar nicht ausgesprochen hätte) schien mir die einzige begreifliche Ursache für die besondere Impertinenz ihrer Erwähnung von Mrs. Fairlie, unter Umständen, die eine solche Erwähnung in keiner Weise nöthig machten.

Die Erwähnung von Mrs. Fairlie’s Namen hier bringt noch eine andere Frage in Anregung. Ahnte sie je, wessen Kind das kleine Mädchen sein mochte, das man nach Limmeridge brachte?

Mariannen’s Zeugniß über diesen Punkt war entscheidend. Mrs. Fairlie’s Brief an ihren Gemahl, der mir früher einmal vorgelesen worden – der Brief, welcher Anna’s Aehnlichkeit mit Laura beschrieb und ihrer eigenen Zuneigung zu der kleinen Fremden erwähnte – war ohne allen Zweifel in vollkommener Herzensunschuld geschrieben. Es scheint sogar fraglich, ob Mr. Philipp Fairlie selbst einem Verdachte der Wahrheit näher gewesen als seine Frau. Der abscheuliche Betrug, unter welchem Mrs. Catherick geheirathet und die Ursache, welche sie dazu bewogen hatte, ließ sie Vorsicht halber oder auch vielleicht Stolzes halber schweigen – selbst wenn man annehmen wollte, daß sie im Stande gewesen, mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes während seiner Abwesenheit zu correspondiren.

Als diese Vermuthung sich mir aufdrängte, gedachte ich jener Worte der heiligen Schrift, die uns Allen oft vor die Seele getreten sind und uns mit Schrecken und mit Ehrfurcht erfüllt haben: »Die Sünden der Väter sollen an ihren Kindern heimgesucht werden.« Wäre nicht die unheilvolle Aehnlichkeit zwischen den beiden Töchtern eines Vaters gewesen, so hätte der Anschlag, dessen unschuldiges Werkzeug Anna und dessen unschuldiges Opfer Laura gewesen, nie erdacht werden können. Mit wie unfehlbarer, sicherer Geradheit führte nicht die lange Kette von Ereignissen von des Vaters rücksichtslosem Unrecht zu des Kindes herzbrechendem Leiden hinab! Diese Gedanken und andere in ihrer Begleitung führten meinen Geist fort nach dem kleinen Friedhofe in Cumberland, wo Anna Catherick begraben lag. Ich dachte an jene vergangene Zeit, wo ich sie an Mrs. Fairlie’s Grabe gefunden, und zum letzten Male mit ihr zusammengekommen war; an ihre armen hülflosen Hände, wie sie sich auf den Grabstein legten, und an ihre müden, sehnsüchtigen Worte, die sie ihrer todten Beschützerin und Freundin zumurmelte. »O, wenn ich doch sterben könnte und bei Ihnen ruhen!« Wenig mehr als ein Jahr war vergangen, seit sie jenen Wunsch geflüstert; und auf wie unerforschliche, furchtbare Weise war er bereits erfüllt! Die Worte, die sie am Ufer des Sees zu Laura gesprochen, sie waren wahr geworden. »O, wenn ich doch nur bei Ihrer Mutter liegen könnte! Wenn ich doch an ihrer Seite erwachen dürfte, wenn des Engels Posaune schmettert und die Gräber ihre Todten wieder herausgeben.« Durch welche tödtliche Verbrechen und Schrecken, durch welche dunkle Wendungen des Weges zum Tode war das verlassene Wesen unter Gottes Leitung in jene letzte Heimath eingegangen, welche sie lebend nie zu erreichen gehofft hatte! In dieser heiligen Ruhe lasse ich sie liegen – sie bleibe ungestört bei ihrer todten Freundin! – –

Und so sinkt die gespenstische Gestalt, welche durch diese Blätter geschlichen und mein Leben unheimlich gemacht hat, hinab in die undurchdringliche Finsterniß. Wie ein Schatten kam sie zuerst zu mir in der Stille der Nacht. Wie ein Schatten schwindet sie dahin in der Einsamkeit des Todes.



Kapiteltrenner

XIV.

Es vergingen vier Monate. Der April kam – der Monat des Frühlings, der Monat des Wechsels.

Die Zeit war uns während des Winterzwischenraumes friedlich und glücklich zu Hause vergangen. Ich hatte von meiner langen Muße guten Gebrauch gemacht, hatte meine Beschäftigungshülfsquellen bedeutend erweitert und unseren Lebensunterhalt sicherer begründet. Von der angstvollen Ungewißheit und Bangigkeit befreit, welche sie so schwer und so lange bedrückt hatte, erholten sich Mariannen’s frohe Lebensgeister, und die natürliche Energie ihres Charakters machte sich wieder geltend mit Etwas von der Freiheit und Kraft früherer Zeiten.

Laura, die unter dem Wechsel fügsamer war, als ihre Schwester, zeigte auch noch deutlicher die Fortschritte, welche sie unter dem heilenden Einflusse ihres neuen Lebens machte. Das abgezehrte, elende Aussehen, das ihr Gesicht so frühzeitig gealtert hatte, verließ dasselbe bald; und der Ausdruck, welcher in früheren Zeiten der größte Zauber ihres Gesichtes gewesen, war der erste der Reize desselben, die jetzt wiederkehrten. Meine genaueste Beobachtung entdeckte nur eine ernste Folge des schändlichen Complottes, das einst ihr Leben und ihre Vernunft bedroht. Ihre Erinnerung der Ereignisse von dem Augenblicke an, wo sie Blackwater Park verlassen bis zu dem, wo wir im Friedhofe zu Limmeridge einander gegenüber gestanden, war hoffnungslos entschwunden. Bei der geringsten Hindeutung auf jene Zeit zitterte sie und veränderte sie sich noch immer; ihre Worte wurden verwirrt; ihr Gedächtniß wanderte irr umher und verlor sich so hülflos wie je. Hier – und nur hier allein – lagen die Spuren der Vergangenheit zu tief, um sich verwischen zu lassen.

In allem Uebrigen hatte sie sich jetzt in dem Grade erholt, daß sie an ihren besten Tagen zuweilen wieder sprach und aussah, wie die Laura Fairlie vergangener Zeiten. Die glückliche Veränderung hatte ihren natürlichen Erfolg bei uns Beiden. Auf ihrer Seite und auf der meinigen erwachten jetzt aus ihrem langen Schlummer jene unauslöschlichen Erinnerungen unseres früheren Lebens in Cumberland, die alle dieselben waren – die Erinnerungen an unsere Liebe.

Allmälich und unmerklich wurden unsere täglichen Beziehungen zu einander gezwungener. Die liebevollen Worte, welche ich in den Tagen ihres Leidens und Kummers auf so natürliche Weise zu ihr gesprochen, fielen jetzt zagend von meinen Lippen. Zur Zeit, wo meine Angst, sie zu verlieren in meinem Geiste am lebhaftesten war, hatte ich sie stets zum Morgen- und zum Abendgruße geküßt. Dieser Kuß schien jetzt fort – aus unserem Leben verloren zu sein. Unsere Hände fingen wieder an zu zittern, wenn sie sich begegneten. Wir sahen einander selten lange an, wenn Marianne nicht zugegen war, und schwiegen in der Unterhaltung. Wenn ich sie durch Zufall berührte, begann mehr Herz schneller zu schlagen, wie ehedem in Limmeridge – ich sah die liebliche erwidernde Rosengluth in ihre Wangen steigen, wie wenn wir wieder in unseren ehemaligen Eigenschaften als Lehrer und Schülerin in den Hügeln von Cumberland gewesen. Sie hatte Zeiten langen Schweigens und langer Nachdenklichkeit und gestand dies nicht zu, wenn Marianne sie um ihre Gedanken befragte. Ich ertappte mich eines Tages dabei, daß ich meine Arbeit vernachlässigte und über der kleinen Wasserfarbenskizze träumte, die ich von ihr in dem kleinen Sommerhäuschen gemacht, in dem wir einander zuerst gesehen – gerade wie ich Mr. Fairlie’s Zeichnungen früher zu vernachlässigen pflegte, um dasselbe Portrait zu betrachten, das damals eben fertig geworden war. So verändert die Verhältnisse jetzt waren, schien unsere Stellung zu einander in den goldenen Tagen unseres ersten Umganges mit dem Erwachen unserer Liebe wieder dieselbe zu werden, die sie in Limmeridge House gewesen. Es war, als ob die Zeit uns auf dem Wrack unserer ersten Hoffnungen an die alten heimischen Ufer zurückgetrieben habe!

Zu jedem anderen Weibe hätte ich die entscheidenden Worte zu sprechen vermocht, die zu ihr zu sprechen ich noch immer zögerte. Die gänzliche Hülflosigkeit ihrer Lage, ihre freundlose Abhängigkeit von all der nachsichtigen Sanftmuth, die ich ihr erzeigen konnte; meine Besorgniß, schon zu früh ein heimliches Gefühl zu berühren, das wahrzunehmen mein Mannesinstinct nicht zart genug gewesen – diese und ähnliche Betrachtungen erfüllten mich mit Zagen und ließen mich schweigen. Und dennoch wußte ich, daß der Zwang von beiden Seiten ein Ende haben, daß die Beziehung, in der wir zueinander standen, auf eine bestimmte Weise für die Zukunft verändert werden müsse; und daß es zuerst meine Sache sei, die Nothwendigkeit dieser Veränderung anzuerkennen.

Je mehr ich an unsere Stellung dachte, desto schwerer erschien mir der Versuch, dieselbe zu ändern, so lange die häuslichen Verhältnisse, in denen wir alle Drei während des Winters zusammen gelebt, ungestört blieben. Ich kann mir den launenhaften Gemüthszustand nicht erklären, aus dem dieses Gefühl sich entspann – aber es hatte sich der Gedanke bei mir festgesetzt, daß irgend eine Veränderung des Aufenthaltes und der Verhältnisse, irgend eine plötzliche Störung der ruhigen Einförmigkeit unseres Lebens, die so eingerichtet würde, daß dadurch unser häuslicher Umgang ein ganz verschiedenes Aussehen bekäme, mir einen Weg zum Sprechen bahnen und es für Laura und Marianne leichter und weniger verlegen machen würde, zu hören.

Mit diesem Zwecke im Auge sagte ich eines Morgens: ich denke, wir hätten Alle eine kleine Zerstreuung und Ortsveränderung verdient. Nach einiger Ueberlegung wurde bestimmt, daß wir auf vierzehn Tage an die Seeküste gehen wollten.

Demzufolge verließen wir Fulham am folgenden Tage und reisten nach einer stillen Seestadt an der Südküste. Zu dieser frühen Jahreszeit waren wir die einzigen Badegäste. Die Klippen, der Strand und die Spaziergänge waren alle so einsam, wie Dies uns am Willkommensten war. Die Luft war milde; die Aussicht über Hügel, Holz und Dünen lag in der lieblichen Abwechselung des Aprillichtes und Schattens da, und die unruhige See tanzte vor unsern Fenstern, wie wenn auch sie sich der Wiederkehr der Wärme und des Frühlings freute.

Ich war es Mariannen schuldig, sie zu Rathe zu ziehen, ehe ich mit Laura spräche, um mich dann durch sie leiten zu lassen.

Am dritten Tage nach unserer Ankunft fand ich eine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen. In dem Augenblicke, wo wir einander ansahen, entdeckte ihr schneller Blick, noch ehe ich den Gedanken aussprechen konnte, was in meinem Geiste vorging. Mit ihrer gewohnten Energie und Geradheit sprach sie sofort und zuerst.

»Du denkst an jenen Gegenstand, dessen wir am Abende Deiner Heimkehr aus Hampshire erwähnten,« sagte sie. »Ich habe schon seit einiger Zeit erwartet, daß Du ihn zur Sprache bringen würdest. Es muß eine Veränderung in unserem kleinen Haushalte vorgenommen werden, Walter; so wie es jetzt ist, kann es nicht lange mehr bleiben. Ich sehe dies ebenso deutlich wie Du – ebenso deutlich wie Laura es einsieht, obgleich sie Nichts sagt. Auf wie seltsame Weise die alte Zeit in Cumberland zurückgekehrt zu sein scheint! Du und ich, wir sind wieder zusammen, und der eine Gegenstand des Interesses zwischen uns ist wiederum Laura. Ich könnte mir fast einbilden, daß dies Zimmer das Sommerhäuschen zu Limmeridge und jene Wellen die Wellen wären, welche unsern Strand bespülten.«

»In jenen Tagen ließ ich mich durch Deinen Rath leiten,« sagte ich, »und jetzt, Marianne, will ich mich abermals – nur mit dem zehnfachen Vertrauen – von ihm leiten lassen.«

Sie antwortete, indem sie meine Hand drückte. Ich sah, daß sie tief bewegt war durch die Erinnerung an die Vergangenheit. Wir saßen nebeneinander am Fenster, und während ich sprach und sie zuhörte, schauten wir hinaus auf die Pracht des Sonnenlichtes und die Majestät des weiten Meeres.

»Was auch nach dieser Unterredung zwischen uns kommen möge,« sagte ich, »ob sie für mich glücklich oder schmerzlich ende, Laura’s Wohl wird stets das Interesse meines Lebens sein. Wenn wir diesen Ort verlassen – und in welchen gegenseitigen Beziehungen dies auch sei – so kehrt mein Entschluß, das Bekenntniß, welches uns nicht gelang, von seinem Mitschuldigen zu erlangen, aus Graf Fosco herauszubringen, mit mir nach London zurück, so gewiß, wie ich selbst zurückkehre. Es ist uns Beiden unmöglich zu sagen, was er gegen mich thun wird, wenn ich ihn in die Enge treibe; wir wissen nur nach seinen eignen Worten und Handlungen, daß er mich durch Laura ohne einen Augenblick des Zögerns oder Bedenkens, zu treffen im Stande ist. In unserer jetzigen Stellung habe ich kein Anrecht an ihr, das die Gesellschaft billigt und das Gesetz anerkennt, um mich ihm zu widersetzen und sie zu schützen. Ich bin dadurch in einer höchst unvortheilhaften Lage. Falls ich in der festen Ueberzeugung von Laura’s Sicherheit mich mit dem Grafen in einen Kampf einlassen soll, so muß dieser Kampf für mein Weib geschehen. Bist Du soweit mit mir einverstanden, Marianne?«

»Vollkommen,« entgegnete sie.

»Ich will nicht aus meinem eignen Herzen bitten,« fuhr ich fort; »ich will mich nicht auf die Liebe berufen, die alle Wechsel und alle Erschütterungen überlebte – ich will meine Rechtfertigung dafür, daß man von ihr als von meinem Weibe spreche, nur auf Das begründen, was ich soeben gesagt habe. Falls die Aussicht, dem Grafen ein Geständniß abzuzwingen, wie ich es glaube, unsere letzte ist, um Laura’s Existenz öffentlich zu beweisen, so ist dadurch von uns Beiden der am wenigsten selbstsüchtige Grund für unsere Vermählung anerkannt. Aber ich mag mich täuschen in meiner Ueberzeugung; es mögen noch andere Mittel, um unseren Zweck zu erreichen, in unserer Macht liegen, die weniger unsicher und weniger gefährlich sind. Ich habe aufmerksam in meinem Geiste nach ihnen gesucht – und habe sie nicht gefunden. Hast Du sie gefunden?«

»Nein. Ich habe ebenfalls darüber nachgedacht, aber vergebens.«

»Wahrscheinlich,« fuhr ich fort, »sind Dir beim Ueberlegen dieses schwierigen Gegenstandes dieselben Fragen eingefallen, die sich auch mir darboten. Sollten wir, jetzt, da sie wieder aussieht wie sie selbst, sie nach Limmeridge zurücknehmen und auf das Erkennen der Dorfleute und der Schulkinder hoffen? Sollten wir den practischen Versuch mit ihrer Handschrift anstellen? Gesetzt, wir thäten Dies. Wir wollen annehmen, daß dies Erkennen stattgefunden und ihre Handschrift erkannt worden. Würde der Erfolg in beiden Fällen mehr bewirken, als daß er eine ausgezeichnete Grundlage zu einem Processe böte. Würde dies Erkennen ihrer selbst und ihrer Handschrift Mr. Fairlie von ihrer Identität überzeugen und ihn bestimmen, sie trotz des Zeugnisses ihrer Tante, des Zeugnisses des Arztes, des Begräbnisses und der Inschrift auf dem Grabsteine, wieder bei sich in Limmeridge House aufzunehmen? Nein! Wir dürften nur hoffen, daß es uns gelingen würde, einen ernstlichen Zweifel an der Behauptung ihres Todes zu erregen – den Nichts als eine gerichtliche Untersuchung zu lösen im Stande sein würde. Ich will annehmen (was durchaus nicht der Fall ist), daß wir Geld genug besitzen, um diese Untersuchung durch alle ihre Stadien hindurchzuführen. Ich will annehmen, daß man Mr. Fairlie seine Vorurtheile ausreden könnte; daß das falsche Zeugniß des Grafen und seiner Frau und alle übrigen falschen Zeugnisse widerlegt werden könnten, und daß es nicht möglich wäre, das Erkennen einer Verwechselung zwischen Laura und Anna Catherick zuzuschreiben oder daß die Handschrift von unsern Feinden als eine Fälschung erklärt würde – alles Voraussetzungen, die gegen alle Wahrscheinlichkeit sind, doch wollen wir sie annehmen – und dann wollen wir uns fragen, welches die ersten Folgen der ersten Fragen sein würden, die man Laura in Bezug auf den schändlichen Anschlag vorlegte. Wir wissen nur zu wohl, was die Folgen sein würden – denn wir wissen, daß ihr nie die Erinnerung an Das, was sich in London mit ihr zugetragen, zurückgekehrt ist. Man befrage sie allein oder öffentlich, sie bleibt immer gleich unfähig, die Behauptung ihrer eignen Sache zu unterstützen. Falls Du Dies nicht so klar siehst, wie ich es sehe, Marianne, dann wollen wir morgen nach Limmeridge gehen und den Versuch wagen.«

»Ich sehe es, Walter. Selbst, falls wir die Mittel besäßen, um die ganzen Gerichtskosten zu bestreiten, selbst, wenn es uns zuletzt gelänge, so wäre doch der Verzug und die peinliche Erwartung unerträglich; die fortwährende Ungewißheit nach Allem, was wir bereits erduldet, würde uns das Herz brechen. Du hast ganz Recht, wenn Du sagst, daß es hoffnungslos ist, nach Limmeridge zu gehen. Ich wollte, ich könnte ebenso fest davon überzeugt sein, daß Du Recht hast, indem Du bei Deinem Entschlusse, diesen letzten Versuch mit dem Grafen zu machen, beharrst. Giebt es wirklich noch eine Aussicht?«

»Ohne allen Zweifel, ja. Es ist dies die Aussicht, das verlorene Datum von Laura’s Reise nach London zu finden. Ohne der Gründe wieder zu erwähnen, die ich Dir vor einiger Zeit genannt habe, bin ich noch immer ebenso fest wie zuvor überzeugt, daß zwischen dem Datum jenes Tages und dem des Todtenscheines ein Widerspruch besteht. Dies ist der Punkt, wo die Schwäche des ganzen Anschlages liegt – er wird in Stücke zerschellen, wenn wir ihn von dieser Seite her angreifen; und die Mittel zu diesem Angriffe sind im Besitze des Grafen. Falls es mir gelingt, sie ihm zu entreißen, so ist der Zweck meines Lebens und der des Deinigen erfüllt. Mißlingt es mir aber, so wird das Unrecht, das Laura erlitten, in diesem Leben nicht mehr wieder gut gemacht.«

»Fürchtest Du selbst ein Mißlingen, Walter?«

»Ich wage es nicht, Erfolg zu erwarten; und eben darum spreche ich so offen und so deutlich, wie ich es soeben gethan, Marianne. Nach meinem eignen innersten Dafürhalten muß ich gestehen, daß Laura’s Aussichten auf die Zukunft auf der niedrigsten Ebbe stehen. Ich weiß, daß ihr Vermögen fort ist. Ich weiß, daß ihre letzte Aussicht, den Platz in der Welt wieder einnehmen zu dürfen, der ihr gebührt, in der Gewalt ihres schlimmsten Feindes liegt – eines Mannes, der augenblicklich durchaus unangreifbar ist und es bis zuletzt bleiben mag. Und jetzt, da alle weltlichen Vortheile sie verlassen, da ihre Aussichten, jemals wieder in Rang und Stellung einzutreten, mehr als zweifelhaft sind – da sie keine klarere Zukunft vor sich sieht, als die, welche ihr Mann ihr zu bieten im Stande sein mag – jetzt darf der arme Zeichenlehrer, ohne Tadel zu verdienen, endlich sein Herz öffnen. In den Tagen ihres Glücks, Marianne, war ich nur der Lehrer, der ihre Hand führte – jetzt, in ihrem Unglücke bitte ich um diese Hand, als die meines Weibes!«

Mariannen’s Augen begegneten liebevoll den meinen. Ich konnte Nichts weiter sagen. Mein Herz war voll und meine Lippen bebten. Ich war wider Willen in Gefahr, mich an ihr Mitleid zu wenden. Ich stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Sie erhob sich in demselben Augenblicke, legte ihre Hand sanft auf meine Schulter und hielt mich zurück.

»Walter!« sagte sie, »einst trennte ich Euch Beide zu ihrem und zu Deinem Besten. Warte hier, mein Bruder! – warte, mein einziger, bester Freund, bis Laura kommt und Dir sagt, was ich jetzt gethan haben werde!«

Zum erstenmale seit jenem Abschiedsmorgen in Limmeridge berührte sie meine Stirn wieder mit ihren Lippen, und indem sie dies that fiel eine Thräne auf mein Gesicht. Sie wandte sich schnell ab, deutete auf den Stuhl, von dem ich mich erhoben, und verließ das Zimmer.

Ich setzte mich allein am Fenster nieder und erwartete die Krisis meines Lebens. Während dieses athemlosen Zeitraumes war mir’s, als ob mein Geist eine Leere sei. Ich war mir Nichts bewußt, als einer fast schmerzhaften Intensität aller bekannten Gegenstände. Die Sonne wurde blendend hell; die weißen Seemöven, die weit hinaus einander jagten, schienen dicht vor meinem Gesichte hinzufliegen und das leise Plätschern der Wellen am kiesigen Strande schlug wie Donner an meine Ohren.

Die Thür öffnete sich, und Laura kam allein herein. So war sie am Morgen, wo wir in Limmeridge von einander schieden, ins Zimmer getreten. Langsam und zögernd, voll Kummer und Zagen war sie damals zu mir herangekommen. Jetzt kam sie mit glücklich eilenden Füßen, mit glücklich strahlendem Antlitze. Unaufgefordert umschlangen mich die geliebten Arme, begegneten die theuren Lippen den meinigen. »Mein Herzensliebling!« flüsterte sie, »jetzt dürfen wir gestehen, daß wir einander lieben?« Ihr Haupt ruhte in zärtlicher Zufriedenheit an meiner Brust. »O,« sagte sie unschuldsvoll, »ich bin so glücklich!«

Zehn Tage später waren wir noch glücklicher. Wir waren vermählt.



Kapiteltrenner

XV.

Der Gang dieser Erzählung führt mich auf seiner ununterbrochen fortschreitenden Bahn von unserem verheiratheten Leben fort dem Ende entgegen.

In vierzehn Tagen waren wir alle Drei wieder nach London zurückgekehrt; und der Schatten des kommenden Kampfes schlich sich über uns hin.

Marianne und ich trugen Sorge, Laura über die Ursache, welche uns so schnell zurückzukehren trieb – die Nothwendigkeit nämlich, uns des Grafen zu versichern – in Unwissenheit zu erhalten. Wir waren jetzt im Anfange des Monat Mai, und des Grafen Contract über das Haus in Forest Road würde im Juni abgelaufen sein. Falls er denselben erneute (und dies anzunehmen hatte ich Gründe, die ich in Kurzem nennen werde), konnte ich ziemlich sicher sein, daß er mir nicht entwischen würde. Falls er jedoch meine Erwartungen täuschte und das Land verließe – dann hätte ich keine Zeit zu verlieren, indem ich mich nach Kräften für die Begegnung mit ihm waffnete.

In der ersten Fülle meines neuen Glückes hatte ich Augenblicke gehabt, in denen mein Entschluß wankte – Augenblicke, in denen ich mich versucht fühlte zufrieden zu sein, jetzt, da das höchste Streben meines Lebens durch den Besitz von Laura’s Liebe erfüllt war. Zum erstenmale dachte ich zagend an die Größe des Wagnisses; an die gegnerischen Verhältnisse, die sich mir in den Weg stellten; an das schöne Versprechen unseres neuen Lebens und an die Gefahr, in die ich das Glück bringen mochte, das wir uns so schwer erworben. Ja! daß ich es ehrlich bekenne. Auf kurze Zeit ging ich in der süßen Führung der Liebe von dem Ziele ab, dem ich unter strengerer Zucht und trüberen Tagen treu geblieben war. Unschuldigerweise hatte Laura mich von diesem Pfade abgeleitet – und unschuldigerweise war sie bestimmt, mich auf ihn zurückzuführen.

Zu Zeiten brachten unzusammenhängende Träume der furchtbaren Vergangenheit in dem Geheimnisse des Schlafes ihr die Ereignisse zurück, von denen ihr Gedächtniß wachend alle Spur verloren. Eines Abends (kaum zwei Wochen nach unserer Vermählung) als ich sie betrachtete, wie sie schlummernd dalag, sah ich Thränen langsam durch ihre geschlossenen Augenlider quellen und hörte sie leise  Worte murmeln, welche mir sagten, daß ihr Geist zu der unheilvollen Reise von Blackwater Park zurückgekehrt sei.

Diese unbewußte Aufforderung, die so rührend und so ehrfurchteinflößend wurde durch die Heiligkeit ihres Schlafes, durchfuhr mich wie eine Flamme. Am folgenden Tage kehrten wir nach London zurück – und dies war der Tag, an dem mein Entschluß zehnfach verstärkt wieder in mir auflebte.

Die erste Nothwendigkeit war, Etwas über den Mann zu erfahren. Bis jetzt war mir seine wahre Lebensgeschichte ein undurchdringliches Geheimniß.

Ich begann mit solchen spärlichen Erkundigungsquellen, wie sie mir zu Gebote standen. Die wichtige Aussage Mr. Frederick Fairlie’s (welche Marianne erhalten hatte, indem sie meine ihr im Winter ertheilten Weisungen befolgte) erwies sich als nutzlos für den besondern Zweck, aus dessen Gesichtspunkte ich ihn jetzt betrachtete. Während ich dieselbe las, überlegte ich nochmals die Mittheilungen, welche Mrs. Clements mir über die Reihe von Betrügereien gemacht hatte, durch die man Anna nach London gelockt und sie dort dem Interesse des Verrathes geopfert hatte. Auch hier wieder hatte der Graf sich nicht offenbar compromittirt; auch hier war er für jeden practischen Zweck für mich unerreichbar.

Ich wandte mich zunächst zu Mariannen’s Tagebuche in Blackwater Park. Auf meinen Wunsch las sie mir nochmals eine Stelle aus demselben vor, in welcher es sich um ihre frühere Neugierde in Bezug auf den Grafen handelte und um die wenigen Einzelheiten, welche sie sich über ihn zu verschaffen vermocht hatte.

Die Stelle, auf die ich hier hindeute, erscheint in jenem Theile ihres Tagebuches, wo sie seinen Charakter und seine Persönlichkeit beschreibt. Sie sagt, er habe »seit Jahren nicht mehr den Boden seines Vaterlandes betreten« – habe sich erkundigt, »ob in der Blackwater Park am nächsten gelegenen Stadt sich Italiener aufhielten« – und daß er »Briefe mit allerlei Poststempeln erhalten, worunter einer mit einem großen, officiell aussehenden Siegel gewesen.« Sie ist geneigt zu glauben, daß seine lange Abwesenheit von seinem Geburtslande durch die Annahme zu erklären wäre, daß er ein politischer Flüchtling sei. Auf der anderen Seite dagegen läßt sich diese Idee nicht mit dem Umstande in Einklang bringen, daß er Briefe aus dem Auslande mit »großen, officiell aussehenden Siegeln« erhalten, indem Briefe an politische Flüchtlinge gewöhnlich die letzten sind, welche auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Postämter auf sich zu ziehen suchen.

Die Betrachtungen, welche sich mir aus dem Tagebuche aufdrängten, verbunden mit gewissen Ahnungen, die aus ihnen entstanden, ließen mich zu einem Schlusse kommen, an den nicht früher gedacht zu haben mich jetzt Wunder nahm. Ich sagte jetzt zu mir selbst, was Laura einst in Blackwater Park zu Mariannen gesagt und was die Gräfin Fosco, indem sie an der Thüre gehorcht, gehört hatte – der Graf ist ein Spion!

Laura hatte dieses Wort aufs Gerathewohl und in ihrer natürlichen Entrüstung über sein Verfahren gegen sie angewendet. Ich aber that Dies in der wohl erwogenen Ueberzeugung, daß sein Lebensberuf der eines Spions sei. Nach dieser Voraussetzung wurde ein Bleiben in England, so lange nachdem er den Zweck des Complotts erreicht, vollkommen verständlich.

Das Jahr, von dem ich jetzt schreibe, war das der großen Industrieausstellung im Krystall-Palaste in Hyde Park. Ausländer waren in großer Anzahl bereits in England angekommen, und ihre Zahl vermehrte sich noch täglich. Es befanden sich Männer unter uns, welche der unausgesetzte Argwohn ihrer Regierungen durch angestellte Agenten bis an unsere Gestade verfolgen ließ. Meine Muthmaßungen ließen mich keinen Augenblick einen Mann von des Grafen Fähigkeiten und gesellschaftlicher Stellung mit der gewöhnlichen Menge von Spionen vergleichen. Ich hatte ihn im Verdachte, daß er eine offizielle Stellung einnähme; daß das Gouvernement, dem er im Geheimen diente, ihn mit der Organisation und Leitung besonderer Agenten, weiblicher sowohl als männlicher, in diesem Lande beauftragt hatte; und ich glaubte, daß Mrs. Rubelle, welche so zur gelegenen Zeit gefunden worden, um in Blackwater Park die Krankenwärterin zu spielen, aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine von diesen Personen war.

Nach der Voraussetzung, daß diese meine Vermuthung auf Wahrheit begründet war, durfte des Grafen Stellung nicht so unangreifbar sein, wie ich mich bisher zu hoffen gescheut. An wen konnte ich mich wenden, um etwas mehr von des Mannes Geschichte und über den Mann selbst zu erfahren, als ich bis jetzt wußte?

In dieser Schwierigkeit fiel mir natürlich ein, daß ein Landsmann, auf den ich mich würde verlassen können, die geeignetste Person sein dürfte, um mir zu helfen. Der erste Mann, an den ich unter diesen Umständen dachte, war zugleich der einzige Italiener, mit dem ich genau befreundet war – mein drolliger kleiner Freund, Professor Pesca.

Der Professor ist in diesen Blättern so lange vom Schauplatze abgetreten, daß er Gefahr gelaufen, ganz und gar vergessen zu sein.

Es ist das nothwendige Gesetz einer Erzählung wie diese, daß die darin betreffenden Personen nur dann erscheinen, wenn der Gang der Ereignisse sie aufnimmt – sie kommen und gehen, nicht nach der Gunst meiner persönlichen Vorliebe, sondern nach dem Rechte ihrer unmittelbaren Verbindung mit den zu erzählenden Ereignissen. Aus diesem Grunde blieb nicht blos Pesca, sondern auch meine Mutter und meine Schwester weit im Hintergrunde der Erzählung zurück. Meine Besuche nach der Villa in Hampstead, meiner Mutter Ueberzeugung von Laura’s Tode, meine Bemühungen, sie und meine Schwester vom Gegentheile zu überzeugen, was mir bei ihrer eifersüchtigen Liebe zu mir nicht gelingen wollte; die peinliche Nothwendigkeit, in Folge dieses ihres Vorurtheils sie über meine Vermählung in Unwissenheit zu lassen – alle diese kleinen Familienereignisse sind unberichtet geblieben, weil sie nicht zum Hauptinteresse der Geschichte gehörten. Was sie noch zu meinen Sorgen hinzufügten, ist Nichts, und meine Täuschung noch bitterer machten – der ruhige Gang der Ereignisse hat sie unerbittlich übergangen.

Aus demselben Grunde habe ich hier Nichts von dem Troste gesagt, den ich in Pesca’s brüderlicher Zuneigung zu mir fand, als ich ihn nach meiner plötzlichen Rückkehr aus Limmeridge House wiedersah. Ich habe Nichts von der treuen Anhänglichkeit gesagt, mit der mein warmherziger kleiner Freund mir nach dem Einschiffungsplatze folgte, als ich nach Centralamerika absegelte, noch von dem frohen Jubel, mit dem er mich begrüßte, als wir uns das nächste Mal in London wiedersahen. Hätte ich mich berechtigt gefühlt, die Dienstesanerbietungen anzunehmen, die er mir bei meiner Heimkehr machte, so würde er längst wieder in diesen Blättern erschienen sein. Aber, obgleich ich wußte, daß ich mich auf seine Ehre und seinen Muth verlassen durfte, war ich doch nicht ebenso fest überzeugt, daß ich seiner Vorsicht vertrauen dürfe; und nur aus diesem Grunde setzte ich meine Nachforschungen allein fort. Es wird hiermit klar sein, daß Pesca durchaus nicht von mir oder meinem Interesse getrennt gewesen, obgleich er von dem Fortgange dieser Erzählung fern geblieben. Er war mir noch immer ein ebenso treuer und dienstwilliger Freund, wie er es je im Leben gewesen.

Ehe ich Pesca zu meinem Beistande herbeiholte, war es nothwendig, daß ich mich selbst davon überzeugte, mit welch einer Art von Manne ich zu thun habe. Bis zu diesem Augenblicke hatte ich den Grafen Fosco noch nicht ein einziges Mal gesehen.

Drei Tage nach unserer Rückkehr nach London machte ich mich morgens zwischen zehn und elf Uhr allein auf den Weg nach Forest Road, St. John’s Wood. Es war ein schöner Tag– es blieben mir einige Mußestunden – und ich hielt es für wahrscheinlich, daß, falls ich ein wenig wartete, der Graf sich durch das schöne Wetter herauslocken lassen würde. Ich hatte keinen besonderen Grund zu befürchten, daß er mich bei Tage erkennen würde, denn das einzige Mal, daß er mich gesehen, war an jenem Abende gewesen, wo er mir von der Eisenbahn in der Entfernung nach Hause gefolgt war.

Es ließ sich Niemand an den vorderen Fenstern des Hauses sehen. Ich ging in eine kleine Nebenstraße hinein, die an der Seite des Hauses hinunter lief, und schaute über die niedrige Gartenmauer. Eins der Fenster in einer hinteren Parterrestube stand offen und über die Oeffnung hin war ein Netz gezogen. Ich sah Niemanden; aber ich hörte im Zimmer erst das laute Zwitschern und Singen der Vögel und dann die tiefe, durchdringende Stimme, mit der Mariannen’s Beschreibung mich vertraut gemacht. »Komm heraus auf meine Finger, meine Piep-Piep-Piepvögelchen!« rief die Stimme. »Komm heraus! Hüpf hinauf! Eins – zwei – drei – und oben. Drei – zwei – eins – und wieder unten! Eins – zwei – drei – zirp – zirp – zirp – ziiiirp!« Der Graf exercirte seine Canarienvögel, wie er sie zu Mariannen’s Zeit in Blackwater Park zu exerciren pflegte.

Ich wartete eine kleine Weile, bis das Singen und Zirpen aufhörte. »Komm und küßt mich!« sagte die tiefe Stimme. Ich hörte ein erwiderndes Zwitschern und Zirpen – ein leises, sanftes Lachen – dann trat eine Stille von einer oder zwei Minuten ein – und darauf wurde die Hausthür geöffnet. Ich wandte mich um und ging zurück. Die erhabene Melodie des Gebetes in Rossini’s »Moses,« von einer wohlklingenden Baßstimme gesungen, erhob sich großartig in der Stille der Vorstadt. Das Pförtchen des Vordergartens öffnete und schloß sich. Der Graf war herausgekommen.

Er ging über den Weg hinüber und nach der westlichen Grenze des Regent’s Park zu. Ich blieb auf meiner Seite der Straße ein wenig hinter ihm zurück und nahm dieselbe Richtung.

Marianne hatte mich auf seine hohe Gestalt, seine ungeheure Corpulenz und seine auffallenden Trauerkleider vorbereitet – nicht aber auf des Mannes Frische, Munterkeit und Lebenskraft. Er trug seine sechzig Jahre, als ob es keine vierzig gewesen wären. Er schlenderte dahin, den Hut ein wenig auf der einen Seite tragend, mit einem leichten, munteren Schritte, indem er seinen großen Stock schwang, vor sich hin summte und von Zeit zu Zeit mit süperber Herablassung an den Häusern und Gärten zu beiden Seiten hinauf und hinab blickte. Hätte man einem Fremden gesagt, es gehöre diesem Manne die ganze Nachbarschaft, so würde dies den Fremden nicht im Geringsten überrascht haben. Er sah sich nicht ein einziges Mal um; er nahm anscheinend keine Notiz von mir, noch von sonst Jemandem, der an ihm an seiner Seite der Straße vorbeiging – ausgenommen hin und wieder, wenn er mit einer Art leichter, väterlicher guter Laune die Kindermädchen und Kinder anlächelte, die ihm begegneten. Auf diese Weise führte er mich immer weiter, bis wir an eine Colonie von Kaufläden außerhalb der westlichen Terrassen des Parkes kamen.

Hier trat er in einen Pastetenbäckerladen (wahrscheinlich um eine Bestellung zu machen) und kam augenblicklich mit einem kleinen Fruchttörtchen in der Hand wieder heraus. Ein italienischer Knabe mit einer Drehorgel, auf welcher sich ein jämmerlicher, verschrumpfter Affe befand, spielte vor dem Laden. Der Graf stand still, biß ein Stück für sich selbst aus dem Törtchen und überreichte das Uebrige mit ernster Miene dem Affen. »Mein armer kleiner Bursch!« sagte er mit grotesker Zärtlichkeit; »Du siehst hungrig aus. Im heiligen Namen der Menschheit überreiche ich Dir etwas Frühstück!« Der Orgelspieler wagte ein jammervolle Bitte um einen Penny an den wohlthätigen Fremden. Der Graf zuckte verächtlich die Achseln – und ging weiter.

Wir kamen zu den Straßen und der besseren Classe von Kaufläden zwischen dem New-Road und der Oxford Straße. Der Graf unterbrach seinen Weg abermals und trat in einen kleinen Optikerladen, der eine Anzeige im Fenster hatte, daß drinnen Ausbesserungen aus das Sorgfältigste ausgeführt würden. Er kam wieder heraus und hatte ein Opernglas in der Hand; dann ging er ein paar Schritte weiter und stand wiederum still, um einen vor einem Notenladen stehenden Opernzettel zu lesen. Er that dies aufmerksam, überlegte einen Augenblick und rief dann ein leeres Cabriolet an, das vorbeifuhr. »Zum Billetverkauf der Oper,« sagte er zu dem Kutscher und fuhr davon.

Ich ging hinüber und sah meinerseits den Opernzettel an. Die angekündigte Oper war »Lucrezia Borgia« und die Vorstellung sollte an demselben Abende stattfinden. Das Opernglas in der Hand des Grafen, sein sorgfältiges Lesen des Zettels und sein Befehl an den Cabrioletkutscher – ließen mich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er ein Zuhörer der Vorstellung zu sein beabsichtigte. Ich hatte Gelegenheit, indem ich mich an einen der Decorationsmaler des Theaters, mit dem ich in früheren Zeiten bekannt gewesen, wandte, für mich und einen Freund Billete für’s Parterre zu erhalten. Es war wenigstens eine Aussicht vorhanden, daß der Graf mir und einem Gefährten leicht unter den Zuschauern sichtbar sein würde, und in diesem Falle hatte ich ein Mittel, noch an diesem Abende, zu erfahren, ob Pesca seinen Landsmann kenne oder nicht.

Dieser Gedanke entschied sofort über die Art und Weise, in der ich meinen Abend hinbringen würde. Ich verschaffte mir die Billete und gab auf meinem Heimwege ein paar Worte an den Professor in seiner Wohnung ab. Ein Viertel vor acht Uhr kehrte ich zurück, um ihn mit mir in die Oper zu nehmen. Mein kleiner Freund war in einem Zustande der unbeschreiblichsten Aufregung, mit einer festlichen Blume im Knopfloch und dem größten Opernglase unter dem Arme, das ich je gesehen.

»Bist Du fertig?« frug ich.

»Richtig-Alles-richtig,« sagte Pesca.

Wir machten uns auf den Weg nach dem Theater.



Kapiteltrenner

XVI.

Die letzten Noten der Ouvertüre wurden gespielt und die Plätze im Parterre waren alle gefüllt, als Pesca und ich anlangten.

Doch blieb noch reichlich Raum für uns in dem Stehplatze, der sich um das Parterre zog – genau der Ort, der für den Zweck, der mich in die Vorstellung führte, am Geeignetsten war. Ich ging zuerst an die Barrière, welche uns von dem Sperrsitz trennte und sah mich hier nach dem Grafen um. Er war nicht dort. Als ich zurück und im Stehplatze entlang ging, erblickte ich ihn im Parterre. Er hatte einen vortrefflichen Platz – ungefähr den zwölften oder vierzehnten vom Ende der Bank und nur drei Reihen hinter den Sperrsitzen. Ich stellte mich genau in gerader Linie mit ihm auf und Pesca stand an meiner Seite. Der Professor wußte noch Nichts von dem Zwecke, um dessentwillen ich ihn in das Theater gebracht und war etwas erstaunt darüber, daß wir nicht näher zur Bühne herangingen.

Der Vorhang ging in die Höhe, und die Oper begann.

Während des ganzen ersten Aufzuges blieben wir an unserem Platze; der Graf war so sehr in die Musik und die Aufführung vertieft, daß er auch nicht einen zufälligen Blick in unsere Richtung warf. Keine Note von Donizetti’s reizender Musik entging ihm. Da saß er, hoch über seine Nachbarn empor ragend, indem er von Zeit zu Zeit lächelte und beifällig mit seinem großen Kopfe nickte. Wenn die Leute neben ihm beim Schlusse irgend einer Arie applaudirten (worauf ein englisches Publikum stets versessen ist), ohne im Geringsten auf die unmittelbar sich anschließende Musik des Orchesters Rücksicht zu nehmen, schaute er sich mit einer Miene mitleidiger Gegenvorstellung nach ihnen um und hielt eine Hand mit einer Bewegung wie höflicher Bitte in die Höhe. Bei den feineren Gesangsstellen und den zarteren Musikphrasen, welche von Anderen nicht applaudirt wurden, schlugen seine dicken Hände, die mit makellos sitzenden schwarzen Handschuhen bekleidet waren, sanft zum Zeichen der fein gebildeten Schätzung eines musikalischen Mannes ineinander. Bei solchen Gelegenheiten summte sein sanfter Beifall: »Bravo! Bra–v–a!« wie das Schnurren einer großen Katze durch die Stille. Seine unmittelbaren Nachbarn – derbe, frische Landleute, die sich erstaunensvoll im modischen London sonnten – begannen, seinem Beispiele zu folgen. Mancher Ausbruch des Beifalls ging an diesem Abende im Parterre von dem sanften Zusammenschlagen der schwarz behandschuhten Hände aus. Jenes Menschen gefräßige Eitelkeit verschlang diesen seiner kritischen Ueberlegenheit gezollten Tribut mit einem Anscheine des größten Hochgenusses. Ein Lächeln nach dem andern schwebte über sein dickes Gesicht. Er schaute während der Pausen in der Musik in heiterer Zufriedenheit mit sich selbst und seinen Nebenmenschen um sich. »Ja! ja! diese barbarischen Engländer lernen Etwas von mir. Hier, dort, überall bin ich – Fosco – ein Einfluß, den man fühlt, ein Mann, der über Alle erhaben steht!« Falls je ein Gesicht gesprochen hat, so sprach das seinige jetzt, und jenes waren seine Worte.

Der Vorhang fiel nach dem ersten Akte, und das Publikum stand auf, um sich umzuschauen. Dies war der Zeitpunkt, auf den ich gewartet hatte – der Augenblick, wo ich sehen wollte, ob Pesca ihn kenne.

Er erhob sich mit den Uebrigen und schweifte großartig, mit seinem Opernglase über die Inhaber der Logen hin. Zuerst hatte er den Rücken uns zugewandt, bald aber drehte er sich herum und betrachtete die Logen über uns, wobei er für ein paar Minuten sich seines Glases bediente – dann nahm er es hinweg, fuhr jedoch fort, hinaufzublicken. Dies war der Augenblick, den ich wählte, Pesca’s Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, da jetzt sein ganzes Gesicht voll nach uns gewendet war.

»Kennst Du den Mann da?« frug ich.

»Welchen Mann, lieber Freund?«

»Den großen, corpulenten Mann, der dort mit dem Gesicht uns zugewandt steht.«

Pesca erhob sich auf seine Fußspitzen und sah sich den Grafen an.

»Nein,« sagte er. »Der dicke Mann ist mir unbekannt. Ist er berühmt? Warum zeigst Du ihn mir?«

»Weil ich besondere Gründe habe zu wünschen, Etwas über ihn zu erfahren. Er ist ein Landsmann von Dir und heißt Graf Fosco. Kennst Du den Namen?«

»Nicht im Geringsten, Walter. Der Name sowohl wie der Mann ist mir fremd.«

»Bist Du ganz sicher, daß Du ihn nicht kennst? Sieh ihn noch einmal an – recht aufmerksam. Ich will Dir, wenn wir das Theater verlassen, sagen, weshalb mir so sehr daran liegt. Warte! Laß’ mich Dir hier hinauf helfen, damit Du ihn besser siehst.«

Ich half dem kleinen Mann auf die Kante der Plattform steigen, auf der sich die Parterresitze befinden. Hier war ihm seine kurze Gestalt kein Hinderniß: er konnte über die Köpfe der Damen hinwegsehen, die am äußeren Ende der Bank saßen.

Ein schlanker, blondhaariger Mann, den ich bisher nicht bemerkt hatte – ein Mann mit einer Narbe auf seiner linken Wange – schaute Pesca aufmerksam an, als ich ihn auf die Plattform stellte, und dann, der Richtung von Pesca’s Augen folgend, blickte er den Grafen noch aufmerksamer an. Vielleicht hatte er unsere Unterhaltung gehört, und dieselbe hatte, wie ich mir vorstellte, seine Neugierde erregt.

Unterdessen heftete Pesca seine Blicke aufmerksam auf das große, lächelnde Gesicht, das ihm gerade gegenüber ein wenig aufwärts gekehrt war.

»Nein,« sagte er, »ich habe diesen großen, dicken Mann in meinem ganzen Leben noch nie mit meinen zwei Augen erblickt.«

Während er sprach, blickte der Graf herunter nach den Parterrelogen hinter uns zu.

Die Blicke der beiden Italiener begegneten sich.

Im Augenblicke vorher war ich nach Pesca’s wiederholter Versicherung überzeugt gewesen, daß er ihn nicht kannte. Im Augenblicke nachher war ich ebenso fest überzeugt, daß der Graf Pesca kannte!

Ihn kannte – und, was noch seltsamer war – ihn zugleich fürchtete! Die Veränderung, die mit dem Gesichte des Schurken vorging, war nicht zu verkennen. Die bleierne Blässe, die sich in einer Secunde über sein gelbes Antlitz zog, das plötzliche Erstarren all’ seiner Züge, das verstohlene Forschen seiner kalten, grauen Augen, die stille Unbeweglichkeit seines ganzen Körpers – alles Dies sprach deutlich genug. Eine tödtliche Furcht hatte ihn an Leib und Seele ergriffen – und sein Erkennen Pesca’s war die Ursache derselben!

Der schlanke Mann mit der Narbe auf der Wange stand noch immer neben uns. Er hatte anscheinend seinen Schluß aus der Wirkung gezogen, die Pesca’s Anblick auf den Grafen gemacht, wie ich den meinigen. Er war ein stiller, gentlemännisch aussehender Mann, dem Anscheine nach ein Ausländer, und sein Interesse an unserem Verfahren drückte sich durchaus nicht auf beleidigende Weise aus.

Was mich selbst betrifft, so war ich so erstaunt über die Veränderung in des Grafen Gesichte und über die so ganz unerwartete Wendung der Ereignisse, daß ich nicht wußte, was ich zunächst thun oder sagen sollte. Pesca rief mich zu mir selbst zurück, indem er an seinen früheren Platz an meiner Seite zurücktrat und zuerst wieder sprach.

»Wie der dicke Mann glotzt!« rief er aus. »Glotzt er mich an? Bin ich etwa berühmt? Wie kann er mich kennen, wenn ich ihn nicht kenne?«

Ich heftete meine Augen noch immer fest auf den Grafen. Ich sah, wie er sich zum ersten Male wieder bewegte, als Pesca herabstieg, und zwar so wandte, daß er den kleinen Mann an seinem niedrigeren Platze nicht aus dem Gesichte verlor. Ich war neugierig zu sehen, was sich ereignen würde, wenn sich Pesca’s Aufmerksamkeit von ihm abzöge, und frug deshalb Pesca, ob er unter den anwesenden Damen in den Logen einige seiner Schülerinnen sehe. Pesca erhob augenblicklich sein großes Opernglas und schweifte langsam mit demselben über den oberen Theil des Theaters hin, indem er mit der größten Gewissenhaftigkeit nach Schülerinnen suchte.

Sowie er sich auf diese Weise beschäftigt zeigte, wandte der Graf sich um, ging an den Personen vorüber, die auf der entgegengesetzten Seite von dem Platze, an dem er stand, saßen, und verschwand in der Mittelpassage des Parterres. Ich faßte Pesca am Arm und zog ihn zu seinem unaussprechlichen Erstaunen mit mir nach dem Hintergrunde des Parterres herum, um den Grafen abzufassen, ehe er an die Thür würde gelangen können. Ziemlich zu meinem Erstaunen eilte der schlanke Mann uns voraus, indem er einem Aufenthalte aus dem Wege ging, der dadurch verursacht wurde, daß einige Personen auf unserer Seite ihre Plätze verließen, wodurch Pesca und ich verhindert wurden, unsern schnellen Lauf fortzusetzen. Als wir in der Vorhalle anlangten, war der Graf verschwunden – und der Ausländer mit der Narbe ebenfalls.

»Komm nach Hause,« sagte ich; »komm nach Hause, Pesca, nach Deiner Wohnung. Ich muß allein mit Dir sprechen – und zwar sofort.«

»Güte du meine Güte!« rief der Professor in einem Zustande des beispiellosesten Erstaunens aus; »was in aller Welt ist los!«

Ich schritt schnell dahin, ohne zu antworten. Die Umstände, unter welchen der Graf das Theater verlassen, brachten mich auf den Gedanken, daß seine unbegreifliche Sorge, Pesca zu entwischen, ihn zu noch ferneren, äußersten Mitteln schreiten lassen möge. Er konnte, indem er London verließe, auch mir entwischen. Ich zweifelte an der Zukunft, falls ich ihm nur einen Tag der Freiheit ließe, um nach Gefallen zu handeln. Und ich zweifelte an dem Ausländer, der uns vorausgeeilt, und den ich im Verdacht hatte, daß er ihm absichtlich hinausgefolgt war.

Unter diesem doppelten Argwohne brauchte ich nicht lange Zeit, um Pesca mit Dem bekannt zu machen, was ich wollte. Sobald wir allein in seinem Zimmer waren, vermehrte ich seine Verwirrung und sein Erstaunen noch um das Hundertfache, indem ich ihm ebenso deutlich, wie ich es hier beschrieben, auseinandersetzte, welchen Zweck ich im Auge habe.

»Lieber Freund, was kann ich thun?« rief, der Professor, indem er mir mit kläglicher Miene beide Hände entgegenstreckte. »Teufel-zum-Teufel! Wie kann ich Dir helfen, Walter, wenn ich den Mann nicht kenne?«

»Er kennt Dich – er fürchtet Dich – er hat das Theater verlassen, um Dir zu entgehen. Pesca! es muß ein Grund dafür vorhanden sein. Schau in Dein eigen Leben, ehe Du nach England kamst, zurück. Du verließest Italien, wie Du mir selbst gesagt hast, aus politischen Gründen. Du hast dieser Gründe niemals gegen mich Erwähnung gethan, und ich frage auch jetzt nicht nach ihnen. Ich bitte Dich nur, Deine Erinnerungen zu wecken und zu sagen, ob Dir dabei nicht eine Ursache einfällt für das Entsetzen, das Dein Anblick jenem Manne verursachte.«

Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen brachten diese harmlosen Worte genau dieselbe Wirkung auf Pesca hervor, die Pesca’s Anblick auf den Grafen gehabt hatte. Das rosige Gesicht meines kleinen Freundes wurde in einem Augenblicke kreideweiß, und er zog sich, am ganzen Leibe zitternd, langsam von mir zurück.

»Walter!« sagte er. »Du weißt nicht, was Du verlangst.«

Er sprach düster – und sah mich an, als ob ich ihm plötzlich eine uns Beiden drohende verborgene Gefahr gezeigt hätte. In weniger als einer Minute war er so verschieden von dem fröhlichen, lebhaften, drolligen Mann meiner früheren Erfahrung geworden, daß ich, falls er mir in diesem Zustande auf der Straße begegnet wäre, ihn sicher nicht erkannt hätte.

»Vergieb, falls ich Dich unabsichtlich erschreckt und Dir Schmerz verursacht habe,« sagte ich. »Bedenke, welch’ bitteres Unrecht meine Frau vom Grafen Fosco erfahren hat. Bedenke, daß dies Unrecht niemals wieder gut gemacht werden kann, falls ich nicht die Mittel in meine Gewalt bekomme, ihn zu zwingen, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich sprach in ihrem Interesse, Pesca! – ich bitte Dich nochmals, mir zu vergeben – weiter kann ich Nichts sagen.«

Ich stand auf, um zu gehen. Er hielt mich zurück, ehe ich bis zur Thür war.

»Warte,« sagte er; »Du hast mich vom Kopf bis zu den Füßen erschüttert. Du weißt nicht, wie und warum ich mein Vaterland verlassen. Laß mich Fassung gewinnen – laß mich nachdenken, wenn ich kann.«

Ich kehrte an meinen Platz zurück. Er schritt auf und ab und sprach unzusammenhängend in seiner eigenen Sprache zu sich selbst. Nachdem er einige Male auf und ab gegangen, kam er plötzlich zu mir heran und legte seine kleinen Hände mit einer seltsamen Innigkeit und Feierlichkeit auf meine Brust.

»Bei Deinem Leben und Deiner Seele, Walter,« sagte er, »giebt es keine andere Art und Weise, diesen Mann zu fassen, als den zufälligen Weg durch mich?«

»Keine andere,« entgegnete ich.

Er verließ mich wieder, öffnete die Zimmerthür, blickte vorsichtig in den Corridor hinaus; schloß die Thür wieder und kam zurück.

»Du hast Dir das Recht über mich gewonnen, Walter,« sagte er, »an dem Tage, wo Du mir das Leben rettetest. Es gehörte von jenem Augenblicke an Dir, falls es Dir gefiele, es zu nehmen. Nimm es jetzt. Ja! ich meine, was ich sage. Meine nächsten Worte werden, so wahr ein Gott über uns ist, mein Leben in Deine Hände gehen.«

Sein Zittern und der Ernst, mit dem er diese merkwürdigen Worte sagte, brachten in mir die Ueberzeugung hervor, daß er die Wahrheit sagte.

»Erinnere Dich an Dies!« fuhr er fort, indem er in der Heftigkeit seiner Aufregung seine Hand gegen mich schüttelte. »Ich halte in meinem eigenen Geiste keinen Faden zwischen jenem Manne, Fosco, und der Vergangenheit, die ich um Deinetwillen mir zurückrufen will. Falls Du den Faden findest, so behalte ihn für Dich – sage mir Nichts – auf meinen Knieen bitte und beschwöre ich Dich, laß mich in Unkenntniß, laß mich in Blindheit über die ganze Zukunft, wie ich es jetzt bin!«

Er sprach noch ein paar hastige, unzusammenhängende Worte – und schwieg wieder.

Ich sah, daß die Anstrengung, sich bei einer Gelegenheit, die zu ernster Natur war, um ihm den Gebrauch der drolligen Ausdrücke und Wendungen seines gewöhnlichen Wörterverzeichnisses zu gestatten, auf Englisch auszudrücken, noch bedeutend die Schwierigkeit vergrößerte, die er überhaupt dabei fühlte, mit mir zu sprechen. Da ich in der ersten Zeit unseres vertrauten Umganges gelernt hatte, seine Sprache zu lesen und zu verstehen (wenngleich nicht zu sprechen), schlug ich ihm jetzt vor, sich seiner Muttersprache zu bedienen, während ich etwaige Fragen auf Englisch an ihn richten würde. Er ging hierauf ein. In seiner wohlklingenden Sprache – wobei seine heftige Bewegung sich in dem fortwährenden Arbeiten seiner Züge, in der Wildheit und Hast seiner ausländischen Gebehrden, nie aber in lauteren Tönen verrieth – hörte ich jetzt die Worte, welche mich für den letzten Kampf waffneten, der mir in diesen Blättern zu berichten übrig bleibt.4

»Du weißt Nichts von meinen Beweggründen, um deretwillen ich Italien verließ,« begann er, »ausgenommen, daß sie politischer Art waren. Wären es Verfolgungen von Seiten meiner Regierung gewesen, die mich nach diesem Lande trieben, so würde ich diese Gründe weder Dir noch sonst Jemandem verschwiegen haben. Ich habe sie verschwiegen, weil keine Regierungsbehörde das Urtheil meiner Verbannung ausgesprochen hat. Du hast von den politischen Verbindungen gehört, Walter, welche sich in jeder großen Stadt des Festlandes von Europa verstecken? Zu einer dieser Gesellschaften gehörte ich in Italien – und gehöre ich noch jetzt in England. Als ich nach diesem Lande kam, geschah es auf Befehl meines Vorgesetzten. Ich war in meiner Jugend zu diensteifrig, und lief Gefahr, mich und Andere dadurch zu compromittiren. Aus diesem Grunde erhielt ich Befehl, nach England auszuwandern und zu warten. Ich wanderte aus – ich habe gewartet – ich warte noch jetzt. Morgen schon kann ich fortgerufen werden. Doch ist es mir einerlei – ich bin hier, ernähre mich durch Unterricht und kann warten. Ich breche keinen Eid (Du sollst sogleich hören, warum), indem ich meine Mittheilung durch Nennung des Namens der Gesellschaft, zu der ich gehöre, vollständig mache. Alles, was ich thue, ist, daß ich mein Leben in Deine Hände gebe. Falls je ein Mensch erfährt, daß Das, was ich Dir jetzt sagen werde, über meine Lippen gekommen ist, bin ich, so wahr wir hier sitzen, des Todes.«

Er flüsterte mir die nächsten Worte ins Ohr. Ich bewahre das Geheimniß, welches er mir auf diese Weise mittheilte. Der Bund, zu welchem er gehörte, wird für den Zweck dieser Erzählung hinlänglich individualisirt sein, wenn ich ihn bei den wenigen Gelegenheiten, in welchen es nothwendig sein wird seiner zu erwähnen, »die Verbindung« nenne.

»Der Zweck der ›Verbindung,‹ fuhr Pesca fort, ist ganz einfach derselbe, den andere Gesellschaften dieser Art im Auge haben – der Sturz der Tyrannei und die Behauptung der Rechte des Volks. Die Grundsätze dieser ›Verbindung‹ sind zweierlei Art. So lange eines Mannes Leben nützlich oder auch nur harmlos ist, hat er das Recht, dasselbe zu genießen. Sobald aber sein Leben dem Wohlergehen seiner Mitmenschen entgegentritt, hat er dieses Leben verwirkt, und es ist nicht allein kein Verbrechen, sondern ein positives Verdienst, ihn desselben zu berauben. Es liegt mir nicht ob, zu sagen, in welchen furchtbaren Verhältnissen des Druckes und der Tyrannei diese Gesellschaft ihren Ursprung hatte. Und es liegt Euch nicht ob – Euch Engländern, die Ihr Eure Freiheit vor so langer Zeit erranget, daß Ihr ganz bequem vergessen habt, wie viel Blut ihr dabei vergossen, und zu welchen äußersten Mitteln Ihr dabei geschritten – es liegt Euch nicht ob, zu sagen, wie weit die schlimmste aller Erbitterungen die bis zum Wahnsinne gereizten Männer einer tyrannisirten Nation fortreißen darf. Das Eisen, das in unsere Seelen gedrungen, ging zu tief, als daß Ihr es finden könntet. Laßt den Flüchtling zufrieden! Lacht über ihn, mißtrauet ihm, verwundert Euch über das geheime Wesen, das zuweilen unter der alltäglichen Respectabilität und Ruhe eines Mannes wie ich, zuweilen unter der Armuth und entsetzlichen Unsauberkeit von Männern schlummert, die weniger glücklich, weniger schmiegsam und weniger geduldig sind als ich – aber richtet uns nicht! Zur Zeit Eures ersten Karl hättet Ihr uns vielleicht Gerechtigkeit widerfahren lassen; aber jetzt hat der lange Genuß Eurer eigenen Freiheit Euch unfähig gemacht, sie uns angedeihen zu lassen.«

Alle die tiefsten Gefühle seiner Natur schienen sich in jenen Worten Luft zu machen; zum erstenmale in unserem Leben schüttete er mir sein ganzes Herz aus – aber noch immer in leisen Tönen – seine Furcht vor der fürchterlichen Offenbarung, die er mir machte, verließ ihn keinen Augenblick.

»Bis hierher,« fuhr er fort, erscheint Dir die Gesellschaft wie jede andere Gesellschaft. Ihr Zweck ist (Eurer englischen Ansicht nach) Anarchie und Revolution. Sie nimmt das Leben eines schlechten Fürsten oder eines schlechten Ministers, als ob der Eine und der Andere gefährliche, wilde Thiere wären, die bei der ersten Gelegenheit erschossen werden müßten. Ich gebe dies zu. Aber die Gesetze der ›Verbindung‹ sind von allen anderen Gesellschaften der Welt verschieden. Die Mitglieder sind einander nicht bekannt. Es ist ein Präsident in Italien, und, es sind Präsidenten im Auslande. Jeder derselben hat seinen Sekretär. Die Präsidenten und Sekretäre kennen die Mitglieder; aber die Mitglieder unter sich sind einander Alle fremd, bis ihr Vorgesetzter es in der politischen Nothwendigkeit der Zeit oder der privaten Nothwendigkeit der Gesellschaft für nöthig erachtet, sie mit einander bekannt zu machen. Unter solchem Schutze bedarf es keines Eides bei der Ausnahme. Wir sind mit der ›Verbindung‹ durch ein geheimes Zeichen identificirt, das wir Alle tragen und bis ans Ende unseres Lebens tragen. Wir haben Befehl, unseren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen und uns viermal des Jahres für den Fall, daß man unserer Dienste bedürfte, bei dem Präsidenten oder dem Sekretär zu melden. Wir sind gewarnt, daß, falls wir die ›Verbindung‹ verrathen oder ihr schaden, indem wir anderen Interessen dienen, wir nach den Gesetzen der ›Verbindung‹ sterben müssen – durch die Hand eines Fremden, der vielleicht vom andern Ende der Welt herkommt, um den Schlag zu führen, oder durch die Hand unseres eigenen Herzensfreundes, der uns unbekannt während all’ der langen Jahre unseres vertrauten Umganges ein Mitglied gewesen sein mag. Zuweilen wird der Tod verschoben, zuweilen aber folgt er dem Verrathe auf dem Fuße nach. Unsere erste Sache ist, zu warten zu verstehen – die zweite, zu gehorchen, wenn der Befehl kommt. Einige von uns mögen ihr Lebelang warten und nicht gebraucht werden. Andere wieder mögen vielleicht schon am Tage ihrer Aufnahme zum Werke oder zur Vorbereitung zum Werke gerufen werden. Ich selbst – der leichte, fröhliche kleine Mann, den Du kennst, und der aus freiem Antriebe kaum mit einem Taschentuche die Fliege von seinem Gesichte verjagen mag – ich trat in meiner Jugend unter so furchtbarer Ausreizung, wie ich sie Dir nicht beschreiben will, durch einen Impuls in die ›Verbindung‹ ein, wie ich mich durch Impuls hätte tödten mögen. Jetzt muß ich in ihr verbleiben – sie hält mich bis zu meinem Tode gefaßt, wie ich auch immer jetzt in meinen verbesserten Umständen und meiner ruhigeren Männlichkeit über sie denken mag. Als ich noch in Italien war, wurde ich zum Sekretär erwählt, und alle Mitglieder jener Zeit, die angesichts des Präsidenten gebracht wurden, wurden auch mir vorgestellt.«

Ich fing an, ihn zu verstehen; ich sah das Ende seiner außerordentlichen Mittheilung. Er schwieg einen Augenblick, mich aufmerksam beobachtend – bis er offenbar errathen, was in mir vorging.

»Du hast bereits Deinen Schluß gezogen,« sagte er. »Ich lese es in Deinem Gesichte. Sage mir Nichts. Behalte das Geheimniß Deiner Gedanken für Dich. Laß mich dies eine letzte Opfer meiner selbst für Dich machen, – und dann von diesem Gegenstande auf immer schweigen.«

Er machte mir ein Zeichen, nicht zu sprechen – stand auf – zog seinen Rock aus – und krämpte den linken Aermel seines Hemdes um.

»Ich versprach Dir, daß diese Mittheilung eine vollständige sein solle,« flüsterte er dicht an meinem Ohre, während er mit den Augen aufmerksam die Thür bewachte. »Was auch danach kommen möge, Du sollst mir nicht den Vorwurf zu machen haben, daß ich Dir irgend Etwas verschwiegen hätte, was Dir für Deinen Zweck nothwendig zu wissen war. Ich habe gesagt, daß die ›Verbindung‹ ihre Mitglieder durch ein Zeichen identificirt, welches mit ihnen in das Grab geht. Sieh’ her, dies ist die Stelle, und dies das Zeichen.«

Er erhob seinen entblösten Arm und zeigte mir hoch im Oberarme und auf der Innenseite eine Brandmarke, die tief ins Fleisch gebrannt und von heller Blutfarbe war. Ich enthalte mich, die Devise dieser Brandmarke zu beschreiben. Genüge es zu sagen, daß dieselbe in runder Form und so klein war, daß eine Schillingmünze sie vollkommen bedeckt hätte.

»Ein Mann, der dieses Zeichen auf dieser Stelle eingebrannt trägt,« sagte er, seinen Arm wieder bedeckend, »ist ein Mitglied der ›Verbindung.‹ Ein Mann, welcher der ›Verbindung‹ falsch geworden, wird früher oder später von den Präsidenten oder Sekretären entdeckt werden, welche ihn kennen. Und ein Mann, der von den Vorgesetzten als Verräther entdeckt worden, ist todt. Kein menschliches Gesetz kann ihn schützen. Bedenke, was Du gesehen und gehört hast; ziehe Deine Schlüsse und handle wie Du willst. Aber um Gotteswillen; was Du auch entdecken mögest, was Du auch thuest, sage mir Nichts! Laß mich von einer Verantwortlichkeit frei bleiben, an die zu denken mich schaudern macht – und die, wie ich in meinem Gewissen überzeugt bin, jetzt noch nicht meine Verantwortlichkeit ist. Zum letzten Male sage ich es – bei meiner Ehre als Gentleman, bei meinem Eide als Christ, falls der Mann, den Du mir in der Oper bezeichnetest, mich kennt, so ist er so verändert oder so verstellt, daß ich ihn nicht kenne. Ich weiß Nichts von seinen Handlungen oder Absichten in England – ich habe ihn nie gesehen – habe nie, soviel ich weiß, vor heute Abend seinen Namen gehört. Ich sage weiter Nichts. Verlasse mich eine Weile, Walter; ich fühle mich überwältigt durch das, was sich zugetragen hat, erschüttert durch das, was ich Dir mitgetheilt habe. Laß mich versuchen wieder der Alte zu werden, ehe wir wieder zusammenkommen.«

Er sank auf einen Stuhl, und sich von mir abwendend barg er sein Gesicht in seinen Händen. Ich öffnete leise die Thür, um ihn nicht zu stören – und sprach ein paar Abschiedsworte mit leiser Stimme, so daß er sie hören konnte oder nicht, wie er wollte.

»Ich will die Erinnerung an heute Abend in der tiefsten Tiefe meines Herzens bewahren,« sagte ich. »Du sollst niemals bereuen, mir Dein Vertrauen geschenkt zu haben. Darf ich morgen zu Dir kommen? Darf ich schon um neun Uhr zu Dir kommen?«

»Ja, Walter,« entgegnete er mich liebevoll anblickend und wieder englisch sprechend, wie wenn es jetzt sein größter Wunsch sei, zu unseren früheren Beziehungen zueinander zurückzukehren. »Komm zu meinem kleinen Frühstück, ehe ich zu meinen Schülern gehe.«

»Gute Nacht, Pesca.«

»Gute Nacht, lieber Freund.«

4 - Es ist nicht mehr als billig, hier zu erwähnen, daß ich das, was Pesca mir mittheilte, mit den sorgfältigen Weglassungen wiederhole, welche die ernste Natur des Gegenstandes und mein eigenes Pflichtgefühl gegen meinen Freund von mir verlangen. Meine ersten und letzten Verheimlichungen dem Leser gegenüber sind diejenigen, welche die Vorsicht in diesem Theile der Erzählung unbedingt nöthig macht.



Kapiteltrenner

XVII.

Meine erste Ueberzeugung, als ich mich in der Straße befand, war die, daß mir Nichts weiter übrig bleibe, als nach den Mittheilungen zu handeln, die mir gemacht worden – mich des Grafen noch in dieser Nacht zu versichern, oder mich der Gefahr auszusetzen, falls ich bis zum Morgen wartete, Laura’s letzte Hoffnung zu verlieren. Ich blickte auf meine Uhr. Es war zehn Uhr.

Ich hatte auch nicht den Schatten eines Zweifels in Bezug auf des Grafen Absicht, als er das Theater verlassen. Sein Entwischen aus der Oper war sicher nur die Einleitung seines Entweichens aus London. Das Zeichen der »Verbindung« war auf seinem Arme, davon war ich so fest überzeugt, als wenn er mir das Brandmal gezeigt hätte – und der Verrath der »Verbindung« lag auf seinem Gewissen, ich hatte ihn in seinem Erkennen Pesca’s gelesen.

Es war leicht zu verstehen, warum dieses Erkennen nicht ein gegenseitiges gewesen. Ein Mann vom Charakter des Grafen würde nie die fürchterlichen Folgen, Spion zu werden, riskiren, ohne für seine persönliche Sicherheit ebensowohl zu sorgen, wie für seine goldene Belohnung. Das rasirte Gesicht, welches ich in der Oper bezeichnete, mochte zu Pesca’s Zeit mit einem großen Barte bedeckt gewesen sein; sein dunkelbraunes Haar war vielleicht eine Perrücke; sein Name offenbar ein falscher. Der Zufall der Zeit mochte ihm auch geholfen haben – seine ungeheure Corpulenz war vielleicht erst in späteren Jahren gekommen. Es war jeder Grund vorhanden, daß Pesca ihn nicht wieder erkannte – und ebenfalls jeder Grund, daß er Pesca erkannte, dessen eigenthümliche kleine Persönlichkeit ihn, wohin er auch gehen mochte, zu einer auffallenden Erscheinung machte.

Ich habe gesagt, daß ich überzeugt war, des Grafen Absicht, indem er uns im Theater entwischte, zu kennen. Wie konnte ich darüber in Zweifel sein, wenn ich mit meinen eigenen Augen sah, daß er sich ungeachtet der Veränderungen in seinem Aeußern von Pesca erkannt und deshalb in Gefahr glaubte? Falls ich ihn diese Nacht sprechen und ihm zeigen konnte, daß auch ich die tödtliche Gefahr kannte, in der er schwebte, was würde der Erfolg davon sein? Ganz einfach dieser: Einer von uns Beiden mußte Herr über unsere Lage – Einer von Beiden mußte unfehlbar in der Gewalt des Andern sein.

Ich war es mir schuldig, die Chancen gegen mich wohl zu erwägen; und ich war es meiner Frau schuldig, alles Mögliche zu thun, um die Gefahr zu verringern.

Die Chancen gegen mich waren leicht hergerechnet: sie liefen alle in einer einzigen zusammen. Sobald der Graf durch mein eigenes Bekennen erfuhr, daß der gerade Weg zu seiner Sicherheit über mich als Leiche ging, so war er wahrscheinlich der letzte Mann von der Welt, der zaudern würde, diesen Weg einzuschlagen, wenn er mich allein in seiner Gewalt hatte. Die einzigen Vertheidigungsmittel gegen ihn, von denen ich hoffen durfte, daß sie die Gefahr verringern würden, stellten sich nach etwas sorgfältiger Ueberlegung deutlich genug heraus. Bevor ich mein persönliches Bekenntniß der Entdeckung in seiner Gegenwart machte, mußte ich die Entdeckung selbst so placiren, daß sie zu augenblicklichem Gebrauche gegen ihn bereit und gegen jeden Versuch von seiner Seite, dieselbe unwirksam zu machen, gesichert war. Falls ich die Mine unter seinen Füßen grub, ehe ich mich ihm näherte, und einer dritten Person Weisung gab, sie nach Verlauf eines gewissen Zeitraumes anzuzünden, wenn nicht vorher entgegengesetzter Befehl von meiner eigenen Hand oder meinen eigenen Lippen einginge – so mußte des Grafen Sicherheit durchaus von der meinigen abhängen, und ich durfte dann selbst in seinem eigenen Hause ihm überlegen sein.

Dieser Gedanke kam mir, als ich dicht vor der neuen Wohnung angelangt war, die wir bei unserer Rückkehr von dem Badeorte gemiethet hatten. Ich ließ mich, ohne Jemanden zu stören, mit Hülfe meines eigenen Schlüssels ein. Es stand ein Licht im Flur, und ich schlich leise mit demselben auf mein Arbeitszimmer, um meine Vorbereitungen zu treffen und mich absolut zu einer Unterredung mit dem Grafen zu verpflichten, ehe sowohl Marianne als Laura nur die leiseste Ahnung von dem haben konnten, was ich zu thun beabsichtigte – Ein Brief an Pesca schien mir die sicherste Vorsichtsmaßregel, die ich jetzt treffen konnte. Ich schrieb ihm Folgendes:

»Der Mann, den ich Dir in der Oper bezeichnete, ist ein Mitglied der ›Verbindung‹ und zugleich ein Verräther an derselben. Ueberzeuge Dich sofort von der Wahrheit dieser beiden Behauptungen. Du kennst den Namen, unter welchem er in England lebt. Seine Adresse ist Numero 5, Forest Road, St. John’s Wood. Bei der Liebe, die Du einst für mich gehegt, beschwöre ich Dich, die Macht, die Dir verliehen, ohne Erbarmen und ohne Verzug in Anwendung zu bringen. Ich habe Alles gewagt und Alles verloren und mit meinem Leben für mein Mißlingen bezahlt.«

Ich unterzeichnete und datirte diese Zeilen, that sie in ein Couvert und versiegelte dasselbe. Oben darauf schrieb ich Folgendes: »Lasse das Couvert bis morgen früh um neun Uhr ungeöffnet. Wenn Du vor dieser Zeit Nichts von mir hörst oder siehst, so brich das Siegel mit dem Glockenschlage und lies den Inhalt.« Ich schrieb meine Anfangsbuchstaben darunter, und that das Ganze in ein zweites versiegeltes Couvert, welches ich an Pesca in seiner Wohnung adressirte.

Es blieb mir hiernach Nichts weiter übrig, als den Brief augenblicklich an seine Bestimmung zu schaffen, worauf ich Alles gethan haben würde, was in meiner Macht lag. Falls mir in des Grafen Hause Etwas zustieße, so hatte ich wenigstens dafür gesorgt, daß er es mit dem Leben büßen mußte.

Daß es in Pesca’s Macht lag – falls es ihn beliebte, von derselben Gebrauch zu machen – unter welchen Verhältnissen es auch sei, des Grafen Entweichen zu verhindern, bezweifelte ich keinen Augenblick. Der außerordentliche Eifer, mit dem er seinen Wunsch ausgesprochen, über des Grafen Identität unaufgeklärt zu bleiben – oder mit anderen Worten, über Thatsachen hinlänglich im Unklaren zu bleiben, um sich in seinem eigenen Gewissen dafür gerechtfertigt zu fühlen, daß er passiv bliebe – verrieth deutlich, daß er Mittel zur Hand hatte, um die fürchterliche Gerechtigkeit der »Verbindung« walten zu lassen, obgleich es ihm, als einem von Natur humanen Manne, widerstrebte, dies in meiner Gegenwart zu sagen. Die tödtliche Gewißheit, mit welcher die Rache fremder politischer Gesellschaften einen Verräther der Sache zu erreichen weiß, hatte selbst in meiner oberflächlichen Erfahrung zu viele Beispiele gegeben, um mir einen Zweifel zu gestatten. Wenn ich den Gegenstand als bloser Zeitungsleser betrachtete, erinnerte ich mich an Fälle, in Paris sowohl als in London, wo Ausländer erstochen in den Straßen gefunden worden, deren Mörder man niemals auf die Spur kam – an Leichname und Theile von solchen, die von Händen, welche nie entdeckt wurden, in die Themse und in die Seine geworfen waren – an Todesfälle, durch geheime Gewaltthat, die man sich nur auf eine Weise erklären konnte. Ich habe in diesen Blättern Nichts verschwiegen, das mich selbst betrifft – und verhehle auch hier nicht, daß ich glaube, ich hatte, falls die schreckliche Nothwendigkeit eintrat, welche Pesca autorisirte meinen Brief zu öffnen, Graf Fosco’s Todesurtheil geschrieben.

Ich verließ mein Zimmer, um ins Erdgeschoß hinunter zu gehen und den Hauswirth zu bitten, mir einen Boten zu besorgen. Er kam zufällig gerade die Treppe herauf, und wir begegneten einander auf dem ersten Treppenabsatze. Sein Sohn, ein flinker Bursche, war der Bote, den er mir vorschlug, als er hörte, was ich brauchte. Wir ließen den Knaben heraufkommen und gaben ihm unsere Weisungen. Er sollte einen Fiaker nehmen, um den Brief hinzubringen – den Letzteren in Pesca’s eigne Hände geben und mir von ihm eine Zeile zurückbringen, die mich überzeugte, daß er mein Schreiben richtig erhalten; dann sollte er in dem Fiaker zurückkommen und denselben für meinen Gebrauch warten lassen. Es war jetzt beinah halb elf Uhr. Ich berechnete, daß der Knabe in zwanzig Minuten würde zurück und ich dann in noch zwanzig Minuten in St. John’s Wood angelangt sein können.

Als der Bursche fort war, kehrte ich in mein Arbeitszimmer zurück, um gewisse Papiere zu ordnen, so daß man sie leicht finden möchte, in dem Falle, wo sich das Schlimmste ereignete. Den Schlüssel des altmodischen Schreibtisches, in welchem ich die Papiere aufbewahrte, versiegelte ich, schrieb Mariannen’s Namen auf das kleine Paket und legte es auf meinen Arbeitstisch. Darauf ging ich ins gemeinschaftliche Wohnzimmer hinab, wo ich Laura und Marianne, meiner Heimkehr von der Oper harrend, zu finden erwartete. Ich fühlte meine Hand zum erstenmale erzittern, als ich sie auf die Thürklinke legte.

Marianne war allein im Zimmer. Sie las und blickte erstaunt auf ihre Uhr, als ich eintrat.

»»Wie früh Du wieder da bist!« sagte sie, »Du mußt fortgegangen sein, ehe die Oper aus war.«

»Ja,« sagte ich; »weder Pesca noch ich blieben bis zu Ende. Wo ist Laura?«

»Sie hatte eine ihrer bösen Migränen heute Abend, und ich rieth ihr, sich lieber gleich nach dem Thee zu Bette zu legen.«

Ich verließ das Zimmer wieder unter dem Vorwande, nachzusehen, ob Laura schliefe. Mariannen’s scharfe Augen begannen sich prüfend auf mein Gesicht zu heften. Ihr scharfer Instinct fing an wahrzunehmen, daß Etwas auf meinem Gemüth lastete.

Als ich ins Schlafzimmer trat und mich leise im matten Schimmer der Nachtlampe dem Bette näherte, sah ich, daß meine Frau schlief.

Wir waren noch nicht ganz einen Monat verheirathet. Falls mein Herz schwer wurde, falls mein Entschluß abermals auf einen Augenblick wankte, als ich ihr liebes Antlitz betrachtete, das sich im Schlafe so treu meinem Kissen zuwandte – als ich ihre Hand offen auf der Decke liegen sah, wie sie von der meinigen gefaßt zu werden erwartete – gab es da nicht einige Entschuldigung für mich? Ich gestattete mir nur ein paar Minuten, um an dem Bette niederzuknieen und sie ganz nahe zu betrachten – so nahe, daß ihr Athem mein Gesicht streifte. Ich berührte zum Abschiede blos ihre Hand und ihre Stirn mit meinen Lippen. Sie bewegte sich im Schlafe und murmelte meinen Namen, doch ohne zu erwachen. Ich zögerte einen Augenblick an der Thür, um sie noch einmal anzuschauen. »Gott segne Dich und behüte Dich, mein treues Herz!« flüsterte ich und verließ sie dann.

Marianne stand an der Treppe und wartete auf mich. Sie hielt einen zusammengelegten Papierstreifen in der Hand.

»Des Hauswirths Sohn hat Dies für Dich gebracht,« sagte sie. »Ein Fiaker ist vor der Thür; er sagt, Du hast ihm befohlen, denselben auf Dich warten zu lassen.«

»Ganz recht, Marianne. Ich brauche den Fiaker. Ich muß noch einmal fort.«

Ich ging die Treppe hinab und trat in die Wohnstube, um den Streifen Papier zu lesen. Derselbe enthielt Folgendes in Pesca’s Handschrift:

»Ich habe Deinen Brief erhalten. Wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Ich legte das Papier in mein Taschenbuch und wandte mich zur Thür. Marianne trat mir an der Schwelle entgegen und schob mich ins Zimmer zurück, so daß das Licht der Lampe voll auf mein Gesicht fiel. Sie hielt meine beiden Hände fest und heftete ihre Augen prüfend auf die meinigen.

»Ich sehe es!« sagte sie mit leisem, schnellem Flüstern, »Du willst heute Abend die letzte Chance versuchen.«

»Ja, die letzte und die beste,« gab ich flüsternd zurück.

»Nicht allein! O, Walter, um Gotteswillen nicht allein! Laß mich mit Dir gehen. Verweigere es mir nicht, weil ich blos ein Weib bin. Ich muß mitgehen! Ich will mitgehen! Ich will draußen im Fiaker warten!«

Jetzt mußte ich sie halten. Sie versuchte sich von mir loszumachen und zuerst hinunter zu eilen.

»Falls Du mir helfen willst,« sagte ich, »so bleibe hier und schlafe heute Abend im Zimmer meiner Frau. Laß mich nur mit über Laura beruhigtem Gemüthe gehen, und ich stehe für alles Uebrige. Komm, Marianne, küsse mich und zeige mir, daß Du Muth hast zu warten, bis ich wiederkomme«

Ich wagte nicht, ihr Zeit zu lassen, noch ein Wort weiter zu sagen. Sie versuchte nochmals, mich zu halten. Ich nahm ihre Hände auseinander und hatte das Zimmer in einer Minute verlassen. Der Knabe unten hörte mich die Treppe herunter kommen und öffnete die Hausthür. Ich sprang in den Fiaker, ehe noch der Kutscher vom Bocke steigen konnte. »Forest Road, St. John’s Wood,« rief ich ihm durch das vordere Fenster zu. »Ich zahle doppelt, falls wir in einer Viertelstunde dort sind.«

»Ich will’s machen, Sir.«

Ich sah auf meine Uhr. Elf Uhr – es war keine Minute mehr zu verlieren.

Die schnelle Bewegung des Fiakers, das Bewußtsein, daß jede Secunde mich dem Grafen näher brachte, die Ueberzeugung, daß ich mich endlich auf das gewagte Unternehmen eingelassen, versetzten mich dermaßen in Aufregung, daß ich dem Kutscher wiederholt zurief, schneller zu fahren. Als wir die Straßen verließen und in St. John’s Wood Road einfuhren, war ich so vollkommen von meiner Ungeduld überwältigt, daß ich im Wagen aufstand und den Kopf aus dem Fenster steckte, um das Ziel der Reise zu sehen, ehe wir es erreichten. Gerade als eine Kirchenuhr in der Ferne das Viertel nach Elf schlug, bogen wir in Forest Road ein. Ich ließ den Kutscher in einiger Entfernung von des Grafen Hause halten – bezahlte und entließ ihn – und ging dann zu Fuße an die Thür.

Als ich mich dem Gartenpförtchen näherte, sah ich Jemanden von der entgegengesetzten Seite her ebenfalls zu demselben herankommen. Wir trafen unter der Gaslampe der Straße zusammen und sahen einander an. Ich erkannte augenblicklich den blonden Ausländer mit der Narbe im Gesichte; und es schien mir, er erkannte mich. Er sagte Nichts; und anstatt ins Haus zu gehen, setzte er seinen Weg fort. War er durch Zufall in Forest Road? Oder war er dem Grafen von der Oper her gefolgt?

Ich gehe nicht weiter in diese Fragen ein. Nachdem ich ein paar Secunden gewartet, bis der Fremde außer Gesichtsweite war, zog ich die Glocke am Pförtchen. Es war jetzt zwanzig Minuten nach elf Uhr – spät genug, daß der Graf mich leicht durch die Entschuldigung, er sei bereits im Bette, hätte loswerden können.

Die einzige Art und Weise, mich gegen diesen Möglichkeitsfall zu verwahren, war die, mich ohne weitere Fragen sofort bei meinem Namen anmelden zu lassen und ihm dabei zugleich sagen zu lassen, daß ich wichtige Gründe habe, ihn noch zu so später Stunde zu sprechen zu wünschen.

Demzufolge nahm ich, während ich wartete, bis man mir öffnen würde, eine Karte heraus und schrieb unter meinen Namen »in wichtigen Geschäften.« Die Hausmagd öffnete die Thür, während ich noch das letzte Wort schrieb und frug mich argwöhnisch, »was ich wünsche.«

»Seien Sie so gut, Dies an Ihren Herrn abzugeben,« entgegnete ich, ihr die Karte gebend.

Ich sah aus dem zögernden Wesen des Mädchens, daß, hätte ich sie gefragt, ob ihr Herr zu Hause sei, sie ihre erhaltenen Weisungen befolgt und mir geantwortet haben würde, er sei nicht zu Hause. Aber die Zuversicht, mit der ich ihr meine Karte gab, machte sie unschlüssig. Nachdem sie mich mit erstaunter Verwirrung angestiert, ging sie mit meiner Karte ins Haus zurück, indem sie die Thür schloß und mich im Garten stehen ließ.

In ein paar Minuten kam sie wieder heraus. »Eine Empfehlung von ihrem Herrn, und ob ich nicht so gut sein wolle, zu sagen, wozu ich ihn zu sprechen wünsche?«

»Machen Sie Ihrem Herrn meine Empfehlung und sagen Sie ihm, ich könne dies Niemandem als ihm selbst mittheilen.« Sie verließ mich abermals, kam wieder heraus – und bat mich diesmal, einzutreten.

Ich folgte ihr sofort. Im nächsten Augenblicke befand ich mich im Hause des Grafen Fosco.

 

XXII.

Es war keine Lampe im Flur; aber in dem matten Schimmer des Lichtes, welches die Magd mit aus der Küche gebracht hatte, sah ich eine ältliche Dame geräuschlos das Hinterzimmer des Erdgeschosses verlassen. Sie warf mir einen einzigen Natternblick zu, als ich in den Flur trat, sagte jedoch Nichts, sondern ging langsam und ohne meinen Gruß zu erwidern die Treppe hinauf. Ich war durch meine Bekanntschaft mit Mariannen’s Tagebuche hinlänglich überzeugt, daß diese ältliche Dame die Gräfin Fosco sei.

Die Magd führte mich nach dem Zimmer, welches die Gräfin soeben verlassen hatte. Ich trat ein und stand dem Grafen gegenüber.

Er war noch in seiner Abendtoilette, ausgenommen, daß er seinen Rock ausgezogen und über einen Stuhl geworfen hatte. Seine Hemdärmel waren am Handgelenke umgekrämpt, aber nur wenig. Zur einen Seite von ihm stand ein Nachtsack, zur anderen ein Reisekoffer. Bücher, Papiere und Kleidungsstücke lagen zerstreut im Zimmer umher. Auf einem Tische zur einen Seite der Thür stand eine Pagode, die mir der Beschreibung nach so wohl bekannt war und die seine weißen Mäuse enthielt. Die Canarienvögel und der Kakadu waren wahrscheinlich in einem anderen Zimmer. Als ich eintrat, saß er vor dem Reisekoffer, welchen er packte, und stand mit einigen Papieren in der Hand auf, um mich zu empfangen. Sein Gesicht zeigte noch deutliche Spuren von der Erschütterung, welche ihn in der Oper überwältigt hatte. Seine großen Wangen hingen welk, seine kalten grauen Augen blickten mit verstohlener Wachsamkeit, seine Stimme, sein Blick und sein Wesen waren alle gleich argwöhnisch, als er mir einen Schritt entgegenkam und mich mit zurückhaltender Höflichkeit ersuchte, Platz zu nehmen.

»Sie kommen in Geschäften, Sir?« sagte er. »Ich kann nicht errathen, welcher Art dieselben sein können.«

Die unverhohlene Neugier, mit der er mir, während er sprach, fest ins Gesicht blickte, überzeugte mich, daß er mich in der Oper nicht bemerkt hatte. Er hatte Pesca zuerst erblickt und offenbar von diesem Augenblicke an bis zu dem, wo er das Theater verließ, Nichts weiter gesehen als ihn. Mein Name mußte ihn natürlich darauf gefaßt machen, daß mich kein anderer als ein feindlicher Zweck in sein Haus brachte – aber er schien bis hierher vollkommen im Unklaren über den wirklichen Zweck meines Besuches.

»Ich habe Glück, indem ich Sie heute Abend noch hier finde,« sagte ich; »Sie scheinen im Begriffe zu sein, eine Reise zu machen.«

»Haben Ihre Geschäfte mit meiner Reise zu thun?«

»In gewisser Beziehung, ja.«

»In welcher Beziehung? Wissen Sie, wohin ich reise?«

»Nein. Ich weiß blos, warum Sie London verlassen.«

Er schlüpfte mit Blitzesschnelle an mir vorüber, verschloß die Thür und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Sie und ich, Mr. Hartright,« sagte er, »sind dem Rufe nach sehr wohl mit einander bekannt. Ist es Ihnen zufällig eingefallen, als Sie nach diesem Hause kamen, daß ich nicht ein Mann sei, mit dem Sie Ihr Spiel würden treiben können?«

»Allerdings,« entgegnete ich; »und ich bin durchaus nicht dazu hergekommen. Ich bin hier in einer Sache über Leben und Tod – und wäre jene Thür, die Sie soeben verschlossen haben, offen, so würde mich Nichts, das Sie zu sagen oder zu thun im Stande wären, bewegen können, dieses Zimmer zu verlassen.«

Ich trat weiter in das Innere des Zimmers hinein und stand ihm auf dem Kaminteppiche gegenüber. Er zog einen Stuhl vor die Thür, setzte sich darauf und stützte sich mit einem Arme auf den Tisch. Die Pagode mit den weißen Mäusen stand dicht neben ihm und die kleinen Thierchen stürzten aus ihren Schlafstellen, als sein schwerer Arm den Tisch erschütterte und schauten ihn durch die bunten Drahtstäbe hindurch an.

»In einer Sache über Leben und Tod?« wiederholte er für sich. »Diese Worte bedeuten vielleicht mehr als Sie denken. Was wollen Sie damit andeuten?«

»Was ich sage.«

Dichter Schweiß trat auf seine breite Stirn. Seine linke Hand stahl sich über die Kante des Tisches. Es war eine verschließbare Schublade darin und der Schlüssel steckte im Schlosse. Sein Finger und Daumen faßten den Schlüssel, doch drehte er ihn nicht um.

»Sie wissen also, weshalb ich London verlasse?« fuhr er fort. »Nennen Sie mir gefälligst den Grund.« Während er sprach drehte er den Schlüssel um und öffnete die Schublade.

»Ich kann noch mehr thun, als das,« entgegnete ich; »ich kann Ihnen den Grund zeigen

»Wie können Sie ihn mir zeigen?«

»Sie haben Ihren Rock abgelegt,« sagte ich »Wollen Sie Ihren linken Hemdärmel hinauf ziehen – und Sie werden ihn sehen.«

Dieselbe fahle, bleierne Blässe, die ich schon im Theater auf seinem Gesichte hatte lagern sehen, überzog dasselbe abermals. Das tödtliche Leuchten seiner Augen brannte sich fest und tief in die meinigen. Er sagte Nichts. Aber seine linke Hand zog langsam die Schublade heraus und schlüpfte dann leise hinein. Es ließ sich auf einen Augenblick ein harter, scharrender Ton hören, wie wenn er einen schweren Gegenstand bewegte, den ich jedoch nicht sah. Die Stille, welche folgte, war eine so tiefe, daß ich an der Stelle wo ich stand, deutlich das leise Nagen der kleinen weißen Mäuse an ihren Stäben hören konnte.

Mein Leben hing an einem Faden, und ich wußte es. In diesem entscheidenden Augenblicke dachte ich mit seinem Geiste, fühlte ich mit seinen Fingern – ich wußte so bestimmt, als ob ich es gesehen hätte, was er in der Schublade vor mir versteckt hielt.

»Warten Sie ein wenig,« sagte ich »Sie haben die Thür verschlossen – Sie sehen, daß ich mich nicht rühre – daß meine Hände leer sind. Warten Sie ein wenig. Ich habe Ihnen noch Etwas zu sagen.«

»Sie haben genug gesagt,« entgegnete er mit einer plötzlichen Ruhe, die etwas so Unnatürliches und Gespenstisches hatte, daß sie mich heftiger erschütterte, als der gewaltigste Wuthausbruch gethan haben würde. »Ich brauche noch einen Augenblick für meine eignen Gedanken, wenn Sie ihn mir erlauben wollen. Errathen Sie, woran ich denke?«

»Vielleicht.«

»Ich denke daran,« sagte er mit großer Ruhe, »ob ich die Unordnung in diesem Zimmer noch dadurch vermehren soll, daß ich Ihr Gehirn über den Kamin spritze.«

Ich sah es seinem Gesichte an, daß, falls ich mich in diesem Augenblicke gerührt, er es gethan haben würde.

»Ich rathe Ihnen, ehe Sie sich über diese Frage entschließen, zwei geschriebene Zeilen zu lesen, die ich bei mir trage,« entgegnete ich.

Dieser Vorschlag schien seine Neugierde zu erregen.

Ich nickte mit dem Kopfe. Ich nahm Pesca’s Bescheinigung über den Empfang meines Briefes aus meinem Taschenbuche und hielt ihm dieselbe auf Armlänge hin; dann kehrte ich zu meinem Platze vor dem Kamine zurück.

Er las die Zeilen laut vor: »Ich habe Deinen Brief erhalten. Wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Für einen anderen Mann in seiner Lage hätten diese Worte einer Erklärung bedurft – bei dem Grafen war eine solche unnöthig. Ein einmaliges Durchlesen des Billets zeigte ihm so deutlich, als wenn er in dem Augenblicke, wo ich sie traf, zugegen gewesen, durch welche Vorsichtsmaßregel ich mich geschützt hatte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich und seine Hand zog sich leer aus der Schublade zurück.

»Ich verschließe meine Schublade nicht, Mr. Hartright, und ich sage nicht, daß ich nicht doch noch Ihr Gehirn über den Kamin spritzen werde,« sagte er. »Aber ich bin selbst gegen meinen Feind gerecht – und will vorläufig bekennen, daß sein Gehirn klüger ist, als ich es geglaubt hätte. Kommen Sie zur Sache, Sir! Sie verlangen Etwas von mir?«

»Ja, und ich beabsichtige, es zu erhalten.«

»Unter Bedingungen?«

»Ohne Bedingungen.«

Seine Hand fiel wieder in die Schublade.

»Bah! wir machen Umwege, und Ihr kluges Gehirn ist schon wieder in Gefahr. Der Ton, den Sie annehmen, ist von einer beklagenswerthen Unvorsichtigkeit, Sir – mäßigen Sie ihn auf der Stelle! Das Risico, Sie an der Stelle, wo Sie stehen, zu erschießen, ist geringer für mich, als das, Sie lebend aus diesem Hause zu lassen – ausgenommen unter Bedingungen, die ich selbst vorschreiben werde. Sie haben es jetzt nicht mit meinem verstorbenen Freunde zu thun, sondern stehen Fosco gegenüber! Und wenn die Leben von zwanzig Mr. Hartright’s als Stufensteine zu meiner Sicherheit nöthig wären, so würde ich, auf meine erhabene Gleichgültigkeit und meine undurchdringliche Ruhe gestützt, über sie hinwegschreiten. Achten Sie mich, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist! Ich fordere Sie aus, mir drei Fragen zu beantworten, ehe Sie wieder Ihre Lippen öffnen. Hören Sie sie an – sie sind zu dieser Unterredung nothwendig. Beantworten Sie sie – sie sind mir nothwendig.« Er hielt einen Finger seiner rechten Hand empor »Erste Frage!« sagte er. »Sie kommen hier im Besitze einer Mittheilung, welche wahr oder falsch sein mag – woher haben Sie dieselbe?«

»Ich schlage es aus, die Frage zu beantworten.«

»Einerlei, ich werde es schon erfahren. Wenn diese Mittheilung wahr ist – bemerken Sie wohl, daß ich mit der ganzen Kraft meiner Entschlossenheit sage, wenn – so treiben Sie hier, entweder durch Ihren eignen Verrath oder den Verrath eines anderen Mannes, Ihren Handel damit. Ich mache mir aus diesem Umstande eine Anmerkung in meinem Gedächtnisse, welches Nichts vergißt, für künftigen Gebrauch, und jetzt weiter.« Er hielt einen zweiten Finger empor. »Zweite Frage! Jene Zeilen, die Sie mir zu lesen gaben, sind ohne Unterschrift. Wer hat sie geschrieben?«

»Ein Mann, auf den ich alle Ursache habe mich zu verlassen, den aber Sie alle Ursache haben zu fürchten.«

Meine Antwort traf ihn diesmal ziemlich hart. Seine linke Hand zitterte hörbar in der Schublade.

»Wie lange geben Sie mir Zeit,« frug er, indem er seine dritte Frage in ruhigerem Tone that, »ehe das Siegel mit dem Glockenschlage gebrochen wird?«

»Zeit genug für Sie, um auf meine Bedingungen einzugehen,« entgegnete ich.

»Geben Sie mir eine deutlichere Antwort, Mr. Hartright, welches ist die Stunde, die der Glockenschlag angeben soll?«

»Neun Uhr, morgen früh.«

»Neun Uhr, morgen früh? Ja, ja – Sie haben Ihre Falle wohl angelegt – ehe ich meinen Paß visirt bekommen und London verlassen kann. Ich nehme an, daß es nicht schon früher ist? Doch werden wir darauf sogleich zurückkommen – ich kann Sie als Geißel hier behalten und einen Handel mit Ihnen treffen, daß Sie den Brief holen lassen, ehe ich Sie fort lasse. Inzwischen haben Sie jetzt die Güte, Ihre Bedingungen zu nennen.«

»Die sollen Sie hören. Dieselben sind einfach und bald erklärt. Sie wissen, wessen Interessen ich repräsentire, indem ich hierher komme?«

Er lächelte mit erhabenster Gelassenheit und machte eine nachlässige Bewegung mit der rechten Hand.

»Ich will es zu errathen wagen,« sagte er spöttisch »Die Interessen einer Dame natürlich!«

»Die Interessen meiner Frau.«

Er blickte mir mit dem ersten ehrlichen Ausdrucke, den ich noch bei ihm gesehen, ins Gesicht – einem Ausdrücke des größten Erstaunens. Ich konnte sehen, daß ich in meiner Eigenschaft als gefährlicher Mann von diesem Augenblicke an in seiner Achtung sank. Er schloß sofort die Schublade, faltete die Arme über seine Brust und hörte mich mit einem Lächeln satyrischer Aufmerksamkeit an.

»Sie sind hinlänglich von dem Fortgange meiner Nachforschungen während der letzten Monate unterrichtet,« sagte ich, »um zu wissen, daß jeder Versuch, die einfachen Thatsachen zu läugnen, in meiner Gegenwart vollkommen nutzlos ist. Sie haben sich eines schändlichen Anschlages schuldig gemacht, und der Gewinn eines Vermögens von zehntausend Pfund war der Zweck desselben.«

Er sagte Nichts. Aber über sein Gesicht zog sich eine Wolke finsterer Besorgniß.

»Behalten Sie Ihre Beute,« sagte ich. (Sein Gesicht erhellte sich augenblicklich wieder, und seine Augen öffneten sich in immer größerem Erstaunen.) »Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen um Geld zu feilschen, das durch Ihre Hände gegangen und der Preis eines schändlichen Verbrechens gewesen –«

»Sachte, Mr. Hartright. Ihre moralischen Gemeinplätze sind bei Ihren Landsleuten von vorzüglicher Wirkung – behalten Sie dieselben gefälligst für sich und für sie. Die zehntausend Pfund waren ein Legat, welches der verstorbene Mr. Fairlie meiner Frau vermacht hatte. Nehmen wir die Sache aus diesem Gesichtspunkte, und ich habe Nichts dawider, sie zu besprechen. Für einen Mann von meinen Gefühlen jedoch ist der Gegenstand ein sehr erbärmlicher.  Ich ziehe vor, ihn fallen zu lassen und fordere Sie auf, die Nennung Ihrer Bedingungen wieder aufzunehmen Was fordern Sie?«

»Ich verlange erstens ein volles Bekenntniß des begangenen Verrathes, von Ihnen selbst in meiner Gegenwart geschrieben und unterzeichnet.«

Er erhob den Finger. »Eins!« sagte er, mich mit der ruhigen Aufmerksamkeit eines practischen Mannes controlirend.

»Zweitens einen klaren Beweis – der nicht von Ihrer persönlichen Behauptung abhängt – von dem Datum, an welchem meine Frau Blackwater Park verließ und nach London reiste.«

»So! so! Ich sehe, Sie sind im Stande, die schwache Stelle herauszufühlen,« bemerkte er mit Gelassenheit »Sonst noch Etwas?«

»Für jetzt Nichts«

»Gut! Sie haben Ihre Bedingungen genannt, jetzt hören Sie die meinigen. Vielleicht ist die Verantwortlichkeit, Das einzuräumen, was Sie ›den Anschlag‹ zu nennen beliebt, eine geringere für mich, als die, Sie dort todt auf den Kaminteppich hinzustrecken. Wir wollen annehmen, daß ich auf Ihren Wunsch eingehe – unter meinen eigenen Bedingungen. Die Angabe, welche Sie von mir verlangen, soll geschrieben, der klare Beweis des Datums geliefert werden. Vermuthlich werden Sie einen Brief von meinem verstorbenen Freunde, von ihm selbst geschrieben, datirt und unterzeichnet, wodurch er mich von dem Tag und der Stunde der Ankunft seiner Frau unterrichtet, einen Beweis nennen? Diesen kann ich Ihnen geben. Ich kann Sie außerdem zu dem Manne schicken, von welchem ich den Wagen miethete, in dem ich meinen Besuch am Tage ihrer Ankunft vor der Eisenbahnstation abholte – sein Bestellungsbuch mag Ihnen vielleicht zu dem Datum verhelfen können, selbst wenn der Kutscher, welcher mich fuhr, Ihnen nicht von Nutzen sein kann. Dies kann ich und will ich thun – unter Bedingungen. Diese sind folgende: Erste Bedingung! Die Gräfin und ich verlassen dieses Haus wann und wie wir wollen, ohne jegliches Hinderniß von Ihrer Seite. Zweite Bedingung! Sie warten hier in meiner Gesellschaft, um meinen Agenten zu sehen, welcher morgen früh um sieben Uhr herkommt, um meine Geschäfte zu ordnen. Sie geben meinem Agenten einen geschriebenen Befehl an den Mann, welcher Ihren versiegelten Brief hat, daß er ihm denselben ausliefere. Sie warten hier, bis der Agent jenen Brief ungeöffnet in meine Hände gegeben hat, und dann geben Sie mir eine gemessene halbe Stunde, um das Haus zu verlassen, worauf Sie dann Ihre Freiheit wieder erhalten und gehen mögen, wohin Sie wollen. Dritte Bedingung! Sie geben mir die Genugthuung eines Gentleman für Ihre Einmischung in meine Privatangelegenheiten und für die Sprache, die Sie sich während dieser Unterredung gegen mich erlaubt haben. Zeit und Ort für das Zusammentreffen sollen Ihnen, sobald ich sicher auf dem Festlande angelangt sein werde, in einem Briefe von meiner Hand mitgetheilt werden, in welchem ich einen Papierstreifen, welcher genau die Länge meines Degens angiebt, beischließen will. Dies sind meine Bedingungen. Sagen Sie mir, ob Sie dieselben eingehen – Ja oder Nein.«

Die merkwürdige Mischung von der schnellen Entschlossenheit, schlauen Berechnung und dem comödiantischen Bombast dieser Rede machte mich einen Augenblick förmlich stutzig – aber nur auf einen Augenblick. Die eine Frage, welche ich zu bedenken hatte, war die, ob ich berechtigt sei, mir die Mittel zu Laura’s Identification auf Kosten des ungestraften Entkommens des Schurken zu verschaffen, welcher sie derselben beraubt hatte. Ich wußte, daß mein Beweggrund, die gerechte Anerkennung meiner Frau in dem Geburtsorte, aus dem sie als Betrügerin vertrieben, zu erlangen und öffentlich die Lüge zu vertilgen, die noch immer den Grabstein ihrer Mutter entweihte, dadurch, daß er von aller bösen Leidenschaft frei, weit reiner war, als der rachsüchtige Beweggrund, welcher sich von Anfang an mit meinem Zwecke verbunden hatte. Und doch kann ich nicht mit Ehrlichkeit sagen, daß meine eignen moralischen Ueberzeugungen stark genug waren, um den Kampf in mir allein zu entscheiden. Es kam ihnen meine Erinnerung an Sir Percival’s Tod zu Hülfe. Auf wie furchtbare Weise war nicht dort das Werk der Vergeltung im letzten Augenblicke aus der Hand gerissen worden! Welches Recht hatte ich in meiner kleinen, sterblichen Unkenntniß der Zukunft anzunehmen, daß auch dieser Mensch ungestraft entgehen müsse, weil er mir entging. Ich dachte an diese Dinge – vielleicht mit dem mir innewohnenden Aberglauben; vielleicht aber auch mit einem Gefühle, das meiner würdiger war, als bloßer Aberglaube. Es war hart, jetzt, da ich ihn endlich gefaßt hielt, ihn freiwillig wieder los zu lassen – doch überwand ich mich, das Opfer zu bringen. Mit deutlicheren Worten, ich beschloß, mich durch den einen höheren Beweggrund leiten zu lassen, dessen ich gewiß war, den nämlich, Laura’s Sache und der Sache der Wahrheit zu dienen.

»Ich nehme Ihre Bedingungen an,« sagte ich, »doch mit einem Vorbehalte auf meiner Seite.«

»Welcher Vorbehalt mag dies sein?« frug er.

»Derselbe betrifft den versiegelten Brief,« entgegnete ich. »Ich verlange, daß Sie ihn ungeöffnet in meiner Gegenwart vernichten, sobald er in Ihre Hände gegeben sein wird.«

Der Zweck dieser meiner Bedingung war einfach der, ihn zu verhindern, geschriebenes Zeugniß von der Beschaffenheit meiner Mittheilungen an Pesca mit sich zu nehmen. Das Factum derselben mußte er nothwendigerweise am nächsten Morgen erfahren, wo ich dem Agenten die Adresse geben würde. Doch konnte er auf seine alleinige Angabe keinen Gebrauch davon machen – selbst wenn er das Experiment zu machen wagte – welcher mir für Pesca die geringsten Befürchtungen zu verursachen gebraucht hätte.

»Ich lasse Ihren Vorbehalt gelten,« entgegnete er, nachdem er ungefähr eine Minute lang ernstlich überlegt. »Die Sache ist keines Streites werth – der Brief soll vernichtet werden, sowie er meinen Händen übergeben wird.«

Während er noch sprach, erhob er sich von dem Platze, den er mir gegenüber bis zu diesem Augenblicke eingenommen hatte. Mit einer einzigen Anstrengung schien er den Druck, welcher während unserer ganzen Unterredung auf seinem Geiste gelastet, von sich abzuwälzen. »Puh!« rief er, indem er voll Behagen die Arme streckte, »das Scharmützel war heiß, so lange es währte. Nehmen Sie Platz, Mr. Hartright. Wir werden einander später als tödtliche Feinde gegenüberstehen – lassen Sie uns bis dahin die höflichen Aufmerksamkeiten wohlgesitteter Ehrenmänner austauschen. Erlauben Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, meine Frau zu rufen.«

Er öffnete die Thür. »Eleanor!« rief er mit seiner tiefen Stimme. Die Dame mit dem Natterngesichte kam herein. »Die Gräfin Fosco – Mr. Hartright,« sagte der Graf, uns mit würdevoller Unbefangenheit einander vorstellend. »Mein Engel,« fuhr er zu seiner Gemahlin gewendet fort, »wird Deine Beschäftigung des Einpackens Dir vielleicht Zeit gestatten, mir einen schönen, starken Kaffee zu machen. Ich habe Schreibegeschäfte mit Mr. Hartright – und bedarf des vollen Besitzes all meiner Geisteskräfte, um ersteren gerecht werden zu können.«

Die Gräfin verneigte zweimal den Kopf – einmal strenge gegen mich und das zweitemal in Unterwürfigkeit gegen ihren Gemahl und glitt dann aus dem Zimmer.

Der Graf ging an einen Schreibtisch am Fenster, öffnete sein Schreibepult und nahm mehrere Buch Papier und ein Paquet Gänsefedern heraus. Er streute die Federn über den Tisch, so daß sie nach allen Richtungen hin bereit lagen, wie er ihrer bedürfen möge, und zerschnitt dann das Papier in einen Haufen schmaler Streifen von der Gestalt, wie sie von Schriftstellern für den Druck gebraucht werden.

»Ich werde hieraus ein außerordentliches Document machen,« sagte er, mich über die Schulter hinweg anblickend. »Ich bin vollkommen mit literarischen Arbeiten vertraut. Eins der seltensten Geistestalente, die ein Mann besitzen kann, ist die großartige Fähigkeit, seine Gedanken zu ordnen. Ein ungeheurer Vorzug! Ich besitze ihn. Sie ebenfalls?«

Er ging, bis der Kaffee kam, im Zimmer auf und ab, indem er vor sich hin summte und die Stellen, wo ihm beim Ordnen seiner Gedanken Hindernisse aufstießen, dadurch markirte, daß er sich mit der Handfläche vor die Stirne schlug. Die ungeheure Frechheit, mit der er die Situation ergriff, in die ich ihn versetzt hatte, und aus ihr das Piedestal machte, das seine Eitelkeit zu dem geliebten Zwecke zur Schaustellung seiner selbst bestieg, bemeisterte sogar mein Erstaunen. So tiefen Widerwillen ich auch gegen den Mann hegte, machte doch die wunderbare Kraft seines Charakters, selbst unter ihrem unbedeutendsten Anblicke, wider meinen Willen tiefen Eindruck auf mich.

Die Gräfin selbst brachte den Kaffee. Er küßte ihr in dankbarer Höflichkeit die Hand und begleitete sie dann zur Thür; darauf kehrte er zurück, schenkte eine Tasse Kaffee für sich ein und trug sie auf seinen Schreibtisch.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Mr. Hartright?« frug er, ehe er sich setzte.

Ich dankte.

»Wie! Sie glauben, ich werde Sie vergiften?« sagte er munter. »Der englische Verstand ist gesund, soweit er geht,« fuhr er fort, während er sich an seinem Tische zurechtsetzte; »aber er hat einen bedeutenden Fehler: er ist stets am unrechten Orte vorsichtig.«

Er tauchte seine Feder in die Tinte, legte einen Streifen des Papiers mit einem Schlage der Hand vor sich auf das Pult, räusperte sich und begann. Er schrieb mit großem Geräusche und großer Schnelligkeit in einer so großen, kühnen Handschrift und so gesperrten Zeilen, daß er in kaum zwei Minuten, nachdem er angefangen, am Ende der Seite angelangt war. Jeden Streifen warf er, nachdem er damit fertig war und ihn numerirt hatte, über seine Schulter auf den Boden. Als er seine erste Feder abgenutzt hatte, flog auch diese über seine Schulter, und er ergriff eine andere von dem zerstreut umherliegenden Paquete. Ein Streifen nach dem andern, zu Dutzenden, zu Funfzigen, zu Hunderten flogen zu beiden Seiten von ihm über seine Schultern, bis er sich rund umher in Papier eingeschneiet hatte. Eine Stunde verging nach der anderen – und da saß ich und wartete; da saß er und schrieb. Er machte keine Pausen, ausgenommen um seinen Kaffee zu schlürfen, und als dieser zu Ende war, um sich von Zeit zu Zeit mit der Hand vor die Stirne zu schlagen. Es schlug ein Uhr – zwei, drei, vier – und immer noch flogen die Streifen um ihn her, noch immer kratzte die unermüdliche Feder ihren Weg über die Seiten fort, und immer höher stieg das weiße Papierchaos um seinen Stuhl. Um vier Uhr hörte ich ein plötzliches Spritzen der Feder, welches den Schnörkel verkündete, mit dem er– seinen Namen unterzeichnete. »Bravo!« rief er aus, indem er mit der Leichtigkeit eines jungen Mannes aufsprang und mir mit einem Lächeln süperben Triumphes ins Gesicht sah.

»Fertig, Mr. Hartright!« rief er aus, indem er sich mit der Faust auf die breite Brust schlug »Fertig zu meiner eigenen höchsten Genugthuung – zu Ihrem höchsten Erstaunen, wenn Sie lesen werden, was ich geschrieben habe. Der Gegenstand ist erschöpft: der Mann – Fosco – nicht. Jetzt ans Ordnen, Lesen und Revidiren meiner Streifen – die emphatisch für Ihr Auge allein bestimmt sind. Gut! Das Ordnen, Lesen und Revidiren – von Vier bis Fünf. Ein kurzer Schlummer zu meiner Stärkung – von Fünf bis Sechs. Letzte Reisevorkehrungen·– von Sechs bis Sieben. Geschäfte mit dem Agenten und wegen des versiegelten Briefes von Sieben bis Acht. Um acht Uhr en route. Das Programm – le voilà!«

Er setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zu seinem Papiere auf den Fußboden, zog die Streifen mit einer Schnürnadel auf ein Band, corrigirte sie, schrieb alle Titel und Ehren, durch die er persönlich ausgezeichnet war, oben über die erste Seite und las mir das Manuscript dann mit lauter, theatralischer Emphase und vielfältigen theatralischen Gesten vor. Der Leser wird in Kurzem Gelegenheit haben, sich seine eigene Ansicht über das Actenstück zu bilden Genüge es hier, nur zu erwähnen, daß es meinem Zwecke entsprach.

Er schrieb mir zunächst die Adresse des Mannes auf, von dem er den Wagen gemiethet hatte, und gab mir Sir Percival’s Brief. Derselbe war aus Hampshire und den 25. Juli datirt und kündigte Lady Glyde’s Abreise nach London auf den 26. an. Demnach also war sie an demselben Tage, an dem des Arztes Certificat sie als in St. John’s Wood verstorben erklärte, nach Sir Percival’s eigenem Beweise lebend in Blackwater – und sollte am folgenden Tage eine Reise antreten! Sobald ich den Beweis dieser Reise von dem Lohnkutscher würde erhalten haben, sollten also jetzt meine Beweise vollständig sein.

»Ein Viertel nach Fünf,« sagte der Graf, auf seine Uhr blickend. Es wird Zeit zu meinem Stärkungsschlummer. Sie haben vielleicht meine persönliche Aehnlichkeit mit Napoleon dem Großen bemerkt, Mr. Hartright– ich gleiche aber dem großen Manne auch noch in der Fähigkeit, nach Willen über meinen Schlaf zu verfügen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich will die Gräfin bitten, Sie vor Langerweile zu bewahren.«

Da ich so gut wie er wußte, daß er die Gräfin nicht zu meiner Unterhaltung herbeirief, sondern damit sie es verhindere, daß ich das Haus verließe, erwiderte ich Nichts und beschäftigte mich mit dem Zusammenbinden der Papiere, welche er mir eingehändigt hatte.

Die Dame kam herein – kühl, bleich und giftig wie immer. »Unterhalte Mr. Hartright, mein Engel,« sagte der Graf. Dann reichte er ihr einen Stuhl, küßte ihre Hand zum zweitenmale, zog sich nach dem Sopha zurück und schlief in drei Minuten so friedlich und glücklich, wie der tugendhafteste Mensch von der Welt.«

Die Gräfin nahm ein Buch vom Tische, setzte sich und blickte mich mit der ruhigen, rachsüchtigen Bosheit einer Frau an, die nie wieder vergißt noch vergiebt.

»Ich habe Ihre Unterhaltung mit meinem Gemahle angehört,« sagte sie. »Wäre ich an seiner Stelle gewesen, so hätte ich Sie todt auf den Kaminteppich hingestreckt.«

Mit diesen Worten öffnete sie ihr Buch, und von diesem Augenblicke bis zu dem Augenblicke, wo ihr Mann erwachte, sah sie mich weder an, noch sprach sie wieder ein Wort zu mir.

Genau eine Stunde, nachdem er sich zum Schlafen niedergelegt, öffnete er die Augen und erhob sich vom Sopha.

»Ich fühle mich unbeschreiblich erquickt,« bemerkte er. »Eleanor, mein gutes Weib, bist Du oben ganz fertig? Das ist recht. Mein Bischen Packen hier kann in zehn Minuten fertig – und ich in noch zehn Minuten zur Reise gerüstet sein. Was ist noch zu thun, ehe der Agent kommt?« Er schaute sich im Zimmer um und erblickte den Käfig mit den weißen Mäusen. »Ach!« rief er aus; »es bleibt mir noch ein letztes Zerreißen meiner Gefühle übrig. Meine unschuldigen Lieblinge! meine geliebten kleinen Kinder! Was soll ich mit ihnen anfangen? Für’s Erste haben wir nirgends einen festen Wohnort, wir werden unaufhörlich reisen und je weniger Gepäck wir bei uns führen, desto besser für uns. Mein Kakadu, meine Canarienvögel und meine weißen Mäuse – wer wird sie pflegen, wenn ihr guter Papa ferne von ihnen ist?«

Er ging in tiefen Gedanken im Zimmer auf und ab. Er war beim Aufschreiben seines Bekenntnisses keinen Augenblick in Verlegenheit gewesen; aber die weit wichtigere Frage der Art und Weise, wie er über seine Lieblingsthiere verfügen solle, verursachte ihm ernstliches Nachdenken. Nach langer Ueberlegung setzte er sich endlich wieder an den Schreibtisch

»Ich habe einen Gedanken!« rief er aus. »Ich will meinen Kakadu und meine Canarienvögel dieser großen Hauptstadt zum Geschenk machen – mein Agent soll sie in meinem Namen dem Präsidenten des Thiergartens übergeben, und ich will sofort das ›Instrument‹ ihrer Beschreibung aufsetzen.«

Er fing an zu schreiben, wobei er die Worte laut wiederholte, wie sie aus seiner Feder flossen.

»Numero Eins. Kakadu, von strahlendem Gefieder: allein fähig, ein ganzes Publikum von Geschmack anzuziehen. – Numero Zwei. Canarienvögel von beispielloser Lebhaftigkeit und Klugheit: würdig des Gartens des Paradieses und würdig des Gartens im Regent’s Park. Huldigung der Zoologie. Dargeboten von Fosco

Die Feder spritzte abermals, und der Schnörkel um die Unterschrift war gemacht.

»Graf! Du hast die Mäuse ausgelassen,« sagte die Gräfin.

Er verließ den Tisch, nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz.

»Alle menschliche Entschlossenheit hat ihre Grenzen, Eleanor,« sagte er. »Meine Grenzen stehen in jenem Documente geschrieben. Ich kann mich von meinen weißen Mäusen nicht trennen. Habe Nachsicht mit mir, mein Engel, und nimm sie mit hinauf in ihren Reisekäfig.«

»Bewunderungswürdige Zärtlichkeit,« sagte die Gräfin, ihren Gemahl anstaunend, und mit einem letzten Natternblicke in meine Richtung. Sie nahm den Käfig vorsichtig auf und verließ das Zimmer.

Der Graf sah auf seine Uhr. Ungeachtet seiner festen Entschlossenheit, seine Fassung zu behalten, schien er doch mit Unruhe der Ankunft des Agenten entgegen zu sehen. Die Lichter waren längst ausgelöscht worden, und das Sonnenlicht des neuen Morgens ergoß sich ins Zimmer. Es war bereits fünf Minuten nach sieben Uhr, als man am Gartenpförtchen schellen hörte und der Agent anlangte. Er war ein Ausländer, mit einem dunklen Barte.

»Mr. Hartright – Monsieur Rubelle,« sagte der Graf, uns einander vorstellend. Er nahm den Agenten (dem man in jedem Zuge des Gesichtes den Spion ansah) in einen Winkel des Zimmers, flüsterte ihm einige Verhaltungsbefehle zu und verließ uns dann. Monsieur Rubelle bat mich, sobald wir allein waren, mit ausgesuchtester Höflichkeit, ihm seine Instructionen zu geben. Ich schrieb zwei Zeilen an Pesca, welche ihn autorisirten, »dem Ueberbringer« den versiegelten Brief auszuhändigen; dann adressirte ich das Billet und gab es Monsieur Rubelle.

Der Agent blieb bei mir, bis sein Vorgesetzter – in Reisekleidern – wieder zu uns hereinkam. Der Graf betrachtete die Adresse des Briefes, ehe er den Agenten entließ. »Ich dachte es mir!« sagte er, sich mit einem finsteren Blick gegen mich wendend, und veränderte sein Benehmen gegen mich sofort wieder.

Er machte sein Gepäck fertig und setzte sich dann, um eine Reisecarte zu studiren, wobei er Anmerkungen in sein Tagebuch schrieb und von Zeit zu Zeit ungeduldig nach seiner Uhr sah. Er sprach kein Wort wieder zu mir. Der nahe Augenblick seiner Abreise und der Beweis, den er gesehen hatte, von der Verbindung zwischen Pesca und mir, hatten offenbar seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf die Masregeln gelenkt, welche zu seiner Flucht nothwendig waren.

Kurz vor acht Uhr kehrte Monsieur Rubelle mit meinem uneröffneten Briefe zurück. Der Graf betrachtete aufmerksam Siegel und Adresse – zündete ein Licht an– und verbrannte den Brief. »Ich erfülle mein Versprechen, Mr. Hartright,« sagte er, »aber die Sache ist hiermit nicht zu Ende.«

Der Agent hatte den Fiaker, in welchem er zurückgekehrt war, vor dem Hause warten lassen. Er und die Magd beschäftigten sich jetzt, das Gepäck aufzuladen. Die Gräfin kam dicht verschleiert und mit dem Käfige, der die weißen Mäuse enthielt, von oben herunter. Sie sprach weder zu mir, noch sah sie mich an. Ihr Gemahl führte sie an den Fiaker. »Folgen Sie mir bis in den Gang,« flüsterte er mir ins Ohr, »ich mag Ihnen im letzten Augenblicke noch Etwas zu sagen haben.«

Ich ging bis an die Hausthür, und der Agent stand vor mir im Vordergarten. Der Graf kam allein zurück und zog mich ein paar Schritte in den Gang hinein.

»Denken Sie an meine dritte Bedingung!« flüsterte er. »Sie sollen von mir hören, Mr. Hartright – ich mag vielleicht früher, als Sie es denken, die Genugthuung eines Gentleman von Ihnen fordern.« Er ergriff, ehe ich dergleichen noch ahnen konnte, meine Hand und drückte sie fest – dann wandte er sich zur Thür, stand still und kam nochmals zurück zu mir.

»Noch ein Wort,« sagte er vertraulich; »als ich Miß Halcombe zum letzten Male sah, schien sie mir blaß und elend auszusehen. Ich bin besorgt um jenes bewunderungswürdige Weib. Sorgen Sie für ihre Gesundheit, Sir! Mit der Hand auf dem Herzen flehe ich Sie feierlich an, für Miß Halcombe’s Wohl zu sorgen!«

Dies waren seine letzten Worte zu mir, bevor er seinen ungeheuren Körper in den Fiaker klemmte und davonfuhr.

Der Agent und ich warteten ein paar Minuten an der Thüre und sahen ihm nach. Während wir dastanden, kam ein zweiter Fiaker um eine Ecke etwas weiter den Weg hinabgefahren. Derselbe folgte dem Fiaker des Grafen; und als er an dem offnen Gartenpförtchen vorbeikam, schaute der Darinsitzende zu uns heraus. Wieder der Fremde von der Oper – der Ausländer mit der Narbe auf der linken Wange.

»Sie werden noch eine halbe Stunde länger mit mir hier warten, Sir!« sagte Monsieur Rubelle.

»Ja·«

Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück. Ich war nicht in der Stimmung, mit dem Agenten zu sprechen oder ihn mit mir sprechen zu lassen. Ich nahm die Papiere heraus, welche der Graf mir übergeben hatte und las die furchtbare Geschichte des Anschlages, wie der Mann, welcher ihn erdacht und ausgeführt, sie aufgeschrieben hatte.



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