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Zwei Schicksalswege

Dreißigstes Kapitel

Ein Rückblick

Ich erhielt von Frau van Brandt, drei Tage nachdem ich mit meiner Mutter in Torquay angekommen war, eine Antwort auf meinen Brief. Sie benachrichtigte mich im Eingange, dass van Brandt allerdings in Freiheit gesetzt worden sei, aber unter Umständen, die sie mit der quälenden Vermutung erfüllten, dass meinerseits dabei Opfer gebracht worden seien, zu denen ich mich nun nicht bekennen wollte. Dann lautete der Brief weiter:

»Die Anstellung, die Herr van Brandt nun erhalten hat, sichert uns, wenn auch kein üppiges, so doch ein behagliches Auskommen. Vor mir liegt nun, seit meine Lebenssorgen begannen, zum ersten Male wieder ein friedliches Leben, da ich, nicht um meinetwillen, aber für mein Kind hoffe, dass unter einem fremden Volke die falsche Stellung, in der ich mich befinde, ein Geheimnis bleiben wird. Damit muss ich mir genügen lassen, denn ein Glück, wie es manchen Frauen beschieden ist, darf ich, wage ich nicht zu erstreben.

»Wir reisen morgen früh von England nach dem Kontinent ab. Soll ich Ihnen sagen, in welchem Teile von Europa ich meine neue Heimat finden werde?

Nicht doch! Sie würden mir wiederum schreiben und ich würde Ihnen antworten. Der einzige, armselige Dank, den ich dem guten Engel meines Lebens aber abstatten kann, ist, dass ich ihn lehre, mich zu vergessen. Mit welchem Rechte dürfte ich den Platz in Ihrer Achtung wohl behaupten, dessen ich mich bemächtigt habe. Sie werden einst einer Frau Ihr Herz geben, die dessen würdiger ist, als ich. Lassen Sie mich aus Ihrem Leben verschwinden und gedenken Sie meiner nur noch gelegentlich, wenn Sie sich an glückliche Tage erinnern, die nie wiederkehren werden.

Mir wird der Rückblick in die Vergangenheit einigermaßen zum Troste gereichen. Seit ich Sie kennen lernte bin ich besser geworden und so lange ich lebe, werde ich dessen gedenken.

Ja! Vom Anfang bis ans Ende ist der Einfluss, den Sie auf mich ausgeübt haben, ein günstiger gewesen. Wenn ich au zugeben muss, dass es für mich ein Unrecht war Sie zu lieben - und mehr noch, Ihnen dieses Gefühl zu gestehen, - so war diese Liebe doch rein, und ich habe wenigstens aufrichtig gestrebt, ihrer Herr zu werden. Mein Herz fühlt sich, abgesehen davon, durch das sympathische Gefühl, das uns vereint, beglückt. Nun da wir so weit getrennt sind und uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden, darf ich Ihnen bekennen, was ich bisher nie eingestand, dass meine innersten Eingebungen mich immer, wenn ich ihnen rückhaltlos Gehör gab, auf Sie zu verweisen schienen. Wenn mein Gemüt einmal wirklich Frieden gefunden hatte, und ich mit aufrichtig reuigem Herzen zu beten vermochte, so überkam mich das Gefühl, als führte ein geheimer Zug uns näher und näher zu einander und seltsamerweise geschah das immer nur, wenn ich von van Brandt getrennt war, wie ich auch dann nur jene Träume von Ihnen hatte. Es hat mir in solchen Zeiten, ob denkend oder träumend, immer geschienen, als wären Sie mir viel näher bekannt, als wenn wir uns dann wirklich leiblich gegenüber standen. Ich möchte wissen ob es doch ein Dasein vor diesem jetzigen, bewussten gibt? Ob wir einst in einer anderen Sphäre vor tausenden von Jahren treue Gefährten waren? Müßige Vermutungen! Ich will mir daran genügen lassen, dass ich so glücklich war Sie zu kennen, ohne das Wie oder Warum zu ergründen.

Leben Sie wohl, mein geliebter Wohltäter, mein einziger Freund! Mein Kind sendet Ihnen einen Kuss und die Mutter zeichnet sich, als Ihre dankbare und getreue

M. van Brandt.«

Es erschien mir damals höchst wunderbar, dass mich diese Zeilen, als ich sie zum ersten Male las, wiederum an die Prophezeiungen der Dame Dermody aus meiner Knabenzeit erinnerten. Die vorausgesagten, sympathischen Bande, die mich an Mary knüpfen sollten, fesselten mich ja nun wirklich, aber an eine Fremde, die ich zufällig in einer späteren Lebenszeit kennen gelernt hatte! Drang ich aber dennoch nicht weiter vor, da meine Gedanken doch einmal diese Richtung einschlugen? Brachten sie mich keinen Schritt vorwärts? Nein, selbst jetzt überkam mich noch keine Ahnung von der Wahrheit.

War meine eigene, schwerfällige Auffassungsgabe daran Schuld? Hätte jemand anderes in meiner Lage entdeckt, was mir noch verborgen blieb?

Ich blicke auf die Verkettung der Ereignisse zurück, die sich durch meine Erzählung ziehen, und frage mich selbst, worin sollte für mich oder irgend einen Anderen die Möglichkeit liegen, eine Übereinstimmung zwischen dem Kinde, welches Mary Dermody war, und der Frau, die ich als Frau van Brandt kannte, zu finden? War in unseren Zügen noch etwas übrig geblieben, was uns bei unserem Begegnen an dem schottischen Flusse an unsere Jugenderscheinungen erinnern konnte? Wir hatten uns in der Zwischenzeit vom Knaben und Mädchen zum Manne und Weibe entwickelt und keine äußere Spur verriet, dass wir der George und die Mary aus früheren Tagen waren. Wie unser Aussehn uns über einander täuschte, so taten es auch unsere Namen.

Ihre Scheinehe hatte ihren Zunamen verändert, das Testament meines Stiefvaters den meinen. Ihr Taufname war einer der gebräuchlichsten Frauennamen, und der meine war weit entfernt zu den gewählteren Männernamen zu gehören. Betrachtet man nun die verschiedenen Gelegenheiten wo wir uns sahen, so waren sie niemals geeignet, ein jeder Erkennen zu ermöglichen, wie es im ruhigen Gespräch geschehen konnte. Wir waren uns überhaupt nur vier Mal begegnet, das eine Mal auf der Brücke, dann in Edinburgh und zwei Mal noch in London. Die überwältigenden Sorgen und Interessen des Augenblicks hatten bei allen diesen Gelegenheiten ihre Gedanken, wie die meinen in Anspruch genommen und ihre, wie meine Worte beeinflusst. Wann hätten die Ereignisse, die uns zusammenführten, uns Ruhe und Muße genug gelassen, um gemächlich auf unser Leben zurückzublicken und die Gegenwart ruhig mit unseren Jugenderinnerungen zu vergleichen? Niemals! Der Lauf der Ereignisse hatte uns vom Beginn bis zum Ende von jedem Resultate weiter und weiter entfernt, das auch nur zu einer Vermutung der Wahrheit hätte führen können. Als sie mir bei ihrer Abreise von England schrieb und während ich ihren Brief las, konnten wir beide nur annehmen, dass wir uns am Flusse dort zuerst gesehen hatten, und dass nun unsere Lebenswege auseinander gingen und wir für immer getrennt waren.

Nun ich in späteren Tagen ihren Abschiedsbrief im Lichte meiner gereiften Erfahrung wieder lese, sehe ich erst ein, wie wunderbar Dame Dermodys Glaube an die Einheit des Bandes, das unsere verwandten Geister verknüpfte, durch den Erfolg gerechtfertigt worden ist.

Nur wenn meine anerkannte Mary von van Brandt getrennt war, also mit anderen Worten, nur wenn sie ein reiner Geist war, geschah es, dass sie meinen Einfluss wohltuend auf ihr Leben wirken fühlte, und dass ihre Erscheinung mit mir in ihrer sichtbaren und vollkommen ähnlichen Gestalt verkehrte. Und wo träumte ich meinerseits je von ihr als in Schottland, und wo fühlte ich im wachen Zustande die geheimnisvolle Mahnung ihrer Gegenwart als auf Shetland? Immer also nur dann, wenn meine Herz sich ihr und Anderen am innigsten erschloss, wenn mein Geist am freiesten von den bitteren Zweifeln und den selbstsüchtigen Bestrebungen war, die die Gottheit in uns erniedrigen. Dann, aber eben nur dann war meine Übereinstimmung mit ihr jene vollendete Sympathie, die, unerreicht von Zufällen und Wechseln, von den Täuschungen und Versuchungen dieses Lebens, die Treue hält.


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