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Die Heirat im Omnibus



Achtes Kapitel.

Wenn man die Blinden operiert, um ihnen das Gesicht wiederzugeben, schließt dieselbe hilfreiche Hand, welche ihnen das Schauspiel der Welt wieder öffnet, sofort, wenigstens auf einige Zeit, die magische Perspective. Die Augen müssen sich noch verbinden lassen, damit nicht bei der Empfindlichkeit des wiedergewonnenen Sinnes der plötzliche Uebergang aus dem Dunkel zum Lichte eine verderbliche Einwirkung aus sie äußere.

Zwischen diesem furchtbaren Nichts aber, welches der gänzliche Mangel des Gesichts erzeugt, und diesem zeitweiligen Mangel der Sehkraft, der nur durch den Schleier verursacht wird, liegt ein ungeheurer Unterschied.

Das Auge des Blinden hat in demselben Augenblicke, wo die Operation gelingt, einen Lichtstrahl erfaßt, und dieser helle Schein offenbart sich ihm noch auch unter dem dichtesten Schleier, so sehr durchdringt und beherrscht er Alles. Das neue Dunkel, in welches er versenkt ist, gleicht nicht mehr jener leeren Finsterniß. Es ist erfüllt von raschen wechselnden Visionen, von prismatischen Farben, von kaleidoskopischen Formen, welche sich jede Secunde nach allen Richtungen hin durch einander bewegen. Und so sind die vor Kurzem noch der Sehkraft beraubten Augen, obschon sie wieder dicht verbunden sind, dennoch nicht mehr die eines Blinden.

So war es auch mit meinem geistigen Gesichte. Nach der vollständigen Vergessenheit und der Nacht, in welche meine Ohnmacht mich versenkt, sprang das Bewußtsein in meinem Geiste empor wie ein Lichtstrahl, als ich mich meinem Vater gegenüber und in meinem eigenen Hause sah.

Beinahe in demselben Augenblicke aber, wo ich wieder zur Wahrnehmung dieses verhängnißvollen Lichtes geboren ward, breitete sich eine, neue Finsterniß über meinen Geist —— eine Finsterniß, die aber dies Mal nicht mehr die des vollständigen Vergessens war.

Ich hatte jetzt Gefühle, ich hatte Gedanken, ich hatte Visionen aber Alles ertrank und adsorbirte sich in furchtbarem Delirium.

Der Gang der Zeit, die Aufeinanderfolge der Ereignisse, selbst die des Tages und der Nacht, die Personen, welche sich um mich herum bewegten, die Worte, welche sie sprachen, die liebevollen Dienste, welche sie mir leisteten —— Alles entschlüpfte mir wieder von dem Moment an, wo ich die Augen wieder schloß, nachdem ich sie eine Secunde lang auf meinen Vater in seinem Cabinet geheftet.

Ich war zu schwach, um mich zu bewegen, um zu sprechen, um die Augen zu öffnen oder um auch nur in geringem Grade Gebrauch von einem meiner körperlichen Organe oder einer meiner Geistesfähigkeiten zu machen.

Das Gehör war der erste Sinn, dessen Gebrauch ich wieder erlangte, und der erste Ton, welchen ich erkannte, war der eines leichten, behutsamen Trittes, welcher sich geheimnißvoll näherte, stehen blieb und sich dann leise wieder aus dem Zimmer entfernte. Dieses leichte Geräusch zu hören, war meine erste Freude. Ich erwartete, daß es sich wiederholen würde, und in diesem Warten lag mein erstes Glück, seitdem ich krank gewesen war.

Ein Mal näherte sich dieser leichte Tritt, machte einen Augenblick lang Halt, schien sich wieder zu entfernen und näherte sich dann abermals. Ich hörte einen schwachen, aber deutlichen Seufzer —— ein Murmeln, welches ich mir nicht erklären konnte, drang bis zu meinem Ohre, dann ward Alles wieder still. Ich wartete —— aber in welcher wonnigen Ruhe —— wieder, daß dieses Murmeln sich wiederholen sollte, und nahm mir vor, besser darauf zu hören. Es dauerte auch nicht lange, so näherte sich der Schritt zum dritten Male, und dieselben Worte wurden gemurmelt. Ich hörte meinen Namen nennen —- ein, zwei, drei Mal —— auf sehr sanfte Weise und in bittendem Tone, als ob man um die Antwort bäte, welche meine Schwäche mich noch hinderte zu geben.

Diese Stimme aber erkannte ich nun —— es war die Clara’s. Lange nachher, nachdem sie noch aufgehört hatte, sich hören zu lassen, hallte sie in meinem Ohre. Es war ein süßes Murmeln, welches mich bald sanft einschläferte wie ein Kind in der Wiege, bald einen Ton annahm, der mich zum Erwachen aufzufordern schien.

Es war mir, als wenn der Ton dieser schmeichelnden Stimme einen seltsamen Einfluß auf mein Wesen ausübte, welches davon ganz durchdrungen ward und so zu sagen wieder auflebte. —— Es war derselbe Einfluß, den die Sonne mehrere Wochen später auf mich ausübte, als ich das erste Mal wieder ins Freie ging.

Das erste Geräusch, welches ich hierauf hörte, kam aus meinem Zimmer. Zuweilen hörte ich es ganz nahe an meinem Kopfkissen Es war der leiseste Ton, den man sich denken konnte, und bestand in Nichts als in dem weichen, eintönigen Rauschen eines Frauengewandes Und dennoch hörte ich darin unzählige Harmonien und entzückende Modulationen. Ich besaß nur erst die Kraft, die Augen auf eine Minute zu öffnen, und konnte sie noch nicht fest auf einen Gegenstand heften. Ich begriff jedoch, daß dieses Rauschen von Clara’s Gewande herrühre, und neue Gefühle erwachten in mir, als ich dieses Geräusch hörte, welches mir verkündeten, daß sie in dem Zimmer war.

Aus meinem Gesichte fühlte ich die weiche, warme Luft des Sommers. Der milde Duft der Blumen, welcher diese Luft sättigte, ergötzte mich, und ein Mal, als meine Thür einen Augenblick offen stehen geblieben war, schlug das Gezwitscher der Vögel in dem am Fuße der Treppe befindlichen Vogelhause ganz deutlich an mein Ohr und bereitete mir den herrlichsten Genuß.

Auf diese Weise kräftigten meine Fähigkeiten sich Stunde um Stunde und immer gemessen und allmählich von dem Augenblicke an, wo ich das Geräusch von Tritten und das leise Murmeln vor der Thür meines Zimmers zum ersten Male hörte.

Eines Abends erwachte ich aus einem langen, von jeder Vision freien Schlafe, und als ich Clara neben meinem Bette sitzen sah, nannte ich mit matter Stimme ihren Namen und bewegte meine abgemagerten Hände, um die ihrigen zu ergreifen.

In dem Augenblicke, wo ich ihr sanftes, Güte athmendes Gesicht sich über mich neigen sah, während ihre Augen aufmerksam auf die meinen geheftet waren, der letzte Schimmer der scheidenden Sonne auf mein Bett fiel und die Luft mild und weich zu dem geöffneten Fenster hereindrang; in diesem wonnigen Augenblicke, wo meine Schwester mich in ihre Arme schloß und mich ermahnte, aus Liebe zu ihr mich noch ruhig zu verhalten und mich zu gedulden, erwachte die Erinnerung an meinen Ruin und an die Schmach, welche mich überfluthet, in meinem Herzen.

Ich dachte an meine Liebe, welche eine Infamie geworden, und an die kurzen Hoffnungen eines Jahres, welches mir Nichts zurückließ als eine von der Verzweiflung zerstörte Existenz.

Der Schimmer des Abendrothes fiel in diesem Augenblicke auf mein Gesicht. Clara kniete neben mein Bett nieder und Hob ihr Tuch, um meine Augen vor diesem Lichtscheine zu schirmen.

»Gott hat Dich uns wiedergegeben, Sidney,« murmelte sie leise, »Um uns glücklicher zu machen als je.« ——

Diese Worte öffneten die Schleusen des so lange in mich selbst verschlossenen Schmerzes. Heiße Thränen entströmten meinen Augen und ich weinte zum ersten Male nach jener Schreckensnacht, ich weinte in den Armen meiner Schwester in dieser stillen Abendstunde über den Verlust meiner Ehre, über das Scheitern meiner theuersten Hoffnungen und über das Entschwinden des Glückes, welches schon jetzt in meiner Jugend mir auf ewig entflohen war.


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