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Antonina oder der Untergang Roms



Kapitel VI.
Das Haus in der Vorstadt.

Wir schreiten um einige Stunden zurück und wenden uns von der gespaltenen Mauer nach der Vorstadt und der Gegend, welche man von ihren Zinnen überschaut. Wir verlassen den verwundetem mit seinen finsteren Plänen beschäftigten Ulpius und unsere Aufmerksamkeit heftet sich jetzt auf die Schicksale Hermanrich’s und Antoninens.

Wiewohl der Abend kaum eingebrochen war, hatte der Gothe doch den Kriegern unter seinem Befehl bereits ihre Nachtstationen in der einsamen Vorstadt angewiesen. Nach Erfüllung dieser Pflicht blieb er der ununterbrochenen Einsamkeit des Gebäudes überlassen, welches ihm jetzt zur vorübergehenden Wohnung diente.

Das Haus, in welchem er sich befand, war das letzte der breiten, unregelmäßigen Straße, zu welcher es gehörte, und es ging nach der Mauer unterhalb des Monte Pincio, von welcher es durch einen, etwa eine Viertelstunde im Umfange haltenden öffentlichen Garten getrennt war. Dieser einst von Menschen erfüllte Vergnügungsort war jetzt gänzlich unbetreten. Seine dunkeln Haine wurden durch keine Menschengestalt erhellt, die bunten Sommerhäuser darin waren finster und öde, die Buden seiner Obst- und Blumenhändler standen leer auf den einsamen Rasenplätzen da. Traurig und verlassen erstreckte er sich als eine furchtbare Einöde bis unter die Mauern einer Meschenerfüllten Stadt.

Und doch lag ein unaussprechlich ernster und beschwichtigender Zauber in dem einsamen Anblick, welchen er gewährte, als sich seine Blumenbeete und Bäume jetzt allmälig in den Schatten der vorrückenden Nacht verdunkelten. Er gewann in seiner jetzigen Verschönerung, was er an seiner früheren Heiterkeit verloren hatte. Er hatte noch seine eigne einfache Anziehungskraft, obgleich er nicht mehr in seinen gewohnten Illuminationen funkelte, nicht mehr dem Ohre durch die Musik und das Gelächter, welche sich in Friedenszeiten daraus erhoben, gefiel. Als er von der Terrasse seiner neuen Wohnung darauf hinblickte, verschwand die Erinnerung an seine vergangenen, geschäftigen Stunden aus dem Geiste des jungen Gothen und seine Geisteskräfte bewillkommneten die Gedanken, welche die Nacht allmälig zu wecken und zu erzeugen begann.

Wohin konnten sich unter solchen Verhältnissen die Gedanken Hermanrich’s am Natürlichsten verirren?

Von dem Mondlichte an, welches bereits die höchsten zitternden Blätter der Bäume des Gartens zu färben; begann, bis zu den zarten, jetzt schattenartigen Blumen, die. sich an den Pfeilern der verlassenen Terrasse, auf welcher er stand, emporschlangen, verband sich jeder Gegenstand, den er erblickte, für seine lebhafte ungebildete Phantasie mit dem einen Wesen, dessen beredter, passender Typus ihm alles Schöne in der Natur zu sein schien. Er dachte an Antoninen, die er einst beschützt, an Antoninen, die er nachher verlassen, an Antoninen, die er jetzt verloren hatte.

Mit starker Einbildungskraft und schwacher Fähigkeit des Denkens, mit starker moralischer Empfänglichkeit und geringer moralischer Festigkeit begabt, zu leicht zu lenken und zu schwer zu einem Entschlusse zu bringen, hatte Hermanrich das Mädchen eher aus Charakterschwäche als aus Entschlossenheit des Willens aufgegeben. Als jetzt daher die Beschäftigungen des Tages seine Aufmerksamkeit auszufüllen aufgehört hatten, als jetzt die Stille und Einsamkeit sein Gedächtniß zu dem Verlassen seines hilflosen Schützlings zurückführte, flößte ihm diese That verderblichen Unmuths und unverantwortlicher Unentschlossenheit Kummer und Reue ein. Wenn Antonina während ihres Aufenthaltes unter seiner Obhut einen unmerklichen Einfluß aus sein Herz geübt hatte, so erfüllte jetzt ihr Bild, wo er über seinen verbrecherischen Antheil an ihrer Trennung nachdachte, alle seine Gedanken und betrübte und beschämte ihn zugleich, wenn er sich ihrer Verbannung aus dem Schutze seines Zeltes erinnerte.

Jedes Gefühl, welches seine Gedanken an Antoninen in der vorigen Nacht beseelt hatte, gewann doppelte Stärke, als er sich jetzt ihrer erinnerte. Er entsann sich von Neuem ihrer beredten Worte und des Zaubers ihres milden, unschuldigen Wesens; von Neuem verweilten seine Gedanken ans den Schönheiten ihrer äußern Form. Jeder warme Ausdruck, jeder wechselnde Ton der Stimme, welcher ihre Bitte ums Rettung und Anschluß an. sie begleitet hatte, jeder Ueberredungsgrund dessen sie sich bedient, um ihn zu erweichen, lebte jetzt wieder in seinem Gedächtnisse auf, und nahm in seinem Herzen an Einfluß und Gewalt zu. Alle unvollkommenen Bilder des Glückes, welche sie so hastig ausgemalt hatte, um ihn zu verlocken, färbten sich jetzt heller und sein Geist begann sich in Visionen zu ergehen, die bisher von keinen andern Bildern, als denen des Wetteifers, der Gewaltthat und des Kampfes erfüllt gewesen waren, Scenen, die selbst Antoninens leichtesten und hastigsten Ausdrücke heraufbeschworen hatten, erhoben sich jetzt schattenhaft und unbestimmt vor seinem brütenden Geiste. Liebliche Stellen der Erde, die er besucht und wieder vergessen hatte, kehrten jetzt, wo er an sie dachte, idealisiert und veredelt zurück. Sie erschien seinem Geiste in jedem Reize der Bewegung, wie sie alle Pflichten erfüllte und alle Freuden genoß, welche sie ihm versprochen hatte. Er stellte sie sich vor, wie sie glücklich und von Gesundheit erfüllt, mit rosiger Wange und elastischem Schritte heiter am frischen Morgen neben ihm hinschritt. Er stellte sich vor, wie sie ihn in der milden Stille des Abends durch ihre versprochenen Lieder entzückte, durch ihre beredten Worte erheiterte. Er stellte sich vor, wie sie sanft und warm und still in seinen schützenden Armen schlief, stets glücklich und stets mild, an Jahren ein Kind, an Verstand ein Weib, zugleich eine Geliebte und eine Gefährtin, eine Lehrerin und Schülerin, eine Geleitete und eine Führerin.

Das hätte sie ihm werden können! Was war sie jetzt?

Sank sie unter ihrer Einsamkeit danieder, ging sie in Kälte und Ermattung unter, von Hinterlistigen bedroht, von Grausamen zurückgestoßen, von Gedankenlosen verspottet! Allen diesen Gefahren, diesem ganzen Elend hatte er sie ausgesetzt und zu welchem Zwecke? Um die ungewisses Gunst, die unwillkommene Freundschaft eines Weibes zu bewahren, das selbst die gewöhnlichsten, instinktmäßigsten Tugenden ihres Geschlechts verlassen hatten, dessen rasender Rachedurst Gerechtigkeit mit Verrätherei, Unschuld mit Verbrechen, Hilflosigkeit mit Tyrannei verwechseln, dessen Ansprüche auf Nationalität und Verwandtschaft seiner Schätzung nach, durch die offen gestandene Tücke ihrer Absichten, in dem verderbenschwangern Augenblicke hätten verwirkt sein sollen, wo sie ihm dieselben in aller ihrer Schändlichkeit vor den Mauern Rom’s anvertraut hatte. Er stöhnte in Verzweiflung, als er dieser seiner unwürdigsten aller Nothwendigkeiten gedachte, denen das verlassene Mädchen geopfert worden wär.

Bald jedoch wendete sich sein Geist von diesen Gedanken ab und seinen Pflichten und seinem Kriegsruhme zu und hier erleichterte sich seine Reue theilweise, wie wohl sein Schmerz unverändert blieb. So wunderbar auch der Einfluß der Gegenwart und der Worte Antoninens auf den Gothen gewesen war, so hatten sie doch noch nicht Macht genug erlangt, um in ihm gänzlich die kriegerischen Instinkte seines Geschlechts und Volkes zu ersticken, oder die kräftigen, feindseligen Eingebungen der Erziehung und der Gewohnheit zu besiegen. Sie hatte ihn mit neuen Empfindungen begabt und zu neuen Gedanken erweckt, sie hatte alle schlummernde Sanftmuth seines Charakters zum Kampfe gegen die rohe Gleichgültigkeit, die rücksichtslose Energie aufgerufen, welche Lehre und Beispiel bisher seinem Herzen zur zweiten Natur gemacht hatten. Sie hatte sich einen Weg in seinen Geist gebahnt, die dunkeln Stellen desselben erleuchtet, seine engen Raume erweitert, seine polierten Schätze verschönert. Sie hatte während der kurzen Stunden des Verkehrs mit ihm geschaffen und veredelt, aber seine Neigung noch nicht gänzlich von seinen alten Gewohnheiten und Anhänglichkeiten abgelenkt; sie hatte den barbarischen Kampf noch nicht seines falschen Schimmers, den kriegerischen Ruhm noch nicht seines Pomp’s entkleidet; sie hatte die Niedrigerstehenden, Intellectuellen noch nicht zu der Hohe der erhabeneren, moralischen Fähigkeiten seines Charakters heraufgezogen. Fast unparteiisch der abwechselnden streitenden Herrschaft der beiden Herren, Liebe und Pflicht, ausgesetzt, bedauerte er zugleich Antonina und hielt sich doch mechanisch an seinen alten Gehorsam gegen jene tyrannischen Forderungen der Nationalität und, des Namens fest, welche ihren Verlust herbeigeführt-hatten.

Von diesen wechselnden Bewegungen bedrückt, und eben so rath- wie trostlos, machte ihn die Untätigkeit seiner gegenwärtigen Lage äußerst niedergeschlagen. Er stand ungeduldig auf, legte seine Waffen an und suchte seinen Gedanken zu entgehen, indem er den Ort verließ, unterdessen Einflusse sie sich erhoben hatten. Der Stadt den Rücken wendend, lenkte er seine Schritte planlos durch das verwickelte Straßenlabyrinth, welches die verlassene Vorstadt bildete.

Nachdem er durch die im Besitz der gothischen Linien befindlichen Gebäude gegangen war und diejenigen erreicht hatte, welche den verödeten Feldern näher lagen, wurde der Anblick der Dinge um ihn her eindrucksvoll genug, um die Aufmerksamkeit eines Jeden, der nicht gänzlich mit anderen, wichtigeren Gegenständen der Betrachtungen angefüllt war, zu erregen.

Die Einsamkeit, welche er jetzt auf allen Seiten erblickte, war nicht die Einsamkeit des Verfalls —— die Gebäude um ihn her befanden sich in vollkommen baulichem Zustande —— es war nicht die Einsamkeit der Pest —— auf den unbetretenen Straßen lagen keine Leichen; es war nicht die Einsamkeit der Absperrung —— nirgends waren vergitterte Fenster, und nur an seltenen Stellen verschlossene Thüren zu sehen; es war die Einsamkeit der menschlichen Vernichtung. Die offenen Hallen der Theater standen leer, den Säulengängen der Kirchen näherte sich Niemand, die Bänke vor den Weinläden waren unbesetzt, auf den Verkaufstischen der Straßenbuden standen immer noch bunte Ueberbleibsel von Hausrath, die von Keinem bewacht, von Keinem gekauft wurden, Brod- und Fleischstücke —— Schätze, die bald höheren Werth für das belagerte Rom erlangen sollten, als Gold und Silber —— verfaulten hier im Freien, wie Unrath auf Düngerhaufen. Kinderspielzeug Frauenzierathen, Börsen, Geld, Liebespfänder, kostbare Manuskripte lagen auf den Wegen verstreut, von ihren verschiedenen Besitzern in der Eile ihrer plötzlichen, allgemeinen Flucht fallen gelassen und nicht weiter berücksichtigt. Jede verödete Straße verkündete verzweifelt aufgegebene Lieblingspläne, kläglich verlassene, kostbare Arbeiten, unwiederbringlich verlorene, entzückende Genüsse; selbst die Hausthiere, die Penaten der Reichen und Armen, waren fortgezogen. Sie waren entweder ihren Besitzern in die Stadt gefolgt, oder hatten sich ungehindert und unbewacht im Lande verlaufen. Palast, Bad und Circus entwickelten umsonst ihre bunte Pracht und ihre üppige Bequemlichkeit, in der Nähe ihrer leeren Hallen war nicht einmal ein umherschweifender Gothe zu sehen, denn das Heer hatte in einer Aussicht, wie es die Unterjochung Rom’s war, den Enthusiasmus seines Anführers für dessen hohe Aufgabe angenommen und gehorchte gern seinen Geboten, die Plünderung der Vorstädte zu verschieben, indem es die im Vergleich werthlosen Schätze, von denen es umgeben war und die es jederzeit erlangen konnte, verschmähte, da es fühlte, daß die reichen Besitzthümer Rom’s selbst sich jetzt ihren begierigen Händen aufthaten. Stumm und geräuschlos, unbevölkert und unverheert lagen die weitberühmten Vorstädte der größten Stadt der Welt eben so in die Nacht der Natur, wie in die Nacht des Glückes und die des Ruhmes versunken da!

So traurig und eindrucksvoll auch der sich so den Augen des jungen Gothen bietende Anblick trat, vermochte er doch nicht den mächtigen Einfluß zu schwächen, welchen die Gedanken des Abends noch auf seinen Geist übten. Wie während der vergangenen Stunden das Bild des verlassenen Mädchens die Erinnerung an die erfüllten Pflichten vermischt und sich, der Betrachtung der noch auszuführenden Gebote entgegengesetzt hatte, so verweigerte es jetzt seinen Geisteskräften jeden Eindruck von der sich um ihn her ausbreitenden einsamen Scene, welche er erblickte, ohne sie zu berücksichtigen. Während er durch die düsteren Straßen schritt, beherrschten ihn immer noch seine vergeblichen Kümmernisse und Selbstanklagen, seine natürlichen Neigungen und angeeigneten Anhänglichkeiten und stritten in ihm eben so eifrig und unablässig, wie in den ersten Augenblicken, wo sie sich mit dem Abend während seines Verweilens auf der Terrasse des einsamen Hauses erhoben hatten.

Er war jetzt zur äußersten Grenze der Gebäude in den Vorstädten gelangt, vor ihm lag eine ununterbrochene Aussicht auf ebene, schimmernde Felder und weiche, nebelige, undurchdringliche Wälder. Auf der einen Seite befanden sich Weinberge und zu Häusern gehörende Gärten, auf der andern ein einzelnes Haus, das äußerste von Allen in seiner unmittelbaren Nähe. So finster und verödet es auch aussah, betrachtete er es doch eine Zeitlang mit der mechanischen Aufmerksamkeit eines Mannes, der mehr mit seinen Gedanken als seinen Beobachtungen zu thun hat —— er näherte sich ihm allmälig in der brütenden Zerstreuung seiner Reflexionen und blieb, ohne es selbst zu bemerken, vor der niedrigen Reihe unregelmäßiger Stufen, welche zur Eingangsthür hinaufführten, stehen.

Durch die plötzliche Nähe an dem Gegenstande, zu welchem er unwissentlich herangekommen war, aus seinem Sinnen aufgeschreckt, betrachtete er jetzt zum ersten Male die menschenleere Wohnung vor sich mit wirklicher Aufmerksamkeit.

Das Haus besaß nichts Bemerkenswerthes, außer der ungemeinen Verödung, deren Gepräge es trug, was zum Theil seiner einzelnen Lage, theilweise aber auch dem ungewöhnlichen Mangel an allen Zierathen auf der Straßenseite zu entspringen schien. Es war zu umfangreich, um die Wohnung eines Armen sein zu können, zu sehr von Prunk und Zierathen entblößt, um der Palast eines Reichen zu sein. Vielleicht hatte es einein Bürger der Mittelklasse gehört —— vielleicht auch einem mürrischen Nordländer, einem einsam lebenden Egypter, einem ränkesüchtigen Juden. Obgleich es aber an sich keinen auffallenden oder entschiedenen Charakter besaß, fühlte doch der Gothe eine räthselhafte fast unwiderstehliche Neugier, sein Inneres zu untersuchen. Er konnte sich keinen Grund für die Sache angeben, keinen Vorwand für die Handlung der Sinne, als er die vor ihm liegenden Stufen hinaufstieg. Wenn Alarich selbst plötzlich seine Rückkehr geboten, wenn Beweise unleugbarer Verrätherei um das einsame Gebäude sichtbar gewesen wären, als er die unverriegelte Thür desselben aufstieß, hätte er doch, wie er fühlte, seinen Weg fortsetzen müssen.

Im nächsten Augenblicke hatte er das Haus betreten. Das Licht fiel durch die offene Thür in den düsteren Hausgang, der Abendwind eilte seiner Spur nach, pfiff schrill und traurig zwischen den steinernen Säulen und in den verborgenen Ritzen und unbewohnten Gemächern im ersten Stock. Es war kein Lebenszeichen zu erblicken, man vernahm keinen Schritt, kein Gegenstand des Hausrathes war zu sehen. Außerhalb lagen die verlassenen Vorstädte wie eine Wüste und dieses leere Haus glich im Innern einem Grabmal denn es war zwar leichenleer, sprach aber doch mit beredter Stimme vom Tode.

Diese gruftartige einsame Halle besaß einen unerklärlichen Zauber für die Augen des Gothen. Er blieb bewegungslos am Eingange stehen und blickte träumerisch in die düstere, leere Räumlichkeit vor ihm, bis ein heftiger Windstoß plötzlich die äußere Thür weiter zurückwarf und zu gleicher Zeit einen stärkeren Lichtstrom einließ.

Das Haus war nicht leer. In einer Ecke des Hausgangs, die bisher in Dunkelheit versunken gewesen war, kauerte eine schattenartige Gestalt. Sie war in ein dunkles Gewand gehüllt und zu einer unerklärlichen und ungewöhnlichen Form zusammengesunken. Das Einzige an ihr, was verrieth, daß es ein menschliches Wesen war, bestand in einer weißen Hand, welche die schwarze Draperie zusammenhielt und im kalten Mondlichte fast einen gespenstischen Kontrast mit derselben bildete.

Unbestimmte Erinnerungen an den Aberglauben der alten Religion seines Volkes zogen beim ersten Anblicke des gespensterartigen Bewohners der Halle durch die Erinnerung des jungen Gothen. Als er in gefesselter Aufmerksamkeit vor der bewegungslosen Gestalt stand, begann sie bald denselben seltsamen Einfluß auf seinen Willen zu üben, welchen schon das einsame Haus gehabt hatte. Er schritt langsam auf die niedergekauerte Gestalt zu;

Das räthselhafte Wesen machte bei dem Geräusch seines Näherkommens keine Bewegung, die blasse Hand hielt immer noch mit derselben starren Unbeweglichkeit den Mantel über der zusammengesunkenen Gestalt, so tapfer er auch war, schauderte Hermanrich doch, als er sich niederbeugte und die blutleeren, eisigen Finger berührte. Bei dieser Berührung sprang die Gestalt, wie von einem elektrischen Funken getroffen, plötzlich auf.

Als die Falten des dunkeln Mantels zurücksanken, zeigte sich ein Gesicht, dessen Farbe eben so bleich war, wie die der steinernen Säulen ringsumher und die Stimme des einsamen Wesens wurde hörbar und sprach in leisen, eintönigen Klängen die Worte:

»Er hat mich vergessen und verlassen! —— tödte mich, wenn Du willst! — ich bin zum Sterben bereit!«

So gebrochen und tonlos sie auch war, ließ sich doch in dieser Stimme noch eine Spur von ihrem alten Wohllaut erkennen, strahlte in jenem ausdruckslosen, matten Auge doch noch etwas von der ihm innewohnenden Milde. Mit einem plötzlichen Rufe des Mitleids und der Ueberraschung that der Gothe einen Schritt vorwärts, richtete die zitternde Ausgestoßene in seinen Armen auf, verließ das einsame Gebäude, stand im nächsten Augenblicke im Freien unter dem Sternenhimmel und war wieder mit dem Schützling, welchen er verlassen, mit Antoninen, die er verloren hatte, vereinigt.

Er redete ihr zu, liebkoste sie, flehte sie um Verzeihung an, versicherte sie seiner künftigen Fürsorge, aber sie antwortete weder, noch erkannte sie ihn. Sie blickte kein einziges Mal in sein Gesicht aus, bewegte sich nicht in seinen Armen, bat nicht um Gnade. Sie gab kein Zeichen von Leben oder Besinnung, außer daß sie in regelmäßigen Zwischenräumen mit stöhnender Stimme rief:

»Er hat mich vergessen und verlassen!« als ob dieser eine Ausruf für sie zugleich das Geständniß der Nutzlosigkeit ihres Lebens und ihre Wehklage um ihren erwarteten Tod umfasse.

Das Gesicht des Gothen erbleichte bis an seine Lippen. Er begann zu fürchten, daß ihre Geisteskräfte so vielen Prüfungen unterlegen seien. Er eilte mit zitternden, ungewissen Schritten mit ihr dem Freien zu, denn er hegte eine träumerische, instinktmäßige Hoffnung, daß der Anblick jener Wälder und Felder und Berge, welche sie ihm bei ihren früheren Bitten um Schutz gepriesen hatte, jetzt durch ihren Anblick das Bewußtsein des Mädchens wiederherstellen könnten.

Er lief vorwärts, bis er die Vorstadt wenigstens eine Viertelstunde weit hinter sich und eine Anhöhe erreicht hatte, die auf beiden Seiten durch hohe beraste Abhänge und Baumgruppen begrenzt war und eine schmale, aber doch wechselvolle Aussicht auf das Thalgelände unterhalb und die jenseits desselben ausgebreiteten fruchtbaren Ebenen gestatten.

Hier hielt der Krieger mit seiner Bürde an, setzte sich auf den Rasen und versuchte von Neuem die fortdauernde Verwirrung und Furcht des Mädchens zu beseitigen. Er dachte nicht an seine Wachen, die er verlassen hatte —— an seine Abwesenheit von den Vorstädten, die durch einen unerwarteten Besuch seiner Vorgesetzten im Lager in seinem verlassenen Quartiere wahrgenommen und bestraft werden könne. Der sociale Einfluß, welcher die Welt beherrscht, das Götterbild, an dessen Altar der Stolz sich beugen und die Gefühllosigkeit empfinden lernt, der milde, liebliche Einfluß, der natürlichen, ewigen Regel —— der Einfluß des Weibes, die Quelle der Tugenden, wie der Verbrechen, der irdischen Herrlichkeit, wie des irdischen Unglückes, hatte in diesem Augenblicke der Pein und Erwartung in ihm die Stimme der Pflicht zum Schweigen gebracht und alle aus seinen selbstsüchtigen Gedanken hervorgehenden Hindernisse überwunden. Er sprach jetzt zu Antoninen so lockend, wie ein Weib, so sanft, wie ein Kind. Er liebkoste sie so warm, wie ein Liebhaber, so heiter, wie ein Bruder, so gütig, wie ein Vater —— er, der rauhe, nordische Krieger, der nur zu den Waffen erzogen worden war und dessen jugendliche Bestrebungen man aus Kampf und Blutvergießen und Ruhm gelenkt hatte, selbst er war jetzt mit der zarten Beredtsamkeit des Mitleids und der Liebe, mit geschickter, Alles berücksichtigender Fürsorge —— mit ruhiger, ausdauernder Geduld begabt! Sanft und unablässig fuhr er in seiner beschwichtigenden Aufgabe fort und bald erblickte er zu seiner Freude und seinem Triumph die nahe Belohnung seiner Versuche in der langsamen Veränderung, welche allmälig im Gesicht und Wesen des Mädchens wahrnehmbar wurde. Sie richtete sich in seinen Armen auf, blickte fest, aber ohne ihn zu kennen, in sein Gesicht und dann um sich auf die helle, stille Landschaft, dann wieder aufmerksamer auf ihren Gefährten und flüsterte endlich, heftig erhebend, leise, zu mehreren Malen den Namen des jungen Gothen, indem sie ihn ängstlich und furchtsam aufschaute, als ob sie ihn fürchte und an ihm zweifle, während sie ihn wieder erkannte.«

»Du führst mich zu meinem Tode,« rief sie plötzlich, »Du, der mich einst beschützt —— Du, der mich verlassen hat —— Du verlockst mich in die Gewalt des Weibes, welches nach meinem Blute dürstet, —— o es ist entsetzlich —— entsetzlich!«

Sie schwieg, wendete ihr Gesicht ab, schauderte heftig und machte sich aus seinen Armen los; nach einer Pause fuhr sie fort:

»Den langen Tag hindurch und den kalten Abend habe ich an dem einen einsamen Orte, auf den mir bevorstehenden Tod gewartet! Ich habe meine Stunden der Erwartung ohne Klage erlitten, ich habe mit geringer Furcht und ohne Schmerz auf das Nahen meiner Feindin gelauscht, die geschworen hat, mein Blut zu vergießen! Ich habe Keinen, der mich liebt, bin ein Fremdling im Lande meines eignen Volkes und besitze nichts, wofür ich leben möchte! Aber es ist ein bitterer Schmerz für mich, in Dir den Vollstrecker meines Urtheils zu erblicken, durch die Hand Hermanrich’s dem Erbtheil des Lebens entrissen zu werden, welches zu bewahren ich so lange gerungen habe.«

Ihre Stimme hatte beim Aussprechen dieser Worte eine eindrucksvolle Schwäche und Wehmuth des Tones angenommen, ihre ruhigen, trüben Klänge verkündeten fast göttliche Resignation und Betrübniß, sie schienen zu einer geheimnißvollem unerklärlichen Harmonie mit der wehmüthigen Stille der Nachtlandschaft gestimmt zu sein. Als sie jetzt dastand und mit blassem, ruhigem Gesicht und sanften, thränenlosen Augen in den Himmel aufblickte, dessen Mondstrahlen weich ihre Gestalt beschienen, konnte kaum die das Nahen ihres Engelsboten erwartende heilige Jungfrau mit einer reineren, einfacheren Schönheit geschmückt gewesen sein, als diejenige, welche jetzt auf den Zügen des von Numerian verstoßenen Kindes thronte.

Seiner Bewegung nicht länger Herr, mit Ehrfurcht, Schmerz und Verzweiflung erfüllt, als er auf das Opfer seines herzlosen Unmuths blickte, beugte sich Hermanrich zu den Füßen des Mädchens nieder und flehte mit den leidenschaftlichen Tönen echter Reue um Verzeihung, indem er sie seines Schutzes und seiner Liebe versicherte. Alles, was der Leser bereits erfahren hat, die bitteren Selbstvorwürfe des Abends, die bekümmerten Wanderungen der Nacht, die geheimnißvolle Anziehungskraft, welche ihn zu dem einsamen Hause geführt hatte, seine Freude, als er wieder seinen verlorenen Schützling —— entdeckte, alle diese Bekenntnisse schüttete er jetzt in der ungeschminkten Beredtsamkeit tief innerlicher Bewegung und wahrer Bekümmerniß aus.

Allmälig erwachte Antonina beim Vernehmen seiner Worte überrascht aus ihrer Zerstreuung. Der Ausdruck seines Gesichts und das Innige seines Wesens wirkte, mit dem instinktmäßigen Scharfsinn ihres Geschlechts und ihrer Lage betrachtet, mit freundlichem, heilendem Einflusse auf ihren Geist. Sie schrak plötzlich auf, eine helle Röthe flog über ihre farblosen Wangen, sie beugte sich nieder und blickte ernst und forschend in das Gesicht des Gothen. Ihre Lippen bewegten sich, aber ihre schnellen, convulsivischen Athemzüge erstickten die Worte, welche sie vergebens zu bilden versuchte.

»Ja,« fuhr Hermanrich, aufstehend und sie wieder an sich ziehend, fort, »Du sollst nie wieder trauern, nie wieder fürchten, nie wieder weinen! Obgleich Du Deinen Vater verloren hast und die Leute Deines Volkes Dir fremd geworden sind, obgleich Du bedroht und verstoßen worden bist, sollst Du doch schön, doch glücklich bleiben, denn ich werde über Dir wachen und Dir soll nie ein Leides widerfahren. Ich werde für Dich arbeiten und Du sollst nie Mangel haben. Ich will Volk und Verwandte, Ruhm und Pflicht verlassen, um Dir das Verlorene wieder zu ersetzen.«

Die jugendliche Frische und Hoffnung kehrte in das Herz des Mädchens zurück, wie Wasser in die lange versiegte Quelle, als der junge Krieger innehielt. Die Thränen standen in ihren Augen, aber sie seufzte weder, noch sprach sie. Ihr ganzer Körper bebte im Uebermaß ihres Erstaunens und Entzückens, während sie ihn anblickte und zu lauschen fortfuhr, als er weiter sprach:

»Fürchte also nichts mehr für Deine Sicherheit. Goiswintha, vor der Du Dich entsetzest, ist fern von uns. Sie weiß nicht, daß wir hier sind, sie kann jetzt unsere Schritte nicht mehr verfolgen, um Dir zu drohen oder weh zu thun. Denke nicht mehr daran, wie Du gelitten hast und ich gesündigt habe! Denke nur, wie bitter ich die Trennung des Morgens bereuet und wie freudig ich die Begegnung des Abends bewilllommne. O Antonina, Du bist mit wunderbarer Lieblichkeit bekleidet, Du besitzest eine vervollkommnete Jugend, die nichts vom Kinde an sich hat. Deine Worte sinken mit dem Wohlklange eines Liedes aus alter Zeit in meine Ohren, es ist wie ein Traum von den Geistern, die meine Väter anbeteten, wenn ich aufblicke und Dich an meiner Seite sehe.«

Ein aus Verwirrung, Freude und Ueberraschung gemischter Ausdruck zog über das halbabgewendete Gesicht des Mädchens, während es dem Gothen zuhörte. Antonina erhob sich mit einem Lächeln unnennbarer Dankbarkeit und Entzückung und deutete auf die vor ihnen liegende Aussicht, während sie leise entgegnete:

»Laß uns etwas weiter gehen, bis dahin, wo der Mond unten die Wiese bescheint. Das Herz will mir an diesem schattigen Orte zerspringen. Laß uns das Licht dort aufsuchen es scheint glücklich zu sein wie ich.«

Sie schritten weiter und unterwegs erzählte sie ihm wieder von den Kümmernissen des vergangenen Tages, von ihrem einsamen und verzweifelten Wege von seinem Zelte nachdem alleinstehenden Hause, wo er sie am Abend gefunden, und wo sie sich von Anfang an darein ergeben hatte, einen Tod zu erwarten, der zu der Zeit wenig Schreckliches für sie besaß. In dieser Erneuerung ihrer traurigen Geschichte lag keine Spur von Vorwurf oder von Klage. Es geschah nur um sich von Neuem an den entzückenden Ausdrücken der Reue und Hingebung zu erquicken, welche dieselbe, wie sie wußte, von Hermanrich’s Lippen locken würde, daß sie jetzt daran dachte, nochmals die Geschichte ihrer Schmerzen an ihn zu richten.

Während sie immer weiter gingen, während das Mädchen der rauhen, glühenden Beredtsamkeit der Sprache des Gothen lauschte, während es auf die stille Landschaft und den milden, durchsichtigen Nachthimmel blickte, gewann ihr Geist, der selbst unter dem Drucke der heftigsten Gefühle stets elastisch, stets bereit gewesen war, seine gewohnte gesunde Stimmung und Hoffnung wieder zu erlangen, von Neuem seine frühere Spannkraft und nahm sein gewohntes Gleichgewicht wieder an.

Von Neuem begann sich ihr Gedächtniß mit seinen geliebten Erinnerungen zu erfüllen, und ihr Herz sich seiner unschuldigen Wünsche und visionären Gedanken zu erfreuen. Trotz aller ihrer Befürchtungen und Leiden schritt sie jetzt dahin mit einem Charakter gesegnet, den der Schmerz nicht lange verdunkeln und die Vernachlässigung nicht zu verzerren vermochte, immer noch so glücklich in sich selbst, auch jetzt so vergeßlich für ihre Vergangenheit, so hoffnungsvoll für ihre Zukunft, wie an jenem ersten Abende, wo wir sie in ihres Vaters Garten zu den Klängen ihrer Laute singen hörten. Unmerklich, wie sie vorwärts gingen, waren sie vom Wege abgeschweift, hatten einen Nebenpfad betreten und standen jetzt vor einem Thore, das zu einem kleinen von Gärten und Weinbergen umgebenen Bauernhause führte, welches gleich den Vorstädten, aus denen sie so eben kamen, beim Herannahen der Gothen von seinen Bewohnern verlassen worden mir. Sie schritten durch das Thor, gelangten auf den Rasenplatz vor dem Hause und blieben einen Augenblick stehen um sich umzuschauen.

Die Gothen hatten bereits die Wiesen ihres Grases und die jungen Bäume ihrer Aeste beraubt, um ihre Pferde damit zu füttern, hierauf aber hatte sich die Zerstörung des kleinen Gutes beschränkt. Das Haus mit seinem netten Strohdache und seinen Fensterläden von buntem Holze, der Garten mit seinem kleinen Vorrathe von Obst und seinen sorgfältig gepflegten Beeten seltener Blumen, die wahrscheinlich dazu bestimmt gewesen waren, die festliche Tafel eines Adeligen oder die Statue eines Märtyrers zu zieren, hatten für den rohen Geschmack der Soldaten Alarich’s keine Lockung geboten.

Auf dem Rasen vor der Hausthür war keine Fußspur zu sehen, der Epheu rankte sich in seiner gewohnten Ueppigkeit um die Säulen der niedrigen Hausthür und als Hermanrich und Antonina nach dem Fischteiche am Ende des Gartens schritten, schwammen die wenigen Wasservögel welche die Besitzer des Bauernhauses dorthin gesetzt hatten, auf das Ufer zu, wie um in ihrer Einsamkeit den Anblick einer menschlichen Gestalt zu bewillkommnen.

Weit entfernt davon, Traurigkeit zu erwecken, lag etwas Beschwichtigendes und Anziehendes in der Einsamkeit des verlassenen Bauernhauses Seine verheerten Wirthsschaftsgebäude und abgegrasten Wiesen, die bei Tage hätten den Eindruck der Verödung hervorbringen können, waren durch die Atmosphäre der Nacht so in die Ferne gelegt, gemildert und verdunkelt, daß sie keinen Mißton mit der herrschenden Glätte und Ueppigkeit der umgebenden Landschaft bildeten. Als Antonina die erleuchteten Felder und beschatteten Haine hier gemischt, dort einander folgend sich weithin erstrecken sah, bis sie sich an die fernen Berge schlossen, sprach die beredte Stimme der Natur, deren Zuhörer das menschliche Herz und deren Thema die ewige Liebe ist, begeisternd zu ihren aufmerksamen Sinnen. Sie streckte ihre Arme aus, während sie mit festem entzückten Blicke auf die lichte Aussicht schaute, als sehne sie sich ihre Schönheiten in eine einzige lebende Gestalt, —— in einen Geist ausgelöst zu sehen, der menschlich genug wäre, um angeredet, und sichtbar genug, um angebetet werden zu können.

»Du schöne Erde!« murmelte sie leise vor sich hin, »Deine Berge sind die Markthürme der Engel, Dein Mondenlicht ist der Schatten Gottes!«

Ihre Augen erfüllten sich mit schimmernden, glücklichen Thränen, sie wendete sich Hermanrich zu, der in ihre Beobachtung versunken dastand und fuhr fort:

»Ist es Dir nie eingefallen, daß Licht und Luft und Blumenduft Ueberbleibsel von den Schönheiten des Paradieses enthalten könnten, die mit Eva entstehen, als sie in die einsame Welt hinauswandern? Sie glühten und athmeten für das Weib und dieses lebte und war in ihnen schön! Sie waren mit einander verbunden wie der Sonnenstrahl mit der Erde, die er erwärmt, und konnte sie das Schwert des Cherubs so plötzlich scheiden? Verschlossen, als Eva hinaus ging, die hinter ihr zufallenden Thore alle Schönheit, die sich an sie geschmiegt und um sie erhoben und geglänzt hatte, in dein leeren Paradiese? Stahl sich ihr kein Strahl ihres heimischen Lichtes in die öde Welt nach? Blieb kein Eindruck von den verlorenen Blumen auf dem Busen, an den sie einst gedrückt worden sein mußten, zurück? Es kann nicht sein. Ein Theil ihrer Besitzthümer des Paradieses müssen ihr mit einem Theile ihres Lebens gelassen worden sein. Sie muß die freudenleere Luft der Erde, als sie dieselbe betrat, mit einem Hauche der duftigen Winde und einem Strahle des Sonnenscheines ihres verlorenen Paradieses veredelt haben! Sie müssen sich verstärkt haben, und strahlender geworden sein und müssen sich. jetzt mit dem langsamen Verlaufe sterblicher Jahre immer noch verstärken und strahlender werden, bis sie zu der Zeit, wo die Erde selbst ein Paradies sein wird, wieder mit der verborgenen Welt der Vollkommenheit, von welcher sie noch getrennt sind, Eines gemacht werden. Seht, wo ich auf die Landschaft hinausblicke, besitzt das Licht, welches ich erschaue, in sich also einen Schimmer vom Paradiese und die Blume, welche ich hier pflücke, einen Hauch des Duftes, welcher einst die Sinne meiner Urmutter Eva erfreute.«

Wiewohl sie hier inne hielt, als ob sie eine Antwort erwarte, bewahrte der Gothe dennoch ein ununterbrochenes Schweigen. Er war weder durch seine Natur, noch durch seine Lage befähigt, die wilden Phantasien und hochfliegenden Gedanken zu theilen, welche durch die Einwirkungen der Außenwelt aus ihrer Verborgenheit in Antoninens Herzen hervorgelockt wurden.

Das Räthselhafte seiner gegenwärtigen Lage, seine dunkle Erinnerung an die Pflichten, welche er versäumt, die Ungewißheit seines künftigen Schicksals, die Gegenwart des einsamen Wesens, welches so unzertrennlich mit Seien vergangenen Empfindungen und seiner künftigen Existenz verknüpft war und das ihn durch sein Geschlecht, sein Alter, sein Aeußeres, sein Unglück und seine Geistesgaben so seltsam anzog —— Alles dies trug dazu bei, seine Geistesfähigkeiten in Verwirrung und Ungewißheit zu bringen. Goiswintha, das Heer, die belagerte Stadt, die verlassenen Vorstädte schienen ihn wie ein Kreis von schattenhaften, drohenden Urtheilssprüchen einzunehmen und mitten in ihnen stand die junge Römerin mit ihrem beredten Antlitz und ihren begeisternden Worten, um ihn, wohin, wußte er selbst nicht, zu treiben und ihn, ohne daß er zu sagen vermochte wie, zu lenken.

Antonina legte unwillkürlich das Schweigen ihres Gefährten als Wunsch aus, die Seene und den Gesprächsgegenstand zu verändern und ging, nachdem sie noch einen Augenblick bei der Aussicht vom Garten her verweilt, wieder nach dem unbewohnten Hause voran. Sie nahmen das hölzerne Vorlegeschloß von der Thür des Gebäudes und traten, durch die Strahlen des Mondes geleitet, in das Hauptgemach desselben.

Die einfachen Zierathen des kleinen Zimmers waren ungestört geblieben und verliehen demselben, so undeutlich sie jetzt auch sichtbar wurden, in den Augen der Fremden dasselbe Aussehen bescheidenen Wohlstandes, welcher es einst wahrscheinlich seinen vertriebenen Bewohnern theuer gemacht hatte. Als sich Hermanrich neben Antoninen aus das einfache Ruhebett setzte, welches das Hauptmöbel des Zimmers bildete, und aus dem Fenster auf dieselbe Naturscene blickte, welche sie im Garten vor sich gehabt hatten, begann die zauberische Stille und Neuheit der Situation jetzt auch sein langsames Wahrnehmungsvermögen zu berühren, wie es schon früher auf den gebildeteren, empfindlicheren Geist des gedankenvollen Mädchens gewirkt hatte. Neue Hoffnungen und ruhige Gedanken erhoben sich in seinem jungen Geiste und ertheilten seinen Ausdrücken eine ungewohnte Sanftheit, seiner Stimme eine ungewohnte Weichheit, als er seine jetzt schweigsame Gefährtin anredete.

»Sage mir, Antonina, würde nicht Dein Glück vollkommen sein, wenn Du ein Haus hättest, wie dieses, mit diesem Garten, mit jener Aussicht, ohne Krieg, ohne strenge Lehrer, ohne drohenden Feind, und dabei Gesellschaft und Beschäftigungen, die Du liebst, besäßest?«

Als er sich nach dem Mädchen umsah, um dessen Antwort zu hören, bemerkte er, daß sich ihr Gesicht verändert hatte. Der frühere Ausdruck tiefen Kummers war wieder auf ihre Züge zurückgekehrt, ihre Augen waren auf den kurzen Dolch geheftet, welcher über die Brust des Gothen herabhing und der plötzlich eine Reihe trüber, unwillkommener Gedanken in ihr erweckt zu haben schien. Als sie endlich sprach, geschah es mit trüber, veränderter Stimme und einem aus Resignation und Verzweiflung gemischten Ausdruck.

»Du mußt mich verlassen, —— wir müssen uns wieder trennen,« sagte sie; »der Anblick Deiner Waffen hat mich an Alles erinnert, was ich bis jetzt vergessen, an Alles, was ich in Rom und was Du vor den Stadtmauern zurückgelassen hast. Einst glaubte ich, daß wir zusammen der uns umgebenden Verwirrung und Gefahr hätten entfliehen können, aber jetzt weiß ich, daß es besser ist, wenn Du Dich entfernst. Ach, meine Hoffnungen und mein Glück sind verschwunden, ich muß wieder allein bleiben!«

Sie hielt einen Augenblick inne, bemühte sich, ihre Selbstbeherrschung wieder zu erlangen, und fuhr dann fort:

»Ja, Du mußt mich verlassen und auf Deinen Posten vor der Stadt zurückkehre, denn am Tage des Sturmes wird, außer Dir, Niemand da sein, der für meinen Vater sorgt. Ehe ich weiß, daß er gerettet ist, ehe ich ihn wieder sehen und um Verzeihung und um Liebe anflehen kann, wage ich es nicht, mich aus der gefahrvollen Nähe Roms zu entfernen. Kehre also zu Deinen Pflichten und Deinen Kameraden und Deinen kriegerischen Beschäftigungen zurück und vergiß, wenn die Stadt gestürmt wird, weder Numerian noch Antoninen, die auf dem einsamen Felde zurückbleibt, um an Dich zu denken.«

Sie stand auf, wie, um das Beispiel zur Entfernung zu geben, aber Kraft und Entschlossenheit verließen sie und sie sank wieder, ohne weiter eine Bewegung machen oder ein Wort sprechen zu können, auf das Ruhebett zurück.

Heftige, streitende Bewegungen zogen durch das Herz des Gothen. Die Worte des Mädchens hatten die Erinnerung an seine halbvergessenen Pflichten belebt und den verschwindenden Einfluß seiner alten Erziehungs- und Stammesneigungen verstärkt. Sowohl sein Gewissen, wie seine Wünsche verhinderten ihn jetzt ihre dringende, unselbstsüchtige Bitte zu bekämpfen. Er verharrte einige Minuten lang in Ueberlegung, stand dann auf und blickte aus dem Fenster und sodann auf Antoninen und das Zimmer, in welchem sie sich befanden. Endlich näherte er sich, wie von einem plötzlichen Entschlusse belebt, wieder seiner Gefährtin und sprach:

»Es geziemt mir, zurückzukehren; ich werde Dein Gebot erfüllen und nach dem Lager gehen, aber nicht vor Anbruch des Tages, während Du, Antoninen, hier verborgen und sicher zurückbleibt. Hier kann Dich Niemand stören. Die Gothen werden die bereits ihrer Vorräthe entkleideten Felder nicht wieder besuchen, der Landmann, welchem diese Wohnung gehört, ist in der belagerten Stadt festgehalten, die, Bauern des platten Landes wagen es nicht, dem feindlichen Heere so nahe zu kommen und Goiswintha, die Du fürchtest, kennt nicht einmal die Existenz eines Zufluchtortes wie dieser. Hier wirst Du zwar einsam, aber sicher sein, hier kannst Du meine Rückkehr erwarten, wenn mir die Nacht Gelegenheit giebt, mich aus dem Lager zu entfernen, und hier werde ich Dir im Voraus mittheilen, wenn die Stadt einem Sturme anheimfallen soll. Du wirst zwar einsam, aber nicht verlass en bleiben —— wir werden nicht von einander geschieden sein. Ich werde oft zurückkehren, um Dich zu sehen und Deinen Worten zu lauschen und Dich zu lieben! Du wirst hier an diesem einsamen Orte glücklicher sein, als in der früheren Heimath, welche Du durch den Zorn Deines Vaters verloren hast.«

»O, ich werde gern bleiben —— ich werde Dich mit Freuden erwarten!« rief das Mädchen, seine strahlenden Augen zu Hermanrich’s Gesicht erhebend. »Ich werde nie wieder traurig zu Dir sprechen, ich werde Dich nie wieder an das, was ich gelitten und verloren habe, erinnern! Wie barmherzig warst Du gegen mich, als ich Dich zum ersten Male in Deinem Zelte sah, wie doppelt barmherzig bist Du hier gegen mich! Ich bin stolz, wenn ich auf Deine Größe und Deine Kraft, und. Deine schweren Waffen blicke, und daß es Dir Freude macht, bei mir zu bleiben, daß Du meinem Vater beistehen wirst, daß Du aus Deinem glänzenden Lager nach diesem Hause, wo ich bleibe, um Dich zu erwarten, zurückkehren wirst. Schon habe ich alles Weh, was mit begegnete, vergessen, schon bin ich freudiger, als ich je in meinem Leben war. Sieh, ich weine nicht nicht vor Kummer. Wenn auf meinen Wangen Thränen stehen, so sind es die Thränen der Freude, welche Jeder willkommen heißt, Thränen über die man singen und jubeln muß.«

Sie schwieg plötzlich, als ob Worte nicht im Stande seien, ihr neues Entzücken auszusprechen. Alle düsteren Empfindungen, welche sie erst vor Kurzem noch bedrückt hatten, waren jetzt völlig verschwunden und das junge, frische Herz hüpfte, immer noch über Verzweiflung und Schmerz erhaben, wieder so glücklich in der ihm natürlichen Freudenatmosphäre, wie ein Vögelchen im Sonnenschein des Morgens und Frühlings.

Wie mild und leicht gingen dann, als nach einer Pause ihre frühere Ruhe zurückgekehrt war, die stillen Stunden der Nacht an den beiden Wachenden im einsamen Hause vorüber! Wie froh enthüllte das glückliche Mädchen seine verborgenen Gedanken und seine unschuldigen Geständnisse dem Sohne eines andern Volkes und anderer Eindrücke, als der ihrigen! Alle die verschiedenartigen Ideen, welche durch die Naturgegenstände, die sie insgeheim erforscht, durch den gewaltigen Bilderreichthum ihrer Bibelkenntniß, durch die düsteren Geschichten von heiligen Visionen und Märtyrerleiden, die sie an der Seite ihres Vaters gelernt und überdacht, in ihrem Geiste erweckt wurden, kamen jetzt aus ihren geheimen Orten in ihrem Gedächtnisse hervor und drangen in das Ohr des Gothen, Wie das Kind mit der Geschichte seines ersten Spielzeugs zu seiner Wärterin eilt, wie das Mädchen sich mit dem Geständnisse seiner ersten Liebe an die Schwester wendet, wie der Dichter mit dem Plane seines ersten Werkes zum Freunde geht, so suchte Antonina die Aufmerksamkeit Hermanrich’s mit den ersten äußerlichen Offenbarungen, welche ihre Geisteskräfte genossen und dem ersten Geständnisse der in ihrem Herzen freigewordenen Empfindungen auf.

Je länger ihr der Gothe zuhörte, desto vollkommener wurde der Zauber ihrer halb dichterischen Worte und ihrer fast der Musik gleichenden Stimme. Während ihre leisen, wechselnden Töne sich in sein Ohr schlichen, wendeten sich seine Gedanken plötzlich und instinktmäßig ihren früher mitgetheilten Erinnerungen an ihre verlorene Laute zu und regten ihn an, sie mit erneutem Antheil und erhöhter Lebhaftigkeit nach der Art zu fragen, wie sie ihre Kenntniß des Singens, welche sie, wie sie sagte, besaß, erlangt habe.

»Ich habe viele Lieder vieler Dichter gelernt,« sagte sie schnell und verwirrt, indem sie die Erwähnung Vetranio’s vermied, welche eine direkte Antwort auf Herrnanrich’s Frage hätte herbeiführen müssen; »aber ich weiß davon nur die vollständig, die von Geistern und andern Welten und der unsichtbaren Schönheit handeln, an die wir denken, die wir aber nicht wahrnehmen können. Unter den wenigen derartigen, die ich kenne, befindet sich eines, welches ich zuerst gelernt habe, und das ich am meisten liebe. Ich will es singen, damit Du sicher sein kannst, daß ich Dir in meiner versprochenen Kunst nicht ermangeln werde.

Sie zauderte einen Augenblick, wehmüthige Erinnerungen an die Ereignisse, welche den letzten Worten, die sie im Garten ihres Vaters gesungen hatte, gefolgt waren, schwellten in ihrem Innern an und gestatteten ihr nicht zu reden. Bald jedoch erlangte sie ihre Fassung wieder und begann mit leisem behenden Tönen, die mit dem Charakter der Worte und der Melodie, die sie gewählt hatte, im Einklang standen, zu singen.

Sie sang von der Thräne und ihrer Sendung:

»Die Mutter, die Freude, der Vater, der Schmerz,
»Der Wohnort der Thräne ist jegliches Herz;
»Was immer das Inn’re des Menschen bewegt,
»Das wird an den Tag von der Thräne gelegt.

»Im Himmel geboren, zur Erde verbannt,
»So wandert sie jetzt noch von Lande zu Land
»Besel’gend, erleichternd bei Jedem der weint,
»Die Thrän’ als willkommene Freundin erscheint.«

Die ersten Minuten nachdem sie geschlossen hatte, wußte Hermanrich kaum, daß sie zu Ende war, und als sie zu ihm aufblickte, hatte ihre stumme Bitte um Beifall eine Beredtsamkeit, welche für den Gothen in diesem Moment durch jedes Wort geschmälert worden sein würde. Entzücken, Begeisterung und neues Leben regte sich in seinem Innern, die Stunde und der Ort vollendeten, was der Zauber des Liedes begonnen hatte. seine Augen glühten jetzt von südlicher Wärme, seine Worte nahmen jetzt eine römische Gluth an. Allmälig wurde die Stimme des Mädchens weniger häufig vernehmbar. Eine Verwandlung kam über ihren Geist, aus der Lehrerin wurde eine Schülerin.

Während sie dem Gothen zuhörte, während sie bei seinen Worten die Geburt neuer Gefühle empfand, glühten ihre Wangen, erleuchteten sich ihre Züge, schien sich ihre ganze Gestalt zu erfrischen und zu entfalten. Kein sich aufdrängender Gedanke, keine erwachende Erinnerung störte ihre verzückte Aufmerksamkeit, kein kalter Zweifel, kein düsteres Zaudern war in den Worten ihres Gefährten zu bemerken. Die Eine lauschte, der Andere sprach mit ganzem Herzen, mit ungetheilter Seele. Während eine Weltrevolution ihre Organkräfte um sie her concentrirte, während die Hauptstadt eines Kaiserreichs bereits ihrem ungeheuren Falle zuschwankte, während Goiswintha auf neue Rache sann, während Ulpius sich für seine Revolution, voll Blut und Verderben, abmühte, während alle diese dunkeln Bestandtheile des öffentlichen Unglücks und des Privatkampfes um sie her wallten und sich verstärkten, konnten sie in sich versunken die stürmische äußere Welt so völlig vergessen, konnten Sie so heiter an eine ruhige Liebe denken, konnte der Kuß so leidenschaftlich gegeben und so zärtlich erwidert werden, als ob sie das Loos ihres Lebens in die stillen Tage der Hirtendichter versetzt hätte, und die Zukunft ihrer Pflichten und Freuden sie sicher in einem Lande ewigen Friedens erwarte.


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