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Zwei Schicksalswege

Sechzehntes Kapitel

Das Tagebuch meiner Mutter

In meiner Hochlands-Heimat folgten sich die Tage trübe und einförmig, denn wir lebten in tiefster Zurückgezogenheit und noch heute, nach Verlauf von Jahren, denke ich ungern daran zurück, die Erinnerung an Zeiten voller Tätigkeit, so gering diese auch sein mochte, ist, da sie mich mit meinen Mitmenschen zusammenführte und mich in Beziehung zu der lebhaften Strömung des Welttreibens brachte, mir dagegen immer lieb gewesen. Das kleinliche Zerlegen der eigenen Gefühle woran viele Menschen im Unglück ein selbstgefälliges Vergnügen zu finden scheinen, ist mir von jeher unbegreiflich gewesen. Darum will ich die Schilderung unseres einförmigen Lebens in Pertshire, so weit es mich betrifft, lieber in den Worten meiner Mutter folgen lassen. Einige Zeilen aus dem Tagebuche, das sie zu führen gewohnt war, werden alles nötige mitteilen, bis diese Erzählung einen vorgerückteren Zeitpunkt und neuere Ereignisse erreicht hat.

Den 20. August. - Trotzdem wir seit zwei Monaten in Schottland sind, finde ich George durchaus nicht vorteilhaft verändert. Er hat sich mit der Trennung von dieser unglücklichen Frau noch keineswegs ausgesöhnt, obgleich er mir das nie zugestehen will. Er erklärt, dass das Stilleben hier mit mir ganz seinen Wünschen entspricht. Ich weiß es aber besser, denn ich war in der vergangenen Nacht in seinem Schlafzimmer und hörte ihn im Schlaf von ihr sprechen und sah die Tränen an seinen Augenlidern! Der arme Junge! Wie viel tausende reizender Frauen würden sich glücklich schätzen sein Weib zu werden, und die Einzige, die ihm nie gehören kann, ist grade die Einzige, die er liebt!

Den 25. - Ich hatte eine lange Unterredung mit Mr. Mac Glue über Georges Zustand. Seit er meinen Sohn ermutigte jener Aufforderung nach St. Antonios Brunnen zu folgen, habe ich diesen schottischen Arzt nicht mehr leiden mögen, aber immerhin scheint er ein tüchtiger Mann in seinem Beruf zu sein und, wie ich glaube, meint er es in seiner Weise gut mit George. Er erteilte seinen Rat in derselben rauhen und entschiedenen Weise wie immer.

»Ihrem Sohn, Madame, wird nichts von seiner verliebten Leidenschaft für die halbertrunkene Dame seines Herzens heilen, als Abwechselung und - eine andre Herzensdame. Lassen Sie ihn dieses Mal allein reisen, damit er sich bewusst wird, wie schmerzlich er die Nähe eines mitfühlenden Wesens vermisst und wenn er ein solches gefunden hat, es gibt deren so viele, wie Fische in der See, dann beunruhigen sie sich nicht, wenn sie auch nicht ganz ohne Fehler ist. Ich besitze eine gesprungene Teetasse und benutze sie seit zwanzig Jahren. Verheiraten Sie ihn der Neuen, Madame, so schleunig und ohne Überlegung, wie das Gesetz es irgend gestattet.« Mir ist Mr. Mac Glues rohe, hartherzige Ansicht verhasst, aber leider fürchte ich, dass ich mich für eine kurze Zeit von meinem Sohne, um seiner selbst willen trennen muss.

Den 26. - Wohin soll ich George schicken? Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht und kann nicht zum Entschluss kommen. Es wird mir gar so schwer ihn fortzulassen.

Den 29. - Ich habe immer an besondere Fügungen geglaubt und bin nun in meinem Glauben noch befestigt. Der heutige Morgen brachte uns einen Brief von unserem guten Freunde und Nachbar Belhelyin. Sir James gehört zu der Kommission für die Leuchttürme des Nordens und bereist in einem Regierungsschiffe den Norden von Schottland, die Orkney- und die Shetlandsinseln, um dort die Leuchttürme zu besichtigen. Da es ihm aufgefallen ist, wie bleich und elend mein armer Sohn aussieht, ladet er George ein auf dieser Reise sein Gast zu sein. Ihre Abwesenheit wird nur zwei Monate dauern. Sir James erinnert mich daran, welche Wunder die Seeluft an Georges Gesundheit bewirkt hat, als er von Indien zurückkehrte. Um zu sehen, was Luftwechsel und veränderte Umgebung wirken können, konnte ich mir keine bessere Gelegenheit wünschen. So schwer mir die Trennung auch wird, will ich doch ein heiteres Gesicht dazu machen und George dringend zureden, die Einladung anzunehmen.

Den 30. - Ich habe alles Mögliche getan und gesagt, aber er besteht darauf mich nicht zu verlassen und ich erbärmliche selbstsüchtige Person war so erfreut, als er Nein sagte.

Den 31. - Wieder eine durchwachte Nacht. Heute muss George entschieden Sir James Vorschlag beantworten. Ich bin entschlossen meine Pflicht gegen meinen Sohn zu tun. Er sieht heute so entsetzlich elend und krank aus und wer steht mir dafür, dass er nicht wieder zu Frau van Brandt zurückkehrt, wenn nicht etwas für seine Zerstreuung geschieht?

Ich sehe ein, dass ich tausend Gründe habe in ihn zu dringen, dass er die Einladung von Sir James annimmt. Wenn ich fest bleibe, wird es mir auch gelingen, der arme Bursche hat mir ja immer gehorcht - warum sollte er es in diesem Falle nicht tun.

Den 2. September. - Er ist abgereist! Und zwar nur mir zuliebe, ganz gegen seinen Willen. Wie traurig, dass solch ein guter Sohn nicht auch eine gute Frau finden kann, er würde ja jede Frau glücklich machen. Habe ich wohl recht getan ihn fortzuschicken? Der Wind heult in dem Fichtenwäldchen hinter dem Hause so stark! Ob es auf der See auch stürmen mag? Ich vergaß Sir James zu fragen, wie groß das Schiff ist. Der Führer durch Schottland schildert die Küste als unsicher und die See zwischen der Nordküste und den Orkneyinseln als wild. Fast bereue ich schon, dass ich so sehr auf die Reise drang - wie töricht bin ich doch! Wir sind ja Alle in Gottes Hand, möge er meinen guten Sohn segnen und behüten!

Den 10. - Ich bin sehr unruhig, da ich noch keinen Brief von George habe. Ach, wie sorgenvoll ist doch das Leben und doch hängen wir so fest daran!

Den 15. - Ein Brief von George! Die Nordküste liegt bereits hinter ihnen, sie haben glücklich die wilde See durchkreuzt und sind bereits auf den Orkneyinseln angelangt. Das schönste Wetter hat sie begünstigt und George fühlt sich kräftiger und besser an Leib und Seele! Ja, wenn wir nur geduldig ausharren, bringt dieses Leben doch immer wieder Zeiten voll Glück und Freude.

Den 2. Oktober. - Wieder ein Brief. Sie sind glücklich in dem bedeutendsten Hafen der Shetlandsinseln, in Lerwick angekommen, obgleich das Wetter in der letzten Zeit nicht günstig war. Die Besserung in Georges Zustand dauert glücklicherweise fort und er schreibt sehr dankerfüllt über die unablässige Güte von Sir James gegen ihn. Ich bin so glücklich, dass ich Sir James küssen möchte, wenn er auch hundert Mal ein berühmter Mann und ein Mitglied der Kommission für die Leuchttürme des Nordens ist! Wenn Wind und Wetter günstig sind, hoffen sie in drei Wochen zurück zu sein, dann will ich keinen Augenblick über das einsame Leben klagen, das ich jetzt führe, wenn ich nur George gesund und glücklich wiedersehe. Er schreibt mir, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit auf dem Lande zugebracht haben, erwähnt aber kein Wort von Damenbekanntschaften; vielleicht gibt es dort kaum welche in diesen Wildnissen. Von Shetlands Wäldern und von shetländischen Ponys hörte ich oft sprechen, ob es wirklich auch shetländische Damen geben mag?


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