Fräulein oder Frau?
Kapitel 9
Verrat
„Amelia!“
„Sage doch etwas!“
„Bitte ihn, sich zu setzen...“
So miteinander flüsternd, standen die drei Stieftöchter Lady Winwoods in ihrem eigenen Salon, in hilfloser Verwirrung einem Gaste gegenüber, der vor ihnen an der Schwelle der Tür stand.
Es war am dreiundzwanzigsten Dezember, zwischen zwei und drei Uhr nachmittags. Die drei Schwestern waren eben von der Versammlung des Komitée der Gesellschaft für geistliche Konzerte nach Hause zurückgekommen, und der ihnen gegenüberstehende Gast war Richard Turlington. Er stand, den Hut in der Hand, an der Tür, höchst erstaunt über die ihm zuteil werdende Aufnahme.
„Ich bin diesen Morgen von Somersetshire gekommen“, sagte er. „Haben Sie es nicht gehört? Ein Geschäft auf meinem Comptoir hat mich genötigt, meine Freunde in meinem Landhause allein zu lassen. Ich kehre morgen wieder zu ihnen zurück. Wenn ich sage, meine Freunde, so meine ich die Graybrookes. Wissen Sie nicht, daß sie bei mir sind? Sir Joseph und Fräulein Lavinia und Natalie?“
Die Nennung von Nataliens Namen schien einen besonderen Eindruck auf die Schwestern hervorzubringen. Sie wandten sich hin und her und sahen einander mit hilflosen Blicken an. Turlingtons Geduld fing an, ihm auszugehen.
„Wollen Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, was dies alles bedeutet?“ fragte er in etwas scharfem Ton. „Fräulein Lavinia bat mich, als sie hörte, daß ich nach der Stadt fahre, hier vorzusprechen. Ich solle ihr das Muster eines Kleides mitbringen, welches Sie mir, wie sie sagte, geben würden. Sie müssen seitdem ein Telegramm mit genaueren Mitteilungen darüber erhalten haben. Ist das nicht in Ihre Hände gelangt?“
Der starke Geist der drei Schwestern war Fräulein Amelia. Sie war die erste, welche über so viel Fassung gebot, um auf Turlingtons deutliche Frage eine deutliche Antwort zu geben. „Wir haben das Telegramm diesen Morgen erhalten“, sagte sie; „aber seitdem hat sich etwas ereignet, was uns sehr überrascht und betroffen gemacht hat. Wir bitten Sie um Verzeihung.“ Sie wandte sich zu einer ihrer Schwestern. „Sophie, das Muster liegt in der Schublade des Tisches hinter dir bereit. Gib es Herrn Turlington.“
Sophie holte das Paket hervor, aber bevor sie es Turlington überreichte, sah sie ihre Schwester an. „Sollen wir Herrn Turlington wieder gehen lassen“, fragte sie leise, „als ob nichts vorgefallen sei?“
Amelia dachte schweigend nach. Dorothea, die dritte Schwester, die bis jetzt noch gar nicht gesprochen, hatte etwas zu sagen. Sie schlug vor, ehe sie in der Sache weiter vorgingen, sich zu erkundigen, ob Lady Winwood zu Hause sei. Dieser Vorschlag wurde sofort angenommen. Amelia befragte den Diener, der alsbald erschien. Lady Winwood war unmittelbar nach dem Frühstück ausgefahren; Lord Winwood, nach welchem sie sich dann erkundigten, hatte seine Gattin begleitet. Sie hatten nichts über die Zeit hinterlassen, wann sie zurückkommen würden. Die Schwestern sahen Turlington an, unsicher, was sie nun sagen oder tun sollten. Fräulein Amelia entschloß sich, ihn, sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, anzureden.
„Ist es Ihnen möglich, hier zu verweilen“, fragte sie, „bis mein Vater oder Lady Winwood wieder nach Hause kommt?“
„Das ist mir ganz unmöglich. Die Minuten sind heute kostbar für mich.“
„Können Sie uns denn eine Minute Zeit geben? Wir möchten uns über etwas beraten, das wir Ihnen vielleicht sagen müssen, ehe Sie uns verlassen.“
Turlington, dem diese Bemerkung sehr auffallend war, setzte sich nieder. Fräulein Amelia legte ihren Schwestern am anderen Ende des Zimmers die Sache vom Gesichtspunkte strenger Gewissenspflicht vor. „Wir sind diesem abscheulichen Betruge nicht etwa in unerlaubter Weise auf die Spur gekommen“, sagte sie. „Die Entdeckung ist uns aufgedrängt worden, und wir sind niemandem gegenüber verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren. Mir scheint, wir sind, nachdem wir erfahren haben, wie schändlich diesem Herrn mitgespielt worden ist, moralisch verpflichtet, ihm die Augen zu öffnen. Wenn wir schweigen, so machen wir uns zu Mitschuldigen unserer Stiefmutter. Ich meinerseits will – gleichviel, was daraus entstehen mag – eine solche Mitschuld entschieden nicht auf mich laden.“
Ihre Schwestern stimmten ihr bei. Zum ersten Male hatte ihre gewandte Stiefmutter ihnen eine Gelegenheit gegeben, sich gewissermaßen an ihr zu rächen. Ihr eifersüchtiger Haß gegen Lady Winwood konnte sich hier hinter der Maske der Pflicht, einer Pflicht gegen einen mißhandelten und betrogenen Nebenmenschen, verbergen. Konnte es auf der Welt ein reineres Motiv für ihre Handlungsweise geben? - „Sage es ihm, Amelia!“ riefen die beiden jungen Damen mit der dem weiblichen Geschlechte eigenen, rücksichtslosen Unbesonnenheit, welche nicht eher nachdenkt, als bis die Zeit zur Überlegung vorüber ist.
Ein unbehagliches Gefühl fing an, Turlington zu beschleichen und ihn ahnen zu lassen, daß hier etwas durchaus nicht in Ordnung sei.
„Ich will sie gewiß nicht drängen“, sagte er, „aber wenn Sir mir wirklich etwas zu sagen haben -“
Fräulein Amelia bot ihren ganzen Mut auf und fing, indem sie ihn unterbrach, an: „Wir haben Ihnen etwas sehr Schreckliches mitzuteilen... Sie sind hier im Hause als Verlobter der Cousine Lady Winwoods, Fräulein Natalie Graybrooke, eingeführt worden.“ Nach diesem Beginn ihrer Eröffnung hielt sie wieder inne. Turlingtons Gesicht veränderte sich plötzlich in einer Weise, daß sie für einen Augenblick den Mut verlor. „Wir haben bis jetzt geglaubt“, fuhr sie dann wieder fort, „daß Sie jene junge Dame zu Anfang nächsten Monats heiraten würden.“
„Nun?...“ Nur das eine Wort vermochte er auszusprechen. Bei dem Anblick ihrer bleichen Gesichter und ihrer aufgeregten Mienen vermochte er nichts weiter zu sagen.
„Nimm dich in Acht!“ flüsterte Dorothea ihrer Schwester ins Ohr. „Sieh ihn an, Amelia! Nicht zu rasch!“
Amelia fuhr vorsichtig fort: „Wir kommen eben aus der Versammlung eines Konzert-Komitée nach Hause. Eine der zum Komitée gehörenden Damen war eine alte Bekannte, eine frühere Schulkameradin von uns. Sie ist die Frau des Oberpfarrers von St. Columbus, einer großen, am Ostende Londons, weit von hier gelegenen Kirche...“
„Ich kenne weder die Frau, noch die Kirche“, unterbrach sie Turlington finster.
„Ich muß Sie bitten, sich noch ein klein wenig zu gedulden. Ich kann Ihnen das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht mitteilen, ohne mich auf die Frau Pfarrerin zu beziehen. Sie kennt Lady Winwood dem Namen nach und hat kürzlich unter sehr sonderbaren Umständen von Lady Winwood gehört – unter Umständen, die mit einer Unterschrift in einem der Kirchenbücher zusammenhängt.“
Turlington verlor die Herrschaft über sich. „Sie haben mir etwas gegen meine Natalie zu sagen“, platzte er heraus; „ich merke es an Ihrem Geflüster, ich sehe es an Ihren Blicken. Sagen Sie es mir ohne Umschweife gerade heraus!“
In diesem Augenblick war nicht mit ihm zu spaßen. Und Amelia sagte es ohne Umschweife, was sie wußte. --
Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer. Man konnte die Tritte der auf der Straße Vorübergehenden vernehmen. Turlington blieb regungslos auf der Stelle stehen, an die sie ihn durch ihre Mitteilung sprachlos gebannt hatten und stützte sich mit der rechten Hand auf ein neben ihm stehendes Sofa. Die Schwestern flohen entsetzt in den entferntesten Winkel des Zimmers. Der Ausdruck sienes Gesichts erfüllte sie mit Grauen. In seinen Augen, in denen sich zuerst nur stummes Elend gemalt hatte, blitzte allmälig ein furchtbarer Haß, der den Mädchen das Blut in den Adern erstarren machte. Sie flüsterten fieberhaft miteinander, ohne selbst zu wissen, was sie sagten, ohne ihre eigenen Stimmen zu vernehmen. Die eine sagte: „Klingle!“, die andere: „Biete ihm etwas an, er fällt in Ohnmacht.“ Die dritte schauderte und wiederholte immer wieder: „Warum haben wir es getan? Warum haben wir es getan?...“
Plötzlich brachte er sie zum Schweigen, indem er seinerseits sprach; langsam, Schritt für Schritt kam er auf sie zu, während ihm die dicken Schweißtropfen fieberhafter Aufregung über die Stirn rollten. „Schreiben Sie mir den Namen der Kirche auf – hier!“ sagte er mit heiser, flüsternder Stimme. Dabei hielt er Amelia sein offenes Notizbuch entgegen. Sie nahm sich zusammen und schrieb die Adresse hinein. Sie versuchte es, ein besänftigendes Wort zu sagen, aber das Wort erstarb ihr auf der Zunge. In seinen Augen zuckte, als er sie anblickte, etwas, das seinem Gesichte einen teuflischen Ausdruck gab, so daß sie sich schaudernd von ihm abwandte. Er steckte das Notizbuch wieder in die Tasche und wischte sich mit dem Tuch über das Gesicht. Nach einem Augenblick unentschlossener Überlegung stahl er sich plötzlich rasch zum Zimmer hinaus, als ob er fürchte, daß sie jemanden rufen und ihn zurückhalten würden. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: „Sie werden erfahren, wie das geendigt hat. Adieu!“
Die Tür schloß sich hinter ihm. Als die Schwestern allein waren, fingen sie an, sich das Geschehene deutlich zu machen. Jetzt, wo er fort und wo es zu spät war, dachten sie an die Folgen. Die Graybrookes! Was würde jetzt, wo er es wußte, aus den Graybrookes werden? Was würde er tun, wenn er wieder zu denselben käme? Er war selbst zu gewöhnlichen Zeiten, wenn er sich so anständig als möglich betrug, ein roher Mensch. Was würde daraus entstehen, - o, guter Gott! Was würde daraus entstehen, wenn er und Natalie sich wieder von Angesicht zu Angesicht einander gegenüberständen. Sein Haus lag einsam – Natalie hatte ihnen davon erzählt – und hatte keine Nachbarn in der Nähe; kein Mensch war in der Nähe, der zwischen beide treten konnte, außer dem schwachen alten Vater und der jungfräulichen Tante. Es mußte etwas geschehen, es mußten Schritte getan werden, um sie zu warnen. Aber woher Rat nehmen? Wer war die beste Person, der sie hätten erzählen können, was sich zugetragen hatte? Lady Winwood? - Nein! Selbst in diesem kritischen Augenblick schreckten die Stieftöchter vor dem Gedanken an ihre Stiefmutter zurück. Kein Wort zu ihr! Gegen sie hatten sie keine Pflicht! Aber an wen anders konnten sie sich wenden? An ihren Vater? Ja! Das war der Mann, bei dem sie sich Rats erholen konnten. Inzwischen gelobten sie sich Schweigen gegen ihre Stiefmutter, strengstes Stillschweigen gegen jedermann, bis ihr Vater wieder nach Hause käme.
Sie warteten und warteten. Der Zeiger auf dem Zifferblatte berührte, eine nach der anderen, die kostbaren Leben und Tod entscheidenden Stunden. Lady Winwood war allein nach Hause zurückgekehrt. Sie hatte ihren Gatten im Oberhause zurückgelassen. Die Eßstunde kam und mit ihr ein Billet von Sr. Lordschaft: eine interessante Debatte fessele ihn im Hause. Lady Winwood und seine Töchter möchten nicht mit dem Essen auf ihn warten.
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