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Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 3



Es ist nichts natürlicher, als daß ein junges episches Talent sich zunächst von historisch romantischen Stoffen mehr angezogen fühlt als von den scheinbar unpoetischen modernen. Erst die reife Lebenserfahrung läßt den wahren Dichter in seiner eigenen Umgebung im Bekannten, Alltäglichen ein Feld entdecken, auf dem auch die Kunst reiche Ernte halten kann. Es gibt der Beispiele viele, daß Autoren, welche später auf dem Gebiete des modernen Lustspiels ihre Erfolge feiern, mit Griechen- oder Römertragödien beginnen. Ebenso begann Wilkie Collins, wenn wir von seinem tollen Jugendversuche absehen, seine literarische Laufbahn mit einem historischen Roman.

Ich bemerkte schon, wie nachhaltig die Eindrücke waren, welche er von seiner ersten italienischen Reise empfing. Kein Wunder, daß sich seine ausschweifende Phantasie zunächst an einen italienisch-historischen Stoff anklammerte. Antonina, sein erster veröffentlichter Roman, spielt nämlich zur Zeit der Unterwerfung Roms durch Alarich. Der Abstand zwischen dem ganzen Habitus dieses Werkes und seinen späteren Sensationsromanen ist ein ganz gewaltiger. Es scheint fast unglaublich, daß Antonina und die Frau in Weiß denselben Wilkie Collins zum Verfasser haben sollten. In seinem Stil ist die Entwicklung viel eher schrittweise von Werk zu Werk zu verfolgen, in jeder übrigen Hinsicht aber steht Antonina ganz vereinzelt da. Der große Beifall, den die Kritik dem Werke zollte, ist durch den Umstand erklärlich, daß dieser Roman – durchaus nichts Neues enthielt, sondern nur ein beliebtes Genre mit vielem Talent kultivierte. Mißt man ihn aber mit dem Maßstabe des reifen Wilkie Collins, so erscheint er uns freilich höchst jugendlich.

Der Inhalt ist kurz folgender: Betranius, ein reicher Lüstling, stellt Anonina, der Tochter eines christlichen Zeloten namens Numerian nach. Ulpius, ein alter Diener Numerians, gibt sich zum Kuppler her und verspricht ihm, ihn in das Schlafzimmer des Mädchens zu führen, wenn er ihm in seinen wahnsinnigen Bemühungen, den alten Götterglauben wiederherzustellen, beistehen wolle. Dieser Ulpius, ein wahrhaft abschreckender, aber sehr gut durchgeführter Charakter, ist nämlich Oberpriester im Serapistempel zu Alexandrien gewesen und hat nach dessen Zerstörung ein Leben voller Abenteuer geführt, trotz aller Verfolgungen mit finsterer Hartnäckigkeit an allen seinen Plänen für die Wiederaufrichtung des Heidentums festhaltend, bis er sich schließlich durch die Not gezwungen sieht, die Maske eines eifrigen Christen vorzunehmen und dadurch das Vertrauen Numerians zu gewinnen. Betranio ist im Grunde auch noch Heide, wie alle römischen Roués jener Zeit, daher die Hoffnungen, welche Ulpius auf ihn setzt. Betranius verspricht dem halbwahnsinnigen Fanatiker was er will, ohne natürlich daran zu denken, es jemals zu erfüllen. Im Schlafzimmer Antoninas überrascht ihn der alte Numerian und verstößt seine Tochter, obwohl diese gänzlich unschuldig ist. Antonina flieht aus dem Hause und gelangt gelangt gerade noch vor Toresschluß aus Rom hinaus, das Alarich eben zu blockieren beginnt. Im gotischen Heere befindet sich eine vornehme Frau, namens Goisvintha, deren Kinder und Gatte von den Römern ermordet worden sind, und welche in ihrer wahnsinnigen Rachbegierde ihrem Bruder Hermanrich den Schwur abgenommen hat, jeden Römer, der ihm in den Weg käme, zu töten. Nun ist Antonina die erste Römerin, welche sich ins gotische Lager verirrt und zufällig gerade vor Hermanrich geschleppt wird. Statt sie jedoch zu töten wie er geschworen, verliebt er sich vielmehr heftig in sie und bringt sie vor der wütenden Goisvintha in einem einsamen Hause in Sicherheit. Jede Nacht verläßt er seinen Posten, um zu Antonina zu schleichen. Seine Schwester erfährt dies und bestraft in der Weise ihrer Vorfahren den Verräter, indem sie die Sehnen seiner Hände selbst durchschneidet, nachdem sie ihn unbemerkt bei seinem nächtlichen Stelldichein überrascht hat. Gleich darauf wird Hermanrich auf Alarichs Befehl vor Antoninas Augen umgebracht.

Inzwischen ist in Rom die fürchterlichste Hungersnot ausgebrochen, die Pest im Gefolge nach sich ziehend. Ulpius hat an einer unbeachteten morschen Stelle den Mauernrand durchbrochen und will Alarich auf diesem Wege in die Stadt führen. Der stolze Gotenkönig weist den Verräter verächtlich ab und Ulpius begibt sich ins freie Land hinaus. Der Zufall führt ihn in jenes einsame Haus, in welchem Antonina noch verborgen ist.

Der Schmerz um des Geliebten Tod hat sie fast des Verstandes beraubt und sie läßt sich willenlos von dem alten Scheusal durch die Bresche nach Rom zurückführen. Sie findet dort ihren Vater fast verhungert. Um ihn zu retten, geht sie zu Betranio, welcher gerade ein „Banquet des Todes“ feiert, d.h. eine Anzahl Gesinnungsgenossen eingeladen hat, um mit ihnen eine wüste Orgie zu begehen, welche damit enden soll, daß der letzte, welcher noch bei Besinnung ist, den Scheiterhaufen anzünden muß, auf welchem sie sich alle verbrennen wollen. Betranio ist dieser Letzte und Antonina kommt gerade in dem Augenblick, wo er die Fackel anlegen will. Ihre Erscheinung erweckt seine Reue und das Vorhaben bleibt unausgeführt. Um einen Begriff von der wilden Phantasie des jugendlichen Autors und von seinem damaligen Stil zu bekommen, lese man nur einmal die Beschreibung jenes Banquets des Todes nach. Wir werden bei unserem guten Herrn Professor Ebers vergebens nach solchen gewaltig packenden Schilderungen suchen. Es ist eben echtes Poetenblut, was hier in strotzenden Adern pulsiert, und bei aller Phantastik ist dies tolle Gemälde sicherlich auch historisch genug, trotzdem die gelehrten Noten mit Hinweisen auf die Quellenwerke fehlen!

Als Rom endlich gegen ein ungeheueres Lösegeld seine Freiheit wiedererlangt, ohne daß die Goten es betreten dürfen, schleicht sich dennoch Goisvintha hinein, um die tiefgehaßte Antonina zu morden. Sie sieht sie mit ihrem Vater auf der Straße und verfolgt die beiden bis in einen alten heidnischen Tempel, in welchem sich schon vorher Ulpius, der inzwischen ganz wahnsinnig geworden ist, eingenistet hat. Er will Numerian und seine Tochter dem eisernen Drachen opfern, einer Mordmaschine, welche sich in dem Keller des Tempels befindet. Durch Goisvinthas Dazwischenkunft, welche Antonina ihr Messer in den Nacken stößt, wird dies verhütet und Ulpius stürzt sich auf Goisvintha als auf ein neues Opfer. Er weiß sie dazu zu bringen, daß sie die finstere Kellertreppe hinuntersteigt – der eiserne Drache bohrt ihr seine spitze Stahlzunge durch den Leib. Aus den tollen Reden des Ulpius muß Numerian schließen, daß er sein Bruder sei. Ulpius kommt bald darauf in den Flammen seines Tempels um, den er allein gegen das ganze Volk verteidigen will. Antonina wird wieder gesund, und verlebt den Rest ihres Lebens in dem Häuschen, in welchem ihre kurze Liebestragödie gespielt und welches der reuige Betranio für sie und ihren alten Vater gekauft hat.

Ich habe so ausführlich von diesem Romane gesprochen, weil er nicht mehr viel gelesen wird und namentlich in Deutschland, da er nicht übersetzt ist, weniger bekannt ist. Zur Erkenntnis der Entwickelung unseres Autors ist er aber sehr wichtig. Aus der gedrängten Inhaltsangabe kann man sich schon eine Vorstellung machen, von der freilich noch recht wüsten Phantasie des jungen Collins. Das Werk trieft ordentlich von Blut. Und doch sind die Schilderungen der vielfachen Morde und Mordversuche noch zahm im Vergleich zu den krassen Gemälden der Pest und Hungersnot, des Wahnsinns des Ulpius und des „Banquets des Todes“. Man sieht bei der Lektüre dieses Romans den jungen Autor ordentlich leibhaftig vor sich, wie er um Mitternacht, mit dem starken Tee zur Hand, über sein Manuskript gebeugt sitzt, wie seine Augen triumphierend glänzen, wenn er an die Gänsehaut denkt, die bei der Lektüre der eben beschriebenen Greuelszenen den Leser überlaufen wird. Mit einer wahren Wollust mengt er Grausen, Ekel, Sentimentalität und moralische Betrachtung durcheinander und ist erst zufrieden, wenn ihm selber die Haare zu Berge stehen. – Die Personen sind die in allen Romanen aus der Zeit des Verfalls des Römischen Reiches vorkommenden. Wir kennen sie alle aus Bulwers „letzten Tagen von Pompeji“, aus Dahn und aus Ebers. Es ist viel Konventionelles an ihnen und dennoch zeigt sich gerade an der Charakterschilderung das entschiedene, starke Talent des Verfassers von der besten Seite. Ulpius ist ein Monstrum, dessen wahnwitziger Fanatismus die denkbar scheußlichste Form annimmt, aber dennoch mit einer Großartigkeit der Erfindung und Kühnheit der Zeichnung dargestellt, daß sie selbst eines größeren Genies würdig wäre. – Wie matt, blaß und armselig erscheinen dieser und mancher anderen Gestalt des Romans gegenüber ihre Pendants in den Werken unseres Salon-Ägypters! – Der Stil ist, wie schon gesagt, das Auffälligste an Antonina. Ich glaube, es finden sich Hunderte von Worten darin, welche in keinem späteren Roman von Collins wieder vorkommen. Je hochtrabender, ungewöhnlicher und pompöser die Worte und Phrasen sind, desto mehr hat sich augenscheinlich der junge Poet daran delektiert. Ja sogar zu einigen Gedichten hat er sich aufgeschwungen, wo sie sich irgend anbringen ließen, aber sie sind bombastisch und steif. Das schlimmste an der Schreibweise ist die oft unterträgliche Breite, die endlosen Beschreibungen und Betrachtungen, welche, obwohl klug genug, doch im Grunde nur landläufige Weisheit vortragen. Goisvintha besonders verleidet sich dem Leser durch ihr ewiges Racheschnauben, Verfluchen und Schwören. Ich muß gestehen, daß es mir nicht möglich war, sämtliche längere Reden dieses Hünenweibes Wort für Wort zu lesen. – Ein verräterisches Zeichen der Anfängerschaft ist auch die Unmanier des Verfassers, den Leser fortwährend auf seine eigene Technik aufmerksam zu machen. Begründungen seines Verfahrens, Entschuldigungen an den Leser und Apostrophen aller Art finden wir zu unserem Ärger immer und immer wieder. – Nun, wir wissen wie schwer es ist, objektiv zu sein – und wir wissen auch, daß sich Collins die angedeuteten Fehler so vollständig abgewöhnt hat, daß wir, wie schon bemerkt, jetzt kaum glauben mögen, er könne jemals im Antoninastil geschrieben haben.

Bereits in seinem zweiten Roman kehrte sich Wilkie Collins von dem romantisch-historischen Genre ab und dem modern realistischen zu. In der Vorrede zu „Basil“, welcher seinem Freund Charles James Ward gewidmet ist, glaubt er sich wunderlicherweise wegen einzelner realistischer Situationen noch besonders entschuldigen zu müssen. Das Buch ist nicht früher als 1861 erschienen und doch mutet uns mancher Satz dieses Vorwortes schon ganz altfränkisch an, besonders wenn wir an den Collins der spätern Jahre denken. Es ist eben Basil der erste noch etwas zaghaft Schritt auf der neuen Bahn gewesen, welche der junge Autor bald als Sieger durchstürmen sollte. Diese Vorrede ist ferner ein Beweis, wie sehr Collins noch mit der Technik zu kämpfen hatte, denn wenn man die in derselben aufgestellten Regeln mit der wirklichen Ausführung vergleicht, so bemerkt man leicht, wie das Können mit dem Wollen noch nicht gleichen Schritt hält. Man höre einen Abschnitt aus dieser Vorrede.

„Ich habe das Hauptereignis, von welchem diese Geschichte ausgeht, auf eine mir bekannte Tatsache basiert. Als ich hernach den Lauf der hierdurch angeregten Erzählung formte, habe ich ihn so oft ich konnte an der Hand meiner eigenen oder mir mitgeteilten Erfahrungen so gelenkt, daß er in seinem Fortschritt Wirkliches und Wahres berührte. Meine Idee war, daß ich mich destomehr auf die Echtheit und den Wert des Idealen, welches daraus entspringen sollte, verlassen könnte, je mehr des Aktuellen ich als Grundtext auftreiben konnte. Grazie, Schönheit, Phantasie, jene Eigenschaften welche für ein Kunstwerk sind, was Duft und Farbe der Blumen, können nur zum Himmel emporblühen, wenn sie in der Erde Wurzel schlagen. Ist nicht die edelste Poesie der Prosadichtung die Poesie des Alltäglichen?

Indem ich also die Charaktere und die Geschichte so oft als möglich in das Licht der Wirklichkeit stellte, habe ich nicht gezögert, manche Herkömmlichkeiten des sentimentalen Romanstils zu verletzen. So z.B. treffen sich die Liebenden in diesem Buch (wo sich ihre Vorbilder in Wirklichkeit trafen) an der allerletzten Stelle und unter den allerletzten Umständen, welchen die Kunstgriffe des sentimentalen Stils gutheißen würden. Werden meine Liebhaber lächerlich stattt interessant erscheinen, weil sie sich zuerst in einem Omnibus begegnen? Ich bin sanguinisch genug es nicht zu fürchten.

Andererseits habe ich in gewissen Partien dieses Buches, wo ich versucht habe, die Spannung oder das Mitleid des Lesers zu erregen, als vollständig angemessenes Zubehör der Szenerie die allergewöhnlichsten Straßengeräusche und die allergewöhnlichsten, der Zeit und dem Ort eigentümlichen Vorgänge benutzt, in dem Glauben, daß diese Dinge, indem sie die Wahrheit vergrößern, auch die Tragik vergrößern, durch die Gewalt des echten Kontrastes, und zwar mehr als irgendwelche Kunstgriffe dies zu tun im Stande sind, mögen sie auch noch so klüglich von einer noch so gewandten Hand benutzt werden.“

Das ist alles recht schön und gut, aber in der Ausführung erscheint doch dieses zur rechten Zeit angeführte realistische Zubehör eben auch als Kunstgriff. Der Autor täuscht sich, wenn er glaubt, einen Unterschied statuiert zu haben. In Basil erscheinen sogar die realistischen Details häufig recht ungeschickt eingeführt, denn sie unterbrechen den Fluß der Erzählung zur unrechten Zeit. In dramatisch zugespitzten Momenten sind beschreibende Exkurse allemal vom Übel. Es ist auch ein Kunstgriff, zur rechten Zeit sich kurz zu fassen.

Gerade das hat Collins später so überaus gut verstanden und an der Weitschweifigkeit und den häufigen Wiederholungen im Basil merkt man recht deutlich die Unfertigkeit des Verfassers.

Der Stoff und die Ausspinnung desselben zeigen, daß der junge Autor sich bereits im Zaum zu halten sucht, doch erkennen wir den Verfasser der Antonina immer noch wieder an der Lust für die breite Ausmalung des Peinigenden und des Schrecklichen.

Basil ist die Autobiographie eines jungen Mannes aus vornehmem Hause, welcher heimlich eine shopkeeper-Tochter heiratet. Er entdeckt, daß sie ein schmutziges Verhältnis mit dem ersten Buchhalter ihres Vaters unterhält und bringt den Verführer fast um. Sein stolzer Vater verstößt ihn und jener Buchhalter verfolgt ihn mit der grausamsten Rache, bis ein Zufall dessen Tod herbeiführt und ihn so erlöst.

Der Fortschritt gegen Antonina ist, wie ich schon sagte fast ganz auf die Wahl des Genres beschränkt. Der Stil ist nur in so weit geklärter und ruhiger, als dies eben mit den Forderungen des Stoffes bedingt ist. Der Selbstschilderer gefällt sich eben doch sehr in der möglichst pathetischen Ausmalung seines Schmerzes, und daß er den Stil des damaligen Wilkie Collins schreibt, ist nicht zu verwundern, da er gleichfalls als ein junger Autor auftritt, welcher an einem historischen Roman schreibt. Die Charakteristik ist im allgemeinen gut, nur zu ängstlich ausführlich. Als ein großer Mißgriff ist es zu betrachten, daß Collins den Schreiber seine ganze Familiengeschichte erzählen läßt und dann seine in der Erzählung vorkommenden Verwandten noch einmal einzeln aufführt und mit übermäßiger Breite der Reihe nach charakterisiert, und daß er ferner immer und immer wieder durch betrachtende Blicke in die Zukunft den Beginn der eigentlichen Handlung hinausschiebt. Den späteren Meister erkennt man in der geschickten Herbeiführung und packenden Darstellung der dramatisch bewegten Hauptszenen. Sein Streben, auch den Roman dramatisch zu gestalten, spricht sich in der schon zitierten Vorrede deutlich aus und insofern haben wir Basil als den ersten Versuch auf Collins’ eigenstem Felde anzusehen.

Von der späteren Knappheit des Stils, der großen Kunst der Spannung und dem erfrischenden Humor ist noch nicht viel zu merken, aber für einen ersten Versuch ist Basil immerhin eine nicht unbedeutende Leistung.


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