Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Herz und Wissen



Capitel XXXVI.

Es war Carmina unmöglich, in ihrer jetzigen Gemüthsverfassung ihr einsames Zimmer aufzusuchen, deshalb ging sie nach dem Schulzimmer, wo sie Miß Minerva allein antraf, da die beiden Mädchen der Hausordnung gemäß zu ihrem Diner Toilette machten.

Sie beschrieb ihrer Freundin den Besuch bei ihrer Tante und das Zusammentreffen mit dem Musiklehrer und schloß: »Schelten Sie mich nicht, ich will meine Thorheit nicht entschuldigen.«

»Hätte Mr. Le Frank nach seiner Begegnung mit Ihnen das Haus verlassen«, antwortete Miß Minerva, »so würde ich nicht so besorgt sein, aber daß er zu Ihrer Tante gegangen ist, gefällt mir nicht —— besonders nicht nach dem, was Sie mir über die Veränderung in deren Benehmen gegen Sie gesagt haben. Sie besitzen eine lebhafte Phantasie, Carmina Sind Sie sicher, daß dieselbe Ihnen keinen Streich gespielt hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Wollen Sie mir behilflich sein, mich dessen ebenso sicher zu fühlen?« fragte die Gouvernante, die noch nicht ganz befriedigt war. »Ihre Tante pflegt gewöhnlich, wenn die Kinder essen, auf einige Minuten hierher zu kommen. Bleiben Sie hier und sprechen Sie in meiner Gegenwart etwas mit ihr, damit ich selbst urtheilen kann.«

Dann kamen die Mädchen herein. Die vollkommene Toilette Maria’s strahlte den vollkommenen Charakter derselben zurück und dieselbe erfüllte die Pflichten der Höflichkeit mit der an ihr gewohnten glücklichen Wahl des Ausdrucks: »Liebe Carmina, es ist in der That ein Vergnügen, Dich wieder in unserm Schulzimmer zu sehen. Wir sind so besorgt um Deine Gesundheit, aber dies herrliche Wetter ist jedenfalls günstig für Dich und Papa hält Mr. Null für einen sehr gescheiten Doctor.« Da die kleine Zo mit finsterem Gesichte dabeistand, so fragte Carmina dieselbe, was sie habe, und das Kind antwortete, düster den Hund auf der Decke ansehend: »Ich wollte, ich wäre Tinker.« Maria lächelte holdselig. »Aber Zo, was für ein sonderbarer Wunsch! Was würdest Du denn thun, wenn Du Tinker wärst?« Mit der Miene größten Interesses zeigte Zo auf den Hund, der sich beim Hören seines Namens erhoben hatte und sich nun schüttelte. »Er braucht sich nicht zu kämmen, wenn er ausgeht«, bemerkte sie, »und man sieht es nicht, wenn seine Nägel schmutzig sind. Und dann« —— dies flüsterte sie Carmina in’s Ohr —— »hat er keine Gouvernante.«

Das Essen erschien und nach demselben Mrs. Gallilee. Maria sprach das Tischgebet, aber die beim Essen immer gierige Zo vergaß Amen zu sagen, und als Carmina, die hinter ihrem Stuhle stand, sie daran erinnerte, rief sie »Amen«, fügte indeß sofort flüsternd hinzu: »wirklich schrecklich!« Mrs. Gallilee betrachtete ihre Nichte wie eine von der Straße hereingekommene Aufdringliche und äußerte dann: »Du solltest Dich lieber vor dem Essen anziehen, damit Du den Wagen nicht warten zu lassen brauchst.«

Dies hörend, legte Zo Messer und Gabel hin und sagte, sich umsehend: »Frage, ob ich mitkommen darf.« Mrs. Gallilee aber antwortete auf die dahingehende Frage Carmina’s »Nein, die Kinder sollen gehen, mein Mädchen wird Dich begleiten.«

Beim Verlassen des Zimmers warf Carmina der Gouvernante einen Blick zu, den diese, die die Veränderung in Mrs. Gallilee’s Benehmen bemerkt hatte, ohne eine Erklärung dafür zu haben, erwiderte.

Es ist schwierig zu sagen, wer von beiden, Carmina oder das Mädchen, sich durch die gezwungene Gesellschaft im Wagen am meisten bedrückt fühlte. Das Mädchen war vielleicht die Bedauernswerthere denn während sich dasselbe wie die übrige Dienerschaft zu Carmina hingezogen fühlte, war es von seiner Herrin gezwungen, die Rolle der Spionin zu spielen und derselben jede Abweichung von der dem Kutscher vorgeschriebenen Route und jeden Verkehr der jungen Dame, es sei mit wem es wolle, zu berichten. Mrs. Gallilee hatte den Reisesack nicht vergessen, und die Erklärungen des Rechtsanwaltes hatten ihr gezeigt, daß die Beaufsichtigung Carmina’s jetzt wie nur je eine Sache von ernstem pecuniären Interesse sei.

Aber neuerliche Ereignisse hatten die Aussicht wenigstens in einer Hinsicht gebessert.

Falls Ovid, wenn er die scandalöse Geschichte von Carmina’s Herkunft erfuhr, von der Verlobung zurücktrat (und seine Mutter wagte wirklich, das zu hoffen!), so war jedenfalls Aussicht vorhanden, daß Carmina bei ihrem sensitiven Temperamente sich das so zu Herzen nehmen könnte, daß sie sich entschlösse, ledig zu bleiben. Theilweise durch die Hoffnung auf Befreiung von ihren gemeinen Sorgen, theilweise durch ihre Unfähigkeit, die Kraft hochherzigen Fühlens bei anderen zu schätzen, verleitet, betrachtete Mrs. Gallilee die künftige Stellungnahme ihres Sohnes als etwas noch durchaus Zweifelhaftes.

Mittlerweile mußte diese schändliche Frucht des Ehebruchs —— dieses lebendige Hindernis das den herrlichen Aussichten, die sonst Maria und Zo, um von der Mutter gar nicht zu sprechen, erwarteten, im Wege stand —— im Hause bleiben, unter der Obhut und Vorsorge ihrer Pflegerin. Der Verhaßten mußte noch ärztlicher Beistand werden, wenn sie krank war; alle Vorschriften des Doctors mußten befolgt werden. Für ihre Pflege war eine anständige Summe ausgesetzt, und die Vormünder waren verpflichtet, einzuschreiten, wenn sie nicht derselben entsprechend gehalten wurde.

Als Mrs. Gallilee dem Wagen nachsah, in welchem Carmina, die unerträglich reizend und interessant aussah, mit dem ihr gegenüber sitzenden Mädchen —— ein Bild des Unbehagens —— abfuhr, nahmen ihre Gedanken eine ganz eigene Form an: »Anderen Wagen mit anderen Mädchen stoßen Zufälle zu; meinem Wagen mit ihr nicht! Meine Pferde wird heute nichts erschrecken; und so dick mein Kutscher auch ist, kein Anfall wird, ihn auf dem Bocke zustoßen!«

Und richtig; der Wagen kam um die bestimmte Zeit wieder —— und das Mädchen hatte nichts zu berichten.

Während dessen hatte Miß Minerva ihres Versprechens nicht vergessen, und als sie mit den Kindern von dem Spaziergange heimkehrte, war eine Wohnung für Teresa gemietet, welche von Mrs. Gallilee’s Hause in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen war.

Da Carmina und die Gouvernante die Veränderung in Mrs. Gallilee’s Benehmen der Aussicht auf die unwillkommene Rückkehr Teresa's zuschrieben, so rieth Miß Minerva der ersteren, so lange sie es noch könne, ihre alte Freundin wissen zu lassen, daß dieselbe bei ihrer Ankunft in London ein Heim erwarte. Und Carmina schickte daher noch an demselben Abend ein Telegramm nach Rom, welches» ja ihre Amme vielleicht noch vor der Abreise erreichte, und worin sie derselben, alles Weitere bis zu ihrer Ankunft verschiebend, die Adresse der Wirthin angab, bei welcher sie absteigen sollte.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte