Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Namenlos



Viertes Capitel.

Als die Glocke die Dienerschaft auf St. Crux an dem Tage, wo George Bartram wegfuhr, wie gewöhnlich zum Essen rief, wurde bemerkt, daß der Platz des neuen Stubenmädchens bei Tische leer blieb. Eine von den Untermägden wurde nach ihrem Zimmer geschickt, um nach ihr zu sehen, und kehrte mit der Nachricht zurück, daß »Louise« sich ein: wenig unwohl fühle und sich deshalb für heute bei Tische entschuldigen lasse. Hierüber wurde die höhere Entscheidung der Haushälterin eingeholt, und Mrs. Drake ging sofort hinauf, um sich in eigener Person von der Wahrheit jener Aussage zu überzeugen. Ihr erster forschender Blick belehrte sie, daß das Leiden des Stubenmädchens, was auch die Ursache desselben sein möchte, gewiß nicht ein vorgeschütztes sei, um einer nichtigen oder aus bloßem Eigensinn herrührenden Laune Vorschub zu leisten. Sie weigerte sich in bescheidenen Ausdrücken, eins von den Mitteln zu nehmen, welche die Haushälterin ihr Vorschlag, und bat lediglich um die Erlaubniß, die Wirksamkeit eines Ganges in der frischen Luft erproben zu dürfen.

—— Ich bin an mehr Thätigkeit gewöhnt gewesen, Madame, als ich hier habe, sprach sie. Kann ich in den Garten gehen und zusehen, wie die Luft mir bekommen wird?

—— Gewiß Kannst Du allein gehen oder soll ich Jemanden mitschicken?

—— Ich will allein gehen, wenn Sie erlauben, Madame.

—— Sehr gut. Nimm Deinen Hut und Deinen Shawl und halte Dich, wenn Du hinaus kommst auf der Ostseite des Gartens. Der Admiral geht manchmal auf der Nordseite desselben spazieren und könnte sich wundern, Dich dort zu sehen. Komm auf mein Zimmer, wenn Du Luft und Bewegung genug gehabt hast, und laß mich sehen, wie es Dir geht.

Wenige Minuten später war Magdalene im östlichen Theile des Gartens. Die Luft war klar und sonnig; aber der kalte Schatten des Hauses lag auf dem Gartenwege und machte die Mittagsluft kühl. Sie schritt auf die Ruinen des alten Klosters zu, welche auf der Südseite des neuen Anbaues der Besitzung lagen. Hier waren einsame offene Zwischenräume, um frei aufzuathmen hier stahl sich die bleiche Märzensonne durch die öden und wüsten Lücken des Gemäuers und berührte sie traulich und hold wie ein Versprechen, daß es bald Frühling werde.

Sie stieg drei oder vier geborstene steinerne Stufen hinan und setzte sich auf einige Trümmer dabei mitten in die Sonne. Die Stelle, welche sie gewählt hatte, war einst der Eingang zur Kirche gewesen. In Jahrhunderten, die längst entschwunden waren, war der Strom menschlicher Leiden Tag für Tag über den Platz, weg, wo sie jetzt saß, nach dem Beichtstuhl gewallt. —— Unter all den armen Frauen, welche diese alten Steine in der vergangenen Zeit betreten hatten, war kein ärmeres Wesen, als dasjenige, dessen Füße jetzt auf ihnen ruhten. —— Die Hände zitterten, als sie dieselben neben sich legte, um sich auf dem Steinsitze zu erhalten. Sie legte sie in den Schooß, auch da zitterten sie noch. Sie hielt sie gerade vor sich hin und schaute sie verwundert an: auch jetzt zitterten sie.

—— Wie eine alte Frau! sagte sie mit schwacher Stimme und ließ sie wieder neben sich sinken.

Zum ersten Mal war diesen Morgen die grausame Entdeckung über sie gekommen, die Entdeckung, daß ihr die Kräfte versagten zu einer Zeit, wo sie dieselben am nöthigsten brauchte! Sie hatte die Ueberraschung von Mr. Bartrams unerwarteter Abreise mit einer solchen Erschütterung an sich gefühlt, als wäre ihr das ärgste Unglück widerfahren. Dieser einzige Strich durch ihre Hoffnungen, der zu anderen Zeiten nur dazu gedient haben würde, die, Widerstandskraft in ihr aufs Neue anzuspannen, hatte sie mit einem so lähmenden Entsetzen betroffen, hatte sie mit einer solchen panischen Verzweiflung darnieder gestreckt, als ob sie bereits von Dem, was ihrem Unglück die Krone aufsetzen würde, die Verbannung von St. Crux, ereilt worden wäre. Aus einem solchen Wechselfalle wie dieser konnte sie nur eine Lehre ziehen. In die geringe Spanne Zeit von wenig mehr als einem einzigen Jahr hatte sie die Leiden und Schmerzen eines ganzen Lebens zusammengedrängt. Die gottgesegneten Geschenke der Gesundheit und Kraft, welche ihr von der Natur mit verschwenderischer Hand verliehen waren, verloren ihren Zauber, nachdem sie dieselben lange ungestraft mißbraucht hatte.

Sie schaute auf zu dem fernen matten Blau des Himmelsgewölbes. Sie vernahm das fröhliche Zwitschern der Vögel in dem Epheu, welcher die Ruinen umschlang. Ach, über die kalte Ferne der Himmelskörper! Ach, über die grausame Lust der Vögel! Ach, über den einsamen Jammer, hier zu sitzen und sich alt und schwach und aufgerieben zu fühlen in der schönsten Zeit der Jugend!

Sie stand auf mit einer letzten entschlossenen Anstrengung und versuchte, die hysterischen Leiden, welche ihr Herz bedrängten, nieder zu kämpfen, indem sie eine Bewegung machte und die Gegenstände ringsum betrachtete. Rasch und immer rascher ging sie in dem Sonnenscheine auf und ab. Die Bewegung that ihr wohl wegen der Erschöpfung, die sie darnach fühlte. Sie hielt die ihr in die Augen tretenden Thränen gewaltsam und verzweifelt zurück, sie rang mit dem Schmerz, der sich an ihre Sohlen geheftet hatte, und riß sich los von ihm. Allmählich begann sich ihr Geist wieder zu lichten. Die verzweifelte Furcht vor sich selbst stand ihr weniger lebhaft vor der Seele. Noch hatten ihre Jugend und ihre Kraft Etwas zuzusetzen, es war noch Spannkraft übrig, noch ungebrochen wenn auch schon schwer verletzt.

Sie dehnte allmählich die Grenzen ihres Ganges aus, erlangte allmählich den Gebrauch ihrer Sinne wieder und sah, was um sie vorging.

Am westlichen Ende waren die Ueberbleibsel des Klosters in einem weniger beschädigten Zustande, als am östlichen. An gewissen Stellen, wo die stattlichen alten Wände noch standen, waren in einer frühem Zeit Ausbesserungen vorgenommen worden. Dächer von rothen Ziegeln waren über die alten Zellen hinweggelegt worden, hölzerne Thüren waren eingehängt, und die alten Klosterräume waren dazu nutzbar gemacht worden, als Rumpelkammern für St. Crux zu dienen. Kein Schloß verwahrte eine von den Thüren. Magdalene hatte dieselben nur aufzustoßen, um das Tageslicht in das unordentliche Innere zu werfen. Sie beschloß, die Schuppen einen nach dem andern zu durchsuchen, nicht aus Neugierde, nicht in der Meinung, irgendwelche Entdeckungen zu machen: ihr einziger Zweck war, die leere Zeit auszufüllen und die Gedanken zurückzuhalten, damit sie ihr nicht wieder in den Sinn kämen und sie schwach machten.

Der erste Schuppen, den sie öffnete, enthielt die Gartengeräthe, groß und klein. Der zweite war mit Stücken zerbrochener Möbel, leerer Bilderrahmen von wurmstichigem Holze, zerbrochenen Krügen, Koffern ohne Deckel und Büchern, die aus ihren Schalen gerissen waren, angefüllt. Als sich Magdalene wandte, um den Schuppen zu verlassen, und vorher bloß einen flüchtigen Blick auf das darin enthaltene Gerümpel geworfen hatte, stieß ihr Fuß an Etwas aus dem Boden, welches gegen ein Stückchen Porcellan, das dabei lag, anklirrte Sie blieb stehen und bemerkte, daß der klirrende Gegenstand ein verrosteter Schlüssel war.

Sie nahm den Schlüssel in die Höhe und sah ihn an. Sie ging an die Luft und betrachtete ihn ein Weilchen. Es lagen in den Schuppen wahrscheinlich noch mehr solcher alter vergessener Schlüssel unter dem Gerümpel umher. Wie, wenn sie alle, die sie finden konnte, aufläse und sie einen nach dem andern an den Schlössern der Schränke und Schubkästen versuchte, die ihr jetzt verschlossen waren? War Aussicht genug, daß einer von ihnen passen könnte, um ihr bei dem Versuche sich als nützlich zu erweisen? Wenn die Schlösser aus St. Crux so altmodisch als die Möbel selber, wenn keine schlauen Sicherheitsmaßregeln neuester Erfindung zu bekämpfen waren, so war ohne alle Frage Aussicht genug. Wer konnte sagen, ob gerade der Schlüssel da in ihrer Hand nicht die verlorene Gegenpart von einem der Schlüssel an dem Bunde des Admirals war? Bei dem Mangel an allen anderen Mitteln, um zu ihrem Zwecke zu gelangen, war das Wagniß wohl werth, versucht zu werden. Ein Strahl des alten Geistes flammte in ihren müden Augen auf, als sie sich wandte und wieder in den Schuppen trat.

In einer halben Stunde war sie mit der Zeit zu Ende, welche sie sich in der Luft zuzubringen gestatten konnte. In dieser Zeit hatte sie die Schuppen vom ersten bis zum letzten durchsucht und noch fünf Schlüssel gefunden.

—— Fünf Aussichten mehr! dachte sie bei sich, als sie die Schlüssel an sich nahm und hastig nach dem Hause zurückkehrte.

Nachdem sie sich erst auf der Stube der Haushälterin angesagt, ging sie hinauf, um Hut und Shawl abzulegen und zugleich die Gelegenheit zu benutzen, die Schlüssel in ihrer Kammer zu verbergen, bis es Nacht wäre. Sie waren dick mit Rost und Schmutz überzogen, allein sie getraute sich nicht, dieselben zu reinigen, bis die Schlafenszeit sie in der Stille ihres Kämmerleins vor den Späheraugen der Dienstmädchen sicherte.

Als die Essenszeit sie wie gewöhnlich mit dem Admiral in unmittelbare Nähe brachte, war sie sofort über eine Umwandlung an ihm betroffen. Zum ersten Male, so lange sie ihn kannte, war der alte Herr schweigsam und niedergeschlagen. Er aß weniger als gewöhnlich und sprach kaum fünf Worte mit ihr von Anfang des Essens bis zuletzt. Irgend ein unwillkommner Gegenstand zum Nachsinnen hatte sich ersichtlich in seiner Seele festgesetzt und blieb dort sitzen, trotz der Anstrengungen, ihn abzuschütteln. In verschiedenen Zeiten während des Abends war sie mit immer größerer Spannung verlänglich, was wohl dieser Gegenstand sein könnte.

Endlich erreichten die langsam sich dahin schleppenden Stunden ihr Ende, und die Schlafenszeit kam heran. Ehe Magdalene in dieser Nacht schlafen ging, hatte sie die Schlüssel von allen Unreinigkeiten befreit und die Bärte geölt, um sie leicht in die Schlösser gehen zu lassen. Die letzte Schwierigkeit, die noch blieb, war, die Zeit zu wählen, wann der Versuch mit der geringsten Gefahr, unterbrochen und entdeckt zu werden, gemacht werden könnte. Nachdem sie in der Nacht die Frage sorgfältig überlegt hatte, konnte sie sich nur entschließen zu warten und sich von den Ereignissen des nächsten Tages bestimmen zu lassen. Der Morgen kam, und zum ersten Male rechtfertigten die Ereignisse auf St. Crux das Vertrauen, das sie ans dasselbe gesetzt hatte. Der Morgen kam, und die einzige übrigbleibende Schwierigkeit, die sie in Verlegenheit brachte, wurde unerwarteter Weise durch keine geringere Person, als den Admiral selbst hinweggeräumt. Zu männiglich Erstaunen im Hause zeigte er beim Frühstück an, daß er in einer Stunde nach London abzureisen sich bereitet habe, daß er die Nacht in der »Stadt« zubringen werde und daß man ihn erst am nächsten Tage zur Essenszeit auf St. Crux zurückerwarten könne. Er ließ sich weder gegenüber der Haushälterin, noch gegen sonst Jemand auf weitere Erklärungen darüber ein. Allein es lag auf der Hand, daß sein Geschäft in London für ihn von keiner geringen Wichtigkeit war. Er verzehrte sein Frühstück in jäher Eile und stand ungeduldig zum Einsteigen bereit, noch ehe der Wagen vorfuhr.

Erfahrung hatte Magdalenen gelehrt, vorsichtig zu sein. Sie wartete ein wenig nach Admiral Bartrams Abreise, ehe sie ihren Versuch mit den Schlüsseln machte. Es war gut, daß sie Dies that. Mrs. Drake machte sich des Admirals Abwesenheit zunutze, um den Zustand der Zimmer des ersten Stockes in Augenschein zu nehmen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung befriedigten sie keineswegs, Besen und Bürsten wurden in Bewegung gesetzt, und die Mägde gingen, so lange es Tag war, unausgesetzt in den Stuben aus und ein.

Der Abend verging, und immer bot sich die sichere Gelegenheit, welche Magdalene erspäht noch nicht dar. Abermals kam die Schlafenszeit und fand sie zwischen die beiden Aussichten gestellt, entweder sich den unsichern Zufällen des nächsten Morgens zu vertrauen, oder die Schlüssel kühnlich in der Todtenstille der Nacht zu versuchen. In früheren Zeiten würde sie die Wahl ohne Zaudern getroffen haben. Jetzt zögerte sie, aber noch hielt sie das Wrack ihres alten Muthes aufrecht, und sie beschloß das Wagniß in der Nacht zu machen.

Man ging aus St. Crux frühzeitig zu Bett. Wenn sie auf ihrem Zimmer bis halb zwölf Uhr wartete, war es lange genug.

Zu dieser Zeit stahl sie sich auf die Treppe hinaus mit den Schlüsseln in ihrer Tasche und dem Leuchter in der Hand.

Als sie an dem Eingange zu dem Corridor auf dem Stockwerk mit den Kammern vorüberkam, blieb sie stehen und lauschte. Kein Geräusch wie Schnarchen, kein Schlürfen unsicherer Schritte war auf der andern Seite des Schrankes zu hören. Mißtrauisch schaute sie um ihn herum. Der steinerne Corridor war verödet und das Rollbett leer. Ihre eigenen Augen hatten den alten Mazey gesehen, wie er vor länger denn einer Stunde mit einem Lichte in der Hand nach den oberen Zimmern ging. Hatte er sich seines Herrn Abwesenheit zunutze gemacht, um den ungewohnten Genuß zu haben, einmal wieder in einem Zimmer zu schlafen? Als dieser Gedanke ihr kam, drang gerade ein Ton vom entfernten Ende des Ganges zu ihrem Ohr. Sie ging leise darauf zu und hörte durch die Thür des letzten und entferntesten der Gastzimmer das mächtige Schnarchen des Alten in dem Gemache. Die Entdeckung war überraschend in mehr als einer Hinsicht. Sie machte das undurchdringliche Geheimniß des Rollbettes noch dunkler. Denn sie zeigte offenbar, daß der alte Mazey nicht aus eigenem halbwilden Gelüsten seine Nächte auf dem Gange zubrachte, sondern jene seltsame und unbequeme Lagerstatt lediglich und allein um seines Herrn willen einnahm.

Es war keine Zeit vorhanden, um bei den Betrachtungen zu verweilen, welche dieser Schluß an die Hand gab. Magdalene lenkte ihre Schritte längs des Ganges zurück und stieg in das erste Stockwerk hinunter. Indem sie an den Thüren, die ihr am Nächsten waren, vorüberkam, versuchte sie zuerst das Bibliothekszimmer. Auf der Treppe und in den Corridors hatte ihr Herz in unsäglich raschen Pulsen gepocht; sobald sie sich jedoch in den vier Wänden des Zimmers befand und die Thür nach der geistesstillen Außenseite geschlossen hatte, kehrte das Gefühl der Sicherheit wieder.

Das erste Schloß, das sie versuchte, war das des Tischkastens. Keiner von den Schlüsseln paßte dazu. Ihr nächster Versuch wurde mit dem Schranke gemacht. Sollte auch der zweite Versuch scheitern, wie der erste? —— Nein! —— Einer der Schlüssel paßte, einer von den Schlüsseln schloß nach einigem ruhigen Probieren das Schloß auf. —— Sie sah begierig hinein. Es waren oben offene Fächer und ein großer Schubkasten darunter. Die Fächer waren angefüllt mit Stücken seltener Mineralien, die sauber mit Zetteln beklebt und geordnet waren. Der Schubkasten war in Abtheilungen eingerichtet. Zwei von den Abtheilungen enthielten Papiere. In der ersten entdeckte sie Nichts als eine Sammlung von bezahlten Rechnungen. In der zweiten fand sie einen Haufen Geschäftspapiere, allein die vergilbte Schrift zeigte ihr schon deutlich genug an, daß der Geheimartikel nicht dabei war. Sie schloß die Thüren des Schrankes wieder zu, und nachdem sie dies mit einiger Schwierigkeit bewerkstelligt hatte, verschritt sie dazu, die Schlüssel an den Schubkästen des Bücherschrankes zu versuchen, ehe sie ihre Nachforschungen in den anderen Zimmern begann.

Der Bücherschrank mit seinen Fächern war unzugänglich. Die Schubkästen und Schränke in allen andern Zimmern waren ebenfalls unzugänglich. Einen nach dem Andern versuchte sie dieselben in ruhiger Reihenfolge. Es war vergebens. Der Erfolg, welchen sie bei dem Schranke in der Bibliothek zu ihren Gunsten gehabt hatte, war eben der erste und der letzte, den sie auf diese Weise haben sollte.

Sie ging auf ihr Zimmer zurück Sie sah Nichts als ihren eigenen Schatten; sie hörte Nichts als ihren eigenen schleichenden Schritt in der Mitternachtsstille des Hauses. Nachdem sie gedankenlos die Schlüssel in ihrem früheren Versteck verwahrt hatte, sah sie nach ihrem Bette und wandte sich mit schaudernder Unlust davon ab. Die warnende Erinnerung an Das, was sie heute früh im Garten gelitten hatte, stand ihr lebhaft gegenwärtig vor der Seele.

—— Eine andere Aussicht versucht! dachte sie bei sich, und eine andere Aussicht verloren! Ich werde wieder zusammenbrechen, wenn ich darüber nachdenke, wenn ich wachend in der Dunkelheit daliege.

Sie hatte unter den vielen Kleinigkeiten«, die in ihrer Rolle als Dienstmädchen nöthig waren, ein Arbeitskästchen mit nach St. Crux gebracht. Sie öffnete nun das Kästchen und ging entschlossen ans Werk. Ihr Mangel an Uebung mit der Nadel kam dem Zwecke, den sie im Auge hatte, zu Hilfe: derselbe nöthigte sie, ihrer Beschäftigung die vollste Aufmerksamkeit zu schenken, er lenkte ihre Gedanken von denjenigen beiden Gegenständen gewaltsam ab, welche sie jetzt am Meisten fürchtete: von sich und der Zukunft.

Am nächsten Tage kam der Admiral, wie er angeordnet hatte, zurück. Sein Besuch in London hatte seine Laune nicht verbessert. Der Schatten eines unverwindlichen Zweifels lag noch immer düster auf seiner Stirn, und seine unermüdliche Zunge war noch immer Merkwürdigerweise still, als Magdalene ihn bei seinem einsamen Mahle bediente. In dieser Nacht ertönte das Schnarchen wieder hinter dem Schranke, und der alte Mazey war wieder in seinem unbehaglichen Rollbett.

Es vergingen wieder drei Tage, April kam. Am Zweiten dieses Monats erschien Mr. George Bartram wieder auf St. Crux, indem er ebenso unerwartet zurückkehrte, als er eine Woche zuvor weggegangen war.

Er kam zu einer Nachmittagsstunde zurück und hatte im Bibliothekszimmer eine Unterredung mit seinem Oheim. Als die Unterredung vorüber war, verließ er wieder das Haus und wurde von dem Reitknecht nach der Eisenbahn gefahren, um noch den letzten Zug, der den Abend nach London ging, zu erreichen. Der Knecht bemerkte unterwegs, wie Mr. George dem Anscheine nach lieber denn je St. Crux verließ. Er bemerkte auch bei seiner Rückkehr, daß der Admiral ihm ein tüchtiges Donnerwetter machte, weil er die Pferde zu sehr übernommen habe, ein Zeichen von übler Laune bei seinem Herrn, das, wie er angab, in seiner ganzen Erfahrung ganz ohne Beispiel war. Magdalene hatte in ihrem Dienstsache gleicherweise unter des alten Herrn Reizbarkeit zu leiden gehabt: er war unzufrieden gewesen mit Allem, was sie in dem Speisezimmer vornahm, und hatte alle Gerichte schlecht befunden, eins nach dem andern, von der Hammelbrühe bis zum gerösteten Käse herunter.

Die nächsten beiden Tage vergingen wie gewöhnlich. Am dritten Tage fiel Etwas vor.

Auf den ersten Schein war es allerdings nichts weiter als ein Zug der Klingel im Besuchszimmer. In Wahrheit aber war dies der Vorbote der nahenden Entscheidung, der furchtbare Vorbote des Endes.

Es war Magdalenens Sache, der Klingel Folge zu leisten. Als sie an die Zimmerthür kam, pochte sie wie gewöhnlich an. Es erfolgte aber keine Antwort. Nachdem sie wieder gepocht und wieder keine Antwort erhalten hatte, trat sie in das Zimmer und erhielt sofort einen Strom kalter Luft gerade ins Gesicht. Die schwere Falzthür in der gegenüberliegenden Wand war zurückgestoßen, und die Nordpolaratmosphäre von »Satans Knochenkälter« ergoß sich ungehindert in das leere Zimmer.

Sie wartete an der Thür, ungewiß, was sie zunächst thun sollte; es war gewiß die Klingel des Besuchszimmers gewesen, welche erschallt war, und keine andere. Sie wartete und sah durch die offene Thür auf der andern Seite in die Wildniß der verödeten Halle hinaus.

Ein wenig Nachdenken gab ihr den Rath an die Hand, daß sie am besten thun würde, wenn sie wieder hinunter ginge und dort wartete, bis zum zweiten Male geschellt würde. Als sie sich wandte, um das Zimmer verlassen, sah sie zufällig nochmals zurück, und gerade in diesem Augenblick sah sie die Thür in der gegenüberliegenden Wand der Banquethalle sich öffnen, die Thür, welche in das erste von den Zimmern im östlichen Flügel führte. Ein großer Mann trat heraus in einem großen Ueberrock und im Hut und nähert sich rasch dem Besuchszimmer. Sein Gang verrieth ihn, während er selbst noch zu fern war, um seine Züge zu erkennen. Ehe er halb durch die Halle geschritten war, hatte Magdalene ihn erkannt: es war Admiral Bartram.

Der Admiral sah nicht nur erzürnt, sondern auch überrascht aus, als er sein Stubenmädchen in dem Besuchszimmer auf sich warten sah. Er frug barsch und mißtrauisch, was sie hier wolle? Magdalene versetzte, daß sie hierhergekommen sei, weil geschellt worden sei. Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, als er die Erklärung hörte.

—— Ja, ja es ist richtig, sagte er, ich klingelte und vergaß es dann wieder.

Er schob, während er sprach, die Schiebethür wieder an ihren Platz.

—— Kohlen! begann er dann wieder mit ungeduldiger Stimme und zeigte auf den leeren Behälter. Ich klingelte nach Kohlen.

Magdalene ging in die Küche zurück. Nachdem sie den Befehl des Admirals derjenigen von den Mägden, deren Verrichtung das Feuermachen war, ausgerichtet hatte, kehrte sie in die Speisekammer zurück und setzte sich, leise die Thüre zumachend, nieder, um allein zu sein und nachzudenken.

Es war ihre Meinung in dem Besuchszimmer gewesen, und es war noch immer ihre Meinung, daß sie jetzt zufällig den Admiral Bartram aus einem Besuche der östlichen Zimmer ertappt habe, welchen er aus irgend einem dringenden Grunde geheim zu halten wünschte.

Tag und Nacht von dem einen Gedanken abgehetzt, der sie beherrschte, setzte sie sich über alle logischen Schwierigkeiten mit einem Schwunge hinweg und verband sofort den Verdacht einer geheimen Maßregel des Admirals mit dem verwandten Verdacht, welcher ihn als den Bewahrer des geheimen Artikels betrachtete. Bis zu dieser Zeit war es ihr fester Glaube gewesen, daß er seine wichtigen Papiere in einem oder dem andern der ineinanderlaufenden Zimmer bewahrte, welche er für diese Zeit gerade inne hatte.

—— Warum, fragte sie sich selbst mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Schluß, der bisher ihrem Geiste genügt hatte, warum könnte er sie nicht auch ebensogut in anderen Zimmern aufbewahren?

Der Gedanke an die noch immer an ihrem Versteck auf ihrem Zimmer aufbewahrten Schlüssel bestärkte sie nur in ihrer Meinung von der Richtigkeit dieser neuen Ansicht. Mit einer unwichtigen Ausnahme hatten jene Schlüssel alle nicht gepaßt, als sie dieselben in den inneren auf der Nordseite des Hauses probierte.

Konnte sie nicht bei den Schränken und Schubkästen in den östlichen Zimmern mehr Glück haben, bei welchen sie nie den Versuch gemacht oder auch nur daran gedacht hatte, die Schlüssel zu probieren?

Wenn eine auch noch so kleine Aussicht war, dieselben besser zu benutzen als bisher, so war es damit zu versuchen. Wenn nur eine auch doch so ferne Möglichkeit war, daß der Geheimartikel in einem von den verschlossenen Behältnissen im östlichen Flügel verwahrt wurde, so mußte dieselbe versucht werden.

Aber wann? —— Ihre eigene Erfahrung beantwortete die Frage.

Zu der Zeit, wo kein Späherauge wach war und keine widrigen Zwischenfälle zu fürchten standen, wenn das Haus ruhig war, in der Stille der Nacht.

Sie wußte genug von ihrem veränderten Wesen, um den ankränkelnden Einfluß des Aufschubs zu fürchten. Sie entschloß sich, das Wagniß noch diese Nacht zu beginnen.

Sie beging noch weitere Versehen, als die Essenszeit kam; die tadelnden Bemerkungen des Admirals über ihre Bedienung bei Tische waren schärfer denn je. Seine härtesten Worte thaten ihr nicht weh, sie hörte sie kaum, ihr Geist war für alles Andere abgestorben, nur nicht für das Gefühl der bevorstehenden Probe. Der Abend, welcher ihr in der Nacht ihres ersten Versuches langsam vergangen war, verstrich diesmal schnell. Als es Schlafenszeit war, war sie erstaunt, daß es schon so weit war.

Sie wartete diesmal länger, als das vorige Mal. Der Admiral war ja zu Hause; er konnte seinen Sinn ändern und wieder heruntergehen, nachdem er auf sein Zimmer hinaufgegangen war; er konnte etwas in dem Bibliothekzimmer vergessen haben und umkehren, um es zu holen. Mitternacht schlug es an der Uhr in der Gesindestube, als sie sich aus ihrem Zimmer wagte, wieder die Schlüssel in der Tasche, wieder das Licht in der Hand.

Auf der ersten Stufe, die sie mit ihrem Fuße betrat, ergriff sie plötzlich ein Zaudern, das sich ihrer ganz und gar bemächtigte, eine unerklärliche Angst vor einer unbekannten Gefahr. Sie wartete und ging mit sich zu Rathe. Sie war vor keinem Opfer zurückgebebt, sie hatte keiner Furcht nachgegeben, um die List durchzuführen, durch die sie sich auf St. Crux Einlaß verschafft hatte, und jetzt, wo die lange Reihe von Hindernissen, die sich ihr beim Anfang entgegen gethürmt hatten, Dank ihrer Ausdauer, überwunden waren, jetzt, wo lediglich durch ihre Entschlossenheit der Ausgangspunkt gewonnen war, zögerte sie vorwärts zu gehen.

—— Ich bebte vor Nichts zurück, um hierher zu gelangen, sprach sie zu sich selbst. Welcher Wahnsinn ergreift mich auf einmal, jetzt zurückzubeben?

Jeder Puls in ihr wurde bei dem Gedanken aufgeregt, die Scham belebte sie, befeuerte sie aufs Neue vorwärts zu gehen.

Sie stieg die Treppe vom dritten Stock in den zweiten herab, ohne sich einen Augenblick Zeit zu gönnen so nahe ihrem Zimmer. Eine Minute später hatte sie das Ende des Corridors erreicht, hatte den Vorsaal überschritten und war in das Besuchszimmer getreten. Erst als ihre Hand auf dem schweren Messinggriff der Schiebethür ruhte, erst in dem Augenblicke und, ehe sie die Thür zurückschob, hielt sie um Athem zu schöpfen. Die Banquethalle war dicht auf der andern Seite der hölzernen Scheidewand, dicht vor welcher sie eben stand: ihre erregte Einbildungskraft machte sie schon glauben, als fühlte sie den Todtenhauch der Kälte über sich gehen.

Sie schob die Schiebethür ein paar Zoll auf und hielt in plötzlichem Schrecken inne. Als der Admiral sie in ihrer Gegenwart heute geschlossen hatte, hatte sie kein Geräusch gehört. Als der alte Mazey sie öffnete, um ihr die Zimmer des östlichen Flügels zu zeigen, hörte sie kein Geräusch. Jetzt in der nächtlichen Stille bemerkte sie zum ersten Male, daß die Thür einen dumpfen, rauschenden Klang von sich gab, wie Windessausen.

Sie ermuthigte sich selbst und schob sie noch weiter zurück, halbwegs in die Höhle in der Wand, die dazu bestimmt war, sie aufzunehmen, hinein. Sie schritt muthig durch die Oeffnung und hatte nun plötzlich die Banquethalle als Nachtbild vor sich.

Der Mond kam hinter dem Südende des Hauses hervor. Seine bleichen Strahlen schienen durch die näheren Fenster herein und lagen in langen Streifen schrägen Lichtes auf dem Marmorboden der Bauquethalle. Die schwarzen Schatten der Zwischenwände zwischen jedem Fenster, die da abwechselten mit den Lichtstreifein erhöhten den matten Glanz des Mondlichtes auf den Steinfließen. Nach dem unteren Ende zu verschwamm die Halle geheimnißvoll in Finsterniß, die Decke wurde unsichtbar, das gähnende Kamin, der überhängende Mantel desselben, die lange Reihe Schlachtenbilder darüber wurden alle von der Nacht verschlungen. Nur ein einziger Gegenstand war zu unterscheiden außer den glitzernden Fenstern und dem Mondscheinbestrahlten Boden. Mitten in dem letzten und fernsten der Lichtstreifen erhob sich der Dreifuß auf seinen hageren schwarzen Füßen wie ein vom Monde ins Leben gerufenes Ungeheuer aufsteigend durch das Licht und sich nach oben in dem Schatten der Halle verlierend. Fern und nah, alle Töne schlummerten da, gebunden von der stehenden Kälte. Die milde Ruhe der Nacht war hier erschrecklich. Die tiefen Gründe der Finsterniß bargen noch unermeßlichere Tiefen des Schweigens.

Sie stand in dem Eingange unbeweglich, angestrengt spähend und lauschend. Sie sah nach Etwas, das sich bebewegte, sie lauschte auf irgend einen sich erhebenden Ton und spähete und lauschte vergeblich. Ein heftiges unablässiges Zittern rann ihr durch die Glieder von Kopf bis zu Fuße. Das Zittern der Furcht oder das Zittern vor Frost? Der bloße Zweifel stachelte ihren Willen zur Entschlossenheit auf.

—— Jetzt, dachte sie, indem sie in dem Eingange einen Schritt vorwärts that, —— jetzt oder nie! Ich will die Streifen des Mondlichts dreimal abzählen und über die Halle schreiten.

—— Eins —— zwei —— drei —— vier —— fünf —— Eins ——
zwei —— drei —— vier —— fünf —— Eins —— zwei —— drei ——

vier —— fünf.

Als die letzte Zahl bei ihrem drittmaligem Zählen über ihre Lippen gekommen war, schritt sie über die Halle weg. Nach Nichts mehr sich umsehend, auf Nichts lauschend, in der einen Hand das Licht, mit der andern Hand unwillkürlich die Falten ihres Kleides umklammernd, eilte sie wie ein Geist die ganze Länge des geisterhaften Raumes durch. Sie erreichte die Thür des ersten der östlichen Zimmer, öffnete sie und stürzte hinein. Der plötzliche Trost, einen Zufluchtsort zu finden, der plötzliche Eintritt in eine neue Luft überwältigten sie einen Augenblick. Sie hatte nur noch Zeit das Licht sicher aus einen Tisch zu stellen, ehe sie schwindelig und athemlos in den nächsten Stuhl sank.

Allmählich fühlte sie, wie die Ruhe ihre Aufregung beschwichtigte In wenigen Minuten wurde sie sich des freudigen Gefühls bewußt, sich den Weg zu den östlichen Zimmern gebahnt zu haben. In wenigen Minuten war sie stark genug, um sich vom Stuhl zu erheben, die Schlüssel aus ihrer Tasche zu nehmen und sich umzublicken.

Der erste Gegenstand von Hausgeräth im Zimmer, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein runder Schreibeschrank von geschnitztem Eichenholz, dann ein schwerer Tisch mit einem Schubkasten Sie versuchte erst den Schreibeschrank, er sah noch am Ehesten wie ein Aufbewahrungsort für Papiere aus. Drei von den Schlüsseln hatten die Größe für das Schloß, aber keiner von ihnen schloß es. Der Schrank war unnahbar. Sie ließ ihn und wartete einen Augenblick, um das Licht zu passen, ehe sie den Schubkasten daran vornahm.

In dem Augenblicke, wo sie ihre Hand nach dem Lichte erhob, hörte sie die Stille der Banquethalle durch einen schrecklichen Ton, einen schwachen und nur einen Augenblick dauernden Ton, wie das ferne Rauschen des Windes unterbrechen.

Hatte sich die Schiebethür im Besuchszimmer bewegt?

In welcher Weise hatte sie sich bewegt? Hatte eine unbekannte Hand sie in ihre Nische geschoben, weiter als sie dieselbe geschoben hatte oder sie zugeschoben und verschlossen? Der Schrecken, die ganze Nacht ausgeschlossen zu sein durch irgend eine unerkennbar wirkende Macht von dem Leben des Hauses war stärker in ihr als der Schrecken, einen Blick über die Banquethalle hinweg zu thun. Sie machte verzweifelt eine Bewegung nach der Thür zu. Sie war leise hinter ihr zugefallen, aber sie war nicht verschlossen. Sie stieß sie auf und blickte hinaus.

Der Anblick, der ihren Augen begegnete, machte sie vor Entsetzen starr und fesselte ihren Fuß an den Boden.

Dicht an dem ersten der Fenster, vom Besuchszimmer an gerechnet, und im vollen Scheine desselben sah sie eine einsame Gestalt.... Es stand unbeweglich da, sich aus dem fernsten Streifen des Mondlichts vom Boden abhebend. Als sie hinschaute, verschwand es plötzlich. Einen Augenblick später sah sie es wieder im zweiten Mondlicht, verlor es wieder, sah es wieder, sah es im dritten Streifen, verlor es abermals und sah es im vierten. Von einem Augenblick zum andern näherte es sich, bald geheimnißvoll im Schatten verloren, bald wieder plötzlich in dem Lichte sichtbar, bis es den fünften und nächsten Streifen des Mondlichts erreichte. Dort hielt es an und schwebte langsam zur Seite nach der Mitte der Halle. Beim Dreifuß hielt es an und stand hörbar in der Stille schauernd mit seinen Händen über die kalte Asche erhoben, indem es that, als wärmte es sich die Hände. Es wandte sich wieder zurück, bewegte sich in dem Wege des Mondlichts hernieder, hielt beim fünften Fenster an, wandte sich noch einmal und kam durch den Schatten langsam gerade aus die Stelle zu, wo Magdalene stand.

Ihre Stimme war nicht mehr in ihrer Macht, ihr Wille gehorchte ihr nicht mehr. Jeder Sinn in ihr außer dem Gesicht war gelähmt. Ihre Augen vom Schrecken gebannt, sahen unverwandt geradeaus, wie sie vom Anfang an geschaut hatten. Da stand sie in der Thür, der Gestalt gerade im Wege, welche näher und immer näher Schritt für Schritt durch den Schatten auf sie zukam.

Es kam dicht heran. Die Fesseln des Schreckens, die sie hielten, zerrissen plötzlich, als er nur noch aus Armeslänge von ihr war. Sie fuhr zurück. Das Licht des Leuchters siel voll auf sein Gesicht und zeigte ihr —— Admiral Bartram.

Ein langer grauer Schlafrock war um ihn geschlagen. Sein Haupt war unbedeckt, seine Füße baarfuß. In seiner Linken trug er sein kleines Schlüsselkörbchen. Er ging langsam an Magdalenen vorbei, seine Lippen flüsterten ohne Unterlaß, seine Augen starrten gerade vor sich hin mit dem gläsernen Ausdruck des Todes. Seine Augen sagten ihr die schreckliche Wahrheit: Er wandelte im Schlafe.

Der, Schrecken, ihn so zu sehen, war nicht zu vergleichen mit dem, den sie empfunden hatte, als ihre Augen ihn zuerst erschauten, eine Erscheinung im Mondlichte, ein Gespenst in der Geisterhalle. Diesmal konnte sie gegen die Erschütterung ankämpfen, sie konnte die Tiefe ihrer Furcht ergründen.

Er ging an ihr vorüber und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Magdalene wagte sich so nahe heran, daß sie seine Stimme verstehen konnte, wie er vor sich hin murmelte. Sie rückte noch näher und hörte den Namen ihres verstorbenen Gatten deutlich von den Lippen des Nachtwandlers fallen.

—— Noël! sagte er in den leisen, eintönigen Lauten eines Träumers, der im Schlafe spricht, mein guter Kerl, Noël, nimm es wieder zurück! Es plagt mich bei Tage und bei Nacht. Ich weiß nicht, wo es sicher ist, ich weiß nicht, wo es sicher ist, ich weiß nicht, wohin ich es legen soll. Nimm es zurück, Noël, —— nimm es zurück!

Als ihm diese Worte entschlüpften ging er an einen Schrank. Er setzte sich auf den davorstehenden Stuhl und suchte in dem Körbchen unter seinen Schlüsseln. Magdalene folgte ihm leise und stand hinter seinem Stuhle, wartend mit dem Lichte in ihrer Hand. Er fand den Schlüssel und schloß den Schrank auf. Ohne einen Augenblick zu schwanken zog er einen Kasten auf, den zweiten in einer Reihe, der einzige Gegenstand in dem Kasten war ein zusammengebrochener Brief. Er entfernte ihn und legte ihn vor sich auf den Tisch nieder.

—— Nimm ihn wieder zurück, Noël! wiederholte er geistesabwesend, nimm ihn zurück!

Magdalene sah ihm über die Schulter und las folgende Zeilen in der Handschrift ihres Gatten, an der Spitze des Briefes:

In Deinen Händen zu bewahren und erst am Tage meines Ablebens zu erbrechen.

Noël Vanstone.

Sie sah diese Worte deutlich mit dem Namen des Admirals und der Adresse des Admirals darunter.

Der Geheimartikel im Bereiche ihrer Hand! Der Artikel doch noch aufgespürt bis zu seinem Versteck!

Sie that einen Schritt vorwärts, um sich hinter seinem Stuhle herumzuschleichen und den Brief vom Tische wegzuhaschen In dem Augenblick, als sie sich rührte, nahm er ihn noch einmal in die Hand, verschloß den Schrank, stand auf, wandte sich und stand ihr gegenüber. Im Drange des Augenblicks streckte sie ihre Hand nach der Hand aus, in der er den Brief hielt. Das gelbe Licht der Kerze fiel voll auf ihn. Der fürchterliche Scheintod auf seinem Angesichte, das Geheimniß des schlafenden Leibes, der da in unwillkürlichem Gehorsam gegen die träumende Seele sich bewegt, erschreckte sie. Ihre Hand zitterte und sank wieder an ihrer Seite nieder.

Er ließ den Schlüssel des Schrankes in das Körbchen fallen und schritt über das Zimmer nach dem Schreibeschranke, in der einen Hand das Körbchen, in der andern Hand den Brief. Magdalene stellte das Licht hinter sich auf den Tisch und beobachtete ihn.

Wie er den Schubkasten geöffnet hatte, so machte er auch den Schreibschrank auf. Abermals streckte Magdalene ihre Hand aus, abermals bebte sie vor dem Geheimniß und dem Schreckniß seines Schlafes zurück. Er steckte den Brief in einen Schubkasten hinten in dem Schranke und schloß die schwere eichene Klappe wieder zu.

—— Ja! sprach er. Es ist hier sicherer, wie Du sagst, Noël, —— sicherer hier.

Also sprach er. So gaben einmal ums andere Mal die Worte, welche ihn bloß verriethen, die Enthüllung über den Verstorbenen, als ob er leibhaft dastünde und im Traume spräche.

Hatte er den Schreibeschrank verschlossen? Magdalene hatte das Schloß nicht gehen hören. Als er sich langsam wegbewegte, nochmals gegen die Mitte des Zimmers zu wandelnd, versuchte sie die Klappe Ja, —— verschlossen. Als sie die Entdeckung gemacht, wandte sie sich um, und schaute nach, um zu sehen, was er zunächst thäte. Er verließ das Zimmer wieder, mit seinem Schlüsselkörbchen in der Hand. Als ihr erster Blick auf ihn fiel, war er gerade im Begriff, die Schwelle der Thür zu überschreiten.

Ein unnennbarer Zauber erfaßte sie, eine geheime Anziehungskraft zog sie ihm nach wider ihren Willen. Sie nahm das Licht und folgte ihm unwillkürlich, als ob sie ebenfalls im Schlafe wandelte. Eines hinter dem Andern in langsamem und geräuschlosem Schritt gingen sie über die Banquethalle. Eines hinter dem andern gingen sie durch das Besuchszimmer und über den Corridor und die Treppe hinauf. Sie folgte ihm bis zu seiner Thür. Er ging hinein und schloß sie leise hinter sich zu. Sie blieb stehen und sah auf das Rollbett hin. Es war am Fuße bei Seite gerückt, in eine kleine Entfernung von der Kammerthürr. Wer hatte es fortgerückt? Sie hielt das Licht nahe und sah auf die Polster mit plötzlicher Neugier und plötzlichem Zweifel.

Das Rollbett war leer.

Die Entdeckung erschreckte sie für den Augenblick, aber nur für den Augenblick. So leicht daraus die Folgerungen hergeleitet werden konnten, so vermochte sie doch dieselben nicht zu ziehen. Ihr Geist, langsam den Gebrauch seiner Fähigkeiten wiedererlangend, war noch unter dem Einfluß der früheren und tieferen Eindrücke Ihr Geist folgte dem Admiral in sein Zimmer, wie ihr Leib ihm über die Banquethalle gefolgt war.

Hatte er sich wieder in sein Bett gelegt? Schlief er noch?

Sie horchte an der Thür. Kein Laut war in dem Zimmer zu vernehmen. Sie versuchte die Thür und da sie dieselbe unverschlossen fand, öffnete sie die Thür auf ein paar Zoll-weit und lauschte wieder. Dasselbe Heben und Senken seines Athems traf augenblicklich ihr Ohr. Er schlief noch.

Sie ging in das Zimmer und näherte sich, die Hand vor das Kerzenlicht haltend, dem Bette, um nach ihm zu sehen. Der Traum war vorbei, der Schlaf des alten Herrn war tief und ruhig, seine Lippen waren still, seine Hand lag in bewegungsloser Ruhe auf dem Deckbette. Er lag mit dem Gesichte nach der rechten Seite des Bettes zu. Ein kleiner Tisch stand da nahe zur Hand. Vier Gegenstände standen darauf, sein Licht, seine Schwefelhölzchen, sein gewöhnlicher Nachttrunk von Limonade und sein Schlüsselkörbchen.

Der Gedanke, sich diese Nacht in den Besitz, seiner Schlüssel zu setzen —— falls sich eine Gelegenheit böte, wo der Korb nicht in seiner Hand war, war ihr erst in den Sinn gekommen, als sie ihn in sein Zimmer gehen sah. Sie hatte ihn für den Augenblick wieder verloren, als sie die Überraschende Entdeckung machte, das Rollbett leer zu finden. Sie nahm ihn wieder auf, in dem Augenblicke, wo der Tisch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war unnöthig, mit dem Suchen des einen nöthigen Schlüssels unter den Uebrigen Zeit zu verlieren, sie kannte den einen Schlüssel nicht genau genug, um ihn sogleich wieder zu erkennen. Sie nahm darum alle Schlüssel in dem Körbchen, wie sie lagen, vom Tische und schloß, indem sie das Zimmer verließ, leise die Thür wieder hinter sich zu.

Das Rollbett drängte sich, wie sie daran vorbeikam, abermals ihrer Aufmerksamkeit auf und nöthigte sie zum Nachdenken. Nach einem augenblicklichen Besinnen rückte sie den Fuß des Bettes wieder in seine gewöhnliche Stellung quer vor die Thür. Ob er nun im Hause oder außer dem Hause war, der Alte konnte jeden Augenblick auf seinen verlassenen Posten zurückkehren. Wenn er das Bett von seinem gewöhnlichen Platze weggerückt sah, konnte er seinen Herrn wecken,und der Verlust der Schlüssel konnte entdeckt werden. Als sie die Treppe herunterstieg, war die Furcht, plötzlich mit dem alten Mazey zusammenzustoßen so lebhaft vor ihrem Geiste, daß sie das kleine Körbchen dicht an ihrer Seite trug, halb verborgen in den Falten ihres Kleides.

Auf der Treppe fiel Nichts vor, auf dem Corridor fiel Nichts vor, das Haus war so schweigsam und so verödet wie immer. Sie schritt diesmal ohne Zaudern über die Banquethalle hinweg; die Ereignisse der Nacht hatten ihren Geist gegen alle Schrecken ihrer Einbildung stark gemacht.

—— Jetzt habe ich es! flüsterte sie vor sich hin in einem unverhaltbaren Ausbruch von Freude, als sie in das erste der östlichen Zimmer trat und ihr Licht oben auf den alten Schreibeschrank setzte.

Sogar jetzt noch war eine Geduldprobe für sie zu überstehen. Einige Minuten vergingen, Minuten, welche Stunden schienen, ehe sie den rechten Schlüssel fand und die Klappe des Pultes öffnen konnte. Endlich zog sie das innere Schubfach auf. Endlich hatte sie den Brief in ihrer Hand!

Es war versiegelt gewesen, aber das Siegel war erbrochen. Sie öffnete ihn auf der Stelle, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich den Geheimartikel besäße, ehe sie das Zimmer verließ.

Der Schluß des Briefes war das Erste, das sie vornahm. Der Brief kam oben auf der dritten Seite zu Ende und war mit Noël Vanstone unterzeichnet. Unter dem Namen waren folgende Zeilen Von der Hand des Admirals hinzugefügt:

Dieser Brief wurde von mir zu gleicher Zeit als das Testament meines Freundes Noël Vanstone in Empfang genommen. Ein den Fall meines Todes und, wenn ich in Bezug darauf keine anderen Anordnungen treffe. bitte ich meinen Neffen und meine Testamentsvollstrecker zu beherzigen, daß ich die in diesem Testamente an mich gestellten Wünsche als schlechterdings bindend für mich anerkenne.

Arthur Everard Bartam.

Sie ließ diese Zeilen ungelesen. Sie bemerkte eben nur, daß sie nicht von der Hand Noël Vanstones waren, und wandte sich, indem sie dieselben sofort überschlug, weil sie für den im Auge habenden Zweck nicht wesentlich waren, zu den ersten Sätzen der ersten Seite.

Sie las folgende Worte:

Lieber Admiral Bartram!

Wenn Du mein Testament eröffnest, in welchen Du zu meinem alleinigen Testamentsvollstrecker ernannt bist, so, wirst Du finden, daß ich den ganzen Rest meines Grundbesitzes nach Auszahlung eines Vermächtnisses von fünf Tausend Pfund Dir vererbt habe. Es ist der Zweck dieses meines Briefes, Dir vertraulich mitzutheilen, welches die Absicht ist, aus der ich das Vermögen, das nun mehr in Deine Hände gegeben ist, gerade Dir hinterlassen habe.

Siehe dies große Vermächtniß, bitte ich, nur als ein unter gewissen Bedingungen ....

Sie war mit athemloser Spannung und Theilnahme so weit gekommen: da wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich unterbrochen. Etwas —— sie war zu sehr vertieft, als daß sie hätte wissen können was es war —— war zwischen sie und den Brief getreten. War es ein Geräusch? Sie sah über ihre Schulter nach der Thür hinter sich und lauschte. Es war Nichts zu hören, Nichts zu sehen. Sie wandte sich zu dem Briefe zurück.

Die Schrift war eng und zusammengedrängt. In ihrer ungeduldigen Spannung, noch mehr zu lesen, vermochte sie die verlorene Stelle nicht wieder zu finden. Ihre Augen, unwillkürlich von einem Tintenfleck angezogen, erblickten einen Satz weiter unten auf der Seite, als wo sie aufgehört hatte. Die ersten drei Worte, die sie sah, reizten ihre Aufmerksamkeit aufs Neue: es waren die ersten Worte, die sie in dem Briefe gefunden, die sich unmittelbar auf George Bartram bezogen. In der plötzlichen Aufregung über diese Entdeckung las sie eifrig das Uebrige von dem Satze, ehe sie einen zweiten Versuch machte, die verlorene Stelle wieder aufzusuchen ——

.... Wenn Dein Neffe diese Bedingungen zu erfüllen unterläßt, d. h. wenn er, ob er nun Junggesell oder Wittwer zur Zeit meines Ablebens sei, unterliegt, sich ganz in der Art und Weise, wie ich ihm vorgeschrieben habe, innerhalb sechs Kalendermonaten von jener Zeit an zu verheirathen, so ist es mein Wille, das er die Erbschaft nicht erhalte... [S. Seite 355f., S. 357ff. w.]

Sie hatte bis zu diesem Punkte gelesen, bis zu diesem letztere Worte und nicht weiter, da kam plötzlich eine fremde Hand hinter ihr zwischen dem Brief und ihren Augen vor und faßte sie in einem Augenblicke fest am Handgelenk. Sie wandte sich mit einem Schrei des Entsetzens um und —— fand sich Angesicht zu Angesicht dem alten Mazey gegenüber.

Die Augen des Alten waren von Blut unterlaufen, seine Hand schwer, seine Filzpantoffeln unordentlich über seine Füße gezogen, und sein Leib auf seinen weit gespreizten Beinen hin und herschwankend. Wenn er in dieser Nacht seine Verfassung durch das unfehlbare Beweismittel des Modellschiffes auf die Probe gestellt hätte, so hätte er unvermeidlich in der gewöhnlichen Weise folgendes Urteil über sich fällen müssen:

—— Wieder einmal betrunken, Mazey, wieder betrunken!

—— Du junge Isebel! sagte der alte Matrose, auf der einen Seite seines Gesichtes Verlegenheit, auf der andern Unwillen ausdrückend. Das nächste Mal, daß Du wieder nachtwandelst in der Gegend von Satan’s Knochenkälter, so thue erst Deine scharfen Augen hübsch auf und überzeuge Dich, daß Niemand anderes in dem Garten draußen nachtwandelt. Laß es fahren, Du Isebel! Laß es fahren!

Indem er mit der einen Hand Magdalenens Arm festhielt, nahm er ihr mit der andern den Brief weg, legte ihn in das offene Fach und verschloß das Pult. Sie leistete ihm weder Widerstand, noch brachte sie ein Wort hinaus. Ihre Kraft und Willensstärke war dahin, ihre Widerstandsfähigkeit war geknickt. Die Schrecken dieser entsetzlichen Nacht, die einander dicht in immer neuen Erschütterungen folgten, hatten sie endlich gebrochen. Sie gab so unterwürfig nach, sie zitterte so angstvoll, als das schwächste Weib unter der Sonne. ——

Der alte Mazey ließ ihren Arm los und zeigte mit der Feierlichkeit eines Trunkenboldes auf einen Stuhl in einer Ecke weiter ins Zimmer hinein. Sie setzte sich immer noch, ohne ein Wort herauszubringen. Der Alte gab sich, indem er dabei gewaltig schnaufte, einen festen Halt, indem er sich mit beiden Ellenbogen quer gegen das obere Ende des Pultes stemmte, und redete aus dieser erhabenen Stellung Magdalenen abermals an.

—— Nun, mach fort und laß Dich einschließen! sprach der alte Mazey, sein altes ehrwürdiges Haupt mit richterlichem Ernste schüttelnd. Morgen früh wird es eine Untersuchung geben, und ich bin —— Gott sei es geklagt —— der Zeuge! Ich bin der Zeuge Du junge Dirne, Du hast einen Einbruch begangen, ja, das ist es, was Du begangen hast. Seine Gnaden des Admirals Schlüssel gestohlen, seine Gnaden des Admirals Körbchen entwendet und seine Gnaden des Admirals Briefe erbrochen. Einbruch! Einbruch! Mach fort und laß Dich einschließen!

Er gewann langsam mit Hilfe seiner Hände wieder eine aufrechte Stellung, unterstützt durch den festen Rückenhalt, den ihm dabei das Pult leistete, und verfiel in ein weinerliches Selbstgespräch.

—— Wer hätte das gedacht? sagte der alte Mazey, indem ihm vor Vaterzärtlichkeit das Wasser in die Augen trat. Betrachte das Aeußere von ihr, und sie ist so schlank, wie eine Pappel, betrachte das Innere von ihr, und sie ist so mißgestaltet, wie die Sünde! Und doch so ein hübsch gewachsenes Ding. Wie jammerschade, wie jammerschade!

—— Schlag mich nur nicht! sagte Magdalene mit schwacher Stimme, als der alte Mazey gegen den Stuhl heran schwankte und sie wieder beim Handgelenk faßte. Ich bin vor Schreck halb todt, Mr. Mazey, ich bin wahrlich vor Schreck halb todt.

—— Ich Dich schlagen? wiederholte der Alte. Ich bin viel zu verliebt in Dich —— und ich alter grauer Mann sollte mich darob ’was schämen —— als daß ich Dich schlagen konnte. Wenn ich Dich bei Deinem Handgelenk loslasse, willst Du aber auch gerade vor mir hergehen, daß ich Dich den ganzen Weg über sehen kann? Willste ein gutes Mädchen sein und gerade nach Deiner Thüre zugehen?

Magdalene gab das ihr abverlangte Versprechen, gab es mit einem ängstlichen Verlangen, sich endlich wieder in ihr Zimmer flüchten zu können. Sie stand auf und versuchte das Licht vom Pult zu nehmen, aber des alten Mazey Hand war schneller als sie.

—— Laß einmal das Licht stehen, sagte der Alte, indem er in augenblicklicher Vergessenheit seiner verantwortlichen Stellung blinzelte. Du bist ein wenig flinker auf den Beinen als ich, mein Kind, und Du könntest mich in der Patsche lassen, wenn ich nicht selbst das Licht trüge.

Sie kehrten zu dem bewohnten Theile des Hauses zurück. Hinter Magdalenen drein schwankend, in der einen Hand das Schlüsselkörbchen, in der andern den Leuchter verglich der alte Mazey ihre Gestalt den ganzen Weg entlang über »Satans Knochenkälter« hinweg bis zu ihrer Kammerthür höchst kläglich mit der Schlankheit der Pappel und ihren Sinn mit der Mißgestalt der Sünde. An jenem Bestimmungsorte angelangt, weigerte er sich aufs Bestimmteste ihr den Leuchter zu geben, bevor er sie nicht richtig in der Stube drin sah. Als die Bedingungen erfüllt worden waren, trat er mit der einen Hand das Licht ab, mit der andern that er einen Griff nach dem Schlüssel, zog ihn von der Innenseite des Schlosses und schloß augenblicklich die Thür Magdalene hörte ihn draußen über seine eigene Geschicklichkeit kichern und mit unendlichen Schwierigkeiten den Schlüssel wieder ins Schloß stecken. Endlich hatte er die Thür verwahrt und athmete, sich verschnaufend, tief auf.

—— Da ist sie nun sicher und fest! hörte ihn Magdalene in bedauerndem Selbstgespräche sagen. Ein so hübsches Mädchen, als ich jemals vor Augen gekriegt habe. Wie jammerschade, wie jammerschade! ...

Die letzten Töne seiner Stimme verklangen in der Entfernung, und sie war nunmehr allein auf ihrem Zimmer.

Sich am Geländer festhaltend begab sich der alte Mazey hinunter in den Corridor des zweiten Stockes, auf welchem fortwährend ein Nachtlicht brannte. Er näherte sich dem Rollbette und betrachtete, indem er sich gegen die gegenüberstehende Wand stürzte, dasselbe aufmerksam. Eine fortgesetzte Betrachtung seiner Lagerstatt verfehlte sichtbar ihn zu befriedigen. Er schüttelte bedenklich den Kopf, und indem er aus der Seitentasche seines Ueberrocks ein Paar alte geflickte Pantoffeln hervorholte, betrachtete er diese mit sehr zweifelhafter Miene.

—— Ich bin diese Nacht ganz weg, murmelte er vor sich hin. Ich bin ganz irre im Kopfe, ja, so ist es, ganz irre im Kopfe!

Die alten geflickten Pantoffeln und die aufsteigenden Zweifel des Alten standen zufällig in dem engen Verhältnisse von Ursache und Wirkung zu einander. Die Pantoffeln gehörten dem Admiral, der seine besondere unbegreifliche Vorliebe für das Paar hatte, nachdem es lange schon untauglich geworden war. Diesen Nachmittag bei guter Zeit hatte der alte Mazey die Pantoffeln zu dem Schuhmacher im Dorfe getragen, um sie sogleich wieder auszubessern, ehe der Herr den andern Morgen darnach fragte. Er hatte den Fortgang und die Vollendung der Arbeit aufmerksam Übermacht, bis der Abend kam, wo er und der Schuhmacher sich in die Dorfschenke begaben, um einander eins zuzutrinken. Sie hatten diese gesellschaftliche Verrichtung bis tief in die Nacht hinein fortgesetzt und waren in nothwendiger Folge beiderseits vollständig betrunken auseinander gegangen.

Wenn dies Trinkgelage zu keinem andern Ergebniß als jenen nächtlichen Wanderungen in dem Garten von St. Crux geführt hätte, wodurch der alte Mazey das Licht in den östlichen Zimmern erblickte, so würde ihm sein Gedächtniß ohne Frage dasselbe im Lichte einer der preis würdigsten Großthaten seines Lebens gezeigt haben Allein noch eine andere Folge hatte sich daraus ergeben, die der alte Matrose jetzt durch den Branntweindunst, der sein Gehirn umnebelte, dunkel wahrnahm. Er hatte einen Fehler gegen die Mannszucht begangen und einen Vertrauensbruch. In deutlicheren Worten: er hatte feinen Posten verlassen.

Der einzige Schutz wider Admiral Bartrams angeborene Neigung zum Nachtwandeln war die Wache, welche sein treuer alter Diener vor der Thür hielt. Keine Bitten und Vorstellungen hatten Ersteren je dazu vermocht, sich den gewöhnlichen in solchen Fällen üblichen Vorsichtsmaßregeln zu fügen: er weigerte sich aufs Bestimmteste sich einschließen zu lassen. Er kannte nicht einmal selber seine Neigung, im Schlafe zu wandeln, wenn ein Traum ihn aufregte. Immer und immer wieder war der alte Mazey aufgewacht über den Versuchen seines Herrn, das Rollbett im Schlafe zurückzuschieben oder darüber hinwegzuschreiten, immer und immer wieder hatte, wenn er dann den andern Morgen das Geschehene gemeldet hatte, der Admiral sich geweigert, ihm Glauben zu schenken. Als der alte Matrose jetzt in zerstreuter Betrachtung die Thür seines Herrn anstarrte, traten ihm diese vergangenen Dinge wieder dämmerhaft vor die Seele und nöthigten ihn, die ernste Frage sich vorzulegen, ob der Admiral während der ersten Stunden der Nacht sein Zimmer verlassen gehabt habe? Wenn durch einen unglücklichen Zufall das Schlafwandeln über ihn gekommen war, zwangen die Pantoffeln in der Hand den alten Mazey zu dem erschreckenden Schluß, der daraus folgte, —— daß nämlich sein Herr in der kalten Nacht baarfuß über die steinernen Treppen und Gänge aus St. Crux gegangen war.

—— Der Himmel gebe, daß er ruhig gewesen ist, murmelte der alte Mazey, trotz seiner Derbheit und trotz seiner Trunkenheit niedergeschmettert durch den bloßen Gedanken an diese Möglichkeit. —— Wenn Seine Gnaden heute Nacht gewandelt ist, so wird es sein Tod sein!

Er raffte sich für den Augenblick gewaltsam zusammen, stark in seiner hündischen Treue gegen seinen Herrn, wenn er auch in sonst Nichts weiter stark war —— und kämpfte die Betäubung des Weines nieder. Er sah mit festeren Blicken und hellerm Geiste auf das Rollbett Magdalenens Vorsicht, es wieder in seine gewöhnliche Lage zu bringen, stellte es ihm natürlich im Lichte eines Bettes dar, das nicht von der Stelle gerückt worden war. Dann untersuchte er genau die Bettdecke Nicht die kleinste Spur von Eindrücken, wie sie nothwendig zu sehen sein mußten, wenn Jemand darüber hinweg gestiegen wäre, war zu schauen. Es lag also der klare Beweis vor ihm, der endlich sogar seinen verwirrten Augen einleuchtende Beweis, daß der Admiral nicht einen Augenblick sein Zimmer verlassen hatte.

—— Ich will morgen ein Gelübde thun! murmelte der alte Mazey in einer Anwandlung von dankbarer Ueberschwenglichkeit.

Den nächsten Augenblick wirbelten die Dämpfe des Branntweins wieder heimtückisch über sein armes Gehirn hinweg, und der Alte, zu seinem alten Mittel zurückkehrend, schritt den Gang im Zickzack wie gewöhnlich auf und ab und hielt wie gewöhnlich Wacht auf dem Deck seines eingebildeten Schiffes.

Bald nach Sonnenaufgang hörte plötzlich Magdalene das Rasseln der Schlüssel im Schlosse der Thür. Die Thür ging auf, und der alte Mazey erschien auf der Schwelle. Das erste Fieber seiner Betrunkenheit hatte sich mit der Zeit abgekühlt zur milden Wärme reumüthiger Zerknirschung. Er athmete schwerer denn je und ließ von Zeit zu Zeit ein leises Gemurmel hören. Dabei schüttelte er fortwährend sein ehrwürdiges Haupt über seine eigenen Missethaten.

—— Wie stehts nun mit Dir, Du junger Landhaifisch im Unterrocke! frug der Alte. Ist Dein Gewissen still genug gewesen, um Dich einschlafen zu lassen?

—— Ich habe gar nicht geschlafen, sagte Magdalene, indem sie sich vor ihm, ungewiß, was er wohl zunächst thun würde, scheu zurückzog. Ich habe keine Erinnerung von dem, was sich zugetragen, seit Du die Thür zugeschlossen hast, ich glaube, ich bin ohnmächtig gewesen. —— Setzt mich nicht wieder in Schrecken, Mr. Mazey! Ich befinde mich kläglich schwach und unwohl. Was hast Du Vor?

—— Ich habe vor, ’was Ernsthaftes zu sagen, versetzte der alte Mazey mit undurchdringlicher Feierlichkeit. Es ist mir in den Sinn gekommen, hierher zu gehen und mich in der letzten Stunde oder darüber auszusprechen und zu offenbaren. Merke wohl auf meine Worte, junges Frauenzimmer. Ich bin eben im Begriff, mich selbst in Ungnade zu stürzen.

Magdalene zog sich weiter und weiter zurück und schaute auf ihn mit wachsender Unruhe.

—— Ich kenne meine Pflichten gegen Seine Gnaden den Admiral, fuhr der alte Mazey fort, indem er mit der Hand traurig nach der Gegend von seines Herrn Zimmer hinwies. Aber ich mags versuchen, so sehr ich nur will, mag mich im Leibe zerreißen, ich kann’s meiner Seelen nicht übers Herz bringen, gegen Dich, Du junges, schlimmes Ding, als Zeuge aufzutreten. Ich konnte Dich leiden wegen Deines Wuchses, namentlich so um Brust und Taille herum; gleich sowie Du ins Haus kamst, und ich kann mir wahrlich nicht helfen, ich habe Dich gern wegen Deines Wuchses, obgleich Du einen Einbruch begangen hast und obgleich Du so mißgestalt wie die Sünde bist. Ich habe auf schön gebaute Mädels mein Leben lang die Augen der Nachsicht geworfen, und es ist zu spät am Tage, um nun erst die Augen der Strenge auf sie zu richten. Ich bin sieben und siebenzig oder acht und siebenzig, ich weiß es nicht genau. Ich bin ein verwittertes Wrack, die Rippen über und über leck, und meine Pumpen sind zerbrochen, und die Wasser des Todes stürzen herein mit Macht, so schnell sie können. Ich bin ein so elender Sünder, als Du nur in einem Orte in dieser Himmelsgegend finden kannst, Thomas Nagle, den Schuster, allein ausgenommen. Der ist doch noch schlimmer, als ich; denn er ist jünger, denn ich und sollte es besser wissen. Aber das Lange und Kurze davon ist, ich werde in meine Gruft fahren mit einem Auge voll Nachsicht für schön gebaute Mädchen. Desto schändlicher von mir, Du junge Isebel! [Isebel, englisch Jezabel, heißt bekanntlich das böse Weib Ahabs, des Königs zu Samaria, welches ihren Gatten anstiftete, dem Naboth nach dem Leben zu trachten, ihn fälschlich anzuklagen und vom Volke als Gotteslästerer steinigen zu lassen, Alles nur, um dessen schönen Weinberg zu Iesreel bei dem Palaste Ahabs zu gewinnen. S. I. Könige 21. —— Isebel ist dann Schimpfwort geworden für ein böses, arg Verlockendes Weib. W.] desto schändlicher von mir!

Des Alten ungehorsame Augen begannen wider seinen Willen nach ihr zu schielen, als er seine Ansprache mit diesen Worten schloß. Die letzten Reste herben Ernstes auf seinem Gesichte verschwanden bis auf einen trübseligen Zug um seine Mundwinkel herum. Magdalene näherte sich ihm wieder und versuchte das Wort zu ergreifen. Er wehrte ihr aber feierlich mit einem abermaligen traurigen Hände winken.

—— Keine Annäherungen! sagte der alte Mazey: ich bin schon schlecht genug auch ohne Das. Es ist meine Schuldigkeit, Seiner Gnaden dem Admiral meine Meldung zu machen, und ich will sie machen. Aber wenn Du lieber aus dem Hause entwischen willst, ehe der Einbruch gemeldet ist und das peinliche Verhör beginnt, so will ich mich selber in Ungnade stürzen und Dich gehen lassen. Es ist heute früh Markt zu Ossory, und Dawkes wird Dich mitnehmen, wenn ich es ihm sage. Ich kenne meine Pflicht. Meine Pflicht ist, Dich unter Schloß und Riegel zu halten und erst den verdammten Dawkes aufzusuchen. Aber ich kanns meiner Seelen nicht übers Herze bringen, gegen ein schmuckes Mädchen wie Du hart zu sein. Es liegt mir nun einmal im Blute und läßt sich nicht heraustreiben. Desto schändlicher von mir!

Der so sonderbar und unverhofft ihr gemachte Vorschlag setzte Magdalenen vollständig in Erstaunen. Sie war von den Ereignissen dieser Nacht zu sehr erschüttert worden, als daß sie im Stande gewesen wäre, über irgend Etwas einen augenblicklichen Entschluß zu fassen.

—— Ihr seid sehr gut gegen mich, Mr. Mazey, sprach sie. Kann ich es mir nicht erst einen Augenblick überlegen?

—— Ja, Das kannst Du, versetzte der Alte, indem er sich sofort wandte und das Zimmer verließ.

—— Sie find alle von einem Schlage, fuhr der alte Mazey fort, indem er immer noch über das schwache Geschlecht sich Gedanken machte. Was man ihnen auch jemals anbieten mag, immer verlangen sie noch mehr. Groß und klein, einheimisch oder fremd, Liebste oder Ehefrauen, sie sind alle von einem Schlage!

Sich selbst überlassen, kam Magdalene viel schneller und leichter zu einem Entschlusse, als sie gedacht hatte.

Wenn sie im Hause blieb, so hatte sie nur zwei Wege vor sich, entweder daß sie dem alten Mazey aufgab, unter dem Einfluße eines Rausches nnd der damit zusammenhängenden Sinnestäuschungen zu reden, oder daß sie sich in die Umstände fügte. Obgleich der alte Seemann daran schuld war, daß sie in dem Augenblicke, wo sie schon am Ziele war, ihren Erfolg verfehlte, so machte es ihr doch seine Achtung vor ihr in jenem Augenblicke schon in dem bloßen Gedanken unmöglich, sich auf seine Kosten zu vertheidigen, selbst vorausgesetzt —— was doch im höchsten Grade unwahrscheinlich war —— daß ihrer Vertheidigung Glauben geschenkt würde. Im zweiten der beiden Fälle (d. h. wenn sie also den Umständen nachgab) konnte nur eine einzige Folge erwartet werden, sofortige Entlassung und vielleicht noch obendrein Entlarvung. Welchen Zweck erreichte sie, wenn sie dieser Demüthigung sich unterzog, wenn sie das Haus verließ und öffentlich beschimpft in den Augen der Mägde dastand, die sie vom ersten Anfange an gehaßt und beargwöhnt hatten? Der unglückliche Zufall, der ihr buchstäblich den Geheimartikel aus den Händen gerissen hatte, als sie ihn bereits fest zu besitzen glaubte, war nicht wieder gut zu machen. Der einzige zu Tage liegende Trost bei dem Mißgeschick, mit anderen Worten die Entdeckung, daß der Geheimartikel denn wirklich doch vorhanden war und daß George Bartrams Verheirathung in einer gegebenen Zeit einer der darin enthaltenen Punkte war, konnte erst dann in seinem wahren Lichte geschätzt werden, wenn man ihn dem erfahrenen Geschäftsblick des Mr. Loscombe unterbreitete. Jeder Grund, den sie in sich fand, war für sie eine Veranlassung mehr, heimlich das Haus zu verlassen, so lange sie noch freie Hand hatte. Sie sah in den Gang hinaus und rief leise den alten Mazey, daß er zurückkäme.

—— Ich nehme Euer Anerbieten mit Dank an, Mr. Mazey, sagte sie. Ihr wißt nicht, welchen harten Schlag Ihr mir zufügtet, als Ihr mir jenen Brief aus der Hand nahmt. Aber Ihr thatet Eure Pflicht —— und ich kann Euch nur dankbar sein, daß Ihr mich heute früh entfliehen laßt, so hart Ihr auch heute Nacht gegen mich gewesen seid. Ich bin nicht ein solch schlimmes Mädchen, als Ihr von mir denkt, wahrlich nicht.

Der alte Mazey wies diesen Gegenstand zurück mit einer abermaligen traurigen Handbewegung.

—— Laß es gut sein, sprach der Alte, laß es gut sein! Bei einem Sünder, wie ich bin, macht es keinen Unterschied. Wenn Du auch fünfzig Mal schlechter wärst, als Du bist, so würde ich Dich doch ganz ebenso laufen lassen. Nimm Deinen Hut und Dein Umschlagetuch und komm fort. Ich bin mir selber ein Greuel und für Andere eine Warnung: Das bin ich. Kein Gepäck höre Du! Laß all Dein Zeug zurück, auf daß es, wo’s nöthig, Seiner Gnaden dem Admiral überliefert werden kann. Ich kann dann mit Deinen Koffern hart genug sein, Du junge Isebel, wenn ich auch mit Dir nicht hart sein kann.

Mit diesen Worten ging der alte Mazey voran aus dem Zimmer.

—— Je weniger ich von ihr sehe, desto besser, Insonderheit um Brust und Taille herum; sprach er zu sich selbst, als er mit Hilfe des Geländers die Treppe hinunter humpelte.

Das Wägelchen stand im Hintergarten, als sie die unteren Gegenden des Hauses erreichten und Dawkes (der Dienstmann des Amtmannes des Gutes) machte eben den letzten Riemen am Geschirr des Pferdes fest. Der Reif des Frühmorgens sah noch ganz weiß aus im Schatten. Die funkelnden Steinchen des Reifes glitzerten hell auf den zottigen Pelzen des Brutus und Cassius, wie sie sich auf dem Hofe umhertrieben und mit dampfenden Schnautzen und langsam wedelnden Schwänzen auf das Fortfahren des Wagens warteten. Der alte Mazey ging allein hinaus und brauchte seinen Einfluß auf Dawkes. Dieser riß vor blöder Verwunderung die Augen auf und legte für seine Reisegefährtin ein Lederkissen auf den Sitz. Zusammenschauernd in der scharfen Morgenluft wartete Magdalene während der Vorbereitungen zur Abfahrt, indem sie sich nur einer traurigen Gedankenverwirrung und einer grausamen Beängstigung im Herzen bewußt war. Sie zitterte ebenso hilflos, wie in der Nacht, als jetzt der Alte seine Augen der Nachsicht zum letzten Male auf sie warf und ihr einen Abschiedskuß auf die Wangen drückte. In der nächsten Minute fühlte sie, wie er ihr in den Wagen half und sie auf die Schulter pochte. Dann hörte sie ihn in vertraulichem Flüstern ihr zuraunen, daß sie, ob sie nun sitze oder stehe, allemal so schlank wie eine Puppe! sei. Dann war eine Pause, in der Nichts gesprochen wurde und Nichts geschah, darauf nahm der Kutscher die Zügel in die Hand und stieg auf seinen Platz.

Sie erhob sich im Augenblicke der Abfahrt und sah sich um. Der letzte Gegenstand, den sie auf St. Crux sah, war der alte Mazey, wie er im Hofgarten, neben sich seine Kameraden im Guten und im Bösen, die Hunde, seinen Kopf schüttelte, und diese mit den Schweifen wedelnd, schier damit Tact hielten. Die letzten Worte, welche sie hörte, waren das Lebewohl, das der Alte ihrem Liebreiz nachrief.

—— Einbruch oder nicht Einbruch, sagte der alte Mazey, sie ist ein schöngebautes Mädchen, wenn ich jemals ein schönes gesehen habe. Wie jammerschade, wie jammerschade!


Vorheriges Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte