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Die Blinde



Neuntes Kapitel - Das Ende

Eine kleine Zeit war verflossen.

Ihr erstes Entzücken über das Wiedererkennen durch den Tastsinn hatte sich gelegt. Sie hatte sich wieder beruhigt. Sie ließ Oscar los und wandte sich zu mir mit der Frage, die, wie ich vorausgesehen hatte, der Vereinigung ihrer Hände folgen mußte:

»Was hat das zu bedeuten?«

Die Antwort auf diese Frage mußte die Bloßstellung Nugent’s, die Enthüllung des verhängnißvollen Geheimnisses von Oscar’s Gesicht und endlich, nicht zum wenigsten, die Vertheidigung meines Benehmens gegen sie umfassen. So vorsichtig, so delikat und so rücksichtsvoll wie ich konnte, enthüllte ich ihr die ganze Wahrheit. Wie die Erschütterung auf sie wirkte, hat sie mir weder damals noch später gesagt. Ihre Hand in Oscar’s Hand gelegt, ihren Kopf an Oscar’s Brust gelehnt, hörte sie mir zu, ohne mich durch ein einziges Wort zu unterbrechen. Dann und wann sah ich sie zittern, hörte ich sie tief seufzen. Das war Alles. Erst als ich mit meiner Antwort zu Ende war — erst nach einer langen Pause, während deren Oscar und ich sie in sprachloser Angst beobachteten, richtete sie sich langsam auf und brach ihr Schweigen.

»Gott sei Dank!« hörten wir sie im inbrünstigen Tone sagen, »Gott sei Dank, daß ich blind bin!«

Das waren ihre ersten Worte. Sie erfüllten mich mit Entsetzen und ich flehte sie an, sie zurückzunehmen.

Ruhig lehnte sie ihren Kopf wieder an Oscar’s Brust und sagte:

»Warum sollte ich die Worte zurücknehmen? Denken Sie, ich möchte ihn entstellt, wie er jetzt ist, sehen? Nein! Ich möchte ihn sehen, und ich sehe ihn, so wie meine Einbildungskraft mir sein Gesicht in den ersten Tagen seiner Liebe vormalte. Meine Blindheit ist ein Segen für mich; sie hat mir das alte Gefühl des Entzückens bei seiner Berührung wiedergegeben, sie erhält mir mein geliebtes Bild von ihm, das einzige Bild an dem mir etwas gelegen ist, unverändert und unwandelbar. Sie beharren dabei, zu glauben, daß mein Glück von dem Besitz meiner Sehkraft abhängt; ich aber denke mit Schrecken an das, was ich während der kurzen Zeit, wo ich sehen konnte, gelitten habe, ich, biete Alles auf, um diese Zeit zu vergessen. O, wie wenig kennen Sie mich doch! Welcher Verlust würde es für mich sein, wenn ich ihn sehen müßte, wie Sie ihn sehen! Versuchen Sie es, mich zu verstehen, und Sie werden nicht mehr von meinem Verlust, Sie werden nur noch von meinem Gewinn reden.«

»Ihr Gewinn?« wiederholte ich. »Was haben Sie denn gewonnen?«

»Glück«, antwortete sie. »Ich lebe nur wahrhaft in meiner Liebe und die Lebenslust meiner Liebe ist meine Blindheit.«

Das war in wenigen Worten eine ganze Lebensgeschichte!

Wer, wie ich, gesehen hätte, wie sie in der Aufregung des Redens ihr strahlendes Gesicht wieder aufrichtete; wer sich, wie ich, dabei dessen erinnert hätte, was der Augenarzt in Betreff des Preises erklärt hatte, mit welchem sie unbedingt die Wiedererlangung ihrer Sehkraft erkaufen müsse, der würde wohl auch, wie ich, bescheidentlich zugegeben haben, daß sie besser die Bedingungen ihres Glückes kennen müsse, und würde ihr nicht widersprochen haben!

Ich überließ Lucilla und Oscar ihrer Unterhaltung und ging im Zimmer auf und ab, um mir zu überlegen was wir zunächst zu thun haben würden.

Das war nicht leicht zu sagen. Wußte ich doch über die in Betracht kommenden Verhältnisse nichts als das Wenige, was mir das theure Kind darüber mitgethetlt hatte. Nugent hatte nicht davor zurückgeschreckt, seinen grausamen Betrug bis an’s Ende fortzuspielen. Er hatte im Namen seines Bruders seine Heirath fälschlich bei der Kirche angemeldet. Und er war jetzt in London, um sich wieder fälschlich im Namen seines Bruders den Heirathserlaubnißschein aushändigen zu lassen. Das war Alles, was ich von seinem Vorgehen wußte.

Während ich noch mit mir zu Rathe ging, zerschnitt Lucilla den gordischen Knoten.

»Warum halten wir uns hier auf?« fragte sie. »Laßt uns fortgehen und nie wieder an diesen verhaßten Ort zurückkehren.«

In dem Augenblicks wo sie aufstand, ließ sich ein leises Klopfen an der Thür vernehmen.

Ich rief herein; das Mädchen welches Lucilla nach dem Hotel gebracht hatte, trat wieder ein. Sie schien sich zu scheuen sich weit von der Thür zu entfernen. Sie blieb dicht vor derselben stehen, sah ängstlich nach Lucilla hin und sagte:

»Kann ich Sie sprechen, Fräulein?«

»Sie können vor dieser Dame und diesem Herrn Alles sagen«, antwortete Lucilla. »Was giebt’s?«

»Ich fürchte, man ist uns nachgegangen, Fräulein!«

»Nachgegangen? Wer?«

»Die Kammerjungfer. Ich sah sie vor einer kleinen Weile, wies sie nach dem Hotel hinaufblickte und dann rasch wieder umkehrte, und das ist noch nicht das Schlimmste, Fräulein!«

»Was ist denn sonst noch geschehen?«

»Wir haben uns mit der Eisenbahn geirrt«, antwortete das Mädchen. »Es giebt einen Zug von London, den wir im Fahrplan übersehen haben und dieser Zug ist, wie ich eben unten im Hotel höre, schon vor länger als einer Viertelstunde angekommen. Bitte, lassen Sie uns wieder nach Hause gehen, sonst fürchte ich, finden sie uns nicht zu Hause.«

»Gehen Sie nur allein nach Hause, Jane«, sagte Lucilla.

»Allein?«

»Ja, ich danke Ihnen, daß Sie mich hergebracht haben; ich bleibe hier.«

Kaum hatte sie sich wieder zwischen mich und Oscar hingesetzt, als die Thür leise von außen geöffnet wurde.

Eine lange, dünne, nervöse Hand langte durch die Oeffnung hinein; ergriff das Mädchen am Arm und zog sie den Vorplatz hinaus. Statt ihrer trat ein Mann mit dem Hut auf dem Kopfe in’s Zimmer. Es war Nugent Dubourg.

Er blieb an derselben Stelle, wo das Mädchen gestanden hatte, stehen. Er sah nach der Reihe Lucilla, seinen Bruder und mich an.

Stumm stand er da, der Freundin, die er verleumdet, und dem Bruder, den er verrathen hatte, gegenüber. Da stand er — die Augen fest auf die zwischen uns sitzende Lucilla geheftet — mit dem Bewußtsein, daß Alles vorbei sei, daß das Weib, um dessentwillen er sich entwürdigt hatte, für immer für ihn verloren sei. Da stand er, von seinen selbstbereiteten Qualen verzehrt.

Bei dem Erscheinen seines Bruders war Oscar aufgestanden und hatte seinen Arm um Lucilla geschlungen. Jetzt trat er mit Lucilla Nugent einen Schritt entgegen. Ich folgte ihm, indem ich sein Gesicht mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Ich fürchtete mich jetzt nicht mehr vor dem was er thun möchte. Lucilla’s segensreicher Einfluß hatte den bösen Dämon, der versteckt in ihm gelauert hatte, ausgetrieben. Ich erwartete also mit Spannung, aber ohne Besorgniß, wie er sich jetzt benehmen würde.

»Nugent«, sagte er sehr ruhig.

Nugent ließ den Kopf schweigend auf die Brust sinken.

Sobald Lucilla Oscar den Namen aussprechen hörte, wußte sie sofort, was geschehen war. Sie schauerte entsetzt zusammen. Oscar legte sie sanft in meine Arme und trat nun allein noch näher auf seinen Bruder zu. Auf seinem Gesichte malte sich ein innerer Kampf verschiedenartiger Gefühle von Liebe und Angst, von Kummer und Scham. Er erinnerte mich auf die sonderbarste Weise an den Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, als er mir zuerst die Geschichte seines Prozesses anvertraute und mir sagte, daß Nugent sein guter Engel sei.

Jetzt trat er dicht an seinen Bruder heran und legte in der einfachen, kindlichen Weise, die mir von früher her so wohlbekannt an ihm war, seine Hand auf Nugent’s Arm.

»Nugent!« sagte er. »Bist Du derselbe liebe gute Bruder, der mich vom Tode auf dem Schaffot rettete und der mir mein schweres Leben nachher erträglich machte? Bist Du derselbe gescheidte und noble Mensch, den ich immer so sehr liebte und auf den ich immer so stolz war?«

Er hielt inne, nahm seinem Bruder den Hut ab und strich ihm zärtlich das herabhängende Haar aus der Stirn. Nugent tieß den Kopf noch tiefer herabsinken. Unter der Last der furchtbar schmerzlichen Erinnerungen, welche Oscar’s zärtliche Stimme und die Berührung seiner sanften Hand in ihm wachriefen, verzerrte sich sein Gesicht und ballten sich seine Hände krampfhaft zusammen. Oscar ließ ihm Zeit; sich wieder zu fassen und wandte sich zunächst an mich.

»Sie kennen Nugent«, sagte er. »Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Nugent sei ein Engel? Und als er dann nach Dimchurch kam, sahen Sie da nicht selbst, wie gütig er mir zur Seite stand, wie streng er mein Geheimniß bewahrte? Ein wie treuer Freund er mir war? Sehen Sie ihn an und Sie werden überzeugt sein, wie ich es bin, daß wir auf eine wahrhaft ungeheuerliche Weise ihn mißverstanden, seine Absichten mißdeutet haben müssen.« Dann wandte er sich wieder an Nugent. »Ich wage Dir nicht zu sagen«, fuhr er fort, »was ich von Dir gehört, was ich von Dir geglaubt und mit welchen niedrigen unbrüderlichen Rachegedanken ich mich getragen habe. Jetzt weiß ich, Gott sei Dank! nichts mehr von dem Allen. Jetzt, wo ich Dich wiedersehe, mein alter Junge, erscheinen sie mir nur noch wie ein böser Traum.

Wie könnte ich Dich sehen, Nugent, und glauben, daß Du falsch gegen mich gewesen seiest? Du solltest ein Schurke gewesen sein und es versucht haben, mir Armen das einzige Weib in der Welt zu rauben, das sich etwas aus mir macht? Du, der Du so schön und so beliebt bist und jedes Mädchen, das Du haben willst, heirathen kannst! Das kann nicht sein. Du bist unschuldigerweise und ohne es zu wissen in eine falsche Stellung hineingerathen. Vertheidige Dich! Nein, laß mich Dich vertheidigen, Du sollst Dich vor Niemand demüthigen. Sage mir, wie Du in Wahrheit gegen mich und Lucilla gehandelt hast und überlasse Deinem Bruder Deine Rechtfertigung bei Jedermann. Komm, Nugent, richte Dich auf und sage mir, was ich den Leuten sagen soll?«

Nugent richtete sich auf und sah Oscar an.

Trotz des unheimlichen Ausdrucks seines Gesichts beobachtete ich in seinen Augen, als er sie zuerst auf seinen Bruder heftete, etwas, was mich wieder an vergangene Zeiten, an die Tage erinnerte, wo er zuerst nach Dimchurch kam und in jener zärtlichen, leichten Weise, die mich anfänglich so sehr für ihn eingenommen hatte, von dem »armen Oscar« sprach. Ich mußte wieder an jene denkwürdige Zusammenkunft mit ihm in Browndown, an dem Abend des Tages, wo Oscar England verlassen hatte, denken. Wieder erinnerte ich mich der Anzeichen, welche für seine edlere Natur gesprochen hatten. Und wieder dachte ich der Gewissensbisse, die ihm Thränen entlockt hatten — der Anstrengungen, die er in meiner Gegenwart gemacht hatte, frühere Vergehen wieder gut zu machen und den letzten Kampf gegen die schuldvolle Leidenschaft, die ihn beherrschte, zu kämpfen. Konnte die Natur eines Menschen, in welchem sich das Gewissen so geregt hatte, ganz verderbt sein? Konnte der Mann, der sich nach vielen vorangegangenen noch zu einer solchen letzten Anstrengung aufgerafft hatte, grundschlecht sein?

»Warten Sie«, flüsterte ich Lucilla zu, die in meinen Armen zitterte und weinte. »Er wird sich noch unserer Theilnahme würdig zeigen; er wird noch unsere Verzeihung und unser Mitleid gewinnen!«

»Komm!« wiederholte Oscar, »sage mir, was ich sagen soll.«

Nugent zog ein beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche.

»Sage«, antwortete er, »daß ich Deine Heirath bei der Kirche hier angemeldet habe und daß ich nach London gegangen bin, um Dir diesen Schein zu verschaffen.«

Mit diesen Worten reichte er seinem Bruder das beschriebene Blatt Papier. Es war die auf den Namen seines Bruders lautende Heirathserlaubniß.

»Sei glücklich, Oscar«, fügte er hinzu, »Du verdienst es.«

Mit diesen Worten schlang er den Arm in seiner alten protegirenden Weise um Oscar. Dabei berührte seine Hand Oscar’s Brusttasche. Noch ehe es möglich war, ihm Einhalt zu thun, hatten seine geschickten Finger die Tasche geöffnet und aus derselben eine kleine Pistole mit einem von Oscar selbst verfertigtem Griff von getriebener Arbeit gezogen.

»War: das für mich bestimmt?« fragte er mit einem matten Lächeln. »Mein armer Junge, das hättest Du doch nie gethan, nicht wahr?«

Er küßte Oscar’s dunkle Wange und steckte die Pistole in seine eigene Tasche. »Der Griff ist Deine Arbeit«, sagte er, »ich will sie als Geschenk von Dir behalten. Kehre nach Browndown zurück, wenn Du verheirathet bist. Ich werde wieder reisen. Du sollst von mir hören, bevor ich England verlasse.«

Mit fester und sanfter Hand schob er seinen Bruder von sich. Ich versuchte es mit Lucilla, auf ihn zuzugehen und mit ihm zu reden. Aber ein Ausdruck übermenschlicher, in sein Schicksal ergebener finsterer Ruhe die mir aus seinen Augen entgegenblickte, hielt mich von ihm zurück und erfüllte mich mit der Ahnung, daß ich ihn nie wiedersehen werde. Er ging nach der Thür und öffnete sie, wandte sich dann wieder um, und grüßte uns, indem er Lucilla einen langen Abschiedsblick zuwarf, schweigend mit einer Neigung des Kopfes. Sanft schloß sich die Thür hinter ihm. Nur wenige Minuten, nachdem er das Zimmer betreten, hatte er uns für immer verlassen. Wir sahen einander an, wir vermochten nicht zu reden. Er hatte eine traurige und schreckliche Leere zurückgelassen. Ich war die Erste, die sich wieder rührte. Schweigend führte ich Lucilla an ihren Platz auf dem Sopha zurück und winkte Oscar, an meiner Stelle zu ihr zu treten. Dann verließ ich sie und ging fort, um Lucilla’s Vater bei seiner Rückkehr aus dem Hotel entgegenzugehen. Ich wünschte ihn zu verhindern, sie zu stören. Nach dem Vorgefallenen schien es mir, gut, sie eine Weile allein zu lassen.


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