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Antonina oder der Untergang Roms



Kapitel IV.
Die Vegilie der Hoffnung.

Vor uns thut sich jetzt ein neuer Anblick auf. Die rauhen Pfade, auf welchen wir bisher gewandelt sind, werden ebener, je näher wir ihrem Ziele kommen, Rom, das so lange dunkel und düster vor unsern Augen dagelegen hat, erhellt sich endlich wie eine Landschaft, wenn der Regen vorüber ist und die ersten Strahlen des wiederkehrenden Sonnenscheins durch die sich trennenden Wolken leuchten. Es sind einige Tage vergangen und in diesen Tagen haben die Tempel alle ihre Reichthümer hergegeben, die besiegten Römer haben die Gnade der triumphierenden Barbaren erkauft, das Lösegeld der gefallenen Stadt ist bezahlt.

Noch lagert sich das gothische Heer um die Mauern, aber die Thore stehen offen, in den Vorstädten sind Märkte für Lebensmittel errichtet, auf dem Flusse zeigen sich Boote und auf der Landstraße Wagen, die mit Mundvorräthen beladen, den Weg nach Rom einschlagen. Alle von den Bürgern noch zurückgehaltenen geheimen Schätze werden jetzt für Nahrung dahingegeben, die Verkäufer, welche den Markt halten, machen eine reiche Ernte, aber die Hungrigen werden gespeist, die Schwachen beleben sich von Neuem, ein Jeder ist zufrieden.

Wir befinden uns am Ende des zweiten Tages, seit die Gothen den freien Verkauf von Mundvorräthen gestattet und die Erlaubniß, aus der Stadt zu geben, gegeben haben. Die Thore sind für die Nacht geschlossen und das Volk kehrt mit Nahrungsmitteln beladen, ruhig nach seinen Wohnungen zurück. Seine Augen begegnen nicht mehr auf jeder Straße den furchtbaren Spuren der Pest und Hungersnoth, die Leichen sind fortgeschafft worden und die Kranken werden behütet und unter Obdach geschafft. Rom ist von seinen Flecken gereinigt und die Tugenden des häuslichen Lebens beginnen da, wo sie erst existiert hatten, eine neue ThätigkeiL Der Tod hat jede Familie gelichtet, aber die Ueberlebenden versammeln sich wieder in der geselligen Halle —— ja selbst die Verbrechen die niedrigsten Auswürflinge der Gesellschaft, nehmen für eine Zeitlang harmlos am Genusse der ersten Wohlthaten des Friedens Theil.

Den Bürgern nach ihren Häusern zu folgen, in ihren Gedanken, Worten und Thaten die Wirkung aufzusuchen, welche ihre Befreiung von dem Schrecken der Blokade auf sie gemacht hat, —— in dem Volke einer ganzen Stadt, welches jetzt so zu sagen,nach einer tiefen Ohnmacht wieder zu sich kommt, die wechselnden Formen der ersten Lebenssymptome aller Klassen, der Guten und Schlechten, Reichen und Armen zu betrachten würde an sich selbst schon Stoff genug für einen Roman vom höchsten menschlichen Interesse, für ein sich aufs Spannendste durch seltsame, verwickelt mit einander im Contrast stehende Scenen bewegendes Drama der Leidenschaften geboten haben. Unsere Aufmerksamkeit wird aber jetzt nicht von einer getheilten Quelle der Theilnahme in Anspruch genommen, sondern von einem Individuum auf sich gelenkt, wir geben alle Bemerkungen über die allgemeine Masse der Bevölkerung auf, um uns auf Numerian und Antoninen allein zu beschränken, um nochmals in die kleine Wohnung auf dem Monte Pincio zu treten.

Das Gemach, wo der Vater und die Tochter während der Zeit der Blockade zusammen die Qualen des Hungers erlitten hatten, bot jetzt ein ganz anderes Aussehen dar, als dasjenige, welches dasselbe zu der Zeit besessen hatte, wo wir die Beiden das letzte Mal darin erblickten. Die früher nackten Wände waren jetzt mit reichen dichten Tapeten bedeckt und das einfache Lager und der ärmliche Tisch früherer Tage mit dem Ueppigsten und Volllommensten, was es in jener Zeit von Hausrath gab, vertauscht. An dem einen Ende des Zimmers waren drei Frauen nebst einem kleinen Mädchen mit der Zubereitung einiger Gerichte von Obst und Gemüsen beschäftigt, am andern befanden sich zwei Männer im leisen ernsten Gespräch und blickten sich von Zeit zu, Zeit ängstlich nach einem aus der dritten Seite des Zimmers befindlichen Bette um, auf welchem Antonina ausgestreckt lag, während Numerian schweigend bei ihr machte. Goiswinthens Messer war tief eingedrungen, bis jetzt aber noch ihre Mörderabsicht noch nicht erfüllt.

Die Augen des Mädchens waren geschlossen, ihre Lippen waren von der Mattigkeit des Leidens getrennt, eine von ihren Händen lag nachlässig und unbeweglich auf dem Knie ihres Vaters. Ein leiser in seiner Schwäche betrübender Ausdruck des Schmerzes zeigte sich auf ihrem bleichen Gesicht und von Zeit zu Zeit entfloh ihr ein langgezogener zitternder Seufzer, —— die 1etzte, rührende Kundgebung der Natur von ihrer eignen Schwäche.

Der Greis heftete, während er neben ihr saß, einen verlangenden, forschenden Blick auf sie; zuweilen erhob er seine Hand und bewegte leise und mechanisch die langen Locken ihres Haares, welche zerstreut auf dem Kopfkissen umherlagen, hin und her, aber er wendete sich nie, um mit den übrigen Personen im Zimmer in Verkehr zu treten, er saß da, als ob er nichts sähe als die vor ihm ausgestreckte Gestalt seiner Tochter und nichts höre als das schwache Geräusch ihrer Athemzüge dicht an seinem Ohre.

Es war jetzt dunkel geworden und eine von der Decke herabhängende Lampe verbreitete ein mildes, gleichmäßiges Licht im Zimmer. Die verschiedenen Personen, welche sich darin befanden, besaßen auf ihren Gesichtern nur geringe Spuren von Gesundheit und Kraft, die man mit dem Aeußern des verwundeten Mädchens in Kontrast hätte setzen können, Alle hatten die Heimsuchung der Hungersnoth erlitten und Alle waren schwach und hilflos gleich ihr. Ueber der Scene lag eine eigenthümliche unbeschreibliche Harmonie; selbst die Stille der höchsten Erwartung und der zitternden Hoffnung, welche sich in Numerian’s Benehmen ausdrückte, schien sich in den Handlungen der ihn Umgebenden in der Ruhe, mit welcher die Frauen ihre Beschäftigung vor nahmen, in dem leiseren und leiseren Flüstern abzuspiegeln, in welchem die Männer ihr Gespräch fortsetzten.

In der Luft des ganzen Gemachs lag ein gewisses Etwas, welches ein Gefühl von der feierlichen überirdischen Stille gab, die wir mit der abstrakten Idee der Religion verknüpfen.

Von den beiden im Flüstertone mit einander sprechenden Männern, war einer der Patrizier Vetranio, der andere ein berühmter römischer Arzt.

Sowohl das Gesicht, wie das Benehmen des Senators gaben einen traurigen Beweis davon ab, daß die Orgie in seinem Palaste ihn für sein ganzes zukünftiges Leben verändert hatte. Er sah aus, wie das, was er war, ein für immer in Constitution und Charakter veränderter Mann. In seinen Augen erblickte man einen starren Ausdruck von Aengstlichkeit und Besorgniß, seine abgezehrte Gestalt wurde von Zeit zu Zeit durch nervöse, unwillkürliche Zuckungen entstellt; es lag klar am Tage, daß die lähmende Wirkung der Orgie, welche seine Gefährten hinweggerafft hatte, bis zum Ende seiner Existenz bei ihm beharren würde. In seinem Wesen war keine Spur mehr von seiner nachlässigen Ruhe, seiner behaglichen patrizischen Zutraulichkeit zu sehen, als er jetzt dem Gespräche seines Gefährten lauschte. Seinem Leben schienen Jahre hinzugefügt worden zu sein, seit er bei dem Gastmahle des Hungers den Vorsitz geführt hatte.

»Ja,« sagte der Arzt, ein kalter, ruhiger Mann, der viel redete, aber alle seine Worte mit nachdrücklicher Ueberlegtheit aussprach, »ja, wie ich Ihnen schon gesagt habe, war die Wunde an sich nicht tödlich. Wenn die Klinge des Messers nach vorn und nach innen zu in den Hals gedrungen wäre, so hätte sie sogleich nach dem Stoße sterben müssen. Es ist aber rückwärts und nach außen gegangen, die großen Gefäße sind verschont geblieben, es ist kein Lebenstheil berührt worden.«

»Und doch beharrst Du auf Deiner Erklärung, daß Du an ihrem Aufkommen zweifelst?« rief Vetranio mit leisem, wehmüthigem Tone.

»Das thue ich,« fuhr der Arzt fort, »sie muß an Geist und Körper erschöpft gewesen sein, als sie den Streich erhielt. Ich habe sie sorgfältig beobachtet, ich weiß es. Die Wirkung der Wunde findet keinen Widerstand an der natürlichen Gesundheit und Kraft der Jugend; ich habe alte Menschen an Verletzungen sterben sehen, von welchen die Jungen wieder genesen, weil das Leben in ihnen seine Widerstandsfähigkeit verliert, sie befindet sich in der Lage der Alten.«

»Die Andern sind vor mir gestorben und sie wird vor mir sterben. Ich werde Alles — Alles verlieren!« seufzte Vetranio bitterlich vor sich hin.

»Die Hilfsmittel unserer Kunst sind erschöpft!« fuhr Jener fort, »es bleibt nichts mehr zu thun, als sorgfältig zu wachen und geduldig zu warten. Der Kampf zwischen Leben und Tod wird sich in wenigen Stunden entscheiden, bis jetzt befinden sich beide Mächte im Gleichgewicht.«

»Ich werde Alles —— Alles verlieren,« wiederholte der Senator wehmüthig, als ob er die letzten Worte nicht gehört habe.

»Wenn sie stirbt,« sagte der Arzt in wärmerem Tone, denn Vetranio’s gänzliche Niedergeschlagenheit hatte unwillkürlich sein Mitleid erregt, »wenn sie stirbt, so kannst Du Dich wenigstens erinnern, daß Du Alles gethan hast, was geschehen konnte, um ihr Leben zu retten. Ihr in seinem Stumpfsinn und Alter hilfloser Vater vermochte nichts zu thun, als da zu sitzen und bei ihr zu wachen, wie er Tag um Tag gesessen und gewacht hat, aber Du hast nichts geschont, nichts vergessen. Was ich für sie verlangte, das hast Du herbeigeschafft, die Tapeten an den Wänden und das Bett, aus dem sie ruht, gehören Dir; die ersten frischen Lebensmittel von den wiedereröffneten Märkten sind von Dir herbeigebracht worden; ich hatte Dir gesagt, daß sie unablässig an das denke, was sie gelitten hatte, daß es nöthig sei, sie gegen ihre eigenen Erinnerungen zu bewahren, daß die Gegenwart von Frauen in ihrer Nähe gute Wirkung haben könne, daß ein zuweilen im Zimmer erscheinendes Kind ihre Phantasie beruhigen, sie bewegen dürfte, auf das zu blicken, was vorfiele, statt an das zu denken, was vorgefallen war, Du hast sie ausgesucht und herbei gesendet! Ich habe Väter gesehen, die um ihre Kinder, Liebhaber, die um ihre Geliebten weniger besorgt waren, als Du um dieses Mädchen.«

»Mein Schicksal liegt in ihr,« unterbrach ihn Vetranio, indem er sich abergläubisch nach der zarten Gestalt auf dem Lager umwendete; »Ich weiß nichts von den Mysterien, welche die Christen ihren Glauben nennen, aber ich glaube jetzt an die Seele, ich glaube jetzt, daß eine Seele das Schicksal einer andern enthält, und daß ihre Seele das Schicksal der meinen umfaßt.«

Der Arzt schüttelte spöttisch den Kopf. Sein Beruf hatte seine Philosophie geschaffen, er war ein so glühender Materialist, wie es Epicur nur immer gewesen sein konnte.

»Höre,« sagte Vetranio; »seit ich sie kenne, ist in meinem ganzen Wesen eine Veränderung eingetreten, es war, als ob ihr Leben mit dem meinen verknüpft sei! Ich hatte auf sie keinen andern Einfluß, als einen Einfluß zum Schlimmen, ich liebte sie, und sie wurde schutzlos aus ihrem Vaterhause getrieben; ich sendete meine Sklaven aus, um Rom Tag und Nacht zu durchsuchen —— ich strengte alle meine Kräfte an, ich verschwendete meinen Reichthum, um sie zu entdecken, und zum ersten Male mißlang mir das, was ich unternommen hatte. Ich fühlte, daß sie durch mich verloren —— todt sei! Tage vergingen, das Leben lastete schwer auf mir, die Hungersnoth stellte sich ein. Du weißt, auf welche Art ich meine Laufbahn schließen wollte, das Gerücht von dem Gastmahle des Hungers ist zu Dir gedrungen, wie zu anderen. Ich stand allein in meinem, dem Untergange geweihten Palaste da, die Freunde, die ich zu ihrem Untergange verlockt hatte, lagen lebloß um mich her, die Fackel, welche unsern Scheiterhaufen anzünden, uns aus dieser uns zum Ekel gewordenen Welt befreien sollte, war in meiner Hand, ich schritt triumphierend auf die angehäuften Brennstoffe zu, um die vernichtenden Flammen zu entzünden, als sie vor mir stand —— sie, die ich als verloren gesucht und als todt betrauert hatte. Eine starke Hand schien mir die Fackel aus der Hand zu reißen, sie sank zu Boden. Antonina entfernte sich wieder, aber ich besaß nicht die Kraft, die Fackel aufzuheben, ihr Blick war immer noch vor mir, ihr Gesicht, ihre Gestalt, sie selbst schien fortwährend zwischen der Fackel und mir zu wachen.

»Als die Beamten des Senats in den Palast traten, fanden sie mich noch an dem Orte stehen, wo wir einander begegnet waren!

»Wieder vergingen Tage; ich blickte auf die Straße hinaus und dachte an meine Genossen, die ich in den Tod gelockt, und an meinen Schwur, ihr Schicksal zu theilen, den ich nie erfüllt hatte. Ich würde mir den Dolch ins Herz gestoßen haben, aber ihr Gesicht stand vor mir, meine Hände waren gebunden.

»Zu jener Stunde sah ich sie zum zweiten Male, sah ich sie verwundet, gemeuchelt an mir vorübertragen! Sie hatte mich einmal —— sie hatte mich zweimal gerettet! Ich wußte, daß mir jetzt die Aussicht geboten war, ihr Gutes zu thun, nachdem ich ihr Böses zugefügt hatte; nachdem es mir mißlungen war, sie zu entdecken, als sie verschwand, sie jetzt zu retten, wo ihr der Tod drohte; nachdem ich den Tod meiner Freunde an meinem eigenen Tische überlebt, das Leben unter meinem Einflusse neu erwachen zu sehen! Dies waren meine Gedanken —— dies sind noch meine Gedanken —— Gedanken, die ich nur, seit ich sie gesehen, gehegt habe. Weißt Du jetzt, weshalb ich glaube, daß ihre Seele das Schicksal der meinen umfaßt, siehst Du mich geschwächt, zerrüttet, vor der Zeit alt geworden, siehst Du, daß meine Freunde verloren, meine frischen Jugendgefühle auf ewig verschwunden sind, und kannst Du jetzt nicht begreifen, daß ihr Leben mein Leben ist, daß, wenn sie stirbt, der einzige gute Zweck meines Lebens verloren ist? daß ich Alles verliere, wofür ich von nun an noch lebe? —— Alles, Alles!«

Als er die letzten Worte sprach, öffneten sich die Augen des Mädchens zur Hälfte und wendeten sich matt ihrem Vater zu. Sie machte einen Versuch, ihre Hand liebkosend von seinem Knie zu seinem Halse zu erheben, aber ihre Kraft war selbst für diese geringe Bewegung nicht hinreichend. Die Hand war erst um wenige Zoll erhoben, als sie auch wieder in ihre frühere Lage zurücksank, über ihre Wange rollte langsam eine Thräne, als sie wieder ihre Augen schloß, sie sprach jedoch kein Wort.

»Sieh,« sagte der Arzt, indem er auf sie deutete »der Strom des Lebens ist auf seiner tiefsten Ebbe angelangt, wenn er wieder fluthen soll, so muß es diesen Abend geschehen.«

Vetranio antwortete nicht, er sank auf einen Sessel nehen ihm nieder und bedeckte sein Gesicht mit seinem Gewande. Der Arzt begann, als er die Lage des Senators erblickte und das sonderbare, hastige Bekenntniß überdachte, welches so eben an ihn gerichtet worden war, zu zweifeln, daß sein Gönner nach den Auftritten, welche er in der letzten Zeit durchgemacht hatte, noch bei gesundem Verstande sei. War auch der Mann der Wissenschaft ein Philosoph, so hatte er doch nie die äußeren Symptome der ersten Einwirkung guter und reiner Einflüsse zur Erhebung eines herabgesunkenen Geistes bemerkt, er hatte nie die Zeichen der Rede und Gebärde beobachtet, welche den Fortschritt der geistigen Umwälzung andeuten, während die alte Natur sich mit der neuen vertauscht —— dergleichen Gegenstände der Betrachtung waren für ihn nicht vorhanden —— er berührte sanft Vetranio’s Schulter.

»Steh’ auf!« sagte er, »laß uns gehen! Bei ihr sind Diejenigen, welche sie am besten bewachen können. Wir können nichts weiter thun, als warten und hoffen. Mit dem frühesten Morgen wollen wir zurückkehren.«

Er gab einer von den Krankenwärterinnen noch einige letzte Aufträge und verließ dann in Begleitung des Senators, der, ohne weiter ein Wort zu sprechen, mechanisch aufstand, um ihm zu folgen, das Zimmer.

Von jetzt an wurde die Stille nur zuweilen durch ein Flüstern und den Ton leichter, schneller, hin und her gehender Schritte unterbrochen. Dann wurden die kühlenden, stärkenden Tränke, welche für die Nacht bereitet worden waren, in die Becher gegossen und die Frauen traten zu Numerian, wie, um ihn anzureden, aber er winkte ihnen, sobald er sie erblickte, unmuthig zurück, und dann entfernten auch sie sich, um in einem benachbarten Zimmer zu warten, bis man sie wieder rufen würde.

Im Wesen des Vaters, als er in der Kammer der Krankheit, welche in wenigen Stunden zur Kammer des Todes werden konnte, allein zurückblieb, veränderte sich nichts. Er saß neben Antoninen, bewachte sie und berührte von Zeit zu Zeit die verstreuten Locken ihres Haares, wie er es bisher gethan hatte. Es war eine helle Sternennacht, die frische Luft des milden Winterklimas des Südens wehte sanft über die Erde hin, die große Stadt wurde allmälig still, mitunter hörte man auf den Hauptstraßen rufende Stimmen und aus dem gothischen Lager erklangen munter die fernen Töne kriegerischer Musik, als die Schildwachen auf ihre Posten gestellt wurden, bald aber verklangen auch diese Töne und die Stille Roms glich der Stille um das Lager des verwundeten Mädchens.

Einen Tag nach dem andern und eine Nacht nach der andern hatte Numerian seit dem Mordanfalle im Tempel seinen Platz an der Seite seiner Tochter bewahrt. Jede vorüberziehende Stunde fand ihn noch in seine lange Hoffnungswache versenkt, sein Leben schien durch den einen Gegenstand, welchen er jetzt in Banden hielt, in seinem Laufe aufgehalten zu sein. In den kurzen Zwischenräumen, wo ihn bei seiner traurigen Wache die Müdigkeit übermannte, bemerkten die ihn Umgebenden, daß sein Gesicht selbst während seines kurzen traumerfüllten Schlummers stets nach der einen Richtung, dem Kopfende des Bettes, gewendet blieb, als ob er dort durch einen unwiderstehlichen Einfluß, durch eine mächtige Gewalt angezogen werde, die sich selbst in der tiefsten Ruhe des Bewußtseins, der schwersten Ermüdung des überladenen Geistes und des matten sinkenden Herzens fühlbar machte. Er unterhielt, außer durch Zeichen, keinen Verkehr mit den ihn umgebenden Freunden, er schien mit ihnen weder zu hoffen, zu zweifeln, noch zu verzweifeln, alle seine Fähigkeiten waren angespannt, um nur an einem einzigen Punkte zu fibriren und in jeder andern Richtung dumpf und unempfänglich.

Nur zweimal hatte man ihn mehr als die einfachsten, kürzesten Worte sprechen hören. Das erste Mal, wie Antonina, als sie nach ihrer Verwundung wieder zum Bewußtsein gelangte, den Namen, Goiswinthens aussprach, antwortete er eifrig durch wiederholte Erklärungen, daß von nun an nichts mehr zu befürchten sei, da er die Mörderin, als er den Tempel verlassen, todt unter dem Fuße des Heiden gesehen habe. Das zweite Mal, wo von ihm unvorsichtiger Weise das in Rom verbreitete Gerücht von dem Verbrennen eines unbekannten heidnischen Priesters im Tempel des Serapis mit ungeheuren Schätzen vor ihm erwähnt wurde, sah man den alten Mann zusammenschrecken und schaudern, und hörte ihn für die Seele beten, welche jetzt vor dem furchtbaren Richterstuhle stehe, über eine vergebliche Wiedergabe und eine zu spät gemachte Entdeckung Murmeln, über die um ihn immer dichter werdenden Schrecken, über vergeblich erweckte Hoffnungen und entsetzlichere Verluste, als je ein menschliches Wesen erlitten, stöhnen, flehen, daß das Kind, das legte, was ihm noch von Allem geblieben sei, verschont werden möge, und noch viele andere Worte, die sich auf ähnliche Gegenstände bezogen, und die von Allen, welche sie anhörten, nur für die Phantasien eines Geistes angesehen wurden, dessen höhere Fähigkeiten durch Schwäche und Kummer zu Boden gedrückt waren.

Bereits war eine lange Stunde der Nacht vergangen, seit man Vater und Kind beisammen gelassen hatte, und in dem trüben Zimmer war kein Wort, keine Bewegung bemerklich geworden, als aber die zweite Stunde begann, öffneten sich wieder die Augen des Mädchens und sie bewegte sich peinlich auf ihrem Lager.

Gewohnt, die Bedeutung ihrer leisesten Gebärden auszulegen, stand Numerian auf und brachte ihr einen von den stärkenden Tränken, die für sie bereit gestellt worden waren. Nachdem sie getrunken hatte, und ihre Augen den in stummer, wehmüthiger Frage auf sie gehefteten Blicken ihres Vaters begegnet waren, schlossen sich ihre Lippen und nahmen einen Ausdruck an, wie denjenigen, welchen sie stets getragen hatte, wenn sie als Kind ihr Gesicht zu ihm hinauf hielt, um einen Kuß zu verlangen. Der traurige Kontrast zwischen dem, was sie jetzt war, und dem, was sie früher gewesen, ging über die passive Standhaftigkeit, die geduldige Resignation des gebrochenen alten Mannes —— der leere Becher sank aus seinen Händen, er kniete neben dem Lager nieder und stöhnte laut.«

»O Vater, Vater!« lispelte die schwache, klagende Stimme über ihm, »ich sterbe! Wir wollen bedenken, daß unsere Zeit des Beisammenseins kürzer und kürzer wird, und sie so glücklich verleben, wie wir können!«

Er erhob sein Haupt und blickte, wie, als ob das letzte Scheiden schon vorüber wäre, zu ihr auf.

»Ich habe versucht, bescheiden und dankbar zu leben,« seufzte sie schwach, »ich habe mich gesehnt, auf Erden mehr Gutes zu thun, als ich verrichtet habe! Du wirst mir aber jetzt verzeihen, Vater, wie Du mir stets verziehen hast! Du bist mein ganzes Leben lang geduldig mit mir gewesen, geduldiger, als ich es je verdient habe. Aber ich besaß keine Mutter, die mir lehrte, Dich zu lieben, wie ich sollte, die mir lehrte, was ich jetzt weiß, wo mein Tod nahe ist, mir Zeit und Gelegenheit verschwunden sind.«

»Still! still!« flüsterte der Greis erschrocken, »Du wirst leben! Gott ist gut und weiß, daß wir genug gelitten haben. Gegen uns ist der Fluch der letzten Trennung nicht gesprochen! Lebe! lebe!«

»Vater!« sagte das Mädchen zärtlich, »wir haben ein Etwas in uns, welches selbst der Tod nicht trennen kann. In jener Welt werde ich immer noch an Dich denken, wenn Du an mich denkst! Ich werde Dich sogar sehen, wenn ich nicht mehr hier bin, wenn Du Dich sehnst, mich zu sehen! Wenn Du allein ausgehst und unter den Bäumen auf der Gartenbank sitzest, wo ich zu sitzen pflegte, —— wenn Du auf die fernen Ebenen und Berge hinausschaust, auf die ich zu blicken pflegte, —— wenn Du bei Nacht in der Bibel liesest, in der wir zusammen gelesen haben, und an Antoninen denkst, —— wenn Du bekümmert zur Ruhe gehst, dann werde ich Dich sehen, Dann wirst Du fühlen, daß ich auf Dich niederschaue, Du wirst ruhig und getröstet sein selbst neben meinem Grabe, denn Du wirst nicht an den Körper denken, welcher darin ist, sondern an den Geist, der Dich erwartet, wie ich oft hier aus Dich gewartet habe, wenn Du fort warst und ich wußte, daß der Abend Dich wieder heim bringen würde.«

»Still! Du wirst leben! Du wirst leben!« wiederholte Numerian mit denselben leisen, wirren Tönen. In diesen wenigen einfachen Worten lag die Kraft, welche ihn noch aufrecht erhielt, sie waren die Nahrung einer Hoffnung, die in Pein geboren und in Verzweiflung gepflegt worden waren.

»O wenn ich leben könnte! für wie-viel habe ich noch zu leben, wenn ich nur noch wenige Tage leben könnte!« sie bemühte sich, ihren Kopf zu ihrem Vater hinzuneigen, denn die Worte begannen schwach und immer schwächer von ihren Lippen zu fallen —— die Erschöpfung überwältigte sie von Neuem. Sie verweilte jetzt auf einen Augenblick bei dem Namen Hermanrich’s, bei dem Grabe im Garten der Vorstadt und kehrte dann wieder zu dem Gedanken an ihren Vater zurück. Die letzten schwachen Töne, welche sie aussprach, waren an ihn gerichtet, und ihr Inhalt athmete immer nach Trost und Hoffnung.

Der Greis beugte sich über sie und sah bald, wie sich ihre Augen wieder schlossen —— die unschuldigen, milden Augen, welche selbst jetzt noch ihren alten Ausdruck bewahrten, während das Gesicht blaß und hager wurde —— und Dunkelheit und Nacht sanken nochmals auf seine Seele.

»Sie schläft,« murmelte er, als er seine wachende Haltung neben ihrem Bett wieder annahm; »man nennt den Tod einen Schlaf, aber auf ihrem Gesicht ist kein Tod!«

Die Nacht rückte vor. Gegen Mitternacht traten die Wärterinnen wieder in das Zimmer, verwundert, daß ihre Gegenwart noch nicht verlangt worden sei. Sie erblickten die feierliche, ungestörte Ruhe auf dem abgezehrten Gesicht des Mädchens, die unermüdliche Aufmerksamkeit Numerian’s der noch in derselben Stellung neben ihr saß, —— und gingen wieder leise hinaus, ohne auch nur flüsternd ein Wort zu sprechen. Schon in dem Aussehen des Zimmers, wo der vernichtende Tod mit der zierenden Jugend und Schönheit im furchtbaren Kampfe lag, während die Augen eines einzigen alten Mannes, einsam den Fortschritt des Kampfes beobachteten, lag etwas Ernstes und Tiefeindringliches.

Der Morgen kam. Mit ihm aber noch keine Veränderung. Einmal, als die das Zimmer erhellende Lampe beim Herannahen der Dämmerung auslöschte, war Numerian aufgestanden und hatte aufmerksam das Gesicht seiner Tochter betrachtet —— er glaubte in diesem Augenblicke, daß sich ihre Züge bewegt hätten, aber er sah, daß ihn das Flackern des verlöschenden Lichts auf ihnen getäuscht hatte; noch war keine Veränderung eingetreten. Er hielt sein Ohr auf einen Augenblick dicht an ihre Lippen und nahm dann wieder seinen früheren Ort ein, von welchem er sich nicht mehr bewegte. Der langsame Strom seines Blutes schien stehen geblieben zu sein, er wartete wie ein Mensch mit seinem Kopfe auf dem Block wartet, ehe das Beil niederfällt, wie eine Mutter wartet, um zu hören, daß der Athem des Lebens ihr neugeborenes Kind durchdrungen hat.

Die Sonne erhob sich strahlend am unbewölkten Himmel. Als die frische, scharfe Luft des Morgens in ihrem stärkeren Scheine wärmet wurde, traten die Frauen wieder in das Zimmer und zogen den Vorhang und den Laden theilweise vom Fenster zurück. Die Strahlen des neuen Lichtes fielen hell und herrlich auf das Gesicht des Mädchens, der leise Wind bewegte die leichteren Locken ihres Haares. Einst würde sie dies erweckt haben, jetzt aber wurde sie davon nicht gestört.

Bald darauf hörte man unten in der Halle durch die halb offene Thür des Zimmers die Stimme des Kindes, welches mit den Frauen in das Haus gekommen war. Das kleine Geschöpf stieg langsam die Treppe hinauf und sang sein stammelndes Morgenlied vor sich hin. Vor ihm her kam eine zahme Taube, die auf dem Lebensmittelmarkte vor den Mauern, gekauft, aber als Spielzeug und Liebling des Kindes von seiner Mutter verspart worden, war. Der Vogel flatterte girrend in das Zimmer, ließ sich am Kopfende des Lagers nieder und begann dort seine Federn zu putzen. Die Frauen waren von der Erstarrung des alten Mannes angesteckt worden und machten keine Bewegung, um dem Kinde zu gebieten, sich zu entfernen oder die Taube von ihrem Orte zunehmen —— sie wachten gleich ihm. Aber die sanften, lockenden Töne des Vogels waren eben so machtlos für das Ohr des Mädchens, wie der Sonnenstrahl für ihr Gesicht,— — noch immer wachte sie nicht auf.

Das Kind trat ein, hielt in seinem Liede inne und kletterte an dem Bette hinauf. Es hielt der Taube eine von seinen kleinen Händen hin, damit diese sich darauf niederlassen möge, legte die andere leicht auf Antoninens Schulter und drückte seine frischen, rosigen Lippen auf die verblichene Wange des Mädchens.

»Ich und mein Vogel sind gekommen, um heute Antoninen gesund zu machen,« sagte es ernsthaft.

Die stillen, schwergeschlossenen Augenlider bewegten sich; sie zitterten, gingen auf, schlossen sich und gingen dann wieder auf. Die Augen besaßen einen schwachen, träumerischen, bewußtlosen Blick. Aber Antonina lebte —— Antonina war endlich zu einem Tage auf Erden erwacht! Der starre Blick ihres Vaters blieb immer noch auf sie geheftet wie Anfangs, auf seinem Gesicht herrschte aber Oede, war jeder Schein der Empfindung und des Lebens verschwunden. Als die Frauen auf Antoninen und dann wieder auf ihn blickten, begannen sie zu weinen. Das Kind setzte leise sein Morgenlied fort, und richtete es bald an das verwundete Mädchen, bald an die Taube.

In diesem Augenblicke traten Vetranio und der Arzt ein. Der Letztere ging auf das Bett zu, nahm das Kind von demselben herab und betrachtete Antoninen aufmerksam. Endlich sagte er halb zu Numerian gewendet, halb zu sich sprechend:

»Sie hat lange, tief bewegungslos, fast ohne zu athmen geschlafen —— einen Schlaf, der Allen, die ihn sahen, wie der Tod vorkam!«

Der Greis antwortete nicht; aber die Frauen bestätigten es eifrig.

»Sie ist gerettet!« fuhr der Arzt fort, indem er das Bett gemächlich verließ und Vetranio anlächelte, »Ihr müßt sie aber noch viele Tage lang gut in Acht nehmen.«

»Gerettet! gerettet»wiederholte das Kind freudig, indem es die Taube im Zimmer frei ließ und zu Numerian lief, um auf seine Kniee zu klettern. Der Vater blickte nieder, als die klare, junge Stimme in seinem Ohr erschallte, die in seinem Herzen so lange vertrockneten Freudenquellen wallten wieder auf, als er die kleinen Hände bittend zu sich erheben sah, sein graues Haupt senkte sich, —— er weinte.

Auf ein Zeichen des Arztes wurde das Kind aus dem Zimmer geführt. Alle darin Zurückgebliebenen bewahrten eine Stille tiefer, feierlicher Bewegung. Man vernahm nichts, als das unterdrückte Schluchzen des alten Mannes und die schwachem sich entfernenden Töne der Kinderstimme, das noch sein Morgenlied sang, und jetzt bildete ein freudig fortwährend wiederholtes Wort den ganzen Text der Musik. Es hieß:

»Gerettet! gerettet!«


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