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Ein tiefes Geheimnis



Siebentes Kapitel

Die Geschichte der Vergangenheit

Der Vormittag verging und der Abend kam, aber immer noch war von Onkel Josephs Rückkunft nichts zu bemerken. Gegen sieben Uhr ward Rosamunde von der Wärterin gerufen, welche meldete, daß das Kind wach und unruhig sei. Nachdem sie es beschwichtigt und zur Ruhe gebracht, nahm sie es mit in das Wohnzimmer, und schickte mit ihrer gewohnten Rücksicht auf das Wohlbefinden jedes Dienstboten, der für sie tätig war, die Wärterin hinunter, damit sie sich nach der Arbeit des Tages eine Stunde der Erholung gönne.

„Ich möchte mich in diesen Augenblicken der Erwartung nicht gern von dir entfernen, Lenny“, sagte sie, als sie wieder zu ihrem Gatten kam; „deshalb habe ich den Kleinen mit hierhergebracht. Er werde wahrscheinlich nicht gleich wieder ruhig werden und seine Abwartng dient mir in unserm gegenwärtigen Zustande von Ungewißheit zur Zerstreuung und Herzenserleichertung.“

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug halb acht. Die Wagen rollten rascher auf der Straße hintereinander her und waren besetzt mit elegant gekleideten Leuten, die entweder zum Diner oder in die Oper fuhren. Die Kolporteure schrien auf dem benachbarten Platze ihre Neuigkeiten aus und hatten die zweiten Ausgaben der Abendjournale unter den Armen. Leute, welche den ganzen Tag hinter dem Ladentisch tätig gewesen waren, standen an den Türen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Arbeiter zogen heimwärts, bald einzeln, bald in müden schlurfenden Trupps, Müßiggänger, die vom Diner kamen, zündeten an Straßenecken ihre Zigarren an und sahen sich um, unentschlossen, nach welcher Richtung sie ihre Schritte zunächst lenken sollten.

Es war gerade jene Übergangsperiode des Abends, zu welcher das Straßenleben des Tages beinahe vorüber ist und das Straßenleben der Nacht noch nicht recht begonnen hat – ebenso auch die Zeit, wo Rosamunde, nachdem sie vergebens versucht, sich die Langweiligkeit des Wartens dadurch zu erleichtern, daß sie zum Fenster hinausschaute, immer tiefer und tiefer in ihre eigenen unruhigen Betrachtungen versank, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich zu den Ereignissen der sie umgebenden kleinen Welt durch das Öffnen der Zimmertür zuückgerufen ward.

Sie blickte sofort von dem Kinde, welches schlafend auf ihrem Schoße lag, auf und sah, daß Onkel Joseph endlich wieder da war.

Der alte Mann trat schweigend ein und hielt die schriftliche Erklärung, die er auf Mr. Franklands Wunsch mitgenommen, aufgeschlagen in der Hand. Während er sich dem Fenster näherte, bemerkte Rosamunde, daß sein Gesicht aussah, als ob er während der wenigen Stunden seiner Abwesenheit seltsam gealtert hätte. Er trat dicht an sie heran, hielt ohne ein Wort zu sprechen seinen zitternden Zeigefinger tief unten auf das aufgeschlagene Blatt und zwar so, daß Rosamunde die auf diese Weise angedeutete Stelle sehen konnte, ohne von ihrem Stuhle aufzustehen.

Sein Schweigen und die Veränderung in seinem Gesicht erfüllte sie mit einer plötzlichen Furcht, welche sie bewog zu zögern, ehe sie ihn anredete.

„Haben Sie ihr alles gesagt?“ fragte sie, nachdem sie noch einen Augenblick gewartet, indem sie die Frage in leisem, flüsterndem Tone stellte und ohne auf das Papier zu achten.

„Dies ist der Beweis“, sagte er, immer noch auf das Blatt zeigend. „Sehen Sie, hier steht der Name an der dazu offen gelassenen Stelle – von ihrer eigenen Hand unterzeichnet.“

Rosamunde blickte auf das Papier. Hier stand wirklich die Unterschrift „S. Jazeph“ und darunter in mit matter, unsicherer Hand gezeichneten Klammern der Zusatz: „Geborene Sara Leeson.“

„Warum sprechen Sie nicht?“ rief Rosamunde, ihn mit steigender Unruhe betrachtend; „warum sagen Sie uns nicht, wie sie die Nachricht aufnahm?“

„Ach, fragen Sie mich nicht! Fragen Sie mich nicht“, antwortete er vor ihrer Hand zurückweichend, als sie dieselbe in ihrem Eifer auf seinen Arm zu legen suchte.

„Ich vergaß nichts. Ich sagte die Worte, wie Sie mich dieselben gelehrt hatten. Ich machte mit meiner Zunge einen Umweg, um zur Wahrheit zu gelangen, mein Gesicht aber schlug den Querweg ein und kam zuerst ans Ziel. Ich bitte Sie bei der Güte, die Sie mir bewiesen haben, fragen Sie mich nicht. Begnügen Sie sich zu wissen, daß sie sich jetzt besser, ruhiger und glücklicher fühlt. Das Schlimme ist vorüber und vergangen und das Gute soll nun alles kommen. Wenn ich Ihnen erzähle, wie sie aussah, wenn ich Ihnen erzähle, was sie sagte, wenn ich Ihnen alles erzähle, was geschah, nachdem sie die Wahrheit erfahren, so wird der Schrecken wieder mein Herz packen und alles Schluchzen und Weinen, welches ich mit Gewalt unterdrückt, wird wieder aufsteigen und mich ersticken. Ich muß meinen Kopf klar und meine Augen trocken erhalten – o wie könnte ich Ihnen alle die Dinge sagen, die ich Sara hoch und teuer versprochen zu berichten, ehe ich mich diese Nacht zur Ruhe niederlege?“

Er schwieg, zog ein grobes, kleines baumwollenes Taschentuch mit einem grell leuchtenden weißen Muster auf dunkelblauem Boden heraus und trocknete sich einige Tränen, welche ihm in die Augen gestiegen waren, während er sprach.

„Mein Leben ist im Ganzen genommen ein so glückliches gewesen“, sagte er selbstvorwurfsvoll und indem er Rosamunde ansah, „daß mein Mut, wenn er für die Zeit der Not gebraucht wird, nicht leicht zu finden ist. Und dennoch bin ich ein Deutscher! Alle meine Landsleute sind Philosophen – wie kommt es, daß ich allein in meinem Kopf so weich und in meinem Herzen so schwach bin wie der liebliche Kleine, der hier schlafend in Ihrem Schoße liegt?“

„Sprechen Sie jetzt nicht wieder; erzählen Sie uns nicht eher etwas, als bis Sie sich gefaßter fühlen“, sagte Rosamunde. „Jetzt, wo wir wissen, daß Sie sie ruhiger und wohler verlassen haben, sind wir von unserer quälenden Ungewißheit befreit. Ich will keine Fragen weiter an Sie tun – wenigstens“, setzte sie nach einer Pause hinzu, „will ich bloß eine tun.“

Sie schwieg und ihre Augen schauten fragend auf Leonard. Er hatte bis jetzt mit stummer Teilnahme alles gehört, was gesprochen worden, jetzt aber mischte er in sanftem Tone sich ein und riet seinem Weibe, ein wenig zu warten, ehe sie wagte, etwas Weiteres zu sagen.

„Die Frage ist eine leicht zu beantwortende“, bemerkte Rosamunde in bittendem Tone. „Ich wünschte bloß zu hören, ob sie meine Botschaft erhalten – ob sie weiß, daß ich warte und mich sehne, sie zu sehen, sobald sie mich zu sich kommen lassen will.“

„Ja, ja“, sagte der alte Mann, indem er Rosamunde mit einem Ausdruck von Herzenserleichterung zunickte. „Diese Frage ist leicht, sogar noch leichter als Sie denken, denn sie führt mich stracks zu dem Anfange alles dessen, was ich zu sagen habe.“

Er war bis jetzt unruhig im Zimmer hin- und hergegangen, hatet sich bald niedergesetzt, bald war er wieder aufgestanden. Jetzt stellte er sich einen Stuhl mitten zwischen Rosamunden – die mit ihrem Kind in der Nähe des Fensters saß – und ihren Gatten, welcher das Sofa an dem andern Ende des Zimmers einnahm. In dieser Stellung, welche ihm erlaubte, sich ohne Mühe abwechselnd an Mr. und Mistreß Frankland zu wenden, erlangte er bald so viel Fassung, als er bedurfte, um sein Herz ohne Rückhalt dem Interesse seines Gegenstands zu widmen.

„Als das Schlimmste vorüber und vorbei war“, sagte er Rosamunden anredend, „als sie zuhören und ich sprechen konnte, waren die ersten Worte des Trostes, die ich zu ihr sagte, die, welche Sie mir aufgetragen hatten. Mit zweifelnden, fürchtsamen Blicken sah sie mich unverwandt an.“ ‚War ihr Gatte dabei und hörte er sie?’ fragte sie. ‚Verriet seine Miene Zorn? Verriet sie Kummer? Veränderte sie sich auch nur im mindesten, als seine Gattin dir diese Worte auftrug?’ und ich sagte: ‚Nein, sie veränderte sich nicht und sie verriet auch weder Zorn noch Kummer.’ Dann sagte sie wieder: ‚Ist dadurch kein Zerwürfnis zwischen den jungen Eheleuten entstanden?`Ist dadurch nicht die ganze Liebe und das Glück zertrümmert worden, welches sie aneinander fesselte?’ Und wieder antwortete ich hierauf: ‚Nein, kein Zerwürfnis, keine Zertrümmerung. Sieh, ich will jetzt sogleich zu der guten Frau gehen und sie hierherholen, damit sie mit eigenem Munde für ihren guten Gatten bürge.“ Während ich diese Worte spreche, fliegt über ihr ganzes Gesicht ein Blick – nein, nicht ein Blick – ein Licht, ein Sonnenstrahl. Bis ich eins zählen kann, dauert er; ehe ich zwei zählen kann, ist er verschwunden; das Gesicht ist wieder ganz finster, es wendet sich von dem Pfühle von mir ab und ich sehe wie die Hand, die auf der Bettdecke ruht, das Papier zu zerknittern beginnt. „Nun gut, ich will denn gehen und die gute Dame holen“, sage ich wieder. Aber sie sagte: „Nein, noch nicht. Ich darf sie nicht sehen. Ich wage nicht, sie eher zu sehen, als bis sie weiß – und hier stockt sie und die Hand zerknittert wieder das Papier und ganz leise sage ich zu ihr: „Was soll sie denn wissen?“ und sie antwortete mir: „Etwas, was ich, ihre Mutter, ihr vor Scham nicht ins Gesicht sagen kann.“ -  und ich sage: „Nun denn, mein Kind! Dann sag es nicht – sag es gar nicht.“ – Sie schüttelt den Kopf und ringt die Hände auf der Bettdecke. „Ich muß es sagen“, hebt sie dann wieder an. „Ich muß mein Herz von allem befreien, was so lange daran genagt, und wie sollte ich übrigens auch das Glück, welches ihr Anblick mir bereiten wird, in seinem ganzen Umfange fühlen, wenn mein Gewissen nicht völlig rein wäre?“ – Dann schweigt sie eine Weile, hebt ihre beiden Hände auf und ruft laut: „O, wird Gottes Gnade mir nicht ein Mittel zeigen dies zu sagen, ohne daß ich mich vor meinen Kinde zu tief erniedrigen muß?“ Und ich sage: „Still, still – es gibt ein Mittel. Sag es Onkel Joseph, der ja so gut wie dein Vater ist. Sag es Onkel Joseph, dessen kleiner Sohn in deinen Armen starb, dessen Tränen in jener längstentschwundenen Zeit des Kummers und der Trauer deine Hand trocknete. Sag es mir und ich will die Gefahr und die Schmach – wenn von einer solchen die Rede sein kann – des Wiedererzählens auf mich nehmen. Obschon ich keinen Fürsprecher habe, als mein weißes Haar – obschon ich keinen Beistand besitze, als mein Herz, welches keinen bösen Gedanken kennt  - so will ich doch zu dieser guten und wahrheitliebenden Dame gehen, um die Bürde des Kummers ihrer Mutter ihr zu Füßen zu legen und, in meiner innersten Seele bin ich davon überzeugt, sie wird sich nicht abwenden.“

Er schwieg und sah Rosamunde an. Ihr Gesicht war über ihr Kind herabgeneigt, ihre Tränen träufelten langsam eine nach der andern auf die Brust des kleinen weißen Kleidchens. Nachdem sie einen Augenblick gewartet, um sich zu sammeln, ehe sie sprach, reichte sie dem alten Manne ihre Hand und begegnete fest und dankbar dem Blick, den er auf sie heftete.

„O, fahren Sie fort!“ sagte sie. „Lassen Sie mich Ihnen beweisen, daß Ihr edelmütiges Vertrauen auf mich nicht am unrechten Orte ist.“

„Das wußte ich gleich von Anfang an, so gewiß als ich es jetzt weiß“, sagte Onkel Joseph. „Und Sara, als ich mit ihr gesprochen hatte, wußte es auch. Sie schwieg ein wenig, sie weinte ein wenig, sie bog sich von ihrem Pfühl herüber und küßte mich hier auf meine Wange, während ich an ihrem Bett saß, und dann schaute sie zurück, zurück, zurück in ihrer Erinnerung, in die ferne Vergangenheit und sehr ruhig, sehr langsam, während ihre Augen in meine Augen schauten und ihre Hand so in der meinigen ruhte, sprach sie die Worte zu mir, die ich nun wieder zu Ihnen sprechen muß, die Sie heute hier sitzen, als ihr Richter, ehe Sie morgen als ihr Kind zu ihr gehen.“

„Nicht als ihr Richter“, sagte Rosamunde. „Ich kann, ich darf Sie nicht dies sagen hören.“

„Ich spreche Saras Worte, nicht die meinigen“, entgegnete der alte Mann ernst. „Warten Sie, ehe Sie mich auffordern, dieselben gegen andere zu vertauschen – warten Sie, bis Sie das Ende wissen.“

Er zog seinen Stuhl ein wenig näher zu Rosamunden, schwieg ein paar Minuten, um seine Erinnerungen zu ordnen und voneinander zu trennen. Dann hob er wieder an:

„Ebenso wie Sara mit mir begann“, sagte er, „so muß ich für meinen Teil auch anfangen. Ich will damit sagen, daß ich jetzt durch die Jahre der Vergangenheit hindurch bis auf die Zeit zurückgehe, wo meine Nicht in ihren ersten Dienst trat. Sie wissen, daß der Seekapitän, der brave, gute Treverton, eine Bühnenkünstlerin, oder, wie man gewöhnlicher sagt, eine Schauspielerin geheiratet hatte. Es war eine große, schöne Frau, welche ein Leben, einen Geist und eine Willenskraft besaß, wie man nicht oft sieht – eine Frau von der Art, welche sagen kann: ‚Wir wollen dies oder das tun, wir wollen es tun trotz aller Bedenklichkeiten, trotz aller Hindernisse, trot alles Widerstandes in der Welt.’ Zu dieser Dame kommt also Sara, meine Nichte, als Zofe und war damals ein junges, hübsches, sanftes, freundliches und sehr schüchternes Mädchen. Aus der Zahl vieler andern, welche den Dienst begehren und dreistere, rüstigere und klügere Mädchen sind, wählt Mistreß Treverton nichtsdestoweniger meine Nichte Sara. Dies ist seltsam, noch seltsamer aber ist, daß Sara ihrerseits, nachdem sie ihre erste Furcht und Schüchternheit überwunden hat, von ganzem Herzen diese große, schöne Herrin lieben lernt, welche ein Leben, einen Geist und eine Willenskraft besitzt, wie man nicht oft sieht. Es ist das sonderbar, aber, da ich es aus Saras eigenem Munde weiß, wahr bis auf das letzte Wort.“

„Ohne Zweifel ist es wahr“, sagte Leonard. „Die meisten starken Zuneigungen in der Welt entstehen zwischen Personen, die einander unähnlich sind.“

„So begann das Leben, welche sie in jenem alten Hause Porthgenna führten, glücklich für alle“, fuhr der alte Mann fort. „Die Liebe, welche die Herrin für ihren Gemahl fühlte, war so groß, daß ihr Herz überfloß in Güte gegen jedermann, der in ihre Nähe kam und gegen Sara, ihre Zofe, mehr als gegen alle andern. Nur Sara durfte ihr vorlesen, für sie arbeiten, sie des Morgens und des Abends an- und des Nachts wieder auskleiden. Sie war gegen Sara, wenn die beiden in den langen Regentagen miteinander allein waren, vertraulich wie eine Schwester. Sie machte es sich in ihren vielen müßigen Stunden zum Vergnügen, das arme Landmädchen, welches noch niemals ein Theater gesehen, dadurch in Erstaunen zu setzen, daß sie schöne Kleider anzog, sich das Gesicht schminkte und alles sprach und tat, was sie in den Tagen vor ihrer Vermählung auf der Bühne gesagt und getan. Je größer Saras Erstaunen und Verwunderung über diese Deklamationen und Maskeraden war, desto mehr Vergnügen machte es ihr. – Ein Jahr lang hatte dieses ruhige, glückliche Leben in dem alten Schlosse seinen Fortgang; glücklich war es für alle Dienstleute, noch glücklicher für den Herrn und die Herrin, bis auf den Mangel eines einzigen Gegenstandes, welcher das Ganze vollständig gemacht haben würde, eines einzigen kleinen Segens, auf den immer gehofft ward und welcher niemals kam – ich meine denselben Segen wie den in dem langen weißen Kleidchen, mit dem runden zarten Gesicht und den winzigen Ärmchen, den ich hier vor mir sehe.“

Er schwieg, um seiner Anspielung dadurch Nachdruck zu geben, daß er dem in Rosamundes Schoß liegenden Kinde zunickte und es anlächelte; dann fuhr er wieder fort:

„Als das neue Jahr heran kommt, bemerkt Sara an ihrer Herrin eine Veränderung. Der gute Seekapitän ist ein Mann, welcher Kinder liebt, und er sieht die kleinen Knaben und Mädchen seiner Freunde und Nachbarn gern in seinem Hause versammelt. Er spielt mit ihnen, er küßt sie, er macht ihnen Geschenke – er ist der beste Freund, den die kleinen Knaben und Mädchen jemals gehabt haben. Die Herrin, welche auch ihre beste Freundin sein sollte, sieht zu und sagt nichts. Sie sieht zu – zuweilen rot, zuweilen bleich; sie geht in ihr Zimmer, wo Sara für sie arbeitet, und geht hin und her und tadelt, und eines Tages macht sie ihrer übeln Laune in Worten Luft und sagt: ‚Warum habe ich kein Kind, welches mein Gatte lieben könnte? Warum muß er fortwährend die Kinder anderer Frauen küssen und mit ihnen spielen? Sie rauben seine Liebe für etwas, was nicht mein ist. Ich hasse diese Kinder und ihre Mütter dazu.’ Es ist ihre Leidenschaft, welche jetzt spricht, aber sie spricht etwas, was trotzdem viel Wahres hat. Sie kann sich mit keiner dieser Mütter befreunden; die Damen, mit welchen sie freundschaftlichen Umgang pflegt, sind solche, die keine Kinder haben, oder solche, deren Kinder schon alle erwachsen sind. Sie meinen wohl, dies sei unrecht von der Herrin gewesen?“

Er stellte diese Frage an Rosamunde, welche nachdenklich mit der Hand des Knaben spielte, die in der ihren ruhte.

„Ich glaube, Mistreß Treverton war sehr zu bemitleiden“, antwortete sie, indem sie behutsam die Hand des Knaben an ihre Lippen drückte.

„Dann denke ich für meine Person dies auch“, sagte Onkel Joseph. „Zu bemitleiden? – Ja. Noch mehr zu bemitleiden ist sie einige Monate nachher, als immer noch kein Kind und auch keine Hoffnung auf ein solches da ist, und der gute Seekapitän eines Tages sagt: ‚Ich verroste hier, ich werde alt vor lauter Müßiggang; ich muß wieder zur See. Ich werde um ein Schiff ansuchen.’ Und er sucht um ein Schiff an und man gibt es ihm und er geht fort auf seine Kreuzfahrten – mit zärtlichem Abschied von seiner Gattin, aber dennoch geht er. Und als er fort ist, kommt die Herrin wieder hinein, wo Sara für sie an einem schönen, neuen Kleide arbeitet und reißt es ihr weg und wirft es auf die Diele und dann alle die schönen Juwelen und Schmucksachen, die sie auf ihrem Tische liegen hat, noch darauf und stampft mit den Füßen und ruft im Übermaße ihres Jammers und ihrer Leidenschaft: ‚Alle diese schönen Sachen wollte ich darum geben und mein ganzes noch übriges Leben lang in Lumpen einhergehen, wenn ich ein Kind hätte. Ich verliere die Liebe meines Gatten; er wäre nie von mir fortgegangen, wenn ich ihm ein Kind geboren hätte!’ Dann schaut sie in den Spiegel und sagt zwischen den Zähnen hindurch: ‚Ja, ja! Ich bin eine schöne Frau und mein Wuchs ist untadelhaft, aber dennoch wollte ich mit dem häßlichsten, verwachsensten Wesen der ganzen Schöpfung tauschen, wenn ich nur ein Kind hätte.’ Und dann erzählt sie Sara, daß der Bruder des Kapitäns die allerschändlichsten Dinge von ihr gesprochen, weil sie Schauspielerin gewesen, und sie sagt: ‚Wenn ich kein Kind bekomme, wer anders wird dann die ganze Habe des Kapitäns erben, als dieser Schuft, dieser Schurke, den ich umbringen könnte!’ Und dann weint und schreit sie wieder und sagt: ‚Ich verliere seine Liebe – ach, ich weiß es, ich weiß es – ich verliere seine Liebe!’ – Und nichts, was Sara sagen kann, ist im Stande, sie auf andere Gedanken zu bringen. Und die Monate vergehen und der Seekapitän kommt zurück und noch immer nagt derselbe geheime Kummer an dem Herzen der Herrin und nagt und nagt, bis es nun das dritte Jahr ist nach ihrer Vermählung. Noch immer ist keine Hoffnung auf ein Kind da und abermals wird der Seekapitän des Lebens am Lande überdrüssig und macht wieder eine Reise – eine sehr lange Reise – diesmal weit, weit fort bis ans andere Ende der Welt.“

Hier machte Onkel Joseph eine Pause und zögerte, wie es schien, weil er nicht recht wußte, wie er in seiner Erzählung fortfahren sollte. Bald jedoch schien sein Gemüt seiner Zweifel überhoben zu werden, sein Gesicht aber ward traurig und seine Stimme senkte sich tiefer, als er Rosamunden wieder anredete.

„Ich muß nun, wenn Sie erlauben“, sagte er, „von der Herrin hinweggehen und zu Sara meiner Nichte zurückkehren, und dabei auch ein Wort von einem Bergmann sprechen, der den cornischen Namen Polwheal führte. Es war dies ein junger Mann, der gut arbeitete und guten Lohn verdiente und in gutem Rufe stand. Er lebte mit seiner Mutter in dem kleinen Dorfe, welches in der Nähe des alten Schlosses liegt. Er sah Sara von Zeit zu Zeit und lernte großen Gefallen an ihr finden, ebenso wie sie an ihm. Das Ende davon war, daß sie einander die Ehe versprachen. Es geschah dies zufällig zu der Zeit, wo der Seekapitän von seiner ersten Reise wieder zurück war, und gerade, als er mit dem Gedanken umging, eine zweite anzutreten. Weder er noch seine Gattin hatten gegen Saras Heiratsprojekt das Mindeste einzuwenden, denn der Bergmann Polwheal verdiente schönes Geld und stand in gutem Rufe. Nur die Herrin sagte, daß Saras Verlust ihr sehr schmerzlich sein würde und Sara antwortete, es habe ja mit der Verwirklichung ihres Heiratsplans keine Eile. So vergehen die Wochen und der Seekapitän tritt wieder eine lange Reise an. Um dieselbe Zeit bemerkt die Herrin, daß Sara in ihrem Benehmen unruhig und verändert ist, und daß der Bergmann Polwheal fortwährend in der Nähe des Schlosses umherschleicht und sie sagt bei sich selbst: ‚So so; bin ich dieser Heirat zu sehr im Wege? Das soll um Saras willen nicht sein.’ Und sie ruft eines Abends beide und spricht freundlich mit ihnen und befiehlt dem jungen Mann Polwheal den nächsten Morgen das Aufgebot zu bestellen. An diesem Abend hat er in dem Bergwerk von Porthgenna die Nachtschicht, oder muß, mit andern Worten, anfahren, nachdem die Stunden des Tages vorüber sind. Mit leichtem, freudigem Herzen steigt er hinab in die dunkle Tiefe. Als er wieder auf die Oberwelt heraufkommt, ist er nur noch eine Leiche, welche heraufgezogen wird. Der Sturz einer Felsenwand hat seinem jungen Leben auf einmal ein Ende gemacht. Die Nachricht verbreitet sich blitzschnell überall. Ohne im mindesten darauf vorbereitet zu sein, muß auch meine Nichte sie hören. Als sie am Abend zuvor ihrem Bräutigam gute Nacht gesagt hatte, war sie ein junges, hübsches Mädchen; als sie sechs Wochen darauf von dem Krankenbett, auf welches die Todesbotschaft sie geworfen, wieder aufstand, war ihre Jugend dahin, ihr Haar war grau und in ihren Augen wohnte der scheue Blick, der sie seitdem nie wieder verlassen.“

Die einfachen Worte schilderten den Tod des Bergmanns und alles, was darauf gefolgt war, mit ergreifender Wahrheit. Rosamunde schauderte und sah ihren Gatten an.

„O Lenny“, murmelte sie, „die erste Nachricht von deiner Blindheit war für mich eine schwere Prüfung, aber was war sie gegen dies!“

„Schenken Sie ihr Ihr Mitleid“, sagte der alte Mann. „Schenken Sie ihr Ihr Mitleid um dessen willen, was sie damals litt. Schenken Sie ihr Ihr Mitleid wegen dessen, was später kam und was noch viel schlimmer war. – Es vergehen nach dem Tode des Bergmanns fünf, sechs, sieben Wochen und Sara leidet jetzt am Körper weniger, am Geiste aber desto mehr. Die Herrin, welche gegen sie gut und freundlich ist wie eine Schwester, findet allmälig in ihrem Gesicht etwas, was weder Schmerz, noch Furcht, noch Kummer verrät, etwas, was das Auge sehen, die Zunge aber nicht in Worte fassen kann. Sie sieht sie an und denkt nach und dann stiehlt sich in ihr Gemüt ein Zweifel, der sie vor sich selbst zittern macht, der sie endlich stracks in Saras Zimmer treibt, der sie veranlaßt, Sara durch und durch schauen zu wollen, bis in das innerste Herz hinein. ‚Du hast außer deinem Kummer um deinen verstorbenen Bräutigam noch etwas anderes auf dem Herzen’, sagt sie und faßt Sara, ehe diese sich abwenden kann, bei beiden Armen und schaut ihr Stirn gegen Stirn mit neugierigen Augen, die sie prüfend zu durchbohren scheinen, ins Gesicht. ‚Der Bergmann Polwheal’, sagt sie; ‚ich ahne etwas wegen dieses Bergmanns Polwheal! Sara, ich bin dir stets mehr Freundin gewesen als Herrin. Als deine Freundin frage ich dich jetzt – sage mir die ganze Wahrheit.’

Die Frage wartet, aber es erfolgt keine Antwort! Sara sträubt sich bloß und will sich losmachen, aber ihre Herrin hält sie nur um so fester und sagt: ‚Ich weiß, daß ihr, du und der Bergmann Polwheal, einander die Ehe versprochen hattet. Ich weiß, daß er ein ehrlicher Mann war wie nur einer; ich weiß, daß er aus diesem Hause hier fortging, um das kirchliche Aufgebot für euch beide zu bestellen. Verschweige deine Geheimnisse vor der ganzen Welt, Sara, aber nur vor mir nicht. Sage mir die Wahrheit – sage sie mir in dieser Minute. Es gibt in dieser großen, weiten Welt so Manchen, der sich ein Mal vergessen hat und du –’. Ehe die Herrin weiter sprechen konnte, wirft Sara sich auf die Knie nieder und ruft, man solle sie gehen lassen, sie wolle sich irgendwo verbergen und sterben und man solle nie wieder etwas von ihr hören! Das war die ganze Antwort, die sie gab. Es war damals genug, um die Wahrheit zu erraten, es ist auch jetzt genug dazu.“

Er seufzte bitterlich und hörte eine kleine Wile auf zu sprechen. Keine Stimme brach das ehrerbietige Schweigen, welches auf seine letzten Worte folgte. Das einzige lebende Geräusch, welches sich in der Stille des Zimmers regte, war der leichte Atemzug des Kindes, welches schlafend in den Armen seiner Mutter lag.

„Das war die ganze Antwort“, wiederholte der alte Mann, „und die Herrin, welche dieselbe hörte, sagte eine Weile darauf nichts, schaut aber immer noch unverwandt in Saras Gesicht und wird dabei immer bleicher und bleicher – bleicher und bleicher, bis sie plötzlich zusammenfährt und mit einem Male und blitzschnell die röte in ihr Gesicht zurückkehrt. ‚Nein’, sagte sie flüsternd und nach der Türe schauend, ‚einmal deine Freundin, Sara, bleibe ich stets deine Freundin. Bleibe ruhig hier bei mir, sei verschwiegen, tue, was ich dir sage, und überlaß das Übrige mir.’ Und nachdem sie dies gesagt, dreht sie sich herum und fängt an, im Zimmer auf- und abzugehen – schneller, schneller, immer schneller, bis sie außer Atem ist. Dann reißt sie zornig in die Klingel und ruft laut zur Tür hinaus: ‚Mein Pferd – ich will ausreiten!’ Dann wendet sie sich zu Sara und sagt: ‚Mein Reitkleid! – Fasse Mut, armes Wesen. Bei meinem Leben, bei meiner Ehre, ich rette dich! Mein Reitkleid, mein Reitkleid also! Ich muß einen wilden Ritt durchs Freie machen.’ Und sie geht in fieberhafter Aufregung hinaus und galoppiert und galoppiert bis das Pferd dampft und der Reitknecht, der hinter ihr herreitet, sich im Stillen fragt, ob sie den Verstand verloren habe. Als sie zurückkommt, ist sie, trotz dieses wütenden Rittes nicht müde. Den ganzen Abend darauf geht sie bald im Zimmer auf und ab, bald spielt sie wilde Melodien auf dem Piano. Als die Schlafenszeit kommt, hat sie keine Ruhe. Zwei, drei Mal in der Nacht erschreckt sie Sara, indem sie zu ihr in ihr Zimmer kommt, um zu sehen, wie sie sich befindet und indem sie immer und immer dieselben Worte sagt: ‚Bewahre dein Geheimnis, tue wie ich dir sage, und überlaß das Übrige mir.’ Am Morgen bleibt sie lange liegen, schläft, steht sehr bleich und ruhig auf und sagt zu Sara: ‚Kein Wort mehr zwischen und beiden über das, was gestern geschehen ist. Kein Wort, bis die Zeit kommt, wo du die Augen eines jeden Fremden fürchtest, der dich ansieht. Dann werde ich wieder sprechen. Bis dahin laß uns sein wie wir waren, ehe ich dir gestern die Frage vorlegte und ehe du die Wahrheit sagtest.’“

Hier machte der Onkel in seiner Erzählung abermals eine Pause und bemerkte erläuternd, sein Gedächtnis sei hier in Bezug auf eine Frage der Zeit nicht klar, während er doch in Bezug auf die Reihenfolge der Ereignisse, die er nun zu erzählen hätte, mit völliger Genauigkeit zu Werke zu gehen wünschte.

„Ach“, sagte er den Kopf schüttelnd, nachdem er sich vergebens bemüht, die verlorene Erinnerung zu verfolgen, „in diesem einen Falle muß ich gestehen, daß ich meiner Sache nicht ganz gewiß bin. Ob es zwei oder ob es drei Monate waren, nachdem die Herrin diese letzten Worte zu Sara gesprochen, weiß ich nicht – aber nach Verlauf dieser Zeit befiehlt sie eines Morgens ihren Wagen und fährt allein nach Truro. Am Abend kommt sie mit zwei großen flachen Körben zurück. Auf dem Deckel des einen befindet sich eine Karte und auf dieser stehen die Buchstaben ‚S.L.’. Auf dem Deckel des andern befindet sich ebenfalls eine Karte und auf dieser stehen die Buchstaben ‚R.T.’. Die Körbe werden in das Zimmer der Herrin getragen und dann wird Sara gerufen und die Herrin sagt zu ihr: ‚Öffne den Korb, auf welchem die Buchstaben S.L. stehen, denn dies sind die Anfangsbuchstaben deines Namens und die Sachen darin sind dein.’ In diesem Korbe nun befindet sich erstens eine Schachtel mit einem prachtvollen schwarzen Spitzenhut, dann ein schöner dunkler Shawl, dann schwarzes Seidenzeug von der besten Art, soviel als zu einem Kleide nötig ist, dann Leinwand und Stoff zu Unterkleidern – alles von der feinsten Art. ‚Mache dir diese Kleider fertig’, sagte die Herrin. ‚Du bist viel kleiner als ich und neue Kleider für dich zu fertigen wird weniger mühsam sein, als alte Kleider von mir so umzuändern, daß sie dir passen.’ – Sara sagt auf alles dies ganz erstaunt: ‚Was soll das?’ – Und die Herrin antwortet: ‚Ich mag keine Fragen mehr. Bedenke, was ich sagte. Bewahre dein Geheimnis und überlaß das Übrige mir!’ – Und somit geht sie aus und läßt Sara bei ihrer Arbeit und das Nächste, was sie tut, ist, daß sie den Arzt holen läßt. Er fragt, was ihr fehle und bekommt zur Antwort, es sei ihr so sonderbar zu Mute, daß sie es selbst nicht schildern könne und sie glaube, die weiche Luft von Cornwall mache sie schwach und kraftlos. Die Tage vergehen und der Arzt kommt und geht und mag er sagen was er will, so sind die beiden Antworten die einzigen, die er bekommen kann. Während dieser ganzen Zeit sitzt Sara fleißig über ihrer Arbeit und als sie fertig ist, sagt die Herrin: ‚Nun zu dem andern Korbe, auf dem die Buchstaben R.T. stehen, denn dies sind die Anfangsbuchstaben meines Namens und die Sachen in diesem Korbe sind mein!’ Es befindet sich darin erstens eine Schachtel mit einem gewöhnlichen schwarzen Strohhut, dann ein grober dunkler Shawl, dann ein Kleid von gutem, aber gewöhnlichem schwarzem Stoff, dann Leinwand und Stoffe zu Unterkleidern, ebenfalls von nur ordinärer Gattung. ‚Alles dies mach für mich fertig. Frage nicht. Du hast stets getan was ich dir gesagt – tue es auch jetzt – oder du bist verloren.’

Als die Kleider fertig sind, probiert sie dieselben an, betrachtet sich im Spiegel und lacht auf eine Weise, welche ganz seltsam und unheimlich anzuhören ist. – ‚Sehe ich nicht aus wie eine hübsche, dralle, muntere Zofe?’ sagte sie. ‚Ha, wie oft habe ich die Rolle einer solchen auf dem Theater gespielt!’ – Und dann zieht sie die Kleider wieder aus und befiehlt Sara, sie sofort in einen Koffer und dann die Sachen, die sie für sich selbst gefertigt, in einem zweiten zusammenzupacken. ‚Der Doktor befiehlt mir, dieses feuchte Klima von Cornwall zu verlassen und an einen Ort zu gehen, wo die Luft frisch, trocken und belebend ist’, sagt sie und lacht so laut, daß das Zimmer davon widerhallt. Gleichzeitig beginnt Sara einzupacken, und nimmt einige Nippsächelchen vom Tische und unter denselben auch eine Brosche, auf welcher sich das Bildnis des Seekapitäns befindet. Die Herrin sieht dies, wird leichenblaß, zittert an allen Gliedern, reißt ihr die Brosche aus den Händen und schließt sie rasch in ein Schränkchen, als ob der Anblick dieses Gegenstandes sie beunruhigte. ‚Das werde ich dalassen’, sagt sie, dreht sich auf dem Absatz herum und verläßt rasch das Zimmer. – Sie erraten wohl nun was für ein Plan es war, den Mistreß Treverton in Ausführung zu bringen gedachte?“

Diese Frage richtete Onkel Joseph erst an Rosamunde und dann nochmals an Leonard. Beide antworteten bejahend und ersuchten ihn, weiter zu erzählen.

„Sie erraten es?“ sagte er. „Sara erriet es damals nicht. Der Jammer, der ihr eigenes Herz erfüllte, und die seltsamen Worte ihrer Herrin verwirrten alle ihre Gedanken. Nichtsdestoweniger tat sie, wie immer, alles, was ihre Herrin ihr befahl, und nach einigen Tagen fuhren die beiden ganz allein miteinander von dem Schloß Porthgenna fort. – Die Herrin sagt kein Wort, bis sie an das Ziel der ersten Tagesreise gelangt sind und unter fremden Leuten in einem Gasthause übernachten. Dann endlich sagt sie: ‚Morgen früh, Sara, legst du die gute Wäsche und die guten Kleider an, behältst aber den ordinären Hut und Shawl, bis wir wieder im Wagen sitzen. Ich werde die grobe Wäsche und das grobe Kleid anlegen und den guten Hut und Shawl behalten. So werden wir an den Leuten des Gasthauses vorbei nach unserm Wagen gehen ohne Gefahr zu laufen, durhc den Wechsel unserer Kleider große Verwunderung zu erregen. Wenn wir wieder draußen unterwegs sind, können wir die Hüte und Shawls im Wagen wechseln und dann – ist die Sache gemacht. Du bist die verheiratete Dame Mistreß Treverton und ich bin Sara Leeson, die Zofe, die dich bedient!’ Bei diesen Worten fängt Sara endlich an zu ahnen, was dies alles bedeuten soll. Sie zittert vor Furcht und Angst und kann weiter nichts sagen, als: ‚O Herrin, ums Himmels willen, was wollen Sie tun?’ – ‚Ich will’, antwortete die Herrin, ‚dich, meine treue Dienerin, vor Schande und Verderben retten; ich will verhindern, daß das Vermögen des Kapitäns jenem nichtswürdigen Schurken, seinem Bruder, der mich so verleumdet hat, zufalle, und drittens und hauptsächlich will ich meinen Gatten abhalten, wieder zur See zu gehen, indem ich ihm Grund gebe, mich zu lieben, wie er mich noch nie geliebt. Muß ich noch mehr sagen, du armes gebeugtes, ängstliches Geschöpf – oder ist es genug so?’ – Sara kann weiter nichts antworten, asl daß sie bittere Tränen weint und mit matter Stimme ‚Ja’ sagt. – ‚Zweifelst du’, sagt die Herrin und packt sie beim Arme und schaut ihr mit ihren wilden Augen ins Gesicht, ‚zweifelst du, was besser ist, dich verlassen, entehrt und ruiniert in der Welt dastehen zu sehen, oder dich vor Schande zu retten und mich dir für dein ganzes Leben zur Freundin zu machen? Du schwaches, kindisches Geschöpf, wenn du zu keinem Entschluß kommen kannst, so muß es durch mich geschehen. Wie ich will, so soll es werden. Morgen und übermorgen und die folgenden Tage reisen wir immer weiter und weiter dahin, wo, wie mein guter Narr von Doktor sagt, die Luft erfrischend und belebend ist – immer weiter nach Norden, wo niemand mich kennt oder meinen Namen gehört hat. Ich, die Zofe, werde das Gerücht verbreiten, du, die Herrin seiest von schwächlicher Gesundheit. Kein fremdes Auge soll dich sehen, als das des Arztes und der Wärterin, wenn die Zeit, sie zu rufen, da sein wird. Wer dieselben sein werden, weiß ich nicht, wohl aber weiß ich, daß beide unserm Zwecke dienen werden, ohne denselben zu ahnen, und wenn wir nach Cornwall zurückkommen, wird das Geheimnis zwischen und beiden keiner dritten Person anvertraut worden sein, sondern ein totes, tiefes Geheimnis bleiben bis ans Ende der Welt.’ – Mit der ganzen Kraft ihres Willens, in der Stille der Nacht und in dem Hause von Fremdlingen spricht sie diese Worte zu dem furchtsamsten, hülflosesten, gebeugtetsten Wesen. Was brauchte ich weiter zu sagen. In dieser Nacht beugte Sara ihre Schultern zum ersten Male under die Last, die mit jedem Jahre immer drückender und schwerer ward.“

„Wie viele Tage waren sie unterwegs nach dem Norden?“ fragte Rosamunde begierig. „Wo endete die Reise? In England oder in Schottland?“

„In England“, antwortete Onkel Joseph. „Der Name des Ortes ist mir jedoch wieder entfallen – meine deutsche Zunge vermochte ihn nicht gut auszusprechen. Es war eine kleine Stadt an der Küste des Meeres – des Meeres, welches zwischen meinem Vaterlande und dem Ihrigen wogt. Hier machten sie Halt und hier warteten sie, bis es Zeit ward, den Arzt und die Wärterin herbeizurufen. Und wie Mistreß Treverton gesagt hatte, daß es sein sollte, so war es auch vom Ersten bis zum Letzten. Der Arzt und die Wärterin und die Leute des Hauses waren alle fremd und glauben bis auf den heutigen Tag, wenn sie noch leben, Sara sei die Gattin des Seekapitäns und Mistreß Treverton ihre Dienerin gewesen. Erst als sie mit dem Kinde den größten Teil des Heimwegs zurückgelegt hatten, wechselten die Beiden wieder die Kleider und nahmen jede die ihr gebührende Stelle ein. Der erste Freund in Porthgenna, den die Herrin rufen läßt, um ihm das Kind zu zeigen, ist der andere Arzt, der dort wohnt. -  ‚Wußten Sie, was mir fehlte, als Sie mich fortschickten, um andere Luft zu atmen?’ sagt sie und lacht. – Und der Doktor lacht auch und sagt: ‚Ei, versteht sich! Ich war jedoch zu vorsichtig, um mich deutlicher auszusprechen, denn in einer so frühen Periode dieses Zustandes kann man sich sehr leicht irren. Und Sie fanden also, daß die trockene Luft Ihnen gut bekam und blieben dort?’ sagt er. ‚Das haben Sie recht gemacht, denn es ist gut für Sie gewesen und auch für das Kind.’ Und der Doktor lacht wieder und die Herrin mit ihm und Sara, welche daneben steht und alles mit anhört, glaubt, es müsse ihr vor Jammer, Entsetzen und Scham über diesen Betrug das Herz brechen. Als der Doktor fort ist, sinkt sie auf die Knie nieder und bittet ihre Herrin mit heißen Tränen, zu bereuen und sie mit dem Kinde von Porthgenna fortzuschicken, damit man nie wieder von ihr höre. Die Herrin mit ihrem tyrannischen Willen antwortet nur vier Worte: ‚Es ist zu spät!’ – Fünf Wochen darauf kommt der Seekapitän zurück und das ‚zu spät’ ist eine Wahrheit, welche durch keine Reue mehr geändert werden kann. Die schlaue Hand der Herrin, welche den Betrug von Anfang an geleitet, leitet ihn auch bis ans Ende – leitet ihn so, daß der Kapitän aus Liebe zu ihr und dem Kinde nicht wieder zur See geht – leitet ihn bis zu der Zeit, wo sie sich auf ihr Bett niederlegt, um zu sterben, und die ganze Last des Geheimnisses und die ganze Schuld des Geständnisses Sara überläßt – Sara, welche unter der Tyrannei dieses Willens fünf lange Jahre als Fremde für ihr eigenes Kind in dem Hause gelebt hat.“

„Fünf Jahre!“ murmelte Rosamunde, indem sie ihren Kleinen sanft in ihren Armen emporhob, bis sein Gesicht das ihrige berührte. „O mein Gott, fünf lange Jahre war sie ein Fremdling für das Blut ihres Blutes, für das Herz ihres Herzens!“

„Und auch alle Jahre nachher“, sagte der alte Mann. „Die so einsamen Jahre unter Fremdlingen, ohne daß sie das Kind, welches heranwuchs, ein einziges Mal zu sehen bekommen hätte, ohne ein Herz, welchem sie die Geschichte ihres Kummers hätte anvertrauen können – selbst dem meinigen konnte sie es nicht. ‚Es wäre aber’, sagte ich zu ihr, als sie nicht mehr sprechen konnte und ihr Gesicht wieder auf dem Pfühle herumdrehte, ‚es wäre aber tausend Mal besser gewesen, mein Kind, wenn du das Geheimnis gestanden hättest.’ – ‚Wie konnte ich es gestehen?’ sagte sie. ‚Sollte ich es dem Herrn erzählen, der mir so viel Vertrauen geschenkt? Sollte ich es später der Tochter erzählen, deren Geburt schon ein Vorwurf für mich war? Konnte sie die Geschichte der Schande ihrer Mutter von den Lippen ihrer Mutter erzählen hören? Wie wird sie dieselbe jetzt anhören, Onkel Joseph, wenn sie dieselbe von dir hört? Bedenke den hohen Rang, den sie bis jetzt im Leben eingenommen! Wie kann sie mir verzeihen? Wie kann sie jemals mit Güte und Liebe auf mich herabblicken?’“

„Aber“, rief Rosamunde ihn unterbrechend, „Sie haben sie doch nicht mit diesen Gedanken in ihrem Herzen verlassen?“

Onkel Josephs Haupt sank auf seine Brust herab.

„Was hätte ich wohl dagegen sagen können?“ fragte er traurig.

„O, Lenny, hörst du das? Ich muß dich verlassen! Ich muß unsern Kleinen verlassen! Ich muß zu ihr gehen, oder diese letzten Worte brechen mir das Herz.“

Unaufhaltsame Tränen entströmten, indem sie dies sagte, ihren Augen und sie erhob sich mit dem Kind auf den Armen hastig von ihrem Sitz.

„Heute Abend nicht“, sagte Onkel Joseph. „Als ich von ihr fortging, sagte sie zu mir: ‚Heute Abend kann ich nichts mehr ertragen. Laß mir Zeit bis morgen, um so viel Kräfte zu sammeln als möglich.’“

„Nun, dann gehen Sie selbst wieder hin“, rief Rosamunde; „gehen Sie, um Gottes willen, ohne einen Augenblick zu versäumen und reden Sie ihr zu, damit sie von mir denke, wie sie soll. Erzählen Sie ihr wie ich Ihnen zugehört habe, während mein Kind schlafend an meiner Brust gelegen – erzählen Sie ihr – doch nein, Worte sind zu kalt! – Kommen Sie her, kommen Sie her, Onkel Joseph! – ich werde Sie nun stets so nennen – kommen Sie her und küssen Sie mein Kind – ihren Enkel! Küssen Sie ihn auf diese Wange, weil dieselbe meinem Herzen am nächsten gelegen. Und gehen Sie wieder zu ihr, freundlicher und lieber alter Mann- gehen Sie wieder an ihr Bett und sagen Sie weiter nichts, dals daß ich ihr diesen Kuß sende!“


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