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Herr Lismore und die Witwe



I.

Vor mehreren Jahren wurde im Spätherbste unter der Leitung des Lordmayors im Mansionhouse in London eine öffentliche Versammlung abgehalten.

Die Rednerliste war mit Rücksicht auf zwei Gegenstände ausgewählt worden. Berühmtheiten, welche die allgemeine Begeisterung zu erregen verstanden, wurden durch Redner unterstützt, die mit dem Handel in Verbindung standen und in praktischer Weise nützlich sein konnten, indem sie den Zweck der Berufung dieser Versammlung näher erläuterten. Die geeignete Aufwendung von Geldern für die öffentliche Bekanntmachung der Versammlung hatte den gewohnten Erfolg: jeder Stuhl war besetzt, ehe noch die Verhandlung begann.

Unter den zuletzt Angekommenen, welche nur die Wahl hatten, zu stehen, oder den Saal wieder zu verlassen, befanden sich auch zwei Damen. Eine von ihnen entschied sich sogleich, wieder wegzugehen.

»Ich werde mich zu dem Wagen begeben«, sagte sie, »und an der Tür auf Sie warten.«

»Und ich werde Sie nicht lange warten lassen«, entgegnete ihre Freundin. »Er soll nach der Ankündigung den zweiten Beschluss zur Annahme empfehlen; ich möchte ihn gern sehen, das ist alles!«

Ein ältlicher Herr, der am Ende einer Bank saß, erhob sich und bot seinen Platz der zurückbleibenden Dame an. Sie zögerte, von seiner Güte Gebrauch zu machen, bis er ihr verriet, dass er ihre Unterredung mit ihrer Freundin angehört hätte. Bevor der dritte Punkt der Tagesordnung zur Erörterung gestellt werde, würde sein Sitz wieder zu seiner eigenen Verfügung sein. Sie dankte ihm und nahm ohne weitere Umstände Platz. Er war mit einem Opernglas versehen, welches er ihr wiederholt anbot, wenn berühmte Redner auftraten; sie machte aber keinen Gebrauch davon, bis ein Sprecher, der in der Stadt als Schiffseigner bekannt war, zur Unterstützung des zweiten Punktes sich erhob.

Sein Name war in der öffentlichen Anzeige angekündigt: Ernst Lismore.

In dem Augenblick, in welchem er sich erhob, bat die Dame um das Opernglas. Sie hielt es so lange Zeit und mit einem so augenscheinlichen Interesse für Lismore auf ihn gerichtet, dass die Neugier ihrer Nachbarinnen erregt wurde. Hatte er etwas zu sagen, woran eine Dame (offenbar eine ihm fremde) persönlich interessiert war? In seiner Anrede war nichts, was an die Begeisterung von Frauen appellierte. Er war unzweifelhaft ein schöner Mann, der ganzen Erscheinung nach in der Blüte des Lebens, vielleicht in der Mitte der Dreißig. Aber warum einer Dame es einfiel, das Opernglas während seiner ganzen Rede auf ihn gerichtet zu halten, war eine Frage, die den allgemeinen Scharfsinn in Verlegenheit um eine Antwort fand.

Indem die Dame das Glas mit einer Entschuldigung zurückgab, wandte sie sich mit einer Frage an dessen Eigentümer.

»Machte es Ihnen, mein Herr, den Eindruck, als ob Herr Lismore niedergeschlagen sei?«

»Ich kann dies nicht sagen, gnädige Frau!«

»Vielleicht bemerkten Sie aber, dass er die Rednerbühne sofort nach Beendigung seiner Rede verließ?«

Dass sie so ihr Interesse an dem Redner verriet, entging der Aufmerksamkeit einer Dame nicht, welche vor ihr saß.

Ehe der alte Herr antworten konnte, versetzte sie rasch: »Ich fürchte, Herr Lismore ist durch eine geschäftliche Angelegenheit beunruhigt; mein Mann hörte gestern in der Stadt erzählen, dass er ernstlich in Verlegenheit gesetzt sei durch den Bankrott...«

Ein lauter Ausbruch des Beifalls machte das Ende des Satzes unhörbar. Ein berühmter Parlamentsredner hatte sich erhoben, um den dritten Punkt der Tagesordnung zu besprechen. Der höfliche alte Herr nahm seinen Sitz wieder ein, und die Dame verließ den Saal, um sich zu ihrer Freundin zu gesellen.


»Nun, Frau Callender, hat Herr Lismore Sie in Ihren Erwartungen getäuscht?«

»Weit entfernt! Aber ich habe von einem Gerücht über ihn gehört, das mich beunruhigt: er soll in Geldangelegenheiten ernstlich in Verlegenheit sein. Wie kann ich seine Adresse in der Stadt ausfindig machen?«

Wir können bei dem ersten Buchhänderladen anhalten und im Adressbuche nachsehen lassen. Wollen Sie Herrn Lismore einen Besuch abstatten?«

»Ich will mirs überlegen.«



Kapiteltrenner

II.

Am nächsten Tage trat ein Schreiber in das bei dem Geschäftszimmer befindliche Privatgemach Lismores und überreichte eine Visitenkarte. Frau Callender war zu einem Entschlusse gekommen. Unter ihren Namen hatte sie die erklärenden Worte geschrieben: »In einer wichtigen Angelegenheit.«

»Sieht sie aus, als ob sie Geld nötig hätte?« fragte Lismore.

»O nein! Sie kommt zu Wagen.«

»Ist sie jung oder alt?«

»Alt! Gnädiger Herr.«

Es war dieser Umstand Lismore gegenüber, welcher sich des unheilvollen Einflusses, der bisweilen auf geschäftige Menschen durch Jugend und Schönheit ausgeübt wurde, bewusst war, eine Empfehlung und er sagte: »Führe sie herein!«

Indem er die eintretende Dame mit der Neugier eines Fremden beobachtete, bemerkte er, dass sie noch Spuren von Schönheit bewahrte. Sie war auch dem Missgeschickt entgangen, welches bei Leuten ihres Alters häufig eintritt, dass sie zu wohlbeleibt werden. Sogar in den Augen eines Mannes schien ihre Putzmacherin allen möglichen Vorteil aus jenem günstigen Umstande gezogen zu haben, und hatte die Mängel ihres Äußeren verheimlicht, dagegen die noch verbleibenden Vorzüge ihrer Gestalt hervortreten lassen. Dabei hatte sie die gewöhnlichen Täuschungen verschmäht, durch welche manche Frauen ihr Alter zu verheimlichen suchen. Sie trug ihr eigenes graues Haar und ihre Gesichtsfarbe vertrug die Probe des Tageslichtes.

Als sie in das Zimmer trat, entschuldigte sie sich in einiger Befangenheit. Da dies die Verlegenheit einer Fremden, und nicht einer jugendlichen Fremden war, so verfehlte sie, auf Lismore einen günstigen Eindruck zu machen.

»Ich fürchte, dass ich eine unpassende Zeit für meinen Besuch gewählt habe«, begann sie.

»Ich stehe zu Diensten«, antwortete er ein wenig steif, »besonders wenn Sie so gütig sein wollen, Ihre Angelegenheit in wenigen Worten darzulegen.«

Sie war eine kluge Frau, und diese Antwort musste sie eigentümlich berühren. »Ich will sie in einem Worte erwähnen«, sagte sie mit schärferer Betonung, »mein Geschäft ist – Dankbarkeit.«

Er konnte durchaus nicht verstehen, was sie meinte und gestand dies offen. Anstatt eine Erklärung zu geben, richtete sie die Frage an ihn: »Erinnern Sie sich der Nacht des 11. März vor fünf oder sechs Jahren?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Nein«, sagte er, »ich erinnere mich ihrer nicht. Entschuldigen Sie, Frau Callender, ich habe meine eigenen Angelegenheiten, die mir einige Besorgnis bereiten.«

»Lassen Sie mich Ihr Gedächtnis unterstützen, Herr Lismore, und dann will ich Sie Ihren Geschäften überlassen. An dem erwähnten Tage waren Sie auf dem Wege nach der Eisenbahnstation Bexmore, um den Nachtschnellzug aus dem Norden nach London zu erreichen.«

Als ein Wink, dass seine Zeit wertvoll sei, war der Schiffseigner bisher stehen geblieben. Jetzt nahm er seinen Sitz wieder ein und begann sie mit Interesse anzuhören. Frau Callenders Worte hatten schon ihre Wirkung hervorgebracht.

»Sie mussten durchaus um 9 Uhr des folgenden Morgens«, fuhr sie fort, »an Bord Ihres Schiffes in den Londoner Docks sein. Wenn Sie den Schnellzug versäumt hätten, würde das Schiff ohne Sie abgesegelt sein.«

Der Ausdruck seines Gesichts zeigte offenbare Überraschung. »Von wem wissen Sie das?« fragte er.

»Sie sollen es bald hören. Auf dem Wege in die Stadt wurde Ihr Wagen durch ein Hindernis auf der Landstraße angehalten. Die Leute von Bexmore standen vor einem brennenden Hause.«

Er sprang auf. »Guter Himmel! Sind Sie die Dame?«

Sie erhob ihre Hand, um sich spöttisch hiergegen zu verwahren.

»Sache! Mein Herr! Sie argwöhnten eben, dass ich Ihre kostbare Zeit unnütz in Anspruch nehme. Schließen Sie nicht zu eilig, dass ich die Dame bin, bsi Sie finden, dass ich mit den betreffenden Umständen genau bekannt bin.«

»Gibt es keine Entschuldigung dafür, dass ich nicht imstande war, Sie wiederzuerkennen?« fragte Lismore. »Wir waren auf der dunklen Seite des brennenden Hauses, Sie fielen in Ohnmacht und ich« --

»Und Sie waren, nachdem Sie mich mit Gefahr Ihres eigenen Lebens gerettet hatten, taub gegen die Bitten meines armen Gemahls, der Sie bat, doch zu warten, bsi ich meine Besinnung wieder erlangt hätte.«

»Ihr armer Gemahl? Er erlitt doch wohl durch das Feuer keinen ernstlichen Schaden?«

»Der Feuerwehrmann rettete ihn aus der Gefahr«, entgegnete sie, »aber bei seinem hohen Alter erlag er einem Schlaganfall. Ich habe den liebevollsten, besten Mann verloren. Erinnern Sie sich, wie Sie von ihm weggingen, versengt und geschunden durch meine Rettung? Er redete oft in seiner letzten Krankheit davon. Nennen Sie mir wenigstens, sagte er zu Ihnen, den Namen des Mannes, welcher meine Frau vor einem schrecklichen Tode bewahrt hat. Sie warfen ihm Ihre Karte aus dem Wagenfenster zu und fuhren im Galopp davon, um Ihren Zug zu erreichen. In all den Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich jene Karte aufbewahrt und vergebens nach meinem braven Schiffskapitän geforscht. Gestern sah ich Ihren Namen auf der Rednerliste in Mansionhouse. Brauche ich noch zu sagen, dass ich der Versammlung beiwohnte? Muss ich Ihnen jetzt noch erklären, warum ich hierher komme und Sie in Ihren Geschäftsstunden störe?«

Sie hielt ihm ihre Hand hin. Lismore nahm sie schweigend und drückte sie mit Wärme.

»Sie sind noch nicht mit mir fertig!« fing sie lächelnd wieder an; »erinnern Sie sich, was ich von einem Auftrag sagte, als ich eintrat?«

»Sie sagten, es sei ein Auftrag der Dankbarkeit.«

»Etwas mehr als eine Erkenntlichkeit, die nur sagt: Ich danke Ihnen. Indessen ehe ich mich erkläre, möchte ich wissen, wie es Ihnen nach jener schrecklichen Nacht gegangen ist und wie es kam, dass meine Nachforschungen, Sie aufzufinden, vergeblich waren.«

Die Spur von Niedergeschlagenheit, welche Frau Callender in der Versammlung bemerkt hatte, zeigte sich wieder in Lismores Gesicht. Er seufzte, als er antwortete: »Meine Geschichte hat einen Vorzug, sie ist bald erzählt. Ich kann mich nicht wundern, dass es Ihnen nicht gelang, mich zu entdecken. Zunächst war ich damals nicht Kapitän meines Schiffes, ich war nur Gehilfe. Dann erbte ich einiges Geld und hörte innerhalb Jahresfrist auf, das Leben eines Seemannes zu führen. So konnten Sie mich wohl schwerlich auffinden. - Mit einem kleinen Kapital fing ich erfolgreich ein Geschäft als Schiffseigner an. Damals wünschte ich mir natürlich zu meinem Erfolge Glück. Aber wir wissen wenig, was die Zukunft uns vorbehält.«

Er hielt inne. Seine schönen Gesichtszüge verfinsterten sich, als ob er Schmerz erdulde oder ihn verheimliche. Bevor Frau Callender ein Wort erwidern konnte, pochte es an die Tür.

Noch ein Besucher ohne vorherige Ankündigung! Der Schreiber erschien wieder mit einer Karte und einer Meldung.

»Der Herr bittet, ihn zu empfangen! Er hat Ihnen etwas mitzuteilen, was keinen Aufschub erleidet.«

Frau Callender erhob sich.

»Es ist für heute genug, dass wir einander verstehen«, bemerkte sie. »Haben Sie morgen nach Schluss der Geschäftszeit irgendwelche Verbindlichkeit?«

»Keine.«

Sie zeigte auf ihre Karte, die auf dem Schreibtisch lag.

»Wollen Sie morgen abend unter jener Adresse zu mir kommen? Ich bin wie der Herr, welcher eben vorgesprochen hat. Auch ich habe meine Gründe, Sie zu sprechen.«

Er nahm die Einladung bereitwillig an.

Frau Callender hielt ihn zurück, als er ihr die Tür öffnete.

»Werde ich Sie beleidigen«, sagte sie, »wenn ich eine sonderbare Frage an Sie richte, ehe ich gehe? Es ist ein besserer Beweggrund als bloße Neugier. Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Verzeihen Sie nochmals«, begann sie wieder, »bei meinem Alter können Sie mich unmöglich missverstehen und doch -«

Sie zögerte. Lismore suchte sie zu ermutigen.

»Bitte, halten Sie sich nicht mit Komplimenten auf, Frau Callender. Keiner Ihrer Wünsche bedarf einer vorausgehenden Entschuldigung.«

So ermutigt, wagte sie fortzufahren.

»Sie könnten sich aber zu heiraten verbindlich gemacht haben«, sagte sie leise, »oder in jemand verliebt sein?«

Er konnte unmöglich seine Überraschung verhehlen. Aber er antwortete ohne Zögern. »Ich habe keine so glänzenden Aussichten in meinem Leben«, sagte er, »ich bin nicht einmal verliebt.«

Sie verließ ihn mit einem schwachen Seufzer. Er klang wie ein Seufzer der Erleichterung.

Ernst Lismore war vollständig verwirrt. Was konnte der Zweck der alten Dame sein, zu ermitteln, ob er noch frei von einer Heiratsverpflichtung war? Wenn ihm dieser Gedanke früher gekommen wäre, hätte er auf ihr häusliches Leben anspielen und fragen können, ob sie Kinder habe. Mit ein wenig Takt hätte er noch mehr als dies erfahren können. Ihre Gefühle gegen ihn überschritten nach ihren Bemerkungen die gewöhnlichen Grenzen der Dankbarkeit, und sie war offenbar reich genug, um über den Verdacht einer gewinnsüchtigen Absicht erhaben zu sein. Beabsichtigte sie, jene traurigen Aussichten aufzuhellen, auf welche er angespielt hatte, als er von seinem eigenen Leben sprach? Wenn er sich in ihrem Hause am nächsten Abend einfinde, würde sie ihn einer reizenden Tochter vorstellen? Er lächelte, als ihm der Gedanke einfiel. »Eine passende Zeit, an eine Heirat zu denken«, sagte er zu sich selbst, »im nächsten Monat kann ich ein zu Grunde gerichteter Mann sein.«



Kapiteltrenner

III.

Der Herr, welcher so dringlich um eine Unterredung ersucht hatte, war ein vertrauter Freund, welcher ein Mittel gefunden hatte, um Ernst Lismore aus seiner ernsten Geschäftskrisis zu retten. Es war der Wahrheit gemäß ausgesprengt worden, dass er in Geldverlegenheiten sei, die er dem Bankrott eines Handlungshauses zuzuschreiben hatte, mit welchem er in enger Beziehung gestanden hatte. Unsichere Gerüchte, welche seine eigene Zahlungsfähigkeit anzweifelten, waren dem Bankrott der Firma gefolgt. Er hatte sich schon bemüht, Geldvorschüsse unter den gewöhnlichen Bedingungen zu erlangen und man war ihm mit Ausflüchten begegnet. Sein Freund war nun mit einem Empfehlungsbrief an einen Kapitalisten angekommen, welcher in Handelskreisen wegen seiner kühnen Spekulationen und wegen seines großen Reichtums wohlbekannt war.

Als Lismore auf den Brief blickte, bemerkte er, dass das Kouvert versiegelt war. Trotz dieser bedenklichen Neuerung eines feststehenden Herkommens bei persönlichen Empfehlungen überreichte er doch den Brief. Aber diesmal wurde er nicht mit Entschuldigungen abgewiesen. Der Kapitalist lehnte es rundweg ab, die Wechsel von Herrn Lismore zu diskontieren, wenn sie nicht durch zahlungsfähige Namen gedeckt seien.

Lismore machte eine letzte Anstrengung. Er wandte sich um Hilfe an zwei Geschäftsleute, welchen er in ihren Schwierigkeiten geholfen hatte und deren Namen dem Geldverleiher genügt haben würden. Sie bedauerten aufrichtig – aber auch sie lehnten ab. Die einzige Sicherheit, welche er anbieten konnte, war, das konnte er nicht leugnen, von zweifelhaftem Werte.

Er brauchte 20.000 Pfund und konnte als Bürgschaft ein heimwärts bestimmtes Schiff mit Ladung stellen. Aber das Fahrzeug war nicht versichert, und es war bei der stürmischen Jahreszeit schon mehr als einen Monat fällig. Konnten dankbare Geschäftsfreunde getadelt werden, wenn sie die Pflicht der Erkenntlichkeit vergaßen, als sie einem Kaufmann in dieser Lage eine Geldhilfe gewähren sollten? Lismore kehrte ohne Geld und Kredit auf sein Bureau zurück. Ein vom Untergange bedrohter Mann ist in keinem Gemütszustande, um einer Einladung zum tee bei einer Dame zu folgen. Lismore sandte an Frau Callender eine Entschuldigung, dass er durch äußersten Drang der Geschäfte verhindert sei, der Einladung Folge zu leisten.

»Soll ich auf eine Antwort warten, Herr Lismore?« fragte der Bote.

»Nein, Sie sollen nur den Brief übergeben.«



Kapiteltrenner

IV.

Nach einer Stunde kehrte zur Verwunderung Lismores der Bote mit der Antwort zurück.

»Die Dame war gerade im Begriff auszugehen, Herr Lismore, als ich an der Tür schellte«, berichtete er, »und sie nahm mir selbst den Brief ab. Sie schien Ihre Schrift nicht zu kennen, und fragte mich, von wem ich komme. Als ich Ihren Namen nannte, hieß man mich warten.«

Lismore öffnete den Brief.

»Lieber Herr Lismore!

Eins von uns muss sich aussprechen, und Ihr Entschuldigungsbrief zwingt mich, dieses eine zu sein. Wenn Sie wirklich so stolz und so misstrauisch sind, wie Sie zu sein scheinen, werde ich Sie allerdings beleidigen, wenn nicht, so werde ich mich als Ihre Freundin erweisen.

Ihre Entschuldigung ist 'Drang der Geschäfte'. Die Wahrheit, wie ich mit gutem Grunde annehme, ist 'Geldverlegenheit'. Ich hörte bei jener öffentlichen Versammlung einen Fremden sagen, dass Sie durch irgendeinen Bankrott in der Stadt ernstlich in Verlegenheit gesetzt seien. Lassen Sie mich in zwei Worten Ihnen meine Verhältnisse schildern: Ich bin die kinderlose Witwe eines reichen Mannes -«

Lismore machte eine Pause. Seine allzu rasche Entdeckung von Frau Callenders 'reizender Tochter' war ihm in diesm Augenblick im Gedächtnis. Der kleine Roman muss in die Welt der Träume zurückkehren, dachte er – und fuhr fort zu lesen:

»Nach dem, was ich Ihnen verdanke, sehe ich es nicht als die Abzahlung einer Schuld an, ich betrachte es lediglich als Erfüllung einer Pflicht, wenn ich mich erbiete, Ihnen mit einem Darlehen zu helfen. Warten Sie noch ein wenig, ehe Sie meinen Brief in den Papierkorb werfen. Umstände, die ich Ihnen nur mündlich darlegen kann, stellen es außer meiner Macht, Ihnen zu helfen, wenn ich nicht mit meinem aufrichtigen Anerbieten eine ungewöhnliche und lästige peinliche Bedingung verbinde.

Wenn Sie am Rande des Verderbens stehen, wird Ihr Missgeschick für mich sprechen – und es wird auch Sie entschuldigen, wenn Sie das Darlehen mit meinen Bedingungen annehmen. In jedem Falle vertraue ich auf die Freundlichkeit und die Nachsicht eines Mannes, welchem ich mein Leben schulde.

Ich habe meinen Worten nur noch eins hinzuzufügen. Ich bitte, den Gedanken von sich zu weisen, als ob ich Ihre Entschuldigungen annehme; ich werde Sie morgen abend erwarten, wie wir vereinbart haben. Ich bin eine halsstarrige alte Frau, aber ich bin auch Ihre treue Freundin und Dienerin.

Marie Callender.«

Lismore blickte von dem Briefe auf. »Was kann dies wohl bedeuten?« fragte er sich verwundert. Aber er war ein zu verständiger Mann, als dass er sich mit der Verwunderung begnügt hätte – er entschied sich also, seine Zusage zu halten.



Kapiteltrenner

V.

Was Doktor Johnson »die Unverschämtheit des Reichtums« nennt, erscheint weit häufiger in den Häusern der Reichen als in ihrer Lebensart. Die Ursache liegt auf der Hand. Persönliches Prunken ist genau genommen lächerlich. Aber der Aufwand mit prächtigen Gemälden, kostbarem Porzellan und herrlichen Möbeln kann guten Geschmack erzeugen, um ihn zu leiten, und er kann sich behaupten, ohne einem Wort der Geringschätzung oder einem Blick der Verachtung sich auszusetzen.

Wenn ich eine Million besitze, und wenn ich sie sterbend zeigen will, bitte ich nicht, nach mir selbst zu sehen, ich bitte, nach meinem Hause zu schauen.

Als Lismore seinem Versprechen gegen Frau Callender nachkam, entdeckte er, dass Reichtum in Fülle und doch mit Maß verwendet werden könne. Indem er den Korridor durchschritt und die Treppe hinaufstieg, wurde seine Aufmerksamkeit, wohin er nur blickte, unmerklich gefesselt von Proben eines Geschmackes, der nicht zu kaufen ist, und eines Reichtums, der zwar seine Börse gebraucht, aber niemals sie zeigt.

Von einem Diener in den ersten Stock geleitet, fand er eine Kammerfrau an der Tür des Empfangszimmers, um ihn anzumelden. Frau Callender ging ihrem Gast entgegen, um ihn zu begrüßen; sie war in einfachem Abendanzuge, der ihrem Alter vollständig entsprach. Alles, was am Tage in ihrem feinen Gesicht Spuren von Ermüdung und Blässe erkennen ließ, war jetzt beim gedämpften Licht der Lampen in ein mildes Halbdunkel zurückgetreten. Herrlicher Schmuck, der in mattem Glanze vom einfach gehaltenen Hintergrund sich abhob, umgab sie. Der äußere Glanz ist der stärkste aller Eindrücke von außen, so lange er andauert. Für den Augenblick verfehlte die Szene ihre Wirkung auf Lismore nicht, trotz der schrecklichen Angst, die ihn verzehrte. Frau Callender hatte sich auf seinem Geschäftszimmer als eine Frau gezeigt, die über ihren eigentlichen Wirkungskreis hinausgeschritten war. Frau Callender war in ihrem Hause eine Frau, die ihm nun von einer ganz neuen Seite erschien.

»Ich fürchte, Sie danken mir nicht, dass ich Sie genötigt habe, Ihr Versprechen zu halten«, sagte sie mit freundlicher Stimme und ihrem anziehenden Lächeln.

»Im Gegenteil, ich bin Ihnen verbunden«, erwiderte er; »Ihr schönes Haus und Ihr liebenswürdiger Empfang haben mich vermocht, meinen Kummer zu vergessen – für eine Weile.«

Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. »Dann ist es wahr«, sagte sie ernst. »Nur zu wahr.«

Sie führte ihn zu einem Sitz neben sich und hielt inne, bsi der Tee aufgetragen war.

»Haben Sie meinen Brief in demselben freundschaftlichen Sinne gelesen, in dem ich ihn schrieb?« fragte sie, als sie wieder allein waren.

»Ich danke Ihnen für Ihren Brief, aber -«

»Aber Sie wissen noch nicht, was ich zu sagen habe. Lassen wir uns einander verstehen, bevor wir uns irgendwelche Einwendungen machen. Wollen Sie mir sagen, welches Ihre gegenwärtige Lage ist, im schlimmsten Falle? Ich kann und will meinerseits offen sprechen, sofern Sie mich mit Ihrem Vertrauen beehren wollen. Aber nur, wenn Sie dies nicht in Verlegenheit setzt«, fügte sie hinzu, indem sie ihn aufmerksam beobachtete.

Er war in seiner Unschlüssigkeit verlegen, bis er sie endlich zufriedenstellte.

»Verstehen Sie mich vollständig?« fragte er, als er ihr die ganze Wahrheit ohne Rückhalt dargelegt hatte.

Sie wiederholte kurz seinen Bericht.

»Wenn Ihr längst fälliges Schiff innerhalb eines Monats wohlbehalten zurückkehrt, können Sie das Geld, das Sie nötig haben, ohne Schwierigkeit annehmen. Wenn das Schiff verloren ist, haben Sie am Ende des Monats keine andere Wahl, als ein Darlehen von mir anzunehmen oder Ihre Zahlungen einzustellen. Ist das der genaue Sachverhalt?«

»So ist es.«

»Und die Summe, die Sie brauchen, ist – zwanzigtausend Pfund?«

»Ja.«

»Ich habe zwanzigmal so viel Geld, Herr Lismore, zu meiner alleinigen Verfügung – unter einer Bedingung.«

»Die Bedingung, auf die Sie in Ihrem Briefe anspielten?«

»Ja.«

»Hängt die Erfüllung derselben in irgendeiner Weise von meiner eigenen Entscheidung ab?«

»Sie hängt ganz von Ihnen ab.«

Die Antwort verschloss ihm die Lippen.

Ruhig und mit fester Hand goss sie selbst ihm eine Tasse Tee ein.

»Ich verschweige sie noch«, sagte sie, »aber ich bitte Sie, Vertrauen zu haben. Diese hier (sie zeigte auf die Tasse) ist die Freundin der Frauen, seien sie reich oder arm, wenn sie in Sorge sind. Was ich jetzt zu sagen habe, nötigt mich, mein eigenes Lob zu sprechen. Das ist mir peinlich; lassen Sie mich so schnell als möglich darüber hinweggehen. Mein Gemahl liebte mich sehr; er hatte das unbedingteste Vertrauen in meine Besonnenheit und mein Pflichtgefühl gegen ihn und gegen mich selbst. Seine letzten Worte, ehe er starb, waren Worte, die mir dafür dankten, dass ich das Glück seines Lebens gewesen sei. Sobald ich mich von dem Schmerz, der mich betroffen, wieder etwas erholt hatte, legte sein Anwalt und Testamentsvollstrecker eine Abschrift seines Testamentes vor und sagte, dass zwei Klauseln in demselben seien, bezüglich deren mein Gemahl den Wunsch ausgedrückt habe, dass ich sie lesen möchte. Natürlich gehorchte ich ihm.«

Sie beherrschte noch ihre Aufregung – aber sie war unfähig, sie zu verbergen. Lismore machte einen Versuch, sie zu schonen.«

»Bin ich dabei interessiert?« fragte er.

»Ja. Bevor ich Ihnen sage, warum, möchte ich wissen, was Sie tun würden – in einem gewissen Falle, an den nur zu denken mir peinlich ist. Ich habe von Männern gehört, die die an sie gestellten Forderungen nicht bezahlen konnten, aber wieder ein Geschäft anfingen und Erfolge hatten und so im Laufe der Zeit ihre Gläubiger bezahlten.«

»Und Sie wollen wissen, ob irgendeine Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass ich deren Beispiel folge?« fragte er. »Haben Sie auch von Männern gehört, die jene wiederholte Anstrengung machten, sich aber wieder täuschten und ihre Schulden verdoppelten? Ich kannte einen von jenen Männern selbst. Er beging Selbstmord.«

Sie legte ihre Hand einen Augenblick in die seine. »Ich verstehe Sie«, sagte sie. »Wenn der Untergang kommt –«

»Wenn der Untergang komnmt«, fiel er ihr in die Rede, »kann ein Mann ohne Geld und ohne Kredit nur eine Sühne geben. Sprechen Sie jetzt nicht davon!«

Sie blickte ihn mit Entsetzen an.

»Ich meinte das nicht!« sagte sie.

»Wollen wir zu dem zurückkehren, was Sie in dem Testamente lasen?« sagte er leise.

»Ja – wenn Sie mir eine Minute Zeit geben wollen, um mich zu fassen.«



Kapiteltrenner

VI.

In weniger als der Zeit, um welche sie gebeten hatte, war Frau Callender ruhig genug, um fortzufahren.

»Ich besitze jetzt von dem Vermögen meines Gatten, was man eine Lebensrente nennt«, sagte sie; »das Geld soll bei meinem Tode unter mildtätige Stiftungen verteilt werden, einen gewissen Fall ausgenommen –«

»Welcher in dem Testamente vorgesehen ist?« fügte Lismore hinzu, indem er ihr half.

»Ja. Ich soll unumschränkte Herrin von viermalhundertausend Pfund sein« – sie stockte und ihre Augen blickten von ihm weg, als sie die folgenden Worte sprach - »unter dieser einen Bedingung, dass ich wieder heirate.«

Er sah sie erstaunt an. »Ich habe Sie sicherlich missverstanden«, sagte er, »Sie wollten sagen, unter dieser einen Bedingung, dass Sie nicht wieder heiraten?«

»Nein, Herr Lismore, ich meine genau das, was ich gesagt habe. Sie wissen nun, dass die Wiedererlangung Ihres Kredits und Ihrer Gemütsruhe ganz von Ihnen abhängt.«

Nach einem Augenblick der Überlegung nahm er ihre Hand und brachte sie ehrerbietig an seine Lippen. »Sie sind eine edle Frau!« sagte er.

Sie antwortete nicht. Mit gesenktem Kopfe und niedergeschlagenen Augen wartete sie auf seine Entscheidung. Er nahm jetzt seine Zahlungsfähigkeit an.

»Ich darf nicht und wage nicht, an das Traurige meiner eigenen Lage zu denken«, sagte er. »Ich bin es Ihnen schuldig, ohne Rücksicht auf die Zukunft, die mir bevorstehen kann, zu sprechen. Kein Mann kann des Opfers würdig sein, welches Ihre edle Selbstverleugnung zu bringen bereit ist. Ich schätze Sie, ich bewundere Sie, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Überlassen Sie mich meinem Schicksal, Frau Callender, und lassen Sie mich gehen.«

Er erhob sich. Sie hielt ihn durch eine Handbewegung zurück. »Eine junge Frau«, antwortete sie, »würde davor zurückschrecken, zu sagen – was ich als alte Frau jetzt aussprechen will. Ich bitte Sie, zu beweisen, dass Sie mich schätzen, mich bewundern, und mir von ganzem Herzen danken. Nehmen Sie sich einen Tag Bedenkzeit – und lassen Sie mich das Resultat wissen! Sie versprechen mir das?«

Er versprachs.

»Jetzt gehen Sie!« sagte sie.



Kapiteltrenner

VII.

Am nächsten Morgen empfing Lismore von Frau Callender einen Brief. Sie schrieb ihm folgendes:

»Es sind einige Umstände, die ich gestern abend hätte erwähnen sollen, bevor Sie mein Haus verließen. Ich hätte Sie daran erinnern sollen – wenn Sie Ihre Entscheidung aufschieben wollen – dass die Lage der Dinge Sie nicht nötigt, sich vollständig an mich zu fesseln. Bei meinem Alter kann ich Ihnen mit völliger Schicklichkeit versichern, dass ich unsere Heirat einfach nur allein als eine Förmlichkeit betrachte, welche wir erfüllen müssen, wenn ich meine Absicht ausführen soll, zwischen Ihnen und dem Verderben zu stehen. Es fällt deshalb, wenn das vermisste Schiff zu rechten Zeit erscheint, der einzige Grund unserer Verheiratung weg. Wir werden dann ebenso gute Freunde sein, wie jemals, ohne das Hindernis eines förmlichen Bandes zwischen uns. Im anderen Falle würde ich Sie bitten, sich gewissen Einschränkungen zu unterwerfen, welche Sie, eingedenk meiner Stellung, verstehen und entschuldigen werden.

Wir werden, ich brauche es nicht zu sagen, wie Mutter und Sohn zusammen leben. Die Hochzeitsfeierlichkeit soll streng geheim gehalten werden und Sie sollen Ihre Angelegenheiten so ordnen, dass wir unmittelbar nachher England verlassen, um nach einem ausländischen Orte zu gehen, den Sie wünschen. Einige meiner Freunde und vielleicht auch einige von Ihren Freunden würden, wenn wir hier blieben, sicherlich unserer Beweggründe in einer Weise missdeuten, die für eine Frau wie mich unerträglich sein würde.

Was unser zukünftiges Leben betrifft, so habe ich das vollständigste Vertrauen in Sie, und ich würde Sie in derselben Unabhängigkeit lassen, die Sie jetzt besitzen. Wenn Sie meine Gesellschaft wünschen, werden Sie immer willkommen sein. Sonst sind Sie Ihr eigener Herr. Ich lebe in meinem Teile des Hauses und Sie leben in dem Ihrigen – und ich darf mir jeden Tag meine Stunden der Einsamkeit vorbehalten, um meine musikalischen Beschäftigungen fortzusetzen, welche mit meinem ganzen vergangenen Leben so glücklich verbunden waren, und welche ich Ihrer Nachsicht zuversichtlich anheimgeben darf.

Ein letztes Wort, Sie zu mahnen, dass Sie auch an sich selbst denken möchten.

Bei meinem Alter könnten Sie nach dem Laufe der Natur nicht für viele Jahre von der Gesellschaft einer dankbaren alten Frau belästigt werden. Sie sind jung genug, um vorwärts nach einer anderen Heirat zu schauen, welche etwas mehr als eine bloße Form sein wird. Selbst wenn Sie der glücklichen Frau bei meinen Lebzeiten begegnen, so sagen Sie mir aufrichtig davon – und ich verspreche Ihnen, ihr zu sagen, dass sie nur zu warten habe. Inzwischen denken Sie nicht, weil ich gelassen schreibe, dass ich herzlos schreibe. Sie gefielen mir und interessierten mich, als ich Sie in der öffentlichen Versammlung zum ersten Mal sah. Ich denke nicht, dass ich etwas vorgeschlagen habe, was Sie ein Sichselbstwegwerfen einem Manne gegenüber, der mich persönlich zurückgewiesen hat, nennen könnten, obgleich ich meine Schuld der Dankbarkeit so aufrichtig wie je fühlte.

Ob Ihr Schiff gerettet wird, oder ob Ihr Schiff verloren geht, die alte Marie Callender ist Ihnen geneigt und bekennt es ohne falsche Scham. Ich bitte heute noch um Antwort, entweder persönlich oder durch einen Brief, was Sie am liebsten wollen.«



Kapiteltrenner

VIII.

Frau Callender empfing lange vor dem Abend eine schriftliche Antwort: Sie sagte viel in wenigen Worten:

»Nur ein für solche Güte gefühlloser Mann könnte imstande sein, Ihrem Briefe zu widerstehen. Ich bin jener Mann nicht. Ihr großes Herz hat mich besiegt.«

Die wenigen Formalitäten, welche nach eingeholtem besonderen Dispens der Heirat noch voranzugehen hatten, wurden von Lismore beobachtet. Da das Schicksal ihres zukünftigen Lebens noch in Ungewissheit war, so hielt ein unbestimmtes Gefühl der Verlegenheit auf beiden Seiten Lismore und Frau Callender getrennt.

Jeden Tag brachte die Dame ihren Bericht von der Lage der Dinge in der Stadt, stets in denselben Worten:

»Keine Nachricht von dem Schiff.«



Kapiteltrenner

IX.

Am Tage, bevor die Zahlung der Verbindlichkeiten des Schiffseigners zu erfolgen hatte, waren die Worte des Berichtes aus der Stadt noch unverändert dieselben und der eingeholte Dispens sollte nunmehr in Wirksamkeit treten. Frau Callenders Anwalt und ihre Kammerfrau waren die einzigen Personen, welche mit dem Geheimnis vertraut gemacht wurden. Nachdem sie die weitere Besorgung der Angelegenheit dem ersten Schreiber übertragen hatten, der zur Befriedigung jeder Geldforderung an seinen Dienstherrn instand gesetzt worden war, verließ das seltsam verheiratete Paar England.

Sie beschlossen, einige Tage in Paris zu warten, um irgendwelche Briefe von Wichtigkeit an Lismore in Empfang zu nehmen. Am Abend ihrer Ankunft erwartete sie eine Depesche von London in ihrem Hotel. Sie teilte mit, dass das vermisste Schiff den Kanal passiert habe, im Nebel verdeckt, bis dass es Dowes erreicht hatte, am Tage vor der Fälligkeit jener Schuld.

»Bedauerst du es?« fragte Frau Lismore ihren Gemahl.

»Nicht einen Augenblick!« antwortete er.

Sie beschlossen, ihre Reise bis anch München fortzusetzen. Frau Lismores Vorliebe für Musik kam dem Geschmack Lismores für Malerei gleich. In seinen Mußestunden pflegte er diese Kunst und erfreute sich an ihr. Die Gemäldegalerien Münchens waren beinahe die einzigen Sammlungen in Europa, welche er nicht gesehen hatte. Treu den Verpflichtungen, welche sie selbst eingegangen war, war seine Frau bereit, mit ihm zu gehen, wohin er ihre Begleitung wünschte. Der einzige Vorschlag, den sie machte, war, möblierte Zimmer zu mieten. Wenn sie in einem Gasthofe lebten, könnten Freunde ihres Gemahls oder von ihr selbst, Besucher der berühmten Stadt wie sie, ihre Namen im Fremdenbuch sehen oder ihnen an der Tür begegnen. Sie waren bald in einem Hause eingerichtet, das groß genug war, um ihnen jede gewünschte Bequemlichkeit zu gewähren.

Lismore verbrauchte seine Zeit in den Galerien, Frau Lismore blieb zu Hause, um zu musizieren, bis es Zeit war, mit ihrem Gemahl eine Spazierfahrt zu machen.

Sie lebten in vollständiger Freundschaft und Harmonie zusammen, nichtsdestoweniger lebten sie nicht glücklich. Ohne irgend welchen sichtbaren Grund für die Veränderung waren Frau Lismores Lebensgeister niedergedrückt.

Als er dies einst bemerkte, zwang sie sich zur Heiterkeit, ohne jedoch seine Besorgnis verscheuchen zu können.

Er überließ ihr zu denken, dass sie ihn von jeder weiteren Verlegenheit befreit habe. Welche Zweifel er immer hegen mochte, es waren Zweifel, die er von jener Zeit an zartfühlend verheimlichte.

Aber wenn zwei Leute in einem Zustande künstlicher Ruhe zusammen leben, scheint es ein Gesetz der Natur zu sein, dass die Elemente der Störung sich unmerklich anhäufen, und dass der Ausbruch endlich einmal unvermeidlich wird.

Zehn Tage nach ihrer Ankunft in München kam die Entscheidung. Lismore kehrte später wie gewöhnlich aus der Gemäldegalerie zurück und – ihres Wissens zum ersten mal – schloss er sich in sein eigenes Zimmer ein. Er erschien zur Stunde des Mittagsmahls mit einer nichtssagenden Entschuldigung.

Frau Lismore wartete, bis die Dienerin sich zurückgezogen hatte. »Jetzt, Ernst«, sagte sie, »ist es Zeit, mir die Wahrheit zu sagen.«

Die Art und Weise, wie sie diese wenigen Worte sagte, setzten ihn in Erstaunen. Sie war ohne Frage verwirrt, und anstatt nach ihm zu sehen, spielte sie mit Obst auf ihrem Teller.

Seinerseits auch in Verlegenheit, konnte er nur antworten: »Ich habe nichts zu erzählen.«

»Waren viele Besucher in der Ausstellung?« fragte sie.

»So ziemlich dieselben wie immer.«

»Jemand, der dir besonders auffiel«, fuhr sie fort, »ich meine unter den Damen?«

Er lachte unbehaglich.

»Du vergisst, wie sehr ich von den Gemälden in Anspruch genommen bin«, sagte er.

Es gab eine Pause. Sie sah zu ihm auf – und blickte plötzlich wieder von ihm weg. Aber er sah es deutlich: Tränen standen in ihren Augen.

»Willst du nicht das Gas niederdrehen?« fragte sie; »ich spürte den ganzen Tag über eine besondere Mattigkeit meiner Augen.«

Er willfahrte ihrem Ersuchen um so bereitwilliger, als er seinen eigenen Gründe hatte, dem blendenden Schein des Lichtes zu entrinnen.

»Ich denke, ich werde ein wenig auf dem Sofa bleiben«, fing sie wieder an.

In der Stellung, die er inne hatte, würde er von ihr abgewendet dagesessen haben. Als er versuchte, seinen Stuhl umzudrehen, verhinderte sie daran.

»Ich will lieber nicht nach dir sehen, Ernst, wenn du das Vertrauen zu mir verloren hast«, sagte sie.

Nicht die Worte, der Ton rührte alles, was in seiner Natur viel und großmütig war. Er verließ seinen Platz, kniete neben ihr nieder – und öffnete ihr sein ganzes Herz.

»Bin ich deiner nicht unwürdig?« fragte er, als es vorüber war.

Sie drückte ihm schweigend die Hand.

»Ich würde der undankbarste Wicht sein, der lebt«, sagte er, »wenn ich nicht an dich und nur an dich dächte, nachdem ich jetzt mein Bekenntnis abgelegt habe. Wir wollen morgen München verlassen und, wenn ein rascher Entschluss mir helfen kann, will ich der lieblichsten Frau, die meine Augen je gesehen haben, nur als eines Traumgebildes mich erinnern.«

Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und erinnerte ihn an ihren Brief, der ihr Lebensschicksal entschieden hatte.

»Als ich dachte, du könntest der glücklichen Frau zu meinen Lebzeiten begegnen, sagte ich zu dir: 'Lass es mich wissen, und ich verspreche, ihr zu sagen, dass sie nur zu warten habe.' Es muss Zeit werden, Ernst, ehe ich mein Versprechen erfüllen kann. Aber du könntest mich sie sehen lassen. Wenn du sie morgen in der Galerie findest, könntest du sie hierher bringen.«

Das Verlangen Frau Lismores begegnete keiner Ablehnung. Lismore wusste nur nicht recht, in welcher Weise er es ihr gewähren sollte.

»Du erzähltest mir, dass sie Gemälde kopiere«, erinnerte sie ihn; »sie wird ein Interesse daran haben, von der Mappe mit Zeichnungen großer französischer Künstler zu hören, die ich für dich in Paris gekauft habe. Bitte sie, zu kommen und sie anzusehen; du wirst dann hören, ob sie einige Kopien anfertigen kann. Sage ihr auch, wenn du willst, dass ich mich freuen würde, ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er fühlte deutlich ihr Herz an seiner Brust schlagen. Aus Furcht, dass sie alle Gewalt über sich verlieren könnte, versuchte er, ihr zu helfen, indem er einen leichteren Ton anschlug.

»Was ist das für eine Erfindung von dir?« sagte er. »Wenn mein Weib mich jemals versuchte zu täuschen, werde ich nur ein Kind in ihren Händen sein.«

Sie erhob sich plötzlich vom Sofa, küsste ihn auf die Stirn und sagte erregt: »Es wird besser für mich sein, zu Bett zu gehen.«

Bevor er sich erheben oder sprechen konnte, hatte sie ihn verlassen.«



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X.

Am folgenden Morgen klopfte er an die Tür des Zimmers seiner Frau und fragte, wie sie die Nacht verbracht habe.

»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete sie, »und ich muss dich bitten, meine Abwesenheit beim Frühstück zu entschuldigen.«

Sie rief ihm nach, als er sich eben entfernen wollte.

»Denke daran«, sagte sie, »wenn du heute aus der Ausstellung zurückkehrst, dass ich erwarte, dich nicht allein kommen zu sehen!«


Drei Stunden später war er wieder zu Hause. Die junge Dame hatte sich zur Anfertigung der Kopien bereit erklärt; sie war mit ihm zurückgekehrt, um die Zeichnungen zu betrachten. Das Wohnzimmer war leer, als sie eintraten. Er schellte nach der Dienerin seiner Frau und hörte, dass Frau Lismore ausgegangen sei. Da er dies nicht glauben wollte, ging er selbst zu ihrem Zimmer. Sie war nicht zu finden.

Als er nach dem Wohnzimmer zurückkehrte, war es nicht zu verwundern, dass die junge Dame sich verletzt fühlte. Er konnte es wohl entschuldigen, dass sie wegen der Geringschätzung, die ihr zugefügt worden, etwas schlecht gelaunt war; aber er wurde durch die Art – durch die beinahe grobe Art – in der sie sich asudrückte, ganz außer Fassung gebracht.

»Ich habe mit der Kammerzofe Ihrer Frau gesprochen, während Sie weg waren«, sagte sie; »ich hörte, dass Sie eine alte Dame wegen ihres Geldes geheiratet haben. Sie ist natürlich eifersüchtig auf mich?«

»Ich bitte Sie doch, Ihre Meinung zu ändern«, entgegnete er. »Sie tun meiner Frau unrecht; sie ist eines solchen Gefühls, wie Sie es ihr zuschreiben, unfähig.«

Die junge Dame lachte.

»Sie sind doch ein guter Ehegatte«, sagte sie spöttisch. »Falls Sie die Wahrheit sagen wollten, würden Sie sie nicht lieber haben, wenn sie jung und hübsch wie ich wäre?«

Er war nicht mehr bloß überrascht – er fühlte sich geradezu abgestoßen.

Ihre Schönheit hatte ihn so vollständig bezaubert, als er sie zum ersten Mal sah, dass der Gedanke, irgendeinen Mangel an Bildung und guter Erziehung mit solch einem reizenden Wesen zu verbinden, ihm niemals gekommen wäre. Die Enttäuschung war bei ihm so vollständig, dass er schon durch den Ton ihrer Stimme unangenehm berührt wurde; ebenso unangenehm, wie durch das rücksichtslose Kundgeben ihrer schlechten Laune, die sie zu verbergen sich nicht die geringste Mühe gab.

»Ich gestehe, Sie überraschen mich«, sagte er kalt.

Diese Bemerkung brachte keine Wirkung auf sie hervor. Im Gegenteil, sie wurde nur noch unverschämter.

»Ich habe eine glückliche Idee!« fuhr sie fort, »und Ihre alberne Weise, einen Scherz aufzunehmen, ermutigt mich nur: Gesetzt, Sie könnten Ihre verdrießliche alte Frau, die mich beleidigt hat, in das liebliche junge Wesen, das je lebte, verwandeln, indem Sie nur den Finger in die Höhe heben, würden Sie es nicht tun?«

Jetzt war seine Geduld erschöpft.

»Ich möchte nicht die Rücksicht vergessen«, sagte er, »die man einer Frau schuldig ist. Sie lässt mir nur einen Ausweg.

Er erhob sich, um das Zimmer zu verlassen. Sie eilte zur Tür, als er sprach, und stellte sich ihm in den Weg. Er machte eine Bewegung, an ihr vorüber zu kommen. Plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals, küsste ihn leidenschaftlich und flüsterte, die Lippen an seinem Ohr:

»O Ernst! Vergib mir! Hätte ich dich bitten dürfen, mich wegen meines Geldes zu heiraten, wenn ich nicht Zuflucht zu einer Verkleidung genommen hätte?«



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XI.

Als er sich wieder etwas gefasst hatte, schob er sie von sich zurück.

»Hat die Täuschung jetzt ein Ende?« fragte er ernst. »Soll ich Ihnen in Ihrer neuen Rolle vertrauen?«

»Sie sollen nicht strenger gegen mich sein, als ich es verdiene«, antwortete sie freundlich. »Hörten Sie von Fräulein Max, der Schauspielerin?«

Er fing an, sie zu verstehen.

»Vergeben Sie mir, wenn ich hart zu Ihnen sprach«, sagte er. »Sie haben mich auf eine harte Probe gestellt.«

Sie brach in Tränen aus. »Liebe«, murmelte sie, »ist meine einzige Entschuldigung.«

Dieses Wort gewann ihr seine Verzeihung. Er nahm ihre Hand und ließ sie an seiner Seite sich niedersetzen.

»Ja«, sagte er, »ich habe von Fräulein Max und von ihrer wunderbaren Gewalt der Darstellung gehört; ich habe stets bedauert, sie niemals auf der Bühne gesehen zu haben.«

»Hörtest du etwas mehr von ihr, Ernst?«

»Ja, ich hörte, dass sie ein Muster von Sittsamkeit sei und dass sie ihren Beruf auf der Höhe ihres Erfolges aufgab, um einen alten Mann zu heiraten.«

»Willst du mit mir auf mein Zimmer kommen?« fragte sie. »Ich habe dort etwas, das ich dir zeigen möchte.«

Es war die Abschrift des Testamentes ihres ersten Gatten.

»Lies die Zeilen oben auf der Seite, Ernst! Lass meinen verstorbenen Gatten für mich sprechen.«

Er las:

»Meine Gründe, Fräulein Max zu heiraten, müssen an dieser Stelle dargetan werden, um ihr, und ich wage hinzuzufügen, mir selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich empfand das aufrichtigste Mitgefühl für ihre Lage. Sie stand ohne Vater, Mutter oder Freunde da; eins von den armen verlassenen Kindern, denen die Barmherzigkeit des Findelhauses ein Heim gewährt. Ihr späteres Leben auf der Bühne war das Leben einer tugendhaften Frau: von Verworfenen verfolgt und beschimpft von gemeinen Geschöpfen, die um sie waren, und denen sie ein Gegenstand des Neides wurde. Ich bot ihr ein Heim an und den Schutz eines Vaters – auf die einzig mögliche Weise, die die Welt als unser würdig anerkennen wollte. Meine Erfahrung über sie seit unserer Verheiratung war die unwandelbarer Güte, Liebenswürdigkeit und gesunden Sinnes.

Sie hat die Probe, die ihre Stellung ihr auferlegte, so glänzend bestanden, dass ich wünsche, sie erhalte noch in diesem Leben ihre Belohnung dafür. Ich ersuche sie, einen zweiten Gemahl zu wählen, was nicht eine bloße Form sein würde. Ich bin überzeugt, dass sie gut und verständig wählen wird, dass sie das Glück eines Mannes ausmachen wird, der ihrer würdig ist, dass sie als Gattin und Mutter ein unübertreffliches Muster in der gesellschaftlichen Stellung sein wird, die sie einnimmt.

Zum Beweis der innigen Aufrichtigkeit, mit der ich ihren Tugenden meine Anerkennung zolle, füge ich diesem meinem letzten Willen folgende Klausel bei.«

Diese aber kannte Lismore bereits.

»Willst du jetzt glauben, dass ich niemals liebte, ehe ich dein Gesicht zum ersten Mal sah?« fragte sie ihn. »Ich hatte keine Erfahrung, mich vor der Verblendung – Wahnsinn mögen einige Leute es nennen – zu hüten, die ein Weib ergreift, wenn ihr ganzes Herz einem Manne hingegeben ist. Verachte mich nicht, mein Teurer! Sei dessen eingedenk, dass ich dich von Schande und Verderben zu retten hatte. Außerdem verlockten mich meine alten Bühnerinnerungen. Ich bin in einem Schauspiel aufgetreten, in dem die Heldin tat, was ich getan habe. Es endigte nicht mit mir, wie es mit ihr im Stücke endete.

Sie konnte sich auf der Bühne an dem Erfolg ihrer Verkleidung erfreuen; ich habe seit unserer Verheiratung manche traurige Stunde des Zweifels und der Scham gehabt.

Als ich es unternahm, dir in meiner wahren Gestalt in der Gemäldeausstellung entgegen zu treten – o, welche Erleichterung, welche Freude fühlte ich, als ich sah, wie du mich bewundertest – war es nicht deshalb, weil ich nicht länger meine Verkleidung hätte tragen können. Ich war ja imstande, mir Stunden der Ruhe von der Aufregung zu verschaffen, nicht allein in der Nacht, sondern auch bei Tage, wenn ich mich, in mein Musikzimmer zurückgezogen, eingeschlossen hatte und meine Kammerfrau vor Entdeckung mich schützte. Nein, mein Herz! Ich eilte zur Enthüllung, weil ich nicht länger den verhassten Triumph meiner eigenen Täuschung ertragen konnte. Ach betrachte dir jenen Zeugen desselben, der mich anklagt. Ich kann ihn nicht einmal mehr sehen!«

Sie verließ ihn plötzlich. Die Schublade, die sie geöffnet hatte, um die Abschrift des Testamentes herauszunehmen, enthielt auch das falsche graue Haar, das sie abgelegt hatte. Sie betrachtete es nur einen Augenblick, dann raffte sie es auf und wandte sich nach dem Kamin.

Lismore nahm es ihr weg, ehe sie ihn erreichen konnte.

»Gib mir es!« sagte er.

»Warum?«

Er zog sie sanft an seine Brust: »Ich darf meine alte Frau nicht vergessen.«

ENDE



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