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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 16

Tritte im Korridor

Mercy war allein.

Sie hatte sich eine halbe Stunde ungestörter Zurückgezogenheit auf ihrem Zimmer gesichert und war entschlossen, in dieser Zeit ihr Bekenntnis in Form eines an Julian Gray gerichteten Briefes niederzuschreiben.

In der Stellung, welche sie auch jetzt noch Horace und Lady Janet gegenüber einnahm, konnte sie es nicht über sich gewinnen, ihnen zu gestehen, dass sie sich unter fremdem Gewande in ihre Herzen einschlichen. Nur durch Julian war sie im Stande, ihre Schuld zu offenbaren, und damit Grace Roseberry in ihr Recht wieder einzusetzen.

Sollte sie ihm das Bekenntnis schriftlich mitteilen, oder es ihm von Angesicht zu Angesicht selbst sagen?

Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, hätte sie es als eine Erleichterung empfunden, ihr Herz dem Mann mündlich zu eröffnen, der sie so feinfühlend verstanden und in ihrer trostlosen Lage ihr so treu geholfen hatte. Allein Horace hatte schon zu wiederholten Malen seinen eifersüchtigen Argwohn gegen Julian kundgegeben; und so fühlte Mercy, dass sie sich selbst neue Hindernisse in den Weg legen und Julian in eine peinliche Verlegenheit bringen würde, wenn sie diesem, während Horace im Hause anwesend war, eine geheime Unterredung bewilligte.

Es blieb ihr somit nur das eine Mittel übrig; sie musste die lange, beschämende Erzählung des begangenen Betruges als Brief an Julian gelangen lassen.

Sie war entschlossen, ihm zu schreiben und am Schluss einige Winke über das Verhalten beizufügen, welches sie von ihm beobachtet zu sehen wünschte.

Es betraf die Mitteilung ihres Geständnisses an Lady Janet und Horace. Sie sollten im Bibliothekszimmer erfahren, dass Mercy, nach ihrem eigenen Bekenntnis, die Vermisste sei, welche sie sich verpflichtet hatte, ihnen vorzuführen; indessen sie selbst in einem anstoßenden Zimmer des Urteils harrte, das sie, nachdem sie die Wahrheit gehört, über sie sprechen würden. Es war ein Augenblick, der in ihr den Entschluss zur Reife brachte, jede Folge, die ihr Geständnis nach sich ziehen würde, zu ertragen; es war dies der Augenblick gewesen, da Horace - und Lady Janet hatte sich ihm hierin angeschlossen - in scharfem Tone um den Grund ihrer verzögerten Erklärung und um den Gegenstand derselben gefragt hatte. Der bittere Schmerz über seine Worte hatte ihr plötzlich den Gedanken eingegeben, sie wollte mit eigenen Ohren den Richterspruch über ihre Schuld hören, wenn der Brief an Julian ihnen dieselbe enthüllt haben wird. „Sie sollen mich nur zugrunde richten”, hatte es damals verzweifelnd in ihr gerufen; „ich habe nichts Besseres verdient.”

Sie verschloss die Tür und setzte sich an den Schreibtisch. Was sie zu tun sich vorgenommen, wollte sie jetzt tun.

Doch es war umsonst. - Nur solche, welche das Schreiben als eine Kunst betreiben, sind im Stande zu bemessen, wie wesentlich verschiedene Dinge es sind, einen Gedanken im Kopf zu haben und ihn in richtiger Form zum Ausdruck zu bringen. Die furchtbare Aufregung der letzten Stunde hatte Mercy für die schwierige Aufgabe, die verschiedenen Momente ihrer Erzählung nach der gehörigen Reihenfolge zu ordnen und in das entsprechende Verhältnis zu einander zu stellen, gänzlich unfähig gemacht. Immer und immer wieder fing sie den Brief von vorne an und immer wieder fand sie sich durch das Chaos ihrer Gedanken am Fortfahren gehindert. Hoffnungslos gab sie schließlich ihre Bemühung auf.

Sie fühlte ihren Mut sinken; immer drückender wurde die Last auf ihrem Herzen; nur durch Beschäftigung konnte sie sich jetzt vor krankhaftem Grübeln und grundlosen Befürchtungen retten.

Unwillkürlich trat ihr da zunächst der Gedanke an ihre eigene Zukunft vor die Seele. Da gab es keine Verwicklungen; da war nichts unklar. Sie begann und endete mit der Rückkehr in das Besserungshaus, wenn sie die Hausmutter noch einmal aufnahm.

Julian Gray, das wusste sie, würde sie nie verlassen; sein edles Herz würde ihr unter allen Umständen Trost und Hilfe gewähren. Aber wie konnte sie sich arglos seiner Teilnahme hingeben, da ihre Schönheit und seine Jugend den geschäftigen bösen Zungen so viel Anlass zu übler Nachrede, ja vielleicht zu schändlicher Verdächtigung der reinsten, höchsten Freundschaft gab. Und er, nur er musste darunter leiden. Er besaß einen unbescholtenen Charakter - er war Geistlicher - und beides konnte er verlieren! Nein! Um seinetwillen, aus Dankbarkeit für alles, was er getan, musste ihr Abschied von Mablethorpe-House zugleich auch der Abschied von Julian Gray sein.

Die kostbarsten Minuten verrannen. Da entschloss sie sich, an die Hausmutter zu schreiben, sie um Verzeihung und um abermalige Aufnahme zu bitten. Der Brief war leicht zu verfassen; vielleicht stärkte er ihren Geist und klärte ihre Gedanken, dass sie nachher die Lösung der schweren Aufgabe noch einmal versuchen konnte. So stand sie, bevor sie die Feder wieder ergriff, einen Augenblick am Fenster und gedachte des vergangenen Lebens, in das sie so bald zurückkehren sollte.

Ihr Fenster lag nach Osten zu. Der trübe Widerschein der erleuchteten Straßen Londons hing am Himmel, als sie ihre Augen zu demselben emporhob. Ihr war, als zöge sie dieser Schein in die Nacht ihrer früheren Straßenexistenz zurück - als zeigte er ihr höhnend den Weg nach den Brücken, die sich über den schwarzen Fluss spannen - als riss er sie über das Brückengeländer mit einem Sprung hinein - in Gottes Arme oder in das Nichts - niemand weiß es.

Schaudernd trat sie vom Fenster weg. „Sollte dies dein Ende sein”, fragte sie sich selbst, „wenn die Hausmutter die Aufnahme verweigert?”

Sie begann den Brief.

„Teuere Frau - kaum wage ich es mehr, nach so langer Zeit wieder an Sie zu schreiben. Ich fürchte, Sie haben mich als eine verstockte, unverbesserliche Sünderin bereits aus Ihrem Herzen ausgeschlossen und aufgegeben.

Ich habe bisher kein ehrliches Leben geführt; dies der Grund, weshalb ich Ihnen bis zum heutigen Tage nicht schreiben konnte. Heute will ich aber alles sühnen, was ich verschuldet, allen jenen ihr Recht werden lassen, die ich darum verkürzt habe; und so darf ich nun, mit der bittersten Reue im Herzen, wieder bei Ihnen anklopfen, bei der Freundin, die so viel Not und Elend mit mir getragen, die mich so viele Jahre hindurch gestützt und getröstet hat. O, verstoßen Sie mich nicht! Sie sind meine einzige Zuflucht!

Dürfte ich Ihnen meine ganze Schuld bekennen, vielleicht würden Sie dann milder urteilen und mir verzeihen können. Nehmen Sie mich noch einmal auf, und lassen Sie mich durch Arbeit mein Obdach und mein Brot verdienen.

Noch vor Anbruch der Nacht muss ich den Ort verlassen, von wo aus ich diese Zeilen schreibe; und ich weiß nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll. Die kleinen Ersparnisse und das Wenige, was ich an Wertsachen jetzt besitze, muss ich hier zurücklassen; sie gehören nicht mir; ich habe sie unter falschen Vorspiegelungen an mich gebracht. Kein zweites Geschöpf auf Erden steht so hilflos da, wie ich in diesem Augenblick. Üben Sie christliche Barmherzigkeit, nicht um meinetwillen - um unseres Herren willen nehmen Sie mich auch diesmal auf.

Sie wissen, dass ich als Krankenwärterin brauchbar bin und auch mit der Nadel umzugehen verstehe; vielleicht können Sie mein Kraft in einer oder der anderen Richtung verwerten.

Gerne und uneigennützig möchte ich Kinder lehren. Allein, wie kann man von Eltern verlangen, dass sie ihr höchstes Gut so verrufenen Händen, wie den meinen, anvertrauen? Darauf darf ich nicht hoffen, und dennoch liebe ich die Kinder! Inmitten einer Kinderschar könnte ich mein Schicksal, wenn auch nicht glücklich, so doch befriedigend nennen. Gibt es denn keine Wohltätigkeitsanstalten, um verwahrloste Kinder vor dem Verderben zu erretten, das ihnen bei ihrem Leben auf den Straßen unausweichlich droht? Meine eigene unselige Kindheit schwebt mir vor - o, wie glücklich wäre ich, andere Kinder vor dem Elend zu bewahren, das mich selbst zugrunde gerichtet hat. Für diesen Zweck würde ich freudig arbeiten und unermüdlich Tag und Nacht, dem würde ich mein ganzes Denken und Fühlen weihen; irdische, mit Glücksgütern gesegnete Frauen müssten mich darum beneiden. - Versuchen Sie es, sprechen Sie ein Wort für mich; vielleicht vertraut man mir die armen, dem Hunger und der Not preisgegebenen Kleinen an. Doch ist das zu viel gefordert, so vergeben Sie mir. Ich fühle mich so verlassen, so namenlos unglücklich. - Das Leben ist mir zur Last.

Nur eines noch. Mein Bleiben hier zählt kaum mehr nach Stunden. Wollen Sie mir freundlichst auf diesen Brief mit einem telegraphischen „Ja” oder „Nein” antworten?

Sie kennen mich unter einem Namen, der hier allen fremd ist. Ich bitte Sie daher, das Telegramm an den hochwürdigen Herrn Julian Gray, Mablethorpe-House, Kensington, zu adressieren. Er ist hier im Hause und wird es mir übergeben. Was ich ihm schulde, kann ich mit Worten gar nicht sagen. Er hat mich vor gänzlicher Verzweiflung gerettet - hat mich mir selbst zurückgegeben. Gott segne ihn dafür und lohne es ihm; er ist mein bester, treuester, mein einzig wahrer Freund!

So nehmen Sie denn zum Schluss nur noch meine Entschuldigung wegen des langen Briefes, und seien Sie überzeugt von der Dankbarkeit Ihrer -”

Sie fügte die Unterschrift bei, schloss den Brief und schrieb die Adresse. Da stellte sich ihr zum ersten Male ein Hindernis in den Weg, an welches sie bisher noch nicht gedacht hatte.

Mit der Post konnte sie den Brief nicht an seinen Bestimmungsort gelangen lassen; dazu war sein Inhalt zu dringend. Es brauchte somit einen eigenen Boten. Bisher hatte sie allerdings über die ganze Dienerschaft im Hause verfügen können; aber jetzt, wo ihr in einer halben Stunde die Entlassung drohte, konnte sie doch keine Dienstleistung für ihre eigene Person mehr beanspruchen. In diesem Falle war es noch besser, den Schritt zu wagen und ohne vorher eingeholte Erlaubnis im Besserungshause zu erscheinen.

Sie überdachte ihren Entschluss noch einmal; da ward sie plötzlich durch ein Klopfen an der Zimmertür aufgeschreckt. Sie öffnete und ließ die Zofe Lady Janets, mit einem zusammengelegten Blatt Papier in der Hand, eintreten.

„Ich soll Ihnen dies von meiner Herrin überbringen, Fräulein”, sagte diese, ihr den Zettel reichend. „Es ist keine Antwort darauf zu geben.”

Sie wollte wieder gehen. Mercy hielt sie zurück. Das Erscheinen der Zofe hatte sie auf einen Einfall gebracht; sie fragte, ob jemand von den Dienstleuten diesen Nachmittag in die Stadt gehe.

„Ja, Fräulein. Einer der Diener reitet dahin; er hat dem Wagenfabrikanten einen Auftrag von Lady Janet auszurichten.”

Da lag das Besserungshaus auf seinem Wege. Unter diesen Umständen hielt es Mercy für erlaubt, sich seiner zu bedienen.

„Wollen Sie so gut sein, dem Diener diesen Brief zur Besorgung zu übergeben”, sagte sie. „Der Ort der Bestellung liegt auf seinem Wege, und er braucht ihn nur abzugeben - sonst nichts.”

Die Zofe entsprach bereitwillig ihrem Wunsch. Als Mercy wieder allein war, betrachtete sie das Blatt Papier in ihrer Hand.

Zum ersten Male hatte ihre Wohltäterin, trotzdem sie beide nur durch Türen voneinander getrennt waren, diesen Umweg eingeschlagen, um ihr eine Mitteilung zu machen. Was hatte diese Abweichung Lady Janets von ihren sonstigen Gewohnheiten zu bedeuten? War es die Entlassung, die sie in diesem Zettel schickte? Sollte ihr Scharfsinn die Wahrheit herausgefunden haben? Mercy fühlte, wie ihre Nerven immer schlaffer und schlaffer wurden. Zitternd bog sie das Papier auseinander.

Ohne Einleitung, und ohne Unterschrift lautete der Brief folgendermaßen:

„Ich muss Sie bitten, Ihre versprochene Erklärung etwas aufzuschieben. In meinem Alter sind so peinliche Überraschungen wie ich sie eben erfahren, keine Kleinigkeit mehr. Ich muss mich erst beruhigen, bis ich Sie weiter hören kann; keinesfalls sollen Sie länger warten müssen als nötig ist. Inzwischen bleibt alles beim Alten. Mein Neffe Julian und Horace Holmcroft sowohl, als auch die Dame, die ich im Speisezimmer angetroffen habe, bleiben auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier im Hause, bis ich wieder im Stande bin, Ihnen allen gegenüberzutreten.”

Damit war der Brief zu Ende. Was war daraus zu entnehmen?

Hatte Lady Janet wirklich die Wahrheit erraten? Oder war es nur eine Vermutung, dass ihre Adoptivtochter in irgendeiner geheimnisvollen, für sie kompromittierenden Zusammenmachung mit Mercy Merrick stehe? Der Ausdruck „die Dame”, mit dem sie die zudringliche Fremde bezeichnete, bewies ziemlich deutlich, dass sie ihre frühere Ansicht bezüglich derselben geändert hatte. Aber konnte man bei alledem, nur auf einen einzelnen Ausdruck hin, annehmen, dass sie wusste, welcher Art Mercys Bekenntnis sei? Hierüber Gewissheit zu erlangen war kaum möglich; jetzt ebenso wenig wie späterhin. Denn Lady Janet verriet nie mit einem Worte, was an jenem Tage in ihrem Inneren vorging, wie tief der Kummer in ihr Herz gedrungen war.

Inmitten aller Ungewissheit lag nur das eine klar vor Mercys Augen: ihre Wohltäterin selbst hatte die ihr gegönnte Frist verlängert und die bevorstehende Eröffnung vielleicht um Stunden hinausgeschoben. In dieser Frist konnte sich wohl ihr Geist so weit beruhigen, dass sie im Stande war, den inhaltsschweren Brief an Julian Gray zu schreiben.

Der Zettel Lady Janets lag vor ihr. Den Kopf in die Hand gestützt, saß sie am Tische, und versuchte Schritt um Schritt ihre verworrene Vergangenheit in der Erinnerung noch einmal zu durchwandern; von dem ersten Zusammentreffen mit Grace Roseberry im französischen Häuschen bis zu ihrer zweiten Begegnung im Speisezimmer von Mablethorpe-House.

Ein Bild nach dem anderen rollte sich allmählich vor ihren Blicken auf.

Je mehr sie den Zusammenhang der Ereignisse verfolgte, desto auffallender trat es hervor, wie merkwürdig der Zufall oder das Schicksal ihr zuerst den Weg zu dem Betruge geebnet hatten.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte sie eine erste Begegnung wohl kaum zu so vertraulichen Mitteilungen veranlasst, wie Grace und Mercy sie in jener Nacht miteinander ausgetauscht hatten. So aber war die Art und Weise ihres Zusammentreffens, die Prüfung, die sie zu bestehen, die Gefahren, die sie umringt hatten, so ganz ungewöhnlich gewesen, dass es, im fremden Lande zumal, nur zu begreiflich war, wie zwei Frauen, ein und derselben Nation angehörend, sich gegenseitig ihre Herzen eröffneten. Darin war auch allein der Grund gelegen, weshalb Mercy gleich beim ersten Gespräche mit Grace so verhängnisvoll mit deren Stellung und Lebensverhältnissen bekannt geworden war - verhängnisvoll, weil nach der augenscheinlichen Tötung Gracens durch die Granate die furchtbare Versuchung notwendig an sie hatte herantreten müssen.

Auch im weiteren Verlaufe der Ereignisse, als Grace ihr nach England gefolgt war, zeigte es sich, wie der Zufall oder das Schicksal tätig gewesen, um auch jene zweite Begegnung in Mablethorpe-House herbeizuführen.

Sie erinnerte sich noch recht wohl, an jenem Tage als Lady Janets Stellvertreterin einer Versammlung beigewohnt zu haben, welche von einem Wohltätigkeitsverein einberufen worden war. Auf Lady Janets ausdrückliches Verlangen war sie damals dorthin gegangen und gerade um dieselbe Stunde war Grace hier im Hause erschienen. Hätte sich ihre Rückkehr nur um einige Minuten verzögert, so wäre die vermeintliche Verleumderin durch Julian bereits fortgebracht gewesen; das fürchterliche Wiedersehen, infolge dessen Mercy besinnungslos zu Boden gefallen, wäre ihr für immer erspart geblieben. So aber war die Dauer ihrer Abwesenheit vom Hause für sie verhängnisvoll verkürzt worden, obgleich der Grund dafür an und für sich keineswegs außerordentlich genannt werden konnte. Die Versammlung hatte sich in Betreff des Gegenstandes, dessentwegen sie zusammenberufen worden war, nicht einigen können, und so war man genötigt gewesen, wie man in solchen Fällen eben zu tun pflegt, die Debatte zu vertagen. Aber gerade der Zufall dieser Vertagung oder das Schicksal hatte Mercy in dem Augenblicke nach Hause und in das Zimmer geführt, als Grace ungestüm der Betrügerin gegenübergestellt zu werden verlangte.

Noch nie war ihr dies alles in so düsterem Lichte erschienen wie jetzt. Allein in ihrem Zimmer, stand sie nun an einem Wendepunkt ihres Lebens. Die fortwährenden Gemütsbewegungen hatten sie geschwächt, ja völlig aufgerieben und aufs tiefste erschüttert.

Die Einsamkeit, und die Beobachtung, wie Zufall oder Schicksal die Hand im Spiel gehabt, raubte ihr mit jedem Augenblicke mehr ihren inneren Halt. Ihr Herz zitterte vor abergläubischer Furcht. Undeutlich furchtbare Ahnungen stürmten durch ihre Seele; es war, als hänge eine unheilschwere Wolke über ihr. Die lustig flackernde Kerze wurde scheinbar immer trüber; das Stöhnen des Windes, der winterlich um die Mauern des Hauses blies, klang wie ein Gemurmel aus der Geisterwelt. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Sie fühlte plötzlich ihr Gesicht von ihren eiskalten Händen bedeckt, ohne selbst zu wissen, wann und weshalb sie es getan.

In diesem Zustand der Hilflosigkeit und des Grauens vernahm sie plötzlich Tritte - es waren Männertritte - draußen im Korridor. Im gewöhnlichen Leben wäre sie darüber erschrocken, aufgefahren, jetzt löste das Geräusch den Bann, der sie gefesselt hielt. Die Tritte verkündeten Leben; Menschen waren nun in der Nähe; sie brachten eine willkommene Störung - gleichviel welche. Mechanisch ergriff sie wieder die Feder und besann sich, was sie eigentlich vorgehabt; der Brief an Julian Gray fiel ihr wieder ein.

Im selben Augenblicke machten die Tritte vor ihrer Tür Halt. Es wurde geklopft.

Sie zitterte am ganzen Leibe und war kaum im Stande, sich aufrecht zu erhalten. Ein schwacher Ausruf des Schreckens entrang sich ihrer Brust. Doch ehe sich das Klopfen wiederholen konnte, hatte sie ihren Mut wieder zusammengerafft und die Tür geöffnet.

Horace Holmcroft stand vor ihr.

Sein rötliches Gesicht war jetzt leichenblass; das Haar, auf das er sonst besondere Sorgfalt verwandte, in wilder Unordnung. Die äußerliche Feinheit seiner Formen war verschwunden, und der wahre Mensch, voll finsteren Misstrauens und aufs äußerste gereizt, war zum Vorschein gekommen. Er richtete sein wachsam argwöhnisches Auge fest auf sie, und sprach ohne ein Wort der Einleitung oder der Entschuldigung in strengem, zornigem Ton:

„Wissen Sie, was unten vorgeht?”

„Ich habe mein Zimmer keinen Augenblick verlassen”, antwortete sie. „Ich weiß daher bloß, dass Lady Janet sich die Erklärung, zu der ich mich verpflichtet hatte, für eine spätere Zeit vorbehalten hat.”

„Hat Ihnen denn niemand gesagt, was Lady Janet tat, nachdem Sie uns verlassen hatten? Sie wissen also nicht, dass sie derselben Person, welche sie vor kaum einer halben Stunde aus dem Hause weisen lassen wollte, mit größter Bereitwilligkeit ihr eigenes Wohnzimmer zur Verfügung gestellt, und dass Mister Julian Gray es selbst übernommen hat, den so plötzlich hochgeehrten Gast dahin zu geleiten? Und ich stehe mitten unter diesen Veränderungen, Widersprüchen und Geheimnissen allein da - ohne eine Ahnung zu haben, was dem allen zugrunde liegt.”

„Darauf kann ich Ihnen sicherlich am wenigsten antworten”, sagte Mercy sanft. „Wer, ehe Sie hier anklopften, hätte mir denn auch mitteilen sollen, was unten vorging?”

Er blickte sie mit einem ironisch gemeinten, erzwungenen Ausdruck der Überraschung an.

„Sie scheinen heute besonders vergesslich zu sein”, sagte er. „Ihr Freund, Mister Julian Gray, hätte das recht leicht tun können. Ich bin sehr erstaunt, zu erfahren, dass er noch nicht hier gewesen ist, um mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen.”

„Ich verstehe Sie nicht, Horace.”

„Sie brauchen mich auch gar nicht zu verstehen”, gab er gereizt zurück. „Julian Gray soll mich bloß verstehen; und er soll mir auch Rechenschaft geben, weshalb er hinter meinem Rücken in so vertrauliche Beziehungen zu Ihnen getreten ist. Jetzt weicht er mir noch aus; aber ich werde ihn schon zu finden wissen.”

Dabei nahm er eine so drohende Haltung an, dass Mercy in der aufgeregten, ängstlichen Gemütsverfassung dieses Augenblickes darin die Vorboten eines ernsten Konfliktes zwischen ihm und Julian Gray erblickte.

„Sie irren sich sehr”, sagte sie mit Wärme. „Es ist undankbar von Ihnen, dass Sie Ihrem besten, Ihrem treuesten Freunde so misstrauen. Von mir rede ich gar nicht. Ihr argwöhnisches Benehmen würde jede andere mit Grund beleidigt haben; warum ich mich geduldig darein füge, sollen Sie bald erfahren.”

„Lassen Sie es mich gleich erfahren. Jetzt! Auf der Stelle!”

Sie hatten bis dahin in einiger Entfernung voneinander gestanden; Mercy, auf der Türschwelle horchend; Horace, ihr gegenüber, an die Wand des Korridors gelehnt, sprechend. Bei den letzten Worten trat er plötzlich einen Schritt vor und fasste sie - mit einer gebieterischen Gebärde - beim Arm. Sein unsanfter Griff tat ihr beinahe weh; sie suchte sich von ihm loszumachen.

„Lassen Sie mich!” sagte sie. „Was wollen Sie von mir?”

Ebenso schnell, wie er ihren Arm ergriffen hatte, ließ er ihn jetzt auch wieder los.

„Sie sollen es gleich erfahren”, versetzte er. „Sie sind von einer fremden Person, deren einziger Entschuldigungsgrund ihr Wahnsinn ist - in gröblichster Weise beleidigt worden; und dieselbe Person wird auf Ihren ausdrücklichen Wunsch, ja beinahe Befehl in dem Augenblicke hier zurückgehalten, wo schon der Polizeibeamte wartet, um sie abzuholen. Ich fordere jetzt, dass Sie mir sagen, was dies zu bedeuten hat; ich habe das Recht dazu. Ich bin mit Ihnen verlobt; mir sind Sie verpflichtet, zu vertrauen, was Sie vielleicht anderen Leuten verschweigen möchten. Ich will nicht erst auf Lady Janet warten. Ich bestehe darauf - Sie zwingen mich, diesen Ausdruck zu gebrauchen - zu erfahren, in welcher Art Sie in die ganze Angelegenheit verflochten sind. Sie selbst haben mich genötigt, Ihnen hierher zu folgen; ich habe sonst keine Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen. Sie weichen mir aus und schließen sich vor mir in Ihr Zimmer ein; ich habe noch nicht die Rechte eines Gatten und kann Sie daher nicht zwingen, mich einzulassen. Aber andere Zimmer stehen zu unserer Verfügung. Das Bibliothekszimmer ist frei und ich werde Anstalt treffen, dass uns niemand darin stört. Ich gehe; aber eine Frage müssen Sie mir noch beantworten. Sie sollen in einer Woche meine Gattin werden; wollen Sie mich nun in Ihr Vertrauen ziehen oder nicht?”

Zögerte Mercy jetzt, so war sie verloren. Ihr Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr überdies, dass er ja eigentlich nur fordere, was ihm gebührte. Sie antwortete rasch:

„Ich folge Ihnen in das Bibliothekszimmer, Horace. In fünf Minuten komme ich nach.”

Überrascht und gerührt über ihre unerwartete und freimütige Willfährigkeit ergriff er ihre Hand.

Jede Kränkung, jeden zornigen Ausbruch seines verletzten Selbstgefühles hatte sie ertragen können; seine Dankbarkeit schnitt ihr ins Herz. Es war einer der bittersten Augenblicke ihres Lebens, als er jetzt ihre Hand an seine Lippen drückte und dabei zärtlich lispelte: „Meine einzige, wahre Grace!” Sie winkte ihm nun schnell, sie zu verlassen und eilte in ihr Zimmer zurück.

Als sie sich in demselben wieder allein befand, drängte sich ihr zum erstenmale die Frage auf, wie es ihr nie hatte einfallen können, dass ihr Verlobter die nächsten Ansprüche auf ein Bekenntnis von ihrer Seite hatte? Erst durch seine Forderung war ihr dies klar geworden. Horace oder Lady Janet zu gestehen, dass sie von ihr schnöde hintergangen worden, war ihr entsetzlich gewesen; und so war es gekommen, dass sie beide in diesem Falle bisher immer auf eine Linie gestellt hatte. Jetzt, zum erstenmale, sah sie ein, wie gleich verschieden die Rechte des einen und die des anderen an sie waren. Sie schuldete Horace Treue und Aufrichtigkeit, wie Lady Janet sie nicht beanspruchen konnte. Ihm die Wahrheit mit eigenen Lippen zu bekennen, war ihr jetzt Gebot. Sollte ihr das Opfer noch so schwer werden, sie musste es jetzt bringen.

Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, räumte sie das Schreibzeug weg. Es befiel sie jetzt wie Staunen, dass sie daran hatte denken können, Julian Gray als Mittelsperson zwischen ihrem Verlobten und sich selbst zu gebrauchen.

Nur dem tiefen Eindruck, welchen Julians Teilnahme auf sie gemacht haben musste, war es zuzuschreiben, dass sie ihre erste, unverkennbare Pflicht nicht sofort erkannt hatte.

Die fünf Minuten, die sie sich von Horace erbeten hatte, erschienen ihr fast zu lang.

Die einzige Möglichkeit, wie sie den Mut finden konnte, um ihn mit der furchtbaren Aufklärung über ihre Person und ihre Tat niederzuschmettern, lag in einem raschen, überstürzten Geständnis, das ihr keine Zeit zum Nachdenken ließ. Denn sobald sie dachte, musste sie die Scham überwältigen.

Sie wendete sich nach der Tür, um ihm zu folgen.

Aber selbst in diesem entscheidenden Augenblick regte sich der echte Fraueninstinkt in ihr - der Instinkt persönlichen Selbstgefallens. Sie hatte sich schon früher zuweilen zum Hinabgehen angekleidet, manchen schweren Kampf zu bestehen gehabt. Dies fiel ihr ein und mechanisch lenkte sie ihre Schritte zurück, um sich in den Spiegel zu schauen.

Es war nicht Eitelkeit, die sie dazu trieb; sie tat es unbewusst, wie sie an einem Handschuh die gelösten Knöpfe geschlossen, oder ein verknittertes Kleid ausgestreift haben würde. Nicht im Entferntesten kam es ihr in den Sinn, zu prüfen, ob ihre Schönheit noch für sie sprechen könnte und sie deshalb in das beste Licht zu setzen.

Ihr Anblick im Spiegel entlockte ihr ein flüchtiges, müdes, hoffnungsloses Lächeln. „Entstellt, ein Schatten, vor der Zeit gealtert”, sprach sie zu sich selbst. „Nun! Vielleicht ist es besser so. Er wird es weniger fühlen - mich leichter verschmerzen.”

Mit diesem Gedanken ging sie hinab ins Bibliothekszimmer, wo er sie erwartete.

Bei großen, dringenden Anlässen in unserem Leben fühlen und handeln wir, wie es uns eben die Stimmung des Augenblickes eingibt; aber wir denken nicht. So stieg jetzt auch Mercy, keinen bestimmten Gedanken im Kopfe, die Treppe hinab; nur das eine war ihr klar und drängte sie unaufhaltsam vorwärts: sie wollte so rasch als möglich in das Bibliothekszimmer kommen. Doch vor der Tür angelangt, schien sich dies Gefühl plötzlich in das Gegenteil zu verkehren; sie blieb auf der Matte stehen, jetzt innerlich staunend über ihre bisherige Eile. Der Mut entsank ihr und die fieberhafte Aufregung machte einem eisigen Frösteln Platz, als sie nun die geschlossene Tür vor sich sah und sich ihr die Frage entgegendrängte, ob sie es auch wagen dürfe, dieselbe zu öffnen.

Ihre eigene Hand gab darauf die Antwort, indem sie die Klinke ergriff und sie umdrehen wollte. Doch zögernd ließ sie abermals den Arm herabsinken.

Das Gefühl ihrer Unentschlossenheit erpresste ihr einen leisen Ausruf der Verzweiflung; dennoch war er, wie es schien, laut genug, um gehört worden zu sein. Die Tür wurde von innen geöffnet - und Horace stand vor ihr.

Er ließ sie eintreten, ohne ihr jedoch selbst zu folgen, vielmehr blieb er in der Türöffnung stehen und sprach, seine Hand an das Schloss gelegt:

„Ist es Ihnen unangenehm, auf mich zu warten?”

Sie blickte ihn mit unverhohlenem Erstaunen an, als habe sie nicht recht gehört.

„Lange wird es nicht dauern”, fuhr er fort. „Ich bin selbst auf Ihre Mitteilung zu sehr gespannt, um sie ohne Not hinauszuschieben. Allein, die Wahrheit ist, dass Lady Janet mich rufen ließ.”

Lady Janet! Was konnte sie jetzt von ihm wollen, da sie ja doch eigens deshalb die Zurückgezogenheit ihres Zimmers aufgesucht hatte, um sich in Ruhe wieder fassen zu können?

„Eigentlich hat sie schon zweimal nach mir geschickt”, fuhr Horace fort. „Das erste Mal, als ich die Treppe herabkam; es hieß, Lady Janet wünschte, mich sogleich zu sprechen. Ich ließ mich entschuldigen. Dann kam die zweite Botschaft: Lady Janet nehme meine Entschuldigung nicht an und sehe sich in dem Falle, dass ich nicht zu ihr käme, genötigt, hierher zu mir zu kommen. Eine solche Störung muss nun notwendig verhindert werden; darum will ich auch so schnell als möglich die Sache abtun; es bleibt mir sonst keine Wahl. Ist es Ihnen unangenehm auf mich zu warten?”

„Nicht im geringsten. Haben Sie etwa eine Ahnung davon, weshalb Lady Janet Sie zu sich bitten lässt?”

„Nein. Aber was es auch sei, sie soll mich nicht lange von hier fernhalten. Sie sind ganz allein, die Diener haben den Auftrag, niemand hereinzuführen.” Mit diesen Worten verließ er sie.

Mercy empfand sein Fortgehen im ersten Augenblicke wie eine Befreiung; doch gleich darauf erkannte sie beschämt, dass es eine Schwäche gewesen, die in ihrer jetzigen Lage die vorübergehende Befreiung von der Pflichterfüllung hatte willkommen erscheinen lassen. Auch dieses Gefühl verschwand, und an seine Stelle trat eine Regung der Ungeduld. „Hätte nur Lady Janet nicht nach ihm geschickt”, dachte sie bei sich selbst, „jetzt wäre vielleicht mein Schicksal bereits entschieden!”

Langsam und bange schlichen die Minuten dahin. Sie schritt im Bibliothekszimmer auf und ab, immer rascher in ihren Bewegungen, je unerträglicher die Aufregung und die qualvolle Ungewissheit dessen, was ihr bevorstand, auf ihr lastete. Bald ward ihr sogar das geräumige Zimmer zu eng; die ernste Eintönigkeit der langen, mit Büchern besetzten Fächer wirkte beklemmend. Sie stieß die Tür des Speisezimmers auf und trat ungestüm hinein, um dort andere Gegenstände zu sehen und im größeren Raume freier atmen zu können.

Beim ersten Schritt stutzte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Gefühle drängten plötzlich nach einer anderen Richtung hin, eine eigentümliche Beruhigung überkam sie.

Das Zimmer war von dem verglimmenden Kaminfeuer nur schwach erleuchtet. Auf dem Sofa saß, in der Dunkelheit kaum sichtbar, eine Männergestalt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die Hände gedrückt. Er blickte auf, als durch die geöffnete Tür das Lampenlicht aus dem Bibliothekszimmer hereinfiel. Der milde Lichtschein traf sein Gesicht - es war Julian Gray.

Mercy stand mit dem Rücken gegen das Licht, so dass ihr Gesicht im Schatten blieb; allein ihre Gestalt und die Stellung, die diese unwillkürlich annahm, verriet ihm sofort, wer sie sei. So viel natürliche Anmut, diese zierliche Schönheit in jeder Linie besaß nur ein Wesen im Hause. Er stand auf und trat ihr entgegen.

„Ich habe mir immer gewünscht, Ihnen zu begegnen”, sagte er, „und im Stillen auf einen solchen Zufall gehofft, der Sie zu mir bringen möchte.”

Er bot ihr einen Stuhl. Mercy zögerte, ehe sie sich setzte. Zum ersten Male, seitdem sie durch Lady Janets Erscheinen gestört worden waren, stand sie ihm jetzt wieder allein gegenüber. Sollte er die Gelegenheit benutzen wollen, um auf ihr Bekenntnis zurückzukommen? Fast ließ der Ton seiner letzten Worte dies vermuten. Sie fragte ihn offen darum.

„Ich bin allerdings sehr gespannt, zu hören, was Sie mir noch weiter zu bekennen haben”, antwortete er. „Aber trotzdem möchte ich Sie nicht drängen. Ich will gerne warten, wenn Sie es wünschen.”

„Ich fürchte, ich bin gezwungen, es zu wünschen”, versetzte Mercy. „Nicht um meinetwillen - aber weil die Zeit nicht mir gehört. Ich erwarte in ein paar Minuten Horace Holmcroft.”

„Wenn es noch einige Minuten dauert, wollen Sie mir diese schenken?” fragte Julian. „Ich habe meinerseits Ihnen etwas zu sagen, das Sie eigentlich wissen sollten, ehe Sie irgendjemand anderen sehen - Horace mit inbegriffen.”

Er sprach diese Worte mit einer Niedergeschlagenheit, die Mercy nach allem, was sie früher an ihm wahrgenommen, befremdend war. Sein Gesicht sah in dem rötlichen Schein des Feuers frühzeitig gealtert aus und wie von Gram verzehrt. Offenbar war während der kurzen Zeit ihrer Trennung etwas vorgefallen, das ihn betrübt und enttäuscht hatte.

„Gerne will ich Ihnen die wenigen Augenblicke, über welche ich verfügen kann, widmen”, erwiderte Mercy. „Hat übrigens das, was Sie mir zu sagen haben, irgend Bezug auf Lady Janet?”

Er gab darauf keine entschiedene Antwort. „Was ich Ihnen von ihr zu sagen habe”, sprach er ernst, „ist mit wenigen Worten gesagt. Insoweit es sie betrifft, können Sie beruhigt sein. Lady Janet weiß alles.”

Wie eine schwere Last hatte die bevorstehende Unterredung mit Horace auf ihr gelegen, doch dies Gefühl trat in den Hintergrund, als Julian mit diesen Worten ihre Frage beantwortete.

„Kommen Sie in das erleuchtete Zimmer”, sagte sie mit schwacher Stimme, „es ist zu fürchterlich, im Dunkeln zu hören.”

Julian folgte ihr in das Bibliothekszimmer. Jedes Glied an ihr zitterte, als sie sich jetzt in den nächsten Stuhl fallen ließ. Sie erlag der Macht seines Blickes, wie er, neben ihr stehend, aus seinen großen, klaren Augen traurig auf sie niedersah.

„Lady Janet weiß alles!” wiederholte sie, den Kopf auf die Brust gesenkt; und dabei rollten ihr die Tränen über die Wangen. „Haben Sie es ihr gesagt?”

„Ich habe weder ihr, noch sonst jemand das geringste gesagt. Ihr Vertrauen halte ich heilig, und ich rede nicht, bis Sie nicht selbst gesprochen haben.”

„Hat Lady Janet Ihnen etwas gesagt?”

„Kein Wort. Die Liebe für Sie hatte ihr Aug' und Ohr geschärft - und so hat sie allein die Wahrheit herausgefunden, sie wird mit keinem lebenden Wesen davon sprechen; auch mit mir nicht. Aber ich weiß jetzt, wie teuer Sie ihr waren. Sie kann sich nicht von Ihnen losreißen, obgleich sie es möchte. Das Leben der armen Frau war freudelos; einer Natur wie der ihren ganz und gar unwürdig. Sie hatte ohne Neigung geheiratet, und ihre Ehe war auch kinderlos geblieben. Sie hat stets eine Menge Verehrer, aber niemals auch nur einen wahren Freund gehabt. Und so waren die besten Jahre ihres Lebens in der unbefriedigten Sehnsucht nach einem Gegenstand, den sie lieben konnte, hingegangen. Schon fast am Ende ihrer irdischen Laufbahn haben Sie die schwer empfundene Lücke ausgefüllt. Durch Sie wurde ihr Herz wieder jung und froh. Kann da bei ihrem Alter - kann überhaupt im Alter - ein so inniges Band durch das bloße Gebot der Verhältnisse grausam zerrissen werden? Nein! Eher wird sie alles erdulden, alles wagen, alles verzeihen, als auch nur sich selbst eingestehen, dass sie sich in Ihnen getäuscht hat. Es steht mehr noch als ihr Glück auf dem Spiel; es liegt Stolz, ein edler Stolz, in solcher Liebe, welche von den deutlichsten Beweisen nichts wissen will; ja die unwiderlegbarste Wahrheit zu leugnen sucht. So, wie ich ihren Charakter überhaupt kennen gelernt - und mehr noch, nach dem, was ich heute an ihr beobachtet habe, bin ich fest überzeugt, dass sie irgendeinen Grund finden wird, um Ihrem Bekenntnis auszuweichen. Ja noch mehr, sie wird, glaube ich - wenn es ihr Einfluss vermag - alles aufbieten, um zu verhindern, dass Sie irgendjemand im Hause über Ihre wahre Stellung aufklären. Ich nehme damit, dass ich Ihnen dies sage, eine schwere Verantwortlichkeit auf mich - aber ich schrecke nicht davor zurück. Sie mussten und Sie sollen es wissen, welche Versuchungen noch an Sie herantreten, und welche harte Proben Sie noch zu bestehen haben werden.”

Er schwieg - um Mercy, wenn sie mit ihm sprechen wollte, Zeit zu lassen, sich zu sammeln.

Dass sie mit ihm sprechen musste, fühlte sie jetzt selbst als eine Notwendigkeit. Er wusste offenbar nicht, dass Lady Janet schriftlich um den Aufschub der angekündigten Erklärung gebeten hatte. Dieser Umstand war schon an und für sich eine Bestätigung seiner eben geäußerten Ansicht. Darum sollte und wollte sie es ihm mitteilen. Aber sie war der Aufgabe nicht gewachsen. Die wenigen schlichten Worte, mit welchen er ihr Verhältnis zu Lady Janet berührt hatte, zerrissen ihr die Seele. Tränen erstickten ihre Stimme; sie konnte ihm nur winken, fortzufahren.

„Sie können sich mit Recht wundern”, sprach er, „dass ich nur auf meine eigene Überzeugung hin mich in so bestimmter Weise äußere; allein meine Beobachtung Lady Janets ist zu scharf gewesen, um mir in diesem Falle einen Zweifel zu lassen. Ich sehe sie vor mir so deutlich, wie ich jetzt Sie sehe, als in jenem Augenblicke die Erkenntnis der Wahrheit sie durchzuckte. Nicht allmählich ward es ihr klar - mit einem Schlage drängte sie sich ihr auf, wie sie sich mir aufgedrängt hatte. Sie ahnte nicht das Leiseste - die Entrüstung über Ihr plötzliches Einschreiten und Ihre befremdende Sprache war aufrichtig gemeint gewesen - bis Sie es auf sich nahmen, Mercy Merrick vorzuführen. Da - erst da brach die volle Wahrheit über sie herein; Ihre Worte, Ihre Stimme, Ihr Blick hatten sie ihr verraten. Da wurde sie plötzlich ganz verändert und blieb es, so lange sie im Zimmer war. Ich wage kaum zu denken, was sie im ersten Anfall der Verzweiflung über die gemachte Entdeckung vielleicht tut. Ich misstraue - obgleich ich wahrlich von Haus aus nicht argwöhnisch bin - jedem scheinbar unbedeutendsten, geringfügigsten Umstand, der jetzt begegnen kann. Es war ein edler Entschluss von Ihnen, die Wahrheit zu bekennen. Halten Sie daran fest und bereiten Sie sich, noch ehe dieser Tag zu Ende ist, darauf vor, abermals versucht und auf die Probe gestellt zu werden.”

Mercy erhob ihren Kopf. Der Ausdruck von Bekümmernis war aus ihren Augen gewichen und hatte jenem der Furcht Platz gemacht, als sie jetzt aufgeschreckt und forschend Julian ins Antlitz sah.

„Wie kann jetzt eine Versuchung an mich herantreten?” fragte sie.

„Darauf sollen Ihnen die kommenden Ereignisse selbst die Antwort geben”, sagte er. „Lange werden Sie nicht zu warten brauchen. Unterdessen habe ich Sie gewarnt.” Er bückte sich nieder und sprach die nächsten Worte in ernstem Ton ganz nahe an ihrem Ohr: „Halten sie fest an dem bewunderungswürdigen Mut, den Sie bisher bewiesen.” Dann fuhr er fort: „Dulden Sie alles eher, als Ihre eigene Erniedrigung. Seien Sie jenes Weib, von dem ich sprach - das ich noch im Sinne habe - jene, die es im Stande ist, den edlen Kern ihres Innern herauszukehren! Und vergessen Sie niemals - dass der Glaube an Sie in mir fest steht!”

Stolz und dankbar blickte sie zu ihm auf.

„Ihren Glauben an mich muss ich rechtfertigen”, sagte sie. „Es steht nicht mehr in meiner Macht, mich hierin schwach zu zeigen. Horace hat mein Versprechen, dass ich ihm hier in diesem Zimmer alles erklären will.”

Julian fuhr auf.

„Hat Horace selbst dies von Ihnen begehrt?” forschte er. „Er ahnt die Wahrheit nicht einmal.”

„Horace hat mich an die Pflicht gemahnt, welche ich, als seine künftige Gattin, gegen ihn zu erfüllen hätte”, antwortete sie. „Er hat den nächsten Anspruch an mein Vertrauen, er nimmt mir mein Schweigen übel, und dies mit Recht. So fürchterlich es ist, ihm die Augen zu öffnen, ich muss es tun, wenn er es von mir verlangt.”

Während sie so sprach, blickte sie auf Julian. Es war ihr vom ersten Augenblick an ein Trost gewesen, den schweren Schritt des Bekennens mit ihm, der allein Mitleid mit ihr empfand und an sie glaubte, in Verbindung zu bringen; jetzt erschien ihr dieser Trost in einer neuen Gestalt. Der Gedanke, dass Julian ihre verhängnisvolle Unterredung mit Horace mit anhörte, würde ihr die Kraft geben, jedem, auch dem Schrecklichsten, mutig zu begegnen. War es denn nicht möglich, dass er ihr auf diese Weise seinen Beistand lieh? Sie dachte eben darüber nach und fing einen Blick Julians nach der Tür auf, durch welche sie vorhin eingetreten waren. Rasch entschlossen betrat sie den weg, der sie zum Ziel führte. Sie hörte kaum die freundlichen Worte der Teilnahme und Ermunterung, die er an sie richtete und versuchte schüchtern, ihm ihre Absicht anzudeuten.

„Gehen Sie in das andere Zimmer zurück?” fragte sie.

„Ich wollte; aber wenn Sie etwas dagegen haben, unterlasse ich es”, erwiderte er.

„Ich habe nicht nur nichts dagegen, es ist mir sogar lieb, Sie dort zu wissen.”

„Während Horace hier bei Ihnen ist?”

„Ja, während er bei mir ist.”

„Soll ich, wenn alles vorbei ist, mich hier einfinden?”

Sie raffte sich auf und sagte ihm offen, was sie dachte.

Es wird mir lieb sein, wenn ich Sie in jenem schweren Augenblick in meiner Nähe weiß”, sagte sie. „Der Gedanke daran wird mir Mut geben, weil ich ebenso gut zu Ihnen wie zu Horace spreche. Auf Ihre Teilnahme kann ich rechnen - und Teilnahme ist mir jetzt von höchstem Wert! Fordere ich zu viel, wenn ich Sie bitte, die Tür offen zu lassen, nachdem Sie in das Speisezimmer zurückgekehrt sind? Denken Sie an die furchtbare Prüfung - die ihm sowohl, als mir bevorsteht! Ich bin nur ein schwaches Weib; ich fürchte, ich könnte unterliegen, wenn keine Freundeshand mich stützt; Sie aber sind mein einziger Freund.”

Mit diesen einfachen Worten versuchte sie zum ersten Male an ihm die Macht der Überredung.


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