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Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Erzählung durch Isidor Ottavio Baldassare Fosco

Graf des heiligen römischen Reiches; Groß-Kreuz vom Orden der eisernen Krone; Erz-Meister der Rosenkreuzer-Maurer von Mesopotamien; attachirt (als Ehrenmitglied) bei den musikalischen, medicinischen, philosophischen und im Allgemeinen wohlthätigen Gesellschaften in ganz Europa &c. e&. &c.

Des Grafen Aussage.

Im Sommer des Jahres 1850 langte ich mit einer delicaten Mission vom Auslande beauftragt in England an. Es standen Vertrauenspersonen, deren Bemühungen ich zu leiten autorisirt war, halb-officiell mit mir in Verbindung; zu diesen gehörten Monsieur und Madame Rubelle. Es blieben mir einige Wochen zur Verfügung, ehe ich meine Stellung antrat und mich in einer der Vorstädte Londons häuslich einrichtete. Die Neugierde wird mich hier vielleicht um eine Erklärung dieser Verrichtungen bitten. Ich sympathisire vollkommen mit der Bitte und bedaure ebensosehr, daß diplomatische Rücksichten mich verhindern, derselben zu willfahren.

Ich nahm eine Einladung an, diese kurze Ruhe dem prachtvollen Landsitze meines verstorbenen Freundes, Sir Percival Glyde, zuzubringen. Er kehrte soeben mit seiner Gemahlin von dem Festlande zurück, wie ich mit der meinigen. England ist das Land des ehelichen Glücks – wie angemessen war es daher, daß wir es unter diesen ehelichen Verhältnissen betraten. Das Band der Freundschaft, welches Percival und mich aneinander knüpfte, wurde bei dieser Gelegenheit noch durch eine rührende Gleichheit unserer pecuniären Lage befestigt. Wir brauchten Beide Geld. Furchtbare Nothwendigkeit! Universelles Bedürfniß! Giebt es ein menschliches Wesen, das nicht für uns zu fühlen im Stande wäre? Wie gefühllos müßte dieser Mensch sein! oder wie reich!

Ich gehe nicht auf kleinliche Einzelheiten in Bezug auf diesen Gegenstand ein. Mein Gemüth empört sich dagegen. Mit römischer Strenge zeige ich meine und Percival’s leere Börse den schaudernden Blicken des Publikums. Wir wollen dieses beklagenswerthe Factum sich auf diese Weise hiermit behaupten lassen – und weiter gehen.

Im Hause empfing uns jenes herrliche Wesen, das in, meinem Herzen als »Marianne« eingegraben steht, in der kälteren Atmosphäre der Gesellschaft aber als »Miß Halcombe« bekannt ist.

Gerechter Himmel! mit welch unbeschreiblicher Schnelligkeit lernte ich dieses Weib vergöttern. Mit sechzig Jahren betete ich sie mit der vulkanischen Gluth von achtzehn Sommern an. Alles Gold meiner reichen Natur schüttete ich hoffnungslos vor ihren Füßen aus. Meine Frau – armer Engel! – meine Frau, die mich anbetet, erhielt Nichts als die Schillinge und Pfennige. So ist die Welt; so der Mann – so die Liebe. Was sind wir wohl Anderes (frage ich) als die Marionetten in einer Schaubude? O, allmächtiges Geschick, zieh’ unsere Schnur leise! Sei erbarmungsvoll gegen uns, indem Du uns von unserer erbärmlichen kleinen Bühne abtanzen läßest!

Diese vorstehenden Zeilen drücken ein vollständiges philosophisches System aus. Es ist das meinige.

Ich fahre fort.

Das häusliche Verhältniß zu Anfange unseres Aufenthaltes in Blackwater Park ist von Mariannen’s eigener Hand mit erstaunlicher Genauigkeit und tiefer geistiger Einsicht beschrieben worden. (Man lasse mir die berauschende Familiarität, dieses herrliche Wesen bei ihrem Taufnamen zu nennen, hingehen.) Eine genaue Bekanntschaft mit dem Inhalte ihres Tagebuches, zu dem ich mir durch heimliche Mittel Zugang verschaffte, der mir in der Erinnerung noch unendlich kostbar ist – warnt meine eifrige Feder gegen Mittheilungen, welche dieses unendlich erschöpfungskräftige Weib bereits zu den seinigen gemacht hat.

Die Interessen – athemlose, ungeheure Interessen! – mit denen ich hier zu thun habe, beginnen bei dem beklagenswerthen Unglücke von Mariannen’s Krankheit.

Die Lage war um diese Zeit eine emphatisch ernste. Percival brauchte große Geldsummen, welche zu einer gewissen Zeit bezahlt werden mußten (ich sage Nichts von dem Wenigen, dessen ich in demselben Grade benöthigt war); und die einzige Quelle, in der er diese Bequemlichkeit noch suchen konnte, war das Vermögen seiner Gemahlin, von dem ihm kein Heller früher, als nach ihrem Tode zufiel. Insoweit schlimm; aber – wie der unsterbliche Shakespeare sagt – es kam noch schlimmer. Mein verstorbener Freund hatte Privatsorgen, über die ihn genau zu befragen das Zartgefühl meiner uninteressirten Anhänglichkeit mir verbot. Ich wußte weiter Nichts, als daß eine Frau mit Namen Anna Catherick sich in der Umgegend versteckt hielt; daß sie mit Lady Glyde in Verbindung stand, und daß die Folge hiervon die Enthüllung eines Geheimnisses sein konnte, das Percival unfehlbar zu Grunde richten mußte. Er hatte mir selbst gesagt, daß er verloren sei, falls nicht seine Frau zum Schweigen gebracht und Anna Catherick gefunden würde. Falls er verloren war, was sollte da aus unseren pecuniären Angelegenheiten werden? So muthig ich auch von Natur bin, so erbebte ich doch bei diesem Gedanken!

Die ganze Kraft meines Verstandes war jetzt auf das Auffinden Anna Catherick’s gerichtet. Unsere Geldangelegenheiten, so wichtig sie auch waren, gestatteten uns noch einigen Verzug – aber die Nothwendigkeit, diese Frau zu finden, nicht. Ich kannte sie nur der Beschreibung nach, der zufolge sie eine außerordentliche persönliche Aehnlichkeit mit Lady Glyde hatte. Die Erwähnung dieser merkwürdigen Thatsache – welche blos in der Absicht geschah, mir beim Erkennen der von uns gesuchten Person behülflich zu sein, erweckte – gepaart mit der noch hinzugefügten Mittheilung, daß die Catherick aus einem Irrenhause entsprungen – zuerst jenen großen Einfall in meinem Geiste, welcher später zu so ungeheuren Resultaten führte. Dieser Gedanke brachte nichts Geringeres mit sich, als die vollständige Verwandlung der beiden getrennten Identitäten. Lady Glyde und Anna Catherick sollten Namen, Aufenthalt und Bestimmung austauschen – und die erstaunlichen Folgen dieses beabsichtigten Austausches waren: ein Gewinn von dreißigtausend Pfund und ewige Bewahrung von Percival’s Geheimnisse.

Mein Instinct (der sich selten täuscht) ließ mich – nachdem ich die Umstände überlegt – annehmen daß unsere unsichtbare Anna früher oder später nach dem Boothause am Blackwater See zurückkehren würde. Hier stellte ich mich als Wache auf, nachdem ich zuvor gegen Mrs. Michelson, die Haushälterin, erwähnt, daß, falls man meiner bedürfe, ich an dieser einsamen Stelle bei meinen Studien zu finden sein werde. Es ist eine meiner Regeln, nie unnöthige Heimlichkeiten zu machen, oder die Leute aus Mangel an ein Bischen wohl angebrachter Aufrichtigkeit mißtrauisch gegen mich zu machen. Mrs. Michelson glaubte von Anfang bis zu Ende an mich. Diese gentile Person (Wittwe eines protestantischen Priesters) strömte über von Glauben. Durch einen solchen Ueberfluß an einfachem Vertrauen bei einer Frau in ihren Jahren tief gerührt, öffnete ich die weiten Behälter meiner großen Natur und absorbirte es ganz.

Ich wurde für meine Geduld, am See Schildwache zu stehen, durch das Wiedererscheinen – nicht von Anna Catherick selbst, sondern der Frau, unter deren Obhut sie sich befand, belohnt. Dieses Individuum strömte ebenfalls von Glauben über, welches ich abermals, wie in dem soeben genannten Falle absorbirte. Ich überlasse es ihr (falls sie es nicht bereits gethan hat), die Umstände zu erzählen, unter denen sie mich bei dem Gegenstande ihrer mütterlichen Pflege einführte. Als ich Anna Catherick zum erstenmale sah, schlief sie. Ich war durch die Aehnlichkeit zwischen dieser unglücklichen Person und Lady Glyde wie electrisirt. Die Einzelheiten des großartigen Projectes, von dem ich bisher nur erst die Umrisse entworfen, stellten sich mir beim Anblicke dieses schlafenden Gesichtes in ihrer ganzen meisterhaften Combination vor die Seele. Zu gleicher Zeit löste sich mein Herz, das stets allen zärtlichen Einflüssen zugänglich ist, beim Anblicke des Leidens vor mir in Thränen auf. Ich beschäftigte mich sofort damit, ihr Erleichterung zu verschaffen. Mit andern Worten, ich sorgte für ein Reizmittel, welches Anna Catherick hinlänglich stärken würde, um sie in den Stand zu setzen, die Reise nach London zu machen.

Hier bei diesem Punkte lege ich einen nothwendigen Protest ein und berichtige einen beklagenswerthen Irrthum.

Die besten Jahre meines Lebens sind in dem eifrigen Studium medicinischer und chemischer Wissenschaft verflossen. Die Chemie namentlich hat immer wegen der ungeheuren, unbegrenzten Macht, welche ihre Kenntniß verleiht, besondere Anziehungskraft für mich gehabt. Die Chemiker könnten – dies behaupte ich feierlich – falls es ihnen gefiele, die Geschicke der Welt regieren. Man lasse mich dies erklären, ehe ich weiter gehe.

Der Geist, sagt man, regiert die Welt. Was aber regiert den Geist? Der Körper. Der Körper (man folge mir hier wohl) ist in der Gewalt jenes mächtigsten aller sterblichen Potentaten – des Chemikers. Gebt mir, dem Fosco – die Chemie; und wenn Shakespeare Hamlet in der Seele hat und sich hinsetzt, um diese Dichtung auszuführen – so will ich durch ein paar Pulverkörnchen in seiner täglichen Mahlzeit, durch die Functionen seines Körpers seinen Geist so herunterbringen, daß Nichts als das jämmerlichste Gefasel, das jemals Papier entehrt hat, seiner Feder entströmt. Man rufe mir unter ähnlichen Verhältnissen den großen Newton in’s Leben zurück. Ich stehe dafür, daß er, indem er jenen Apfel fallen sieht, ihn essen soll, anstatt durch ihn das Gesetz der Schwere zu entdecken. Nero’s Diner soll ihn in den sanftmüthigsten Menschen verwandeln, ehe er es noch verdaut hat; und Alexander des Großen Morgentrank soll ihn noch am selben Nachmittage beim ersten Anblicke des Feindes mit Energie davonlaufen machen. Bei meinem heiligen Ehrenworte, es ist ein Glück für die Gesellschaft, daß die Chemiker der Neuzeit zufälligerweise die harmlosesten Menschen sind. Die Mehrzahl derselben sind würdige Familienväter, welche einem Apothekerladen vorstehen. Wenigen sind Philosophen, die vor Bewunderung für den Klang ihrer eigenen Vorlesungen haltenden Stimmen trunken sind; Träumer, die ihr Leben an phantastische Unmöglichkeiten Verschwenden; oder Quacksalber, deren Ehrgeiz sich nicht höher, als bis zu unseren Leichdornen erhebt. Auf diese Weise kommt die Gesellschaft unbeschadet weg; und die unbegrenzte Macht der Chemie bleibt der Sklave der oberflächlichsten und unbedeutendsten Zwecke.

Wozu dieser Ausbruch vernichtender Beredsamkeit? Weil mein Verhalten falsch dargestellt worden ist; weil man meine Beweggründe mißverstanden hat. Man hat vermuthet, daß ich von meinen ausgebreiteten chemischen Kenntnissen gegen Anna Catherick Gebrauch gemacht hätte und sie sogar gegen die herrliche Marianne angewendet haben würde, falls es mir möglich gewesen wäre. Beides ganz abscheuliche Verleumdungen! Es lag durchaus in meinem Interesse (wie man sogleich sehen wird), Anna Catherick’s Leben zu erhalten; meine ganze Sorge concentrirte sich darauf, Marianne aus den Händen des privilegirten Dummkopfes zu erlösen, welcher sie in ihrer Krankheit behandelte, und der von Anfang bis zu Ende meinen Rath durch den Arzt aus London bestätigt fand. Bei nur zwei Gelegenheiten – welche beide für die betreffenden Individuen durchaus harmlos waren – rief ich den Beistand meiner chemischen Kenntnisse zu Hülfe. Bei der ersten benutzte ich, nachdem ich Mariannen nach dem Wirthshause zu Blackwater gefolgt war (indem ich hinter einem mir gelegen kommenden Frachtwagen, welcher mich ihr verbarg, die Poesie der Bewegung studirte, die in ihrem Gange verkörpert war), die Dienste meiner unschätzbaren Gemahlin, um den einen von zwei Briefen, die meine angebetete Feindin den Händen einer entlassenen Kammerjungfer anvertraut hatte, abzuschreiben und den anderen zu unterschlagen. In diesem Falle konnte nur die Gräfin, da das Mädchen die Briefe im Busen trug, dieselben durch wissenschaftlichen Beistand öffnen, lesen, ihre Instructionen befolgen, sie versiegeln und wieder an ihren Platz thun – und diesen Beistand gab ich ihr in einem halblöthigen Fläschchen. Die zweite Gelegenheit, bei welcher derartige Mittel angewendet wurden, war die von Lady Glyde’s Ankunft in London (auf welche ich in Kurzem zurückkommen werde). Ich war nie zu irgend einer anderen Zeit meiner Kunst, als von mir selbst unterschieden, verpflichtet. Allen anderen dringenden Fällen und Verwickelungen war meine natürliche Fähigkeit, mit den Verhältnissen zu kämpfen, unabänderlich gewachsen. Ich behaupte die Alles durchdringende Kraft dieser Fähigkeit. Auf Kosten des Chemikers rechtfertige ich den Mann.

Man achte diesen Ausbruch edler Entrüstung. Derselbe hat mir unaussprechliche Erleichterung gewährt. En route! Vorwärts.

Nachdem ich Mrs. Clement (oder Clements, ich bin mir darüber nicht klar) darauf aufmerksam gemacht, daß die beste Methode, Anna davor zu bewahren, daß sie in Percival’s Hände fiele, die sei, sie nach London zu bringen; nachdem ich gefunden, daß sie eifrig auf meinen Vorschlag einging und nachdem ich einen Tag bestimmt hatte, an welchem ich mit den Reisenden auf der Station zusammentreffen und sie abreisen sehen wollte – war ich frei, nach Hause zurückzukehren und den Schwierigkeiten, welche mir dort noch übrig blieben, entgegenzutreten.

Mein Erstes war, von der erhabenen Ergebenheit meiner Gemahlin Gebrauch zu machen. Ich war mit Mrs. Clements übereingekommen, daß sie in Anna’s Interesse Lady Glyde von ihrer Adresse in London in Kenntniß setzen solle. Aber Dies genügte nicht Es konnten hinterlistige Leute in meiner Abwesenheit ihren einfachen Glauben erschüttern und sie so am Schreiben verhindern. Wen konnte ich da finden, der mit ihr in demselben Zuge nach London reiste und ihr dort bis an ihre Wohnung folgte? Ich legte mir diese Frage vor – und meine eheliche Zärtlichkeit antwortete sogleich – die Gräfin Fosco.

Nachdem ich mich für die Reise meiner Frau nach London entschieden, beschloß ich durch dieselbe einem doppelten Zwecke zu dienen. Eine Krankenwärterin für die leidende Marianne, die in gleichem Verhältnisse mir und der Kranken ergeben sein mußte, war eine Nothwendigkeit meiner Lage. Glücklicherweise stand mir die zuverlässigste und fähigste Frau von der Welt zur Verfügung. Ich meine jene achtbare Matrone, Madame Rubelle – der ich durch meine Frau einen Brief zustellte.

An dem bestimmten Tage trafen Mrs. Clements und Anna Catherick auf der Station mit mir zusammen. Ich nahm höflichen Abschied von ihnen, wie auch von der Gräfin, die mit demselben Zuge reiste. Abends spät kehrte meine Frau nach Blackwater zurück, nachdem sie ihre Instructionen mit der unverbrüchlichsten Genauigkeit befolgt hatte. Sie kam in der Begleitung von Madame Rubelle und brachte mir die Adresse von Mrs. Clements in London. Spätere Ereignisse zeigten uns, daß diese Vorsichtsmaßregel eine überflüssige war. Mrs. Clements unterrichtete Lady Glyde pünktlich von ihrer neuen Wohnung. Mit kluger Berücksichtigung der Zukunft behielt ich den Brief.

An demselben Tage hatte ich eine kurze Unterredung mit dem Arzte, in welcher ich im geheiligten Namen der Menschlichkeit gegen sein Verfahren mit Miß Halcombe protestirte. Er war impertinent, wie alle unwissenden Leute es sind. Ich zeigte keinen Groll, sondern verschob einen Streit mit ihm, bis ein solcher meinem Zwecke würde dienen können.

Mein Nächstes war, selbst Blackwater Park zu verlassen. Ich mußte mir in Erwartung kommender Ereignisse eine Wohnung in London miethen. Auch hatte ich eine kleine Familienangelegenheit mit Mr. Frederick Fairlie zu besorgen. Ich fand die Wohnung, deren ich bedurfte, in St. John’s Wood und Mr. Frederick Fairlie in Limmeridge, Cumberland.

Meine heimliche Bekanntschaft mit Mariannen’s Correspondenz hatte mich schon vorher davon unterrichtet, daß sie an Mr. Fairlie geschrieben und zur Beseitigung von Lady Glyde’s ehelichen Unannehmlichkeiten vorgeschlagen hatte, daß dieselbe ihren Onkel in Cumberland besuchte. Diesen Brief hatte ich verständigerweise an seine Bestimmung abgehen lassen, indem ich fühlte, daß er kein Unheil, wohl aber Gutes stiften könne. Ich begab mich jetzt selbst zu Mr. Fairlie, um Mariannen’s Vorschlag zu unterstützen – mit gewissen Abänderungen, welche glücklicherweise für den Erfolg meiner Pläne durch ihre Krankheit unvermeidlich geworden waren. Es war nothwendig, daß Lady Glyde auf eine Einladung von ihrem Onkel Blackwater allein verließe und auf ihres Onkels ausdrücklichen Wunsch eine Nacht im Hause ihrer Tante in London zubrächte (dem Hause, welches ich inzwischen gemiethet hatte). Diese Erfolge zu erzielen und ein Einladungsbillet von Mr. Fairlie zu erhalten, welches Lady Glyde gezeigt werden konnte, waren die Zwecke meines Besuches bei ihm. Wenn ich bemerke, daß dieser Herr in gleichem Grade geistes- und körperschwach war, und daß ich die ganze Kraft meines Charakters auf ihn ausschüttete, so habe ich genug gesagt. Ich kam, sah und besiegte Fairlie.

Bei meiner Rückkehr nach Blackwater Park (mit der Einladung für Lady Glyde) fand ich, daß des Arztes blödsinnige Behandlung von Mariannen’s Krankheit die beunruhigendsten Folgen gehabt hatte. Das Fieber war in Typhus ausgeartet. Lady Glyde versuchte am Tage meiner Rückkehr in das Zimmer ihrer Schwester zu dringen, um dieselbe zu pflegen. Sie und ich hatten keine Art von Gefühlsverwandtschaft; sie hatte meine Gefühle auf das Unverzeihlichste dadurch verletzt, daß sie mich einen Spion genannt; sie war auf meinem und auf Percival’s Wege ein Stein des Anstoßes – aber ungeachtet alles Dessen verbot mir meine Großmuth, sie der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Zu gleicher Zeit aber legte ich ihr kein Hinderniß in den Weg, sich selbst in die Gefahr zu begeben. Wäre ihr Dies gelangen, so wäre vielleicht der verwickelte Knoten, den ich langsam und geduldig knüpfte, von den Umständen zerschnitten worden. Doch der Arzt legte sich dazwischen, und sie verließ das Zimmer.

Ich selbst hatte schon vorher empfohlen, daß man einen Arzt aus London kommen ließe, und dieses Verfahren war jetzt eingeschlagen worden. Bei seiner Ankunft bestätigte der Arzt meine Meinung in Bezug auf die Krankheit. Die Krisis war eine ernste. Aber am fünften Tage, nachdem sich der Typhus ausgesprochen, begannen wir für unsere bezaubernde Kranke wieder zu hoffen. Ich war zu dieser Zeit nur einmal von Blackwater Park abwesend – indem ich eines Morgens mit dem Frühzuge nach London fuhr, um die letzten Anordnungen in Bezug auf meine Wohnung in St. John’s Wood zu treffen; um mich durch heimliche Erkundigung davon zu überzeugen, daß Mrs. Clements noch in derselben Wohnung sei; und um ein paar kleine Vorkehrungen mit Monsieur Rubelle zu treffen. Ich kehrte an demselben Abende zurück. Fünf Tage später erklärte der Arzt, daß unsere interessante Marianne außer aller Gefahr und nun nichts weiter benöthigt sei, als einer sorgfältigen Pflege. Dies war der Zeitpunkt, auf den ich gewartet hatte. Jetzt, da ärztlicher Beistand nicht länger unentbehrlich war, that ich den ersten Zug im Spiele, indem ich mich gegen den Doctor behauptete. Er war einer von vielen Zeugen, die mir im Wege waren und nothwendigerweise hinweggeschafft werden mußten. Ein lebhafter Wortwechsel zwischen uns (in den Percival nach vorher von mir empfangener Weisung sich zu mischen ausschlug) brachte Dies zu Wege. Ich kam mit einer furchtbaren Lawine von Entrüstung auf den elenden Menschen herab und fegte ihn aus dem Hause.

Die Dienstboten waren die nächsten Hindernisse, die fortgeräumt werden mußten. Ich instruirte Percival (dessen moralischer Muth fortwährender Reizmittel bedurfte) nochmals, und Mrs. Michelson war über die Maßen erstaunt, als sie eines Tages von ihrem Herrn benachrichtigt wurde, daß er die dortige Haushaltung aufzugeben beabsichtige. Wir säuberten das Haus von der ganzen Dienerschaft, einer Magd ausgenommen, deren bäurische Dummheit uns eine Garantie war, daß sie keine unangenehmen Entdeckungen machen werde. Als sie fort waren, blieb uns nur noch Mrs. Michelson aus dem Wege zu schaffen ein Resultat, welches sehr leicht erzielt wurde, indem wir die liebenswürdige Dame mit einem Auftrage, in einem Seebade eine Wohnung für ihre Herrin zu suchen, abschickten.

Die Verhältnisse waren jetzt genau so, wie sie sein sollten. Lady Glyde war durch ein nervöses Leiden an ihr Zimmer gefesselt, und die bäurische Stubenmagd (ich habe ihren Namen vergessen) wurde Nachts zu ihrer Bedienung bei ihr eingeschlossen. Marianne hütete, obgleich sie schnelle Fortschritte in der Genesung machte, noch immer unter Madame Rubelle’s Pflege das Bett. Außer meiner Frau, Percival und mir war weiter kein lebendes Wesen im Hause. Nachdem sich auf diese Weise alle Chancen zu unseren Gunsten gestaltet hatten, trat ich der zweiten Nothwendigkeit gegenüber und that den zweiten Zug.

Der Zweck des zweiten Zuges war, Lady Glyde zu bewegen, Blackwater Park ohne ihre Schwester zu verlassen. Falls wir ihr nicht einreden konnten, daß Marianne ihr nach Cumberland vorausgereist sei, so hatten wir keine Hoffnung, daß sie freiwillig das Haus verlassen werde. Um diesen nothwendigen Eindruck bei ihr hervorzubringen, verbargen wir unsere interessante Reconvalescentin in einem der unbewohnten Schlafzimmer in Blackwater Park. In der Tiefe der Nacht bewerkstelligten meine Frau, Madame Rubelle und ich (Percival war nicht gefaßt genug, um dabei zugelassen werden zu können) diesen Versteck. Der Austritt war im höchsten Grade malerisch, geheimnißvoll und dramatisch. Auf meine Anordnung war das Bett am Morgen auf einem starken, transportablen, hölzernen Rahmen gemacht worden. Wir hatten diesen Rahmen nur leise beim Kopf- und Fußende aufzuheben und unsere Patientin zu tragen, wohin es uns beliebte, ohne sie oder ihr Lager zu stören. Chemische Hülfe war bei dieser Gelegenheit weder nothwendig, noch wurde sie angewandt. Unsere interessante Marianne lag in der tiefen Ruhe der Genesung. Wir stellten die Lichter und öffneten die Thüren vorher. Ich, nach dem Rechte meiner großen persönlichen Kraft, nahm das Hauptende des Rahmens, meine Frau und Madame Rubelle das andere. Ich trug meinen Antheil an dieser mir unbeschreiblich kostbaren Bürde mit einer männlichen Zärtlichkeit, mit einer väterlichen Sorgfalt. Wo ist der moderne Rembrandt, der unsere mitternächtliche Prozession malen könnte? Unersetzlicher Verlust für die Künste! Schade um dieses malerischeste aller Sujets! Der moderne Rembrandt ist nirgends zu finden.

Am folgenden Morgen reisten meine Frau und ich nach London ab – indem wir Marianne in Abgeschlossenheit im mittleren Theile des Hauses unter Madame Rubelle’s Obhut zurückließen, welche Letztere gütigst einwilligte, sich auf zwei oder drei Tage mit ihrer Pflegebefohlenen gefangen halten zu lassen. Ehe wir jedoch abreisten, gab ich Percival Mr. Fairlie’s Einladung an seine Nichte, in welcher er ihr empfahl, auf ihrem Wege nach Cumberland im Hause ihrer Tante in London zu übernachten, mit der Weisung, Lady Glyde dieselbe zu zeigen, sobald er von mir hören werde. Auch ließ ich mir von ihm die Adresse der Irrenanstalt geben, in der Anna Catherick gefangen gewesen und einen Brief an den Besitzer derselben, in welchem diesem Herrn die Rückkehr seiner Patientin angekündigt wurde.

Ich hatte bei meinem letzten Besuche in der Hauptstadt Anordnungen getroffen, daß unsere bescheidene Häuslichkeit bereit sein solle, uns, wenn wir mit dem Frühzuge anlangten, aufzunehmen. In Folge dieser weisen Vorsicht waren wir noch an demselben Tage im Stande, unseren dritten Zug in dem Spiele zu thun – nämlich, Anna Catherick in unsere Hände zu bekommen.

Es sind hier die Data von Wichtigkeit. Ich vereinige in mir die entgegengesetzten Eigenschaften eines Gefühlsmenschen und eines Geschäftsmannes. Ich kann alle die Data an meinen Fingern herzählen.

Mittwoch, den 24. Juli 1850, schickte ich meine Frau in einem Fiaker ab, um zuerst Mrs. Clements aus dem Wege zu räumen. Ein angeblicher Auftrag von Lady Glyde, die sich in London befinden sollte, genügte, um dieses Resultat herbeizuführen. Mrs. Clements wurde in dem Fiaker abgeholt und in demselben gelassen, während meine Frau (unter dem Vorwande eines Einkaufes) ihr entwischte und umkehrte, um ihren erwarteten Besuch in unserem Hause in St. John’s Wood zu empfangen. Es ist unnöthig zu sagen, daß den Dienstboten der Besuch als »Lady Glyde« angekündigt worden war.

Unterdessen war ich in einem zweiten Fiaker meiner Frau nachgefahren, mit einem Briefe für Anna Catherick, welcher blos angab, daß Lady Glyde Mrs. Clements für den Tag bei sich zu behalten beabsichtige und daß sie unter der Obhut des guten Herrn, welcher draußen auf sie wartete und sie bereits in Hampshire gegen Entdeckung von Sir Percival geschützt, zu ihnen kommen solle. Der »gute Herr« schickte dieses Billet durch einen Straßenbuben ins Haus und wartete ein paar Häuser davon das Resultat ab. In dem Augenblicke, wo Anna vor der Hausthüre erschien und dieselbe wieder schloß; hatte dieser vortreffliche Herr die Fiakerthür für sie geöffnet – sie hineingeschoben – und war davongefahren. (Man gestatte mir hier in Parenthese einen einzigen Ausruf. Wie interessant!)

Auf dem Wege nach St. John’s Wood verrieth meine Gefährtin keine Furcht. Ich kann väterlich sein – kein Mensch ist es in höherem Grade – wenn ich will; und ich war bei dieser Gelegenheit unendlich väterlich. Welche Ansprüche hatte ich nicht an ihr Vertrauen! Ich hatte die Medicin gemischt, welche ihr wohlgethan; ich hatte sie vor Sir Percival gewarnt. Vielleicht baute ich zu sehr auf diese Ansprüche; vielleicht unterschätzte ich die Schärfe, die niederen Instinkte in Leuten von geschwächten Geisteskräften – gewiß aber ist es, daß ich sie auf eine Täuschung vorzubereiten vernachlässigte, die ihr beim Eintritte in mein Haus widerfahren sollte. Als ich sie in den Salon führte – als sie dort Niemanden sah, als die Gräfin Fosco, die ihr fremd war – gerieth sie in die heftigste Aufregung. Hätte sie Gefahr in der Luft gewittert, wie ein Hund die Nähe eines ungesehenen Geschöpfes wittert, so hätte sich ihre Unruhe nicht plötzlicher und grundloser darthun können. Ich versuchte vergebens, sie zu beruhigen. Es wäre mir vielleicht gelungen, ihre Angst zu besänftigen – aber ihr gefährliches Herzleiden war außer dem Bereiche aller moralischen Beruhigungsmittel. Zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen fiel sie in Convulsionen – eine Erschütterung des Systems, die sie in ihrem Zustande zu jeder Minute todt zu unseren Füßen hätte hinstrecken können.

Der nächste Arzt wurde herbeigerufen und unterrichtet, daß »Lady Glyde« seines augenblicklichen Beistandes bedürfe. Zu meiner unaussprechlichen Erleichterung fand ich in ihm einen tüchtigen Mann. Ich beschrieb ihm seine Patientin als eine Person von schwachem Verstande und an Sinnestäuschungen leidend und befahl, daß Niemand als meine Frau sie pflegen und in ihrem Zimmer wachen solle. Das unglückliche Geschöpf war übrigens zu krank, um in Bezug auf Das, was sie sagen konnte, irgendwie Besorgniß einzuflößen. Die eine Furcht, welche mich jetzt verfolgte, war die, daß die falsche Lady Glyde sterben möchte, ehe die wahre Lady Glyde in London anlangte.

Ich hatte morgens ein Billet an Madame Rubelle geschrieben, mit der Weisung, sich am Freitag, den 26., abends in ihres Mannes Hause einzufinden, und ein zweites an Percival, worin ich ihn aufforderte, seiner Frau ihres Onkels Einladung zu zeigen, ihr zu versichern, daß Marianne ihr bereits vorausgereist sei, und sie mit dem Mittagszuge am 26. ebenfalls nach London zu schicken. Ich hatte nach einiger Ueberlegung die Nothwendigkeit gefühlt, wegen Anna Catherick’s Gesundheitszustande die Ereignisse zu beeilen und Lady Glyde früher zu meiner Verfügung zu halten, als ich Dies anfangs beabsichtigt. Welche neue Anordnungen konnte ich jetzt in dieser furchtbaren Ungewißheit meiner Lage treffen? Ich konnte Nichts thun, als auf den Zufall und auf den Doctor hoffen. Meine Emotionen machten sich in pathetischen Ausrufungen Luft – die ich noch eben Fassung genug hatte, im Beisein Anderer mit »Lady Glyde’s« Namen zu paaren. In jeder anderen Hinsicht war Fosco an diesem bemerkenswerthen Tage, Fosco unter einer totalen Eclipse!

Sie verbrachte eine schlimme Nacht – erwachte in einem Zustande furchtbarer Erschöpfung – erholte sich aber später am Tage auf merkwürdige Weise. Meine elastischen Lebensgeister erholten sich mit ihr. Ich konnte von Percival und Madame Rubelle nicht früher als am Morgen des 26. Antwort erhalten. In der Erwartung, daß sie meine Anordnungen befolgen würden, was, wie ich wußte, der Fall sein werde, wo nicht ein Unfall sie daran verhinderte, ging ich, um einen Wagen zu bestellen, in dem ich Lady Glyde von der Eisenbahnstation abholen wollte und befahl dem Kutscher, um zwei Uhr am Nachmittage des 26. vor meinem Hause zu halten. Nachdem ich mich überzeugt, daß man die Bestellung ins Buch eingeschrieben, ging ich, um mit Monsieur Rubelle meine Vorkehrungen zu treffen. Auch versicherte ich mich der Dienste zweier Herren, die mir die nöthigen Atteste des Wahnsinns ausstellten. Den einen derselben kannte ich persönlich; der andere war Monsieur Rubelle bekannt. Beide waren Männer, deren kräftige Geister sich hoch über engherzige Scrupel erhoben – Beide waren in einer augenblicklichen Verlegenheit – Beide glaubten an Mich.

Es war bereits nach fünf Uhr Nachmittags, ehe ich von der Ausführung dieser Pflichten zurückkehrte. Als ich zu Hause anlangte, war Anna Catherick todt. Todt am 25., und Lady Glyde sollte erst am 26. in London eintreffen!

Ich war überwältigt. Man denke sich Dies: Fosco überwältigt!

Es war zu spät, um umzukehren. Ehe ich noch heimgekommen war, hatte der Arzt diensteifrigerweise übernommen, mir alle Mühe zu ersparen, indem er gegangen war, den Sterbefall und das Datum desselben mit eigner Hand zu registriren. Mein großartiges Project, das bis hierher unangreifbar gewesen, hatte jetzt seine schwache Stelle – keine Bemühungen von meiner Seite konnten das unheilvolle Ereigniß des 25. wieder gut machen. Ich trat der Zukunft mannhaft entgegen. Da Percival’s Interessen und die meinigen noch auf dem Spiele standen, blieb uns Nichts weiter übrig, als dasselbe zu Ende zu führen.Ich rief meine unerschütterliche Ruhe zurück– und spielte es weiter.

Am Morgen des 26. erhielt ich Percival’s Brief, der mir die Ankunft seiner Frau mit dem Mittagszuge ansagte. Madame Rubelle schrieb ebenfalls, und zwar, daß sie Abends ankommen werde. Ich fuhr in dem Wagen ab, um die echte Lady Glyde bei ihrer Ankunft um drei Uhr von der Station abzuholen, während die falsche Lady Glyde todt in meinem Hause lag. Unter dem Sitze des Wagens hatte ich die Kleider, die Anna Catherick getragen, als sie in unser Haus gekommen, mitgebracht, um die Auferstehung der Verstorbenen in der Person der Lebenden zu bewirken. Welch eine Lage! Ich empfehle sie den angehenden Romanschreibern Englands. Ich biete sie als eine nagelneue den ausgeschriebenen Federn Frankreichs an.

Lady Glyde war auf der Station. Es gab hier beim Zusammensuchen ihres Gepäckes großes Gedränge und mehr Verzug, als mir (in der Befürchtung, daß sich unter der Menge Bekannte von ihr finden möchten) lieb war. Ihre ersten Fragen, als wir abfuhren, waren stehende Bitten um Nachrichten über ihre Schwester. Ich erfand welche von der beruhigendsten Beschaffenheit, indem ich ihr die Versicherung gab, daß sie ihre Schwester in meinem Hause sehen werde. Mein Haus war bei dieser Gelegenheit in der Nähe vom Leicester-Platze und von Monsieur Rubelle bewohnt, welcher uns im Flur empfing.

Ich führte meinen Besuch in ein oberes Hinterzimmer, während die beiden Aerzte in der unteren Etage warteten, um die Patientin zu sehen und ihre Atteste zu schreiben. Nachdem ich Lady Glyde durch die nothwendigen Betheuerungen über ihre Schwester beruhigt, brachte ich meine Freunde einzeln in ihre Gegenwart. Sie machten die Formalitäten der Sache kurz, verständig und gewissenhaft durch. Ich ging wieder ins Zimmer, sobald sie dasselbe verlassen hatten, und beschleunigte sogleich den Gang der Ereignisse, indem ich Miß Halcombe’s beunruhigenden Zustandes Erwähnung that.

Der Erfolg war, was ich erwartet hatte. Lady Glyde wurde ängstlich und ohnmächtig. Zum zweiten und letzten Male rief ich die Wissenschaft zu Hülfe. Ein medicinisch versetztes Glas Wasser und Riechfläschchen ersparten ihr alle weitere Unannehmlichkeit und Unruhe. Eine zweite Dosis später Abends verschaffte ihr den unschätzbaren Genuß einer guten Nachtruhe. Madame Rubelle langte zur rechten Zeit an, um Lady Glyde’s Toilette zu übernehmen. Ihre eigenen Kleider nahm man ihr Abends weg und die Anna Catherick’s wurden ihr von den Händen der guten Rubelle mit der strengsten Beobachtung der Schicklichkeit am folgenden Morgen angethan. Während des ganzen Tages erhielt ich unsere Patientin in einem Zustande theilweiser Bewußtlosigkeit, bis der geschickte Beistand meiner ärztlichen Freunde mir schon früher, als ich zu hoffen gewagt, den nothwendigen Befehle zur Aufnahme der Kranken verschaffte. Noch an diesem Abende (dem Abende des 27.) begleiteten Madame Rubelle und ich unsere falsche Anna Catherick nach der Irrenanstalt. Sie wurde dort mit großem Erstaunen, aber ohne allen Verdacht empfangen – Dank dem Befehle, den Attesten, Percival’s Briefe, der Aehnlichkeit und der Patientin eigner zeitweiliger Geistesverwirrung. Ich kehrte sofort im Besitze der Kleider und Effecten der wahren Lady Glyde zu der Gräfin zurück, um ihr bei den Vorbereitungen zur Beerdigung der falschen Lady Glyde zu helfen. Diese Effecten wurden später mit dem Fuhrwerke, welches zur Beerdigung benutzt wurde, nach Cumberland geschickt. Ich folgte dem Begräbnisse mit angemessener Würde und in den tiefsten Trauerkleidern.

Meine Erzählung dieser merkwürdigen Ereignisse, welche unter ebenso bemerkenswerthen Verhältnissen geschrieben ist, schließt hiermit. Die kleineren Vorsichtsmaßregeln, welche ich, in Limmeridge House beobachtete, sind bereits bekannt – ebenso der süperbe Erfolg meines Unternehmens – ebenso die soliden pecuniären Resultate desselben. Ich muß mit der ganzen Kraft meiner Ueberzeugung versichern, daß die eine schwache Stelle meines Projektes nie entdeckt worden wäre, falls ich nicht zuerst die eine schwache Stelle meines Herzens verrathen hätte. Nichts als meine unheilvolle Anbetung für Marianne hielt mich davon zurück, zu meinem eigenen Schutze herbeizueilen, als sie die Flucht ihrer Schwester bewirkte. Ich lief die Gefahr und baute auf die gänzliche Vernichtung der Identität von Lady Glyde. Falls entweder Marianne oder Mr. Hartright diese Identität zu behaupten wagten, so würden sie sich öffentlich der Beschuldigung aussetzen, daß sie einen entschiedenen Betrug unterstützten; man würde ihnen nicht geglaubt, sondern Verdacht gegen sie geschöpft haben, und sie waren dann machtlos, mein Interesse oder Percival’s Geheimniß in Gefahr zu bringen. Ich beging einen Irrthum, auf eine so blinde Berechnung von Zufälligkeiten zu bauen. Ich beging den zweiten, als Percival für seine Halsstarrigkeit und Heftigkeit gebüßt hatte, indem ich Lady Glyde eine zweite Gnadenfrist vom Irrenhause zu Theil werden ließ und Mr. Hartright eine zweite Gelegenheit gab, mir zu entwischen. Kurz, Fosco war während dieser ernsten Krisis sich selbst untreu. Beklagenswerthe, fehlerhafte Inconsequenz! Seht her – die Ursache desselben, hier in meinem Herzen – erkennet in Marianne Halcombe’s Bilde – die erste und letzte Schwachheit in Fosco’s Leben!

In dem reifen Alter von sechzig Jahren lege ich dieses beispiellose Bekenntniß ab. Jünglinge! ich bitte um Eure Theilnahme. Jungfrauen! ich fordere Eure Thränen.

Noch ein Wort, und dann soll die Aufmerksamkeit des Lesers (die sich in athemloser Spannung auf mich geheftet hat) freigegeben werden.

Meine eigene geistige Einsicht sagt mir, daß Leute von wißbegierigen Gemüthern hier unfehlbar drei Fragen thun werden. Dieselben sollen genannt – sollen beantwortet werden.

Erste Frage. Welches ist das Geheimniß, in Folge dessen die Gräfin Fosco sich ohne Zögern zur Erfüllung meiner kühnsten Wünsche, zur Förderung meiner tiefsten Pläne hergiebt? Ich könnte Dies beantworten, indem ich ganz einfach auf meinen Character hindeutete und meinerseits fragte: – Wo in der ganzen Weltgeschichte hat man je einen Mann meines Calibers gefunden, in dessen Sphäre sich nicht eine Frau auf dem Altare seines Lebens opferte? Aber ich erinnere mich daran, daß ich in England schreibe, ich erinnere mich, daß ich mich in England verheirathete –. und ich frage, ob in diesem Lande in den ehelichen Pflichten einer Frau für eine Privatansicht der Grundsätze ihres Mannes gesorgt ist? Nein! Dieselben befehlen ihr ganz einfach, ihn zu lieben, zu ehren und ihm zu gehorchen. Das ist genau, was meine Frau gethan hat. Ich stehe auf einer erhabenen moralischen Höhe, und bezeuge von derselben herab ihre gewissenhafte Befolgung ihrer ehelichen Pflichten. Stille, Verleumdung! Frauen von England! Eure Theilnahme für die Gräfin Fosco!

Zweite Frage. Was würde ich gethan haben, falls Anna Catherick nicht zu jener Zeit gestorben wäre? Ich hätte in diesem Falle der erschöpften Natur zur ewigen Ruhe verholfen. Ich hätte die Thore des Gefängnisses des Lebens geöffnet und der Gefangenen (die unheilbar am Geiste wie am Körper litt) eine glückliche Freiheit gegeben.

Dritte Frage. Nach einer ruhigen Uebersicht aller Umstände – verdient mein Verfahren ernstlichen Tadel? Ganz entschieden, Nein! Habe ich nicht sorgfältig vermieden, die Gehässigkeit eines unnöthigen Verbrechens auf mich zu laden? Mit meiner weiten Kenntniß der Chemie hätte ich Lady Glyde’s Leben nehmen können. Mit ungeheuren persönlichen Opfern folgte ich den Eingebungen meines Scharfsinnes, meiner Humanität und meiner Vorsicht – und nahm ihr statt dessen ihre Identität. Man beurtheile mich nach Dem, was ich hätte thun können. Wie vergleichungsweise unschuldig! wie indirect tugendhaft muß ich da erscheinen nach Dem, was ich that!

Ich kündigte zu Anfang dieser Erzählung an, daß Dies ein bemerkenswerthes Document werden würde. Es entspricht vollkommen meinen Erwartungen. Man empfange diese glühenden Zeilen als mein letztes Vermächtniß an das Land, welches ich auf immer verlasse. Sie sind der Gelegenheit würdig und eines

FOSCO.

 



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