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Armadale



Sechstes Kapitel.

Alles war still in Thorpe-Ambrose. Der Hausflur war öd und die Zimmer waren finster. Die Diener, die im Garten hinter dem Hause die Stunde des Nachtessens abwarteten, schauten zum klaren Himmel und dem aufsteigenden Mond hinauf und erklärten einstimmig, es sei wenig Aussicht vorhanden, daß die Picknick-Gesellschaft viel vor Mitternacht heimkehren werde. Die allgemeine Meinung, von der hohen Autorität der Köchin vertreten, ging dahin, daß man sich ohne. Furcht vor Störung durch die Klinge! zum Nachtessen niederlassen dürfte. Zu diesem Schlusse gelangt, setzte die Dienerschaft sich zu Tische, und gerade in dem Augenblicke, als Alle Platz genommen, ging die Klingel.

Verwundert stieg der Lakei trepp auf, die Thür zu öffnen, und fand zu seinem Erstaunen Midwinter allein auf der Thürschwelle, welcher nach Ansicht des Bedienten entsetzlich krank aussah. Er bat um ein Licht und zog sich mit der Bemerkung, daß er nichts weiter bedürfe, sofort auf sein Zimmer zurück. Der Bediente begab sich zu seinen Cameraden zurück und berichten, daß dem Freunde seines Herrn sicherlich etwas zugestoßen sein müsse.

Auf seinem Zimmer angelangt, schloß Midwinter die Thür und packte hastig eine Handtasche mit den nothwendigsten Reiseeffecten. Dann nahm er aus einer verschlossenen Schublade einige kleine Geschenke, die Allan ihm gemacht —— eine Cigarrentasche, eine Börse und eine Garnitur von Hemdknöpfen von einfachem Golde —— und steckte dieselben in die Brusttasche seines Stockes. Nachdem er diese Andenken in Sicherheit gebracht, ergriff er die Handtasche und legte die Hand auf die Thürklinke. Da aber hielt er zum ersten Male inne —— da ließ mit einem Mal die jagende Hast seines bisherigen Gebahrens nach, und der Zug starrer Verzweiflung in seinem Gesichte begann sich zu mildern: die Hand auf der Thürklinke, blieb er wartend stehen.

Bis zu diesem Augenblicke war er sich nur eines Beweggrundes, nur eines Zieles bewußt gewesen, das er zu erreichen entschlossen war. »Um Allan’s willen!« hatte er zu sich selber gesprochen, als er auf die unheilvolle Landschaft zurückgeblickt und Allan hatte von ihm gehen sehen, um dem Weibe am Teiche zu begegnen. »Um Allan’s willen« hatte er nochmals gesprochen, als er über das offene Feld jenseits des Holzes dahingeschritten, und ferne im grauen Zwielicht die lange Linie des Dammes und das ferne Schimmern der Bahnlampen erblickt hatte, die ihm zu der Eisenstraße hinzuwinken schienen.

Erst jetzt, als er vor der hinter ihm geschlossenen Thür stehen blieb —— erst jetzt, da seine ungestüme Hast zum ersten Male zu einer Pause kam —— erst jetzt erhob sich die edlere Natur des Mannes gegen die abergläubische Verzweiflung, die ihn von Allem, was ihm theuer war, von hinnen trieb. Seine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, daß er Allan zu dessen eigenem Besten verlassen müsse, hatte seit dem Momente, wo er am Ufer des Sees die Verwirklichung seines ersten Traumgesichts geschaut, nicht gewankt. Jetzt aber stand sein eigenes Herz mit unabweislichem Vorwurfe gegen ihn auf. »Geh, wenn du gehen mußt und willst! aber gedenke der Zeit, da du krank warst und er an deinem Bette saß —— da du freundlos warst und er dir sein Herz erschloß —— und schreibe, wenn du dich zu sprechen fürchtest; schreib’ und bitte ihn, dir zu vergeben, ehe du auf immer von ihm scheidest!«

Die halb geöffnete Thür ward leise wieder geschlossen. Midwinter setzte sich an den Schreibtisch und ergriff die Feder. Wieder und wieder versuchte er das Abschiedswort zu schreiben; er versuchte es, bis der Boden rings um ihn her mit zerrissenen Papierblättern bestreut war. Wie immer er sich von ihnen abwandte —— die alten Zeiten kehrten zurück und traten ihm vorwurfsvoll entgegen. Das geräumige Schlafgemach, in dem er saß, verwandelte sich unwillkürlich in die Bodenkammer des kranken Hilfslehrers in jenem Wirthshause des Westens. Die liebevolle Hand, die ihm einst aus die Schulter geklopft, berührte ihn wieder; die freundliche Stimme, die ihn aufgeheitert, sprach unverändert in den alten, liebevollen Tönen. Er warf seine Arme vor sich auf den Tisch und ließ in thränenloser Verzweiflung das Haupt auf dieselben niedersinken. Das Scheidewort, das seine Zunge nicht zu sprechen vermochte, war seine Feder nicht zu schreiben im Stande. Mit erbarmungsloser Strenge hieß sein Aberglaube ihn gehen, so lange er noch Zeit dazu habe, und ebenso strenge gebot seine Liebe zu Allan ihn zu bleiben, bis er die letzte Bitte um Vergebung und Mitleid würde geschrieben haben.

Mit einem raschen Entschlusse stand er auf und schellte dem Diener. »Wenn Mr. Armadale heimkehrt«, sagte er, »so bittet ihn, mich zu entschuldigen, wenn ich heute nicht hinunterkomme, und sagt, daß ich mich zu Bett gelegt habe.« Er verschloß die Thür, löschte das Licht aus und saß allein in der Dunkelheit. »Die Nacht wird sich zwischen uns legen«, sprach er bei sich, »und mit der Zeit werde ich schreiben können. Ich kann am frühen Morgen fortgehen; ich kann gehen, während ——« Der Gedanke erstarb unvollendet in ihm, und der schneidende Schmerz des Kampfes entriß seinen Lippen den ersten Jammerschrei.

Er wartete im finsteren. Wie die Zeit verging, blieben seine Sinne mechanisch wach, aber sein Geist begann unter der Pein, die ihm seit einigen Stunden auferlegt gewesen, langsam zu schwinden. Eine dumpfe Stumpfheit hatte sich seiner bemächtigt, und er machte keinen Versuch, die Kerze anzuzünden und von Neuem sich zum Schreiben hinzusehen. Er rührte sich nicht und machte keine Bewegung, an das offene Fenster zu treten, als er in der Stille der Nacht das erste Geräusch heranrollender Räder vernahm. Er hörte die Wagen vorfahren; er hörte, wie die Pferde an den Gebissen zerrten; er hörte die Stimmen seines Freundes und des jungen Pedgift auf der Treppe —— und noch immer saß er still im Dunkeln, und die Klänge, die von außen zu ihm hereindrangen, erweckten kein Interesse in ihm. «

Die Stimmen waren noch hörbar, als die Wagen schon fortgefahren waren; offenbar verweilten die beiden jungen Männer noch auf den Stufen, ehe sie Abschied von einander nahmen. Jedes Wort, das sie sprachen, schlug durch das offene Fenster an Midwinter’s Ohr. Der Gegenstand ihrer Unterhaltung war die neue Gouvernante. Allan’s Stimme war laut in ihrem Lobe. In seinem ganzen Leben hatte er keine so glückliche Stunde.genossen, als die war, welche er auf der Fahrt vom Hurle Mere nach der auf dem andern See wartenden Picknick-Gesellschaft mit Miß Gwilt im Boote zugebracht hatte. Der junge Pedgift, seinerseits zwar mit Allem übereinstimmend, was sein junger Client zum Lobe der reizenden Fremden vorbrachte, schien das Thema von einem andern Gesichtspunkte aus aufzufassen. Miß Gwilt’s Reize hatten seine Aufmerksamkeit nicht so ausschließlich in Anspruch genommen, um ihn zu verhindern, den Eindruck zu bemerken, welchen die neue Erzieherin auf ihren Principal und ihre Schülerin gemacht.

»Mit Major Milroy’s Familie hat es irgendwo einen Haken, Sir«, ließ sich die Stimme Pedgift’s vernehmen. »Haben Sie wohl auf die Gesichter des Majors und seiner Tochter gemerkt, als Miß Gwilt sich entschuldigte, so spät am See angelangt zu sein? Sie erinnern sich nicht? Entsinnen Sie sich aber, was Miß Gwilt sagte?«

»Etwas über Mrs. Milroy, nicht wahr?« erwiderte Allan.

Pedgift’s Stimme sank zu einem geheimnißvollen Flüstern herab.

»Miß Gwilt traf heute Nachmittag genau um die Zeit im Parkhäuschen ein, für die ich ihre Ankunft vorausgesagt hatte, Sir, und ohne Mrs. Milroy würde sie auch zu der von mir erwähnten Stunde bei uns gewesen sein. Mrs. Milroy ließ sie jedoch zu sich auf ihr Zimmer bescheiden und hielt sie eine gute halbe Stunde, und länger, fest. So lautete Miß Gwilt’s Entschuldigung wegen ihrer verspäteten Ankunft am See, Mr. Armadale.«

»Nun, und was dann?«

»Sie scheinen zu vergessen, Sir, was in der ganzen Umgegend über Mrs. Milroy bekannt wurde, als der Major sich unter uns niederließ. Nach des Arztes eigener Aussage haben wir Alle gehört, daß sie zu leidend sei, um Fremde bei sich zu sehen. Ist es nicht ein wenig eigenthümlich, daß sie auf einmal gesund genug geworden sein sollte, um in der Abwesenheit ihres Gatten Miß Gwilt zu sehen, sowie diese nur das Haus betrat?«

»Nicht im geringsten! Es war ihr natürlich darum zu »thun, die Bekanntschaft der Gouvernante ihrer Tochter zu machen.«

»Sehr wohl möglich, Mr. Armadale Aber der Major und Miß Neelie sehen die Sache jedenfalls nicht in diesem Lichte. Ich hatte sie beide im Auge, als die Erzieherin ihnen sagte, Mrs. Milroy habe sie zu sich beschieden. Wenn ich je ein Mädchen gründlich in Angst sah, so war dies Miß Milroy; und —— wenn ich mir im strengsten Vertrauen die Freiheit nehmen darf, so etwas von einem tapferen Soldaten zu behaupten —— ich möchte fast sagen, daß der Major sich so ziemlich in der nämlichen Verfassung befand. Lassen Sie sich’s gesagt sein, Sir, es ist dort oben in Ihrem hübschen Parkhäuschen etwas nicht ganz richtig, und Miß Gwilt ist bereits mit darein verwickelt.«

Ein minutenlanges Schweigen folgte. Als Midwinter die Stimmen wieder hörte, waren diese weiter vom Hause entfernt —— Allan begleitete den jungen Pedgift wahrscheinlich ein paar Schritte auf dem Heimwege.

Nach einer Weile ließ Allan’s Stimme sich nochmals unter dem Porticus hören, wie er nach s einem Freunde fragte, worauf die Stimme des Dieners sich des von Midwinter erhaltenen Auftrags entledigte. Sobald diese kurze Unterbrechung vorüber, ward die Stille nicht mehr gestört, bis zu dem Augenblicke des Thorschlusses. Die Schritte der hin- und hergehenden Diener, das Zuschlagen der Thüren, das Bellen eines aufgestörten Hundes im Stallhofe —— das waren die Töne, welche Midwinter anzeigten, daß es schon spät geworden war. Mechanisch erhob er sich, um eine Kerze anzuzünden. Aber der Kopf schwindelte ihm, seine Hand zitterte —— er stellte die Zündhölzchenbüchse wieder bei Seite und kehrte zu seinem Sessel zurück. Die Unterhaltung zwischen Allan und dem jungen Pedgift hatte seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen aufgehört, sowie er das Ende derselben gehört; und jetzt begann ihm auch das Bewußtsein zu schwinden, daß die kostbare Zeit verstrich, sowie das Geräusch im Hause verhallt war. Seine Körper- und seine Geisteskräfte waren erschöpft; mit stumpfer Ergebung erwartete er das Leid, welches der kommende Tag ihm bringen mußte.

Eine Weile verging und dann ward die Stille draußen nochmals durch Stimmen unterbrochen —— diesmal die Stimmen eines Mannes und eines Weibes. Die ersten Worte, die von ihnen gewechselt wurden, thaten deutlich genug dar, daß ihr Zusammentreffen ein heimliches war, und ließen in dem Manne einen der Lakaien von Thorpe-Ambrose und in dem Weibe eine Dienerin vom Parkhäuschen erkennen.

Nachdem die ersten Begrüßungen vorüber, gab abermals die neue Gouvernante den ausschließlichen Unterhaltungsstoff ab. Das Frauenzimmer war voll schlimmer Ahnungen, die ihr einzig und allein Miß Gwilt’s Schönheit eingeflößt hatte, und schüttete dem Manne ihr Herz aus, wie sehr er auch versuchen mochte, sie auf andere Gegenstände zu lenken. Früher oder später, er solle an ihre Worte denken, werde es im Parkhäuschen einen fürchterlichen »Spectakel« geben. Sie dürfe es ihm im Vertrauen sagen, daß ihr Herr ein entsetzliches Leben mit ihrer Herrin führe. Der Major sei der beste Mensch von der Welt; außer seiner Tochter und seiner ewigen Uhr, trage er keinen andern Gedanken im Herzen. Aber sowie ein hübsches Frauenzimmer ihm nur nahe komme, werde Mrs. Milroy auf ihrem elenden Krankenbette eifersüchtig, rasend eifersüchtig auf sie. Wenn Miß Gwilt, die trotz ihres häßlichen Haars entschieden hübsch sei, das glimmende Feuer nicht binnen wenigen Tagen in hellen Flammen über ihren Häuptern aufschlagen lasse, so sei ihre Herrin gar nicht mehr ihre Herrin, sondern eine andere Person. Was sich aber immer ereignen möge, diesmal sei die Mutter des Majors Schuld daran. Die alte Dame habe vor zwei Jahren einen furchtbaren Streit mit ihrer Herrin gehabt und sei in großer Wuth abgereist, nachdem sie vor der ganzen Dienerschaft zu ihrem Sohne gesagt, wenn er nur noch einen Funken von Energie besitze, so würde er die Launen seiner Frau nimmermehr ertragen, wie er dies thue. Sie ginge vielleicht zu weit, wenn sie die Mutter des Majors beschuldige, absichtlich eine hübsche Erzieherin gewählt zu haben, um ihre Schwiegertochter zu ärgern. Aber mit Gewißheit dürfe man behaupten, daß die alte Dame die letzte Person in der Welt sei, welche der Eifersucht ihrer Herrin nachgeben und eine fähige und achtbare Gouvernante für ihre Enkelin zurückweisen werde, blos weil diese Erzieherin zufälligerweise mit Schönheit gesegnet sei. Wie dies Alles noch enden werde (außer zum Schlimmeren) könne kein menschliches Wesen sagen. Die Geschichte lasse sich bereits so schwarz an, wie nur möglich. Miß Neelie habe nach ihrer Lustpartie geweint —— was ein schlechtes Zeichen; die Herrin habe Niemanden getadelt oder ausgezankt —— ein abermaliges schlechtes Zeichen; der Herr habe ihr durch die Thür Gutenacht gewünscht —— was ein drittes schlechtes Zeichen; und die Gouvernante sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, was das schlimmste von allen Zeichen sei, da dies den Anstrich habe, als mißtraue sie der Dienerschaft. Der Art rann der Strom des weiblichen Geplauders weiter und drang durchs Fenster zu Midwinters Ohren, bis die Stalluhr schlug und der Unterhaltung ein Ende machte. Als der letzte Glockenschlag erstarb, ließ sich keine Stimme mehr hören und nun ward das nächtliche Schweigen nicht wieder gestört.

Abermals verging eine Weile und Midwinter machte einen neuen Versuch, sich zu ermannen. Diesmal zündete er ohne Zögern die Kerze an und nahm die Feder in die Hand.

Er schrieb beim ersten Anlauf mit einer Leichtigkeit des Ausdrucks, die ihn beim Weiterschreiben überraschte und schließlich einen vagen Argwohn gegen sich selber in ihm erweckte. Er ging vom Tische weg, um Gesicht und Kopf in kaltem Wasser zu baden, und kam dann zurück und las, was er geschrieben. Die Sprache war kaum verständlich; die Worte waren verwechselt —— die Sätze unbeendet gelassen —— jede Zeile trug den Beweis, wie sehr das ermüdete´Gehirn sich gegen den erbarmungslosen Willen gesträubt hatte, der es zur Thätigkeit gezwungen. Midwinter zerriß das Blatt, wie er bereits alle anderen zerrissen, und legte, dem Kampfe endlich erliegend, sein müdes Haupt auf das Kissen. Fast augenblicklich überkam ihn die Erschöpfung; ehe er noch das Licht auslöschen konnte, schlief er ein.

Ein Geräusch vor seiner Thür weckte ihn. Heller Sonnenschein strömte ins Zimmer; das Licht war völlig herabgebrannt, und der Diener wartete draußen mit einem Briefe, der mit der Morgenpost eingelaufen war.

»Ich nahm mir die Freiheit, Sie zu stören, Sir«, sagte der Mann, als Midwinter ihm. die Thür öffnete, »weil »eilig« auf dem Briefe steht und ich nicht wußte, ob derselbe nicht vielleicht von Wichtigkeit sei.«

Midwinter dankte ihm und betrachtete den Brief. Dieser war allerdings von Wichtigkeit —— die Aufschrift war von Mr. Brocks Hand.

Er wartete einen Augenblick, um seine Gedanken zu sammeln. Die Papierfetzen am Boden riefen ihm sofort die Lage ins Gedächtniß zurück, in der er sich befand. Er verschloß seine Thüre wieder, aus Furcht, Allan möchte früher als gewöhnlich aufstehen und zu ihm hereinkommen, um nach dem Befinden seines Gastes zu fragen. Dann mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit gegen die etwaigen Mittheilungen des Pfarrers —— öffnete er Mr. Brock’s Brief und las folgende Zeilen.

»Dienstag.

Mein lieber Midwinter.

Zuweilen ist’s das Beste, schlimme Nachrichten ohne Umschweif und mit wenigen Worten mitzutheilen. Lassen Sie mich Ihnen die meinige in einem einzigen Satze sagen. Alle meine Vorsichtsmaßregeln sind nutzlos gewesen: das Weib ist mir entwischt.

Dieses Unglück, denn es ist nichts Geringeres —— ereignete sich gestern (am Montag). Zwischen elf und zwölf Morgens zwang mich die Gcschäftsangelegenheit, die mich überhaupt nach London führte, an jenem Tage nach Doctors Commons zu gehen und meinen Diener Robert im Logis allein zu lassen, damit er bis zu meiner Rückkehr das gegenüberstehende Haus bewache. Etwa anderthalbe Stunde nach meinem Weggange sah er einen leeren Fiaker vor der Thür jenes Hauses halten. Reisekoffer und Handtaschen kamen zuerst zum Vorschein, ihnen folgte das Frauenzimmer selber, das die nämlichen Kleider trug, in dem ich sie zuerst gesehen hatte. Nachdem auch er eine Droschke genommen, fuhr, Robert ihr nach dem Bahnhofe der Nordwestbahn nach —— sah sie durch das Billetbureau gehen —— behielt sie im Auge bis sie auf dem Perron anlangte —— dort aber in dem Gedränge und der Verwirrung, welche die Abfahrt eines langen gemischten Zuges herbeizuführen pflegt, verlor er sie aus dem Gesichte. Ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er in dieser Verlegenheit sofort den richtigen Weg einschlug. Anstatt mit Suchen aus dem Perron Zeit zu verlieren, sah er die ganze Wagenreihe entlang und versicherte mit Bestimmtheit, daß er sie in keinem Coupe bemerkt habe. Zugleich gibt er zu, daß sein Suchen (welches zwischen zwei Uhr, dem Augenblicke, da er sie aus dem Auge verlor, und zehn Minuten nach zwei, dem Momente der Abfahrt, stattfand) in der Verwirrung des Augenblicks natürlich nur ein oberflächliches sein konnte. Doch scheint mir dieser letztere Umstand von geringer Bedeutung zu sein. Ich glaube so wenig an die Abreise des Frauenzimmers mit diesem Zuge, als ob ich selbst jeden der Wagen durchsucht hätte, und zweifle nicht, daß Sie darin vollkommen meiner Ansicht sein werden.

Jetzt kennen Sie das Unglück, das geschehen ist. Lassen Sie uns mit Jammern weder Zeit noch Worte vergeuden. Das Unglück ist einmal geschehen, und Sie und ich müssen die Mittel finden, es wieder gut zu machen.

Was ich meinerseits bereits ausgerichtet habe. läßt sich in zwei Worten sagen. Mit allem Widerstreben, das ich anfangs empfand, diese zarte Angelegenheit fremden Händen anzuvertrauen, war es vorbei, sowie ich Robert’s Meldung hörte. Sofort begab ich mich in die City zurück und legte die ganze Sache confidentiell meinem Sachwalter dar. Die Besprechung dauerte sehr lange, und als ich die Expedition verließ, war es zum Schreiben zu spät, sonst würde ich Ihnen anstatt heute, schon am Montag geschrieben haben. Meine Unterredung mit den Advocaten war keine sehr ermuthigende. Sie sagen mir offen, daß dem Wiederauffinden der verlorenen Spur ernstliche Schwierigkeiten im Wege ständen. Doch haben sie ihr Möglichstes zu thun versprochen und wir uns über die zu thuenden Schritte geeinigt —— einen einzigen Punkt ausgenommen, über den wir durchaus verschiedener Ansicht sind. Ich muß Ihnen diese Meinungsverschiedenheit auseinandersetzen; denn so lange meine Geschäftsangelegenheiten meine Anwesenheit in Thorpe-Ambrose unmöglich machen, sind Sie die einzige Person, der ich meine Ansichten zur Prüfung anheim geben kann.

Die Sachwalter meinen also, das Frauenzimmer habe von Anfang an gewußt, daß ich sie beobachtete; darum sei für jetzt keine Aussicht vorhanden, daß sie die Unvorsichtigkeit begehen werde, sich in Thorpe-Ambrose blicken zu lassen; das Unheil, das sie etwa anzustiften im Sinne, sei nun Andern übertragen, und der einzige vernünftige Schritt von Allan’s Freunden müsse ein passives Zuwarten sein, bis die Ereignisse sie weiter aufklären. Meine eigene Meinung läuft dieser schnurstracks zuwider. Nach dem, was sich auf dem Bahnhofe ereignet, kann ich nicht umhin, einzuräumen, daß das Frauenzimmer entdeckt haben muß, wie ich sie beobachtet. Aber sie hat keinen Grund, anzunehmen, daß es ihr nicht gelungen, mich zu hintergehen, und ich glaube fest, sie ist verwegen genug, uns zu überrumpeln und sich in Allan’s Vertrauen einzuschleichen, oder einzudrängen, ehe wir Vorkehrungen getroffen haben, sie daran zu verhindern. Sie, und Sie allein können (so lange ich in London aufgehalten werde) entscheiden, ob ich recht oder unrecht habe —— und Sie können dies in folgender Weise bewerkstelligen. Suchen Sie unverzüglich zu erfahren, ob seit letztem Montag irgend ein Frauenzimmer, das in der Umgegend fremd, in oder in der Nähe von Thorpe-Ambrose angelangt ist. Ist ein solches Frauenzimmer bemerkt worden (und auf dem Lande entgeht Niemand der Beobachtung) so ergreifen Sie die erste beste Gelegenheit, sie zu sehen, und fragen sich, ob ihr Gesicht gewissen deutlichen Fragen entspricht, die ich Ihnen vorzulegen im Begriffe bin, oder nicht. Sie können sich auf meine Genauigkeit verlassen. Ich habe das Frauenzimmer mehr als einmal entschleiert gesehen und zwar das letzte Mal mit Hilfe eines vortrefflichen Opernglases.

1) Ist ihr Haar hellbraun und anscheinend nicht sehr stark?
2) Ist ihre Stirn hoch, schmal und zurückweichend?
3) Sind ihre Augenbrauen sehr schwach gezeichnet und ihre Augen klein und eher dunkel, als hell —— entweder grau oder braun (ich habe sie nicht nahe genug gesehen, um hierüber ganz sicher zu sein)?
4) Ist ihre Nase eine Adlernase?
5) Sind ihre Lippen dünn und ist die Oberlippe etwas lang?
6) Sieht ihre Hautfarbe aus, als ob sie ursprünglich sehr zart gewesen sei und sich allmählich in eine trübe kränkliche Blässe verwandelt habe?
7) und letztens, hat sie ein zurückweichendes Kinn, und befindet sich auf der linken Seite desselben ein Merkmal irgendwelcher Art —— entweder eine Narbe oder ein Mal —— ich weiß nicht, was von beiden?

Ich sage nichts von ihrem Gesichtsausdrucke, denn Sie können sie vielleicht unter Umständen sehen, die diesen theilweise verschieden zeigen von dem, welchen ich an ihr wahrnahm. Prüfen Sie ihre Züge, die keine Zufälligkeiten verändern können. Befindet sich eine Fremde in Ihrer Umgegend und entsprechen deren Züge meinen sieben Fragen —— so haben Sie die Person gefunden! In diesem Falle gehen Sie augenblicklich zum nächsten Advocaten und geben meinen Namen als Bürgschaft für die Kosten, die ihre strenge Bewachung bei Nacht und bei Tage verursachen wird. Darauf setzen Sie mich mit möglichster Schnelligkeit von dem Geschehenen in Kenntniß und ich werde dann unverzüglich nach Norfolk eilen, meine Geschäfte mögen hier zu Ende gebracht sein oder nicht.

Jedenfalls —— ob Sie« nun meinen Argwohn bestätigen oder nicht —— schreiben Sie mir mit umgehender Post. Schreiben Sie —— wenn auch nur, um mir den Empfang meines Briefes anzuzeigen. Fern von Allan stehe ich eine Angst und Spannung aus, welche Sie allein mir etwas lindern können. Wie ich Sie kenne, bin ich überzeugt, daß ich kein Wort weiter zu sagen’ brauche.

Stets Ihr aufrichtiger Freund

Decimus Brock.«

Die fatalistische Anschauung die sich seiner jetzt bemächtigte, machte, daß Midwinter ohne das geringste Zeichen des Interesses oder des Erstaunens las, was der Pfarrer von seiner Niederlage schrieb. Die einzige Stelle in dem Briefe, die er noch einmal überflog, war der Schluß desselben Er las den letzten Satz von neuem, und sann dann einen Augenblick darüber nach. »Ich habe Mr. Brocks Güte viel zu verdanken«, dachte er, »und ich werde Mr. Brock niemals wiedersehen. Es ist nutz- und hoffnungslos —— aber er bittet mich, es zu thun, und es. soll gethan werden. Ein einziger Blick in ihr Gesicht wird genügen —— ein einziger Blick, mit seinem Briefe in der Hand —— und eine Zeile, um ihm zu sagen, daß das Weib hier ist!«

Abermals blieb er zögernd an der halb geöffneten Thür stehen. Die grausame Notwendigkeit, Allan sein Lebewohl zu schreiben, trat ihm von neuem entgegen und hielt ihn fest.

Zweifelhaft sah er auf die neben ihm liegende Epistel des Pfarrers. »Ich will die beiden Briefe zugleich schreiben«, sagte er, »der eine kann mir vielleicht bei dem andern helfen.« Sein Gesicht überzog sich mit einer hohen Röthe, als ihm diese Worte entschlüpften Er war sich bewußt, etwas zu thun, was er noch nie zuvor gethan hatte —— freiwillig schob er die böse Stunde hinaus und nahm Mr. Brock zum Vorwande, um eine letzte Frist zu gewinnen.

Der einzige Laut, der durch die geöffnete Thür zu ihm drang, waren Allan’s geräuschvolle Bewegungen im nächsten Zimmer. Sofort trat er in den leeren Corridor hinaus und verließ, von Niemandem auf der Treppe gesehen, das Haus. Die Besorgniß sein Entschluß Allan zu Verlassen, müsse wanken, falls er den Freund wiedersähe, war noch ebenso lebendig in ihm, wie während der ganzen Nacht hindurch. Erleichtert that er einen tiefen Athemzug, als er die Stufen vor der Hausthür herabging —— erleichtert, weil er dem herzlichen Morgengruße des einzigen menschlichen Wesens entgangen, das er liebte!

Mit Mr. Brock’s Briefe in der Hand betrat er das Bosket Und schlug den kürzesten Weg nach dem Häuschen des Majors ein. Nicht die geringste Erinnerung der Gespräche war ihm blieben, die in der Nacht den Weg zu seinen Ohren gefunden hatten. Der einzige Grund, der ihn bewog das Weib zu sehen, war der ihm vom Pfarrer gegebene. Die einzige Erinnerung, die ihn jetzt nach der Stelle führte, wo sie augenblicklich weilte, die Erinnerung ’an Allan’s Ausruf, als er die Gouvernante mit der Gestalt am Teiche identifizierte.

Am Pförtchen des Parkhäuschens blieb er stehen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er seinen Zweck verfehlen würde, wenn er in Gegenwart des Weibes die Fragen des Pfarrers consultirte. Ihr Argwohn würde wahrscheinlich zuerst schon dadurch erregt werden, daß er sie zu sehen verlangte (wie dies seine Absicht war, mit oder ohne Entschuldigung), und der Brief in seiner Hand mußte sie in jenem Argwohn bestärken. Sie konnte ihn schlagen, indem sie augenblicklich das Zimmer verließ. Entschlossen, sich die Beschreibung zuvörderst fest einzuprägen und ihr dann gegenüber zu treten, öffnete er den Brief und las, während er langsam am Hause hin wandelte, die sieben Fragen, von denen er im voraus überzeugt war, daß das Gesicht des Frauenzimmers ihm darauf antworten würde.

In der Morgenstille des Parks drang selbst das leiseste Geräusch weit. Ein solches unterbrach Midwinter’s Lection.

Er sah auf und fand sich am Rande eines mit Gras bewachsenen breiten Grabens, auf dessen einen Seite der Park lag, dessen andere eine Lorbeerhecke bildete. Die Einfriedung umschloß offenbar den hinteren Theil des zum Parkhäuschen gehörigen Gartens und der Graben diente dazu, jenen vor den im Park weidenden Kühen und Schafen zu schützen. Aufmerksam lauschend, bis das leise Geräusch, das ihn gestört, schwächer wurde erkannte er in demselben das Rauschen von Frauenkleidern. Ein paar Schritte vor ihm führte eine Brücke über den Graben, die durch ein Pförtchen gesperrt wurde und den Graben mit dem Park verband. Er ging durch das Pförtchen über die Brücke und sah sich, als er das Pförtchen am andern Ende aufgemacht, in einer Laube, die dicht mit Schlingpflanzen umzogen war und einen freien Blick auf den ganzen Garten gewährte.

Er sah hinaus und bemerkte die Gestalten zweier Damen, die langsam von ihm fort dem Häuschen zu gingen. Die kleinere der beiden nahm seine Aufmerksamkeit keinen Augenblick in Anspruch —— keine Secunde hielt er sich mit dem Gedanken auf, ob sie die Tochter des Majors sei, oder nicht. Seine Augen waren auf die andere Gestalt geheftet, —— jene Gestalt, welche in einem sich in leichten Falten anschmiegenden langen Kleide mit unbefangener verführerischer Anmuth auf dem Gartenpfade dahin schwebte. Dort, genau, wie es sich ihm schon einmal gezeigt, —— dort, abermals mit dem Rücken ihm zugewendet, war das Weib vom Teiche!

Es war möglich, daß ihre Promenade im Garten noch nicht beendet und daß sie umkehren und nach der Laube zurückkehren würden. Auf diese Möglichkeit wartete Midwinter. Kein Gedanke, daß er sich auf fremden Boden eindränge, hatte ihn an der Thür des Häuschens zurückgehalten, und auch jetzt beunruhigte ihn ein solcher Gedanke nicht. Seit der grausamen Pein der vergangenen Nacht war jedes zartere Gefühl in ihm erstorben. Die trotzige Entschlossenheit, das zu thun, weshalb er gekommen, war das einzige Motiv, das ihn noch leitete. Er handelte, ja, er sah aus, wie der stumpfeste Mensch von der Welt an seiner Stelle gehandelt und ausgesehen haben würde. Indessen besaß er noch Geistesgegenwart genug, um, während er wartete, ehe die Gouvernante und ihre Schülerin am Ende des Pfades anlangten, Mr. Brock’s Brief zu öffnen und durch einen letzten Blick den Abschnitt, der ihr Gesicht beschrieb, sich noch einmal ins Gedächtniß zu prägen.

Er war noch in diese Lectüre vertieft als er das leichte Kleiderrauschen wieder näher kommen hörte. Er stand im Schatten des Sommerhäuschens und wartete. Den frischen Eindruck ihres geschriebenen Porträts im Kopfe und mit Hilfe des hellen Morgenlichtes forschten seine Augen in ihrem Gesicht, während sie sich näherte, und die Antworten, die dasselbe ihm gab, waren folgende:

Das Haar in der Beschreibung des Pfarrers war hellbraun und nicht reich. Das Haar dieses Weibes, von einer üppigen Fülle, war von jener auffallenden Farbe, die das Vorurtheil der nördlichen Nationen einzig nicht verzeiht —— es war roth! Die Stirn in der Beschreibung des Pfarrers war hoch, schmal und zurückweichend; die Augenbrauen schwach gezeichnet und die Augen klein und entweder grau oder hellbraun. Die Stirn dieses Weibes war niedrig, gerade und breit nach den Schläfen zu; ihre Brauen, die leicht aber scharf gezeichnet, waren um einen Schatten dunkler, als ihr Haar; ihre Augen, groß, klar und hell geöffnet, waren von jener rein blauen Farbe, in der keine Spur von Grau oder Grün sichtbar, die so oft auf Gemälden und in Büchern unsere Bewunderung erregt und der man im wirklichen Leben so selten begegnet. Die Nase in der Beschreibung des Pfarrers war eine Adlernase. Die Nase dieses Weibes war weder nach außen noch nach innen gebogen: es war die grade, zart geformte Nase mit der kurzen Oberlippe der antiken Statuen und Büsten. Die Lippen in der Beschreibung waren dünn und die Oberlippe lang; die Hautfarbe war von einer trüben kränklichen Blässe; das Kinn zurückweichend und auf der linken Seite desselben, ein Mal oder eine Narbe. Die Lippen des Weibes hier waren voll und sinnlich; ihre Hautfarbe von der blendenden Zartheit, die jene Art von Haar begleitet —— von so zarter Durchsichtigkeit in den rosigen Schattierungen, die Carnation von Stirn und Nacken von so zarten warmen Farbentönen. Ihr Kinn rund und mit Grübchen geziert, war durchaus makellos und stand in Einer Linie mit der Stirn. Näher und immer näher, schöner und immer schöner in dem hellen Morgenlichte kam sie heran —— und bot den auffallendsten unbestreitbaren Gegensatz den das Auge nur sehen, der Geist nur fassen konnte, zu der Beschreibung im Briefe des Pfarrers.

Gouvernante und Schülerin waren bis hart an das Sommerhäuschen herangekommen, ehe sie sich umsahen und Midwinter darin stehen sahen. Die Erzieherin sah ihn zuerst.

»Ein Freund von Ihnen, Miß Milroy?« fragte sie ruhig, ohne zu erschrecken, oder irgend ein Zeichen von Ueberraschung zu geben.

Neelie erkannte ihn augenblicklich. Durch Midwinter’s Benehmen gelegentlich seiner ersten Vorstellung im Parkhäuschen durch seinen Freund bereits gegen ihn eingenommen, begann sie ihn jetzt, als die unglückselige erste Ursache ihres Mißverständnisses mit Allan auf dem Picknick, förmlich zu hassen. Ihr Gesicht überflog ein plötzliches Roth und mit einem Ausdrucke von Ueberraschung und kaltem Befremden wandte sie sich vom Gartenhäuschen ab.

»Er ist ein Freund von Mr. Armadale«, erwiderte sie scharf. »Ich weiß nicht, was er will oder weshalb er hier ist.«

»Ein Freund von Mr. Armadale!« Auf dem Gesicht der Gouvernante blitzte ein rasch erregtes Interesse auf, während sie die Worte wiederholte. Mit der nämlichen Sicherheit erwiderte sie Midwinter’s Blick, der noch immer fest auf ihr Gesicht geheftet war.

»Ich meinestheils«, fuhr Neelie, verdrossen über Midwinter’s Gleichgültigkeit gegen ihre Anwesenheit fort, »finde, daß man sich eine große Freiheit herausnimmt, wenn man Papas Garten wie den offenen Park betrachtet!«

Die Gouvernante wandte sich um und vermittelte mild.

»Meine liebe Miß Milroy«, remonstrirte sie, »wir müssen gewisse Unterschiede machen. Dieser Herr ist ein Freund von Mr. Armadale. Sie könnten sich kaum stärker ausdrücken, wenn er ein Fremder wäre.«

»Ich spreche meine Meinung aus«, entgegnete Neelie, gereizt von dem ironisch nachsichtigen Tone, in dem die Erzieherin zu ihr sprach. »Das ist Geschmackssache, Miß Gwilt, und der Geschmack ist verschieden.« Sie wandte sich ärgerlich ab und ging allein nach dem Häuschen zurück.

»Sie ist sehr jung«, sagte Miß Gwilt, indem sie Midwinter mit einem Lächeln um Nachsicht bat; »und außerdem, wie Sie selbst sehen müssen, ein verzogenes Kind.« Sie schwieg, zeigte, jedoch nur auf einen Augenblick, ihr Erstaunen über Midwinter’s seltsames Schweigen und seinen seltsam auf sie gehefteten Blick und machte sich dann mit reizender Anmuth und Gewandtheit daran, ihn aus der falschen Stellung zu befreien, in der er sich befand. »Da Sie Ihren Spaziergang so weit ausgedehnt haben«, fuhr ste fort, »so erzeigen Sie mir bei Ihrer Heimkehr vielleicht den Gefallen, einen kleinen Auftrag an Ihren Freund auszurichten. Mr. Armadale hat mich auf heute Morgen zu einer Besichtigung der Gärten von Thorpe-Ambrose freundlichst eingeladen. Wollen Sie ihm sagen, daß Major Milroy mir gestattet, der Einladung in Gesellschaft von Miß Milroy, zwischen zehn und elf Uhr, Folge zu leisten?« Einen Augenblick ruhten ihre Blicke mit erneutem Interesse auf Midwinter’s Gesichte. Noch immer wartete sie vergebens aus eine Antwort von ihm, lächelte, als ob sein merkwürdiges Schweigen sie eher ergötzte als erzürnte, und kehrte, ihrer Schülerin folgend, nach dem Parkhäuschen zurück.

Erst als die letzte Spur von ihr verschwunden, riß Midwinter sich aus seiner Betäubung heraus und versuchte sich seine Lage zu Vergegenwärtigen. Ihre Schönheit war keineswegs an dem athemlosen Erstaunen schuld, das ihn bis zu diesem Augenblicke gefesselt gehalten. Der einzige deutliche Eindruck, den sie bis jetzt auf ihn gemacht, begann und endete mit der Entdeckung des wunderbaren Contrastes, den ihr Gesicht Zug für Zug mit der Beschreibung in Mr. Brock’s Briefe bot. Alles Andere war ihm unklar und nebelhaft —— eine undeutliche Erinnerung an ein schlankes elegantes Weib, an gütige Worte, die mit Bescheidenheit und Anmuth zu ihm gesprochen worden, weiter nichts.

Ohne zu wissen warum, machte er einige Schritte in den Garten hinaus blieb stehen, während er wie ein Verirrter dahin und dorthin blickte, erkannte mit Anstrengung das Gartenhäuschen, als wenn Jahre vergangen, seit er es zuletzt gesehen, und ging endlich wieder in den Park hinaus. Selbst hier wandelte er zuerst bald links bald rechts. Sein Geist taumelte noch unter der erlittenen Erschütterung; seine Wahrnehmungen veränderten sich samt und sonders. Ein Etwas erhielt ihn in fortwährender Thätigkeit, ohne Grund und ohne Ziel wanderte er umher.

Ein Mann von weit weniger sensibler Natur hätte sich durch die ungeheure augenblickliche Gefühlsumwälzung überwältigt fühlen dürfen, welche dies Begebniß der letzten Minuten in ihm hervorgebracht hatte.

In dem denkwürdigen Augenblicke, da er die Thür des Sommerhäuschens öffnete, waren seine Geisteskräfte völlig frei und klar gewesen. Mit Recht oder mit Unrecht war er in Allem, was sich auf sein Verhältniß zu Allan bezog, durch einen ganz bestimmten Gedankengang zu einem ganz bestimmten Schlusse gelangt. Die ganze Gewalt des Motives, das ihn zu dem Entschlusse einer Trennung von Allan getrieben, wurzelte in dem Glauben, daß er am Hurle Mere die unheilvolle Erfüllung des ersten Traumgesichts erblickt habe. Und dieser Glaube ruhte seinerseits nothwendigerweise auf der Ueberzeugung, daß das Weib, die Person, welche allein das Trauerspiel in Madeira überlebte, unvermeidlich auch das Weib sein müsse, welches er anstatt des Schattens hatte am Teiche stehen sehen. Fest in dieser Ueberzeugung, hatte er selbst den Gegenstand seines Argwohns und des Argwohns seines ehrwürdigen Freundes, Mr. Brock, mit der Beschreibung dieses Letzteren verglichen —— eine genaue umständliche Beschreibung von der Hand eines vollkommenen zuverlässigen Mannes —— und seine eigenen Augen hatten ihn überzeugt, daß das Weib, welches er am Teiche erblickt, und das Weib, das Mr. Brock in London identifizierte, nicht eine und dieselbe Person waren. An Stelle des Traum-Schattens hatte, nach dem in dem Briefe des Pfarrers enthaltenen Beweise, nicht das Werkzeug des Verhängnisses —— sondern eine Fremde gestanden!

Zweifel, wie sie sich vielleicht in einem weniger abergläubischen Menschen geregt hätten, wurden durch die Entdeckung, die er jetzt gemacht, in ihm nicht erweckt.

Es fiel ihm nicht ein, sich jetzt, da der Brief ihm gezeigt, daß eine Fremde als die Gestalt in der Traumlandschaft dagestanden, zu fragen, ob nicht eine Fremde das vom Verhängniß auserkorene Werkzeug sein dürfe. Ein solcher Gedanke stieg in ihm gar nicht auf —— konnte ihm gar nicht aufsteigen. Das eine Weib, das sein Aberglaube fürchtete, war das Weib, welches sich mit dem Leben der beiden Armadales aus der ersten Generation und mit den Schicksalen der beiden Armadales aus der zweiten verflocht —— das zugleich der in der Warnung seines sterbenden Vaters bezeichnete Gegenstand und die erste Ursache der traurigen Familienereignisse war, welche Allan den Weg zu den Gütern von Thorpe-Ambrose gebahnt —— das Weib, mit Einem Worte, welches er, hätte ihn des Pfarrers Brief nicht irregeführt, instinktmäßig in dem Weibe erkannt haben würde, das er soeben gesehen hatte.

Das soeben erlebte Begebniß unter dem Einflusse des Irrthums betrachtend, zu dem der Pfarrer ihn unschuldigerweise verleitet hatte, erkannte und erfaßte sein Geist unverzüglich den neuen Schluß und verfuhr genau in derselben Weise, wie er damals bei seiner Unterredung mit Mr. Brock aus der Insel Man verfahren war.

Gerade, wie er damals als eine völlig genügende Widerlegung des Fatalitätsgedankens erklärt hatte, daß er auf allen seinen Seereisen bisher nie auf das Holzschiff gestoßen war, so erfaßte er auch jetzt den ähnlich gewonnenen Schluß, daß der ganze Anspruch des Traumes an einen übernatürlichen Ursprung mit der Erscheinung einer Fremden an der Stelle des Schattens von selbst über den Haufen fiel. Einmal zu dieser Ueberzeugung gelangt und ermuthigt, sich durch seine Liebe zu Allan ausschließlich wieder leiten zu lassen, durchflog sein Geist mit Blitzesschnelle die ganze, sich daraus entwickelnde Gedankenreihe. Brauchte der Traum nicht länger als eine Warnung aus einer andern Welt angenommen zu werden, so folgte hieraus unumgänglich, daß, der Zufall und nicht das Verhängniß den Weg zu jener Nacht auf dem Verdeck geführt hatte, und daß Alles, was seit seiner und Allan’s Trennung von Mr. Brock passiert, an sich harmlose Ereignisse gewesen waren, die nur sein Aberglaube verunstaltet hatte. In weniger als einer Secunde hatte seine bewegliche Phantasie ihn nach jenem Morgen in Castletown zurückversetzt, da er dem Pfarrer das Geheimniß seines Namens offenbart und ihm, mit dem Briefe seines Vaters vor sich, den besseren Glauben bekannt hatte, der in ihm lebte. Von neuem fühlte er, wie sein Herz festhielt an dem Bruderbande zwischen ihm und Allan; abermals konnte er mit der warmen Offenheit der Vergangenheit zu sich sprechen: »Wenn mir der Gedanke, Allan zu verlassen, das Herz bricht, so ist der Gedanke unrecht!« Während sich diese edlere Ueberzeugung wieder seiner bemächtigte, den Aufruhr seiner Brust beschwichtigte und die Verwirrung in ihm löste, erblickte er durch das Laub der Bäume hindurch das Haus von Thorpe-Ambrose, auf dessen Stufen Allan stand und ihn erwartete. Ein Gefühl unaussprechlicher Erleichterung hob seinen lebhaften Geist hoch über die Sorgen und Zweifel und Aengste hinweg, die ihn so lange bedrückt hatten, und zeigten ihm wieder die bessere und schönere Zukunft seiner Jugendträume. Seine Augen füllten sich mit Thränen und er drückte, wie er Allan durch die Baumperspective hindurch betrachtete, den Brief des Pfarrers in seiner wilden leidenschaftlichen Weise an die Lippen. »Ohne dies Stückchen Papier«, dachte er, »würde mein Leben mir wohl nichts gewesen sein, als ein langer bitterer Gram, und das Verbrechen meines Vaters hätte uns vielleicht auf immer geschieden!«

Dies war der Erfolg der Kriegslist, vermittelst derer dass Gesicht des Stubenmädchens Mr. Brock als das Gesicht von Miß Gwilt gezeigt worden war. Und so triumphierte die Schlauheit Mutter Oldershaw’s —— indem durch sie Midwinter’s Vertrauen auf seinen Aberglauben in dem einzigen Falle, wo diesen sein Aberglaube ihn zur Wahrheit leitete, erschüttert wurde —— über Schwierigkeiten und Gefahren, welche von Mutter Oldershaw selbst gar nicht in Betracht gezogen worden waren.


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