Wilkie Collins - Logo - Klicken, um Navigationsmenü einzublenden
 

Armadale



Drittes Kapitel.

Kalt und eintönig wie zuvor drang das ewige Gemurmel der kurzen Wellen durch den weiten, weiten Raum —— der einzige Laut, der noch blieb, während die geheimnißvolle Stille der Morgendämmerung gleich einem Schleier vom Himmel herabsank und das Wrack umhüllte.

Allan stieg vom Besahnmast herunter und kehrte zu seinem Freunde auf dem Verdeck zurück.

»Wir müssen uns gedulden bis die Zimmerleute zur Arbeit kommen«, sagte er, wie er Midwinter auf halbem Wege bei seinem rastlosen Spaziergange begegnete. »Nach dem, was sich ereignet hat, kommt mir’s nicht darauf an zu gestehen, daß ich genug davon habe, das Land anzurufen. Denke nur, daß sich in jenem Hause dort am Ufer ein Wahnsinniger befindet und ich ihn mit meinem Rufen aufgeweckt habe! Schauerlich, nicht wahr?«

Midwinter stand einen Augenblick still und sah Allan mit der Miene eines Menschen an, zu dem man in ganz vertraulicher Weise von Dingen spricht, die ihm völlig fremd sind. Es hatte das Ansehen, als ob er von dem, was sich soeben auf der Insel »Kalb« zugetragen, durchaus gar nichts vernommen habe.

»Außerhalb dieses Schiffes ist nichts schauerlich«, sagte er, »auf demselben aber alles!«

Nachdem er mit diesen seltsamen Worten geantwortet, wandte er sich wieder ab und setzte seinen Spaziergang fort.

Allan nahm die Whiskyflasche auf, die neben ihm auf dem Verdecke lag, und erquickte seine Lebensgeister durch einen Trunk aus derselben. »Dies hier ist etwas an Bord, das nicht schauerlich ist«, entgegnete er munter, indem er den Stöpsel wieder in die Flasche schob. »Und hier ist noch etwas«, fügte er hinzu, indem er eine Cigarre aus seinem Etui nahm und dieselbe anbrannte »Drei Uhr!« fuhr er dann, auf seine Uhr blickend, fort und setzte sich, den Rücken gegen das Bollwerk lehnend, gemüthlich auf dem Verdeck nieder. »Es ist nicht mehr weit vom Tagesanbruch; wir werden bald durch Vogelgezwitscher aufgemuntert werden. Weißt Du, Midwinter, Du scheinst Dich von jener unglückseligen Ohnmacht völlig erholt zu haben. Wie Du draus los marschierst! Komm her und rauche eine Cigarre und mache Dir’s bequem. Was soll das ewige Hin- und Hergetrabe nützen?«

»Ich warte«, sagte Midwinter.

»Wartest! Worauf?«

»Auf das, was entweder Dir oder mir oder uns beiden zustoßen wird, ehe wir dies Schiff verlassen.«

»Mit aller Hochachtung vor Deinem überlegenen Urtheile bin ich doch der Ansicht, lieber Junge, daß sich bereits genug zugetragen hat. Das Abenteuer genügt vollkommen, wie es augenblicklich steht. Eine fernere Entwicklung desselben ist mehr als ich verlange.«

Er erquickte sich abermals durch einen Trunk aus der Whiskyflasche und plauderte, seine Cigarre paffend, auf seine gewohnte leichte Weise fort. »Ich besitze nicht Deine glänzende Einbildungskraft, alter Junge, und hoffe, daß das nächste Ereigniß die Ankunft des Bootes mit den Arbeitsleuten sein wird. Ich vermuthe, daß Deine erstaunliche Phantasie mit Dir durchgegangen ist, während Du ganz allein hier unten warst. Komm! Woran dachtest Du, während ich oben im Besahnmast war und die Kühe ängstigte?«

Midwinter stand plötzlich still. »Gesetzt, ich sagte es Dir?« fragte er seinerseits.

»Gesetzt, Du thätest das?«

Die marternde Versuchung, die Wahrheit zu offenbaren, die durch die unbarmherzige Fröhlichkeit seines Gefährten schon einmal in ihm erweckt worden war, bemächtigte sich Midwinter’s zum zweiten Male. Er lehnte sich im finsteren an die hohe Schiffsseite zurück und blickte schweigend auf Allan’s Gestalt hinab, die gemüthlich auf dem Verdeck ausgestreckt lag. »Entreiße ihn«, flüsterte ein Dämon listig, »dieser Unwissenheit und Unbefangenheit, dieser mitleidslosen Gemüthsruhe. Zeige ihm die Stelle, wo die That begangen ward; lehre ihn dieselbe kennen, wie Du sie kennst, fürchten, wie Du sie fürchtest. Erzähle ihm von dem Briefe, den Du verbrannt, und von den Worten, die kein Feuer zu verzehren vermag und die in diesem Augenblicke in Deinem Gedächtnisse leben. Laß ihn Dein Gemüth sehen, wie dasselbe gestern war, als es Dein sinkendes Vertrauen zu Deinen eigenen Ueberzeugungen wieder erweckte, um auf Dein Leben auf dem Wasser zurückzublicken und Dich durch die glückliche Erinnerung zu trösten, daß Du während all’ Deiner Reisen nie auf dieses Fahrzeug gestoßen bist. Laß ihn Dein Gemüth in seinem gegenwärtigen Zustande sehen, wo das Schiff, bei diesem Wendepunkte Deines Lebens, beim Beginne Deiner Freundschaft mit dem einen Manne unter allen Menschen, den Dein Vater Dich meiden hieß, Dich plötzlich gefangen hat. Gedenke jener Worte des Sterbenden und flüstere ihm dieselben ins Ohr, damit auch er ihrer gedenke:

»Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei, unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist.« So flüsterte der Versucher. Und so stieg der Einfluß des Vaters, gleich einem Gifthauche, aus dessen Grabe empor und vergiftete das Gemüth des Sohnes.

Allan verwunderte sich über das plötzliche Schweigen seines Freundes. Er schaute schläfrig über seine Schulter zurück. »Wieder in Gedanken versunken!« rief er mit einem milden Gähnen.

Midwinter trat aus dem Schatten hervor und näher an Allan heran. »Ja«, sagte er, »ich denke an die Vergangenheit und an die Zukunft.«

»Die Vergangenheit und die Zukunft?« wiederholte Allan, indem er sich’s in einer neuen Lage bequem zu machen suchte. »Was mich betrifft, so bin ich über die Vergangenheit stumm. Es ist dies für mich ein schmerzlicher Gegenstand —— die Vergangenheit heißt augenblicklich so viel, wie der Verlust des von Mr. Hawbury geborgten Bootes. Laß uns von der Zukunft reden. Hast Du Dir etwa eine praktische Ansicht über dieselbe gebildet, wie der liebe alte Brock es nennt? Hast Du die nächste ernste Frage in Erwägung gezogen, die an uns beide bei unserer Rückkehr nach dem Gasthofe herantritt —— die Frage wegen des Frühstücks?«

Nach einem kurzen Zögern trat Midwinter noch einen Schritt näher. »Ich habe an Deine Zukunft und die meinige gedacht«, sagte er; »ich habe an die Zeit gedacht, wo Dein Lebensweg und der meinige weit aus einander liegen werden.«

»Sieh, der Tag bricht an!« rief Allan aus. »Sieh, wie die Masten bereits deutlicher hervortreten! Verzeihe —— was sagtest Du?«

Midwinter antwortete nicht. Der Kampf zwischen dem erblichen Argwohne, der ihn vorwärts trieb, und seiner unbezwinglichen Liebe zu Allan, die ihn zurückhielt, ließ die nächsten Worte auf seinen Lippen ersterben. Er wandte in sprachlosem Schmerze das Gesicht ab. »O, mein Vater!« dachte er. »Es wäre besser gewesen, Du hättest mich an jenem Tage getödtet, da ich an Deiner Brust lag, als daß Du mich leben ließest, um dies zu leiden!«

»Was sagtest Du von der Zukunft?« frug Allan. »Meine Aufmerksamkeit war eben auf den Tagesanbruch gerichtet, deshalb hörte ich es nicht.«

Midwinter bemeisterte seine Bewegung und antwortete. »Du hast mich mit Deiner gewohnten Güte behandelt; sagte er, »indem Du den Plan faßtest, mich mit Dir nach Thorpe-Ambrose zu nehmen. Nach Ueberlegung der Sache bin ich jedoch der Ansicht, daß es besser sein wird, wenn ich mich nicht in einen Ort eindränge, wo man mich nicht kennt und nicht erwartet.« Seine Stimme zitterte, und er schwieg wieder. Je mehr er vor dem Bild des glücklichen Lebens, das er auf diese Weise von sich wies, zurückwich, desto deutlicher stand ihm dasselbe vor der Seele.

Allan dachte augenblicklich an die Mystification, die er sich in Bezug auf den neuen Verwalter gegen seinen Freund erlaubt, als sie mit einander in der Kajüte der Jacht berathschlagt hatten. »Ob er sich’s überlegt hat«, fragte er sich, »und endlich die Wahrheit zu argwöhnen anfängt? Ich will versuchen, es aus ihm herauszubringen. —— Schwatze so viel Unsinn wie Du willst, mein lieber Junge«, erwiderte er, »aber vergiß nicht, daß Du mir versprochen hast, mich in Thorpe-Ambrose als Gutsherr zu sehen und mir Deine Ansicht über den neuen Verwalter zu sagen.«

Midwinter trat plötzlich hart an Allan heran. »Ich rede nicht von Deinem Verwalter oder Deinen Gütern«, sagte er leidenschaftlich; »ich spreche von mir selbst. Hörst Du wohl? Von mir selbst! Ich bin kein passender Gefährte für Dich. Du weißt nicht, wer ich bin.« Ebenso schnell wie er hervorgetreten war, zog er sich wieder in den dunkeln Schatten des Bollwerks zurück. »O Gott, ich kann es ihm nicht sagen«, flüsterte er vor sich hin.

Auf einen Augenblick, doch nur auf einen Augenblick, fühlte Allan sich überrascht« »Weiß nicht, wer Du bist?« Doch schon nach diesen Worten gewann seine gemächliche Gutmüthigkeit wieder die Oberhand. Er nahm die Whiskyflasche vom Boden auf und schüttelte dieselbe bedeutungsvoll »Hör einmal«, sagte er, »wieviel hast Du von dieser Medicin des Doctors eingenommen, während ich oben im Besahnmast saß?«

Der leichte Ton, in dem er zu sprechen fortfuhr, brachte Midwinter außer sich. Er trat wieder ins Licht hinaus und stampfte zornig mit dem Fuße. »Höre mich an!« begann er. »Du weißt nicht die Hälfte der gemeinen Beschäftigungen meines Lebens. Ich bin der Knecht eines Krämers gewesen; ich habe den Laden ausgekehrt und die Fensterläden geschlossen; ich habe Packete in der Stadt ausgetragen und an den Thüren der Kunden auf das Geld für meinen Herrn gewartet.«

»Ich habe nie etwas halb so Nützliches gethan«, erwiderte Allan mit vollkommener Gelassenheit. »Du lieber alter Junge, welch ein fleißiger Bursche Du einst gewesen sein mußt!«

»Ich war einst ein Landstreicher und ein gemeiner Lump«, entgegnete der Andere wüthend; »ich bin ein Acrobat, ein Straßenjunge, ein Zigeunerbursch gewesen! Ich habe mit tanzenden Hunden auf der Landstraße um Kupferpfennige gesungen! Ich habe eine Bedientenlivree getragen und bei Tische aufgewartet! Ich bin ein gewöhnlicher Matrosenkoch und ein Mensch für alles bei einem verhungernden Fischer gewesen! Was hat ein vornehmer Herr in Deiner Stellung mit einem Manne in der meinigen gemein? Kannst Du mich in der Gesellschaft zu Thorpe-Ambrose einführen? Mein Name allein würde schon ein Vorwurf für Dich sein. Denke Dir nur die Gesichter Deiner neuen Nachbarin wenn ihr Diener Ozias Midwinter und Allan Armadale in einem Athem anmeldet! »Er brach in ein gellendes Lachen aus und wiederholte die beiden Namen mit einer verachtungsvollen Bitterkeit des Nachdrucks, die erbarmungslos den Contrast zwischen denselben markierte.

Etwas in dem Klange seines Lachens berührte selbst Allan’s unbekümmerte Natur ein wenig unangenehm. Er richtete sich auf dem Verdeck empor und sprach zum ersten Male in ernstem Tone. »Ein Scherz ist ein Scherz, Midwinter«, sagte er, »solange Du ihn nicht zu weit treibst. Ich erinnere mich, wie Du einmal etwas Aehnliches zu mir sagtest, als ich Dich in Sommersetshire pflegte. Du zwangst mich, Dich zu fragen, ob gerade ich von allen Leuten auf der Welt es verdient habe, daß Du mich zurückwiesest und fern hieltest. Zwinge mich nicht, dies noch einmal zu sagen. Scherze, so viel Du willst, alter Junge, aber in einer andern Weise. Diese Art und Weise thut mir weh.«

So einfach diese Worte waren und so einfach der Ton, in dem sie gesprochen wurden, schienen sie doch augenblicklich eine Veränderung in Midwinter’s Gemüthe hervorzubringen. Seine empfindsame Natur bebte wie bei einer plötzlichen Erschütterung zurück. Ohne ein Wort zu erwidern, schritt er dem Vordertheile des Schiffes zu, setzte sich auf einen Bretterhaufen zwischen den Masten und strich sich in einer gedankenlosen, verdutzten Weise mit der Hand über die Stirn. Obgleich seines Vaters Glaube an ein Verhängniß auch der seinige war; obgleich in seinem Geiste nicht der geringste Zweifel darüber herrschte, daß die Frau, welche Mr. Brock in Sommersetshire gesehen, dieselbe sei, die sich in London das Leben zu nehmen versucht hatte; obgleich das ganze Grauen, das ihn nach dem Durchlesen des Briefes aus Wildbad erfüllt, ihn auch jetzt wieder ergriffen hatte, drang ihm doch die Art und Weise, in der Allan sich auf ihre Freundschaft berief, mit einer Macht ins Herz, die unwiderstehlicher war als selbst die Macht seines Aberglaubens. »Warum sollte ich ihn betrüben?« flüsterte er für sich. »Wir sind hier noch nicht am Ende —— noch lauert jene Frau im Hintergrunde. Warum sollte ich mich ihm widersetzen, da das Unglück einmal geschehen ist und die Warnung zu spät kommt? Was geschehen soll, wird geschehen. Was habe ich mit der Zukunft zu schaffen —— und was er?«

Er kehrte zu Allan zurück, setzte sich an seiner Seite nieder und faßte seine Hand. »Vergieb mir«, sagte er sanft; ich habe Dir zum letzten Male wehe gethan« Und noch ehe es Allan möglich war, hierauf zu antworten, nahm er hastig die Whiskyflasche vom Verdeck auf. »Komm!« rief er mit einer plötzlichen Anstrengung, die Fröhlichkeit seines Freundes nachzuahmen, »Du hast die Medicin des Doctors versucht; warum sollte ich nicht dasselbe thun?«

Allan war entzückt. »Dies nenne ich eine höchst vortheilhafte Veränderung«, sagte er. »Midwinter ist wieder der Alte. Horcht Da sind die Vögel! Sei mir gegrüßt, du lächelnder Morgen!« Er sang die Worte dieses Rundgesanges mit seiner alten fröhlichen Stimme und schlug Midwinter mit seiner gewohnten frohen Herzlichkeit auf die Schulten »Wie ist es Dir gelungen, jene verwünschte Migräne aus dem Kopfe loszuwerden? Weißt Du wohl, daß Du mit Deiner Prophezeihung entweder dem Einen oder dem Andern von uns müsse etwas zustoßen, ehe wir dies Schiff verließen, förmlich unangenehm wurdest?«

»Reiner Unsinn!« erwiderte Midwinter verachtungsvoll. »Ich glaube, mein Kopf hat sich nie ganz wieder erholt, seit ich jenes Fieber hatte; ich habe nun einmal einen Sparren zu viel im Kopfe, wie die Leute zu sagen pflegen. Laß uns von etwas Anderem reden. Von jenen Leuten, denen Du Dein Häuschen vermiethet hast? Ob man sich wohl auf den Bericht des Agenten über die Familie des Majors verlassen kann? Es mag vielleicht außer seiner Frau und seiner Tochter noch eine Dame im Hause sein.«

»Oho!« rief Allan. »Fängst auch Du jetzt etwa an, an Nymphen unter den Bäumen und Courschneidereien im Obstgarten zu denken? Wie? Noch eine Dame, so? Gesetzt, der Familienkreis des Majors hat keine solche auszuweisen? Wir werden jene halbe Krone noch einmal kreiseln lassen müssen, um zu bestimmen —— wer von uns beiden den Vorrang bei Miß Milroy haben soll.«

Diesmal antwortete Midwinter in demselben leichten und sorglosen Tone, den Allan angeschlagen hatte. »Nein, nein«, sagte er; »der Hauswirth des Majors hat das erste Anrecht an die Beachtung der Tochter des Majors. Ich will mich in den Hintergrund zurückziehen und auf die nächste Dame warten, die in Thorpe-Ambrose ankommt.«

»Sehr wohl. Ich will eine dahin gehende Aufforderung an die Frauen von Norfolk im Park anschlagen lassen«, bemerkte AlIan. »Bist Du besonders eigen in Bezug aus Größe und Farbe? Welches ist Dein Lieblingsalter?«

Midwinter spielte mit seinem Aberglauben, wie man mit einer geladenen Flinte spielt, die uns tödten, oder mit einem wilden Thiere, das uns fürs ganze Leben verstümmeln kann. Er nannte das Alter der Frau in dem schwarzen Kleide und dem rothen gewirkten Shawl, wie er dasselbe selbst berechnet hatte.

»Fünfunddreißig.«

Allein sowie diese Worte seinen Lippen entfielen, verließ ihn plötzlich seine erkünstelte Fröhlichkeit. Er sprang von seinem Sitze auf, völlig taub gegen Allans Neckereien wegen dieser sonderbaren Antwort, und nahm in tiefem Schweigen seinen rastlosen Spaziergang auf dem Verdeck wieder auf. Der Gedanke, der ihn vorher in der Dunkelheit bei seinem Auf- und Abgehen begleitet, begleitete ihn auch jetzt in der Tageshelle Schritt für Schritt. Es bemächtigte sich seiner abermals die Ueberzeugung daß entweder ihm oder Allan irgendetwas zustoßen müsse, ehe sie das Wrack verließen.

Mit jeder Minute ward es heller am östlichen Himmel, und die finsteren Stellen auf dem Verdeck des Holzschiffes zeigten in der Helle des Tages ihre nackte Leerheit. Wie der Landwind sich wieder erhob, erwachte auch das Meer und fing im Morgenlichte zu murmeln an. Selbst das kalte Geplätscher der kurzen Wellen veränderte seinen melancholischen Klang und schlug sanfter an das Ohr, als die milden Strahlen der Sonne warm auf dieselben herabfielen. Midwinter machte auf dem Vordertheile des Schiffes Halt und suchte sich wieder in die Gegenwart zu versetzen. Wohin er sich wandte, sah er sich von den erheiternden Einflüssen der Stunde umgeben. Das frohe Morgenlächeln des Sommerhimmels goß in seiner barmherzigen Liebe zur alten milden Erde seine allumfassende Herrlichkeit selbst über das Wrack aus! Der Thau, der glitzernd auf den Feldern der Inseln lag, funkelte auch auf dem Verdeck, und das abgenutzte rostige Tafelwerk war ebenso glänzend geschmückt wie die frischen, grünen Blätter am Ufer. Indem er rings umherschaute, wanderten Midwinter’s Gedanken unwillkürlich zu dem Gefährten, der das Abenteuer der Nacht mit ihm getheilt hatte. Er kehrte nach dem Hintertheile des Schiffes zurück und redete Allan an. Da er keine Antwort erhielt, trat er zu der liegenden Gestalt heran und betrachtete dieselbe näher. Allan war, sich selbst überlassen, von seiner Ermüdung überwältigt worden. Sein Kopf war zurückgesunken, sein Hut herabgefallen. Er lag, der Länge nach auf dem Verdeck ausgestreckt, in festem friedlichen Schlummer.

Midwinter nahm seinen Spaziergang wieder auf; sein Geist war in Zweifel versunken; seine eigenen früheren Gedanken erschienen ihm plötzlich sehr seltsam. Mit wie trüben Ahnungen hatte er der kommenden Zeit entgegengesehen —— und wie harmlos war diese Zeit jetzt gekommen! Die Sonne stieg am Himmel auf, die Stunde der Erlösung rückte immer näher und näher, und von den beiden Armadale, die auf dem unglückseligen Schiffe gefangen waren, lag der eine in sanftem Schlummer da, während der andere ruhig das Erwachen des neuen Tages beobachtete.

Die Sonne stieg höher; die Stunde rückte vor. In dem geheimen Argwohne gegen das Wrack, der ihm noch immer anhaftete, schaute Midwinter spähend nach beiden Ufern hinüber, um Zeichen erwachenden menschlichen Lebens zu entdecken. Allein es war noch immer einsam am Lande. Die Rauchsäulen, die bald aus den Essen der Bauernhütten emporkräuseln sollten, waren noch nirgend zu sehen.

Nach einem kurzen Sinnen kehrte er wieder nach dem Hintertheile des Schiffes zurück, um zu sehen, ob sich nicht ein Fischerboot innerhalb Hörweite hinter ihnen befinde. Für, den Augenblick mit diesem neuen Gedanken beschäftigt, ging er eilig an Allan vorüber, indem er kaum bemerkte, daß dieser noch immer schlafe. Mit dem nächsten Schritte würde er sich am Hackebord befunden haben —— doch ein Laut verhinderte ihn, diesen Schritt zu thun, ein Laut, der einem matten Stöhnen glich. Er wandte sich um und betrachtete den Schläfer auf dem Verdeck. Er kniete nieder und beobachtete ihn näher.

»Jetzt ist das Unglück da!« flüsterte er für sich. »Nicht für mich —— aber für ihn.«

Es war da in der hellen Frische des Morgens; es war gekommen in dem Geheimnisse und dem Grauen eines Traumes. Das Gesicht, welches Midwinter zuletzt so ruhig gesehen, war jetzt das verzerrte Gesicht eines Leidenden. Der Schweiß stand dicht auf Allan’s Stirn und feuchtete sein lockiges Haar. Seine halb geöffneten Augen zeigten nichts als das Weiße des matt glänzenden Augapfels. Seine ausgestreckten Hände kratzten und krallten auf dem Verdeck umher. Von Zeit zu Zeit stöhnte und murmelte er vor sich hin; aber die Worte, die ihm entschlüpften wurden durch sein Zähnefletschen unverständlich. Dort lag er —— körperlich dem Freunde so nahe, der sich über ihn hinbeugte; im Geiste sofern, daß die Beiden sich ebenso gut in verschiedenen Welten hätten befinden können —— dort lag er, während der Schein der Morgensonne auf sein Gesicht herabströmte, in den Qualen seines Traumes.

In dem Geiste des Mannes, der ihn betrachtete, erwachte eine Frage, und nur diese eine. Was hatte das Verhängnis, das ihn auf diesem Schiffe gefangen hielt, ihn sehen zu lassen bestimmt?

Hatte der verrätherische Schlaf die Pforten des Grabes für denjenigen der beiden Armadale geöffnet, den der andere über die Wahrheit in Unwissenheit erhalten? Offenbarte die Ermordung des Vaters sich in einem Traumgesichte dem Sohne, hier an derselben Stelle, wo das Verbrechen begangen worden war?

Indem diese Frage alles Andere in seinem Geiste in den Schatten drängte, kniete der Sohn des Mörders auf dem Verdeck nieder und betrachtete den Sohn des Mannes, den seines Vaters Hand erschlagen.

Der Kampf zwischen dem schlafenden Körper und dem wachen Geiste ward jeden Augenblick heftiger. Des Träumenden hilfloses Jammern nach Erlösung ward lauter; seine Hände erhoben sich und krallten die leere Luft. Mit der alles überwindenden Furcht ringend, in der er noch immer befangen war, legte Midwinter seine Hand sanft auf Allan’s Stirn. So leicht die Berührung war, regten sich doch in dem träumenden Manne geheime Sympathien, die dieselbe beantworteten. Sein Stöhnen hörte auf und seine Hände sanken langsam herab. Es erfolgte ein Augenblick der Erwartung, und Midwinter schaute näher hin. Sein Athem strich leicht über das Gesicht des Schlafenden hin. Da richtete Allan sich plötzlich empor, warf sich auf seine Knie, als wäre ein Trompetenstoß an sein Ohr gedrungen —— und im Augenblick war er wach.

»Du hast geträumt«, sagte Midwinter, als der Andere ihn in der ersten Verwirrung des Erwachens wild anstierte.

Allan’s Augen schweiften über das Verdeck hin —— anfangs mit leerem Blicke, dann mit einem Ausdrucke zorniger Ueberraschung. »Sind wir noch immer hier?« sagte er, während Midwinter ihm aufstehen half. »Was ich sonst immer an Bord dieses verdammten Schisses thun mag«, fügte er nach einem Augenblicke hinzu, »jedenfalls will ich hier nicht wieder einschlafen!«

Indem er diese Worte sprach, spähten die Augen seines Freundes mit stiller Frage in seinem Gesichte. Sie gingen neben einander auf dem Schiffe auf und ab.

»Erzähle mir Deinen Traum«, bat Midwinter mit einem seltsamen Tone des Argwohns in seiner Stimme und einer seltsamene Kürze in seinem Wesen.

»Ich kann es noch nicht erzählen«, erwiderte Allan. »Warte ein wenig, bis ich mich wieder gefaßt habe.«

Sie gingen noch einmal auf und ab. Midwinter stand still und ergriff abermals das Wort.

»Schau mich einen Augenblick an, Allan!« sagte er hastig.

Es lag in Allan’s Gesichte, wie er dasselbe dem Sprechenden zuwandte, etwas von der Qual des Traumes und etwas von dem natürlichen Erstaunen über diese soeben an ihn gerichtete seltsame Aufforderung; doch war keine Spur von Groll oder lauerndem Mißtrauen darin zu entdecken. Midwinter wandte sich schnell zur Seite und verbarg, so gut er es vermochte, den Ausdruck freudiger Ueberraschung, zu dem ihn sein erleichtertes Herz zwang.

»Sehe ich ein wenig verstört aus?« frug Allan, indem er seinen Arm nahm und ihn wieder weiter führte. »Beunruhige Dich deshalb nicht. Mir ist der Kopf wild und schwindlich —— aber ich werde es bald überwinden.«

Sie schritten während der nächsten wenigen Minuten schweigend auf und ab, der Eine, indem er sich des Grauens seines Traumes zu entschlagen bemüht war, der Andere, indem er zu entdecken versuchte, worin das Grauen dieses Traumes bestanden habe. Von ihrer bedrückenden Furcht befreit, hatte sich Midwinter’s abergläubische Natur sofort auf eine weitere Schlußfolgerung gestürzt. Hatte etwa der Schläfer im Traume eine andere Vision gehabt als die Offenbarung der Vergangenheit? Hatte sein Traum ihn in dem Buche der Zukunft seine künftige Lebensgeschichte lesen lassen? Der blose Gedanke an diese Möglichkeit verdoppelte Midwinter’s Verlangen, in das Geheimniß einzudringen, welches Allan’s Schweigen ihm noch immer vorenthielt.

»Ist Dein Kopf jetzt klarer?« frug er. »Kannst Du mir jetzt Deinen Traum erzählen?«

Während er diese Frage that, rückte der letzte denkwürdige Augenblick in dem Abenteuer nahe heran.

Sie waren am Spiegel angelangt und im Begriff, sich wieder umzuwenden. Während Allan die Lippen öffnete, um jene Frage Midwinter’s zu beantworten, schaute er mechanisch aufs Meer hinaus, und anstatt zu antworten lief er plötzlich an den Hackebord und schwenkte mit lautem Jubelrufe den Hut.

Midwinter gesellte sich zu ihm und sah ein großes sechsruderiges Boot, das gerade in den Kanal des Sundes hineinruderte. Eine Gestalt, die sie beide zu erkennen glaubten, erhob sich hastig hinter den Rudertaljen und erwiderte hutschwenkend Allan’s Begrüßung. Das Boot kam näher; der Steuermann rief ihnen munter zu, und sie erkannten die Stimme des Doctors.

»Gott sei gelobt, daß Sie sich beide über Wasser befinden!« sagte Mr. Hawbury, als sie ihm auf dem Verdeck des Holzschiffes entgegenkamen. »Welcher Wind von allen Winden des Himmels hat Sie hierher geweht?«

Bei dieser Frage blickte er Midwinter an; aber Allan erzählte anstatt seines Freundes ihm die Geschichte der vergangenen Nacht und befrug seinerseits den Doctor. Das eine, alles verzehrende Interesse in Midwinter’s Geiste, das Geheimniß des Traumes zu erfahren, ließ ihn während alles dessen schweigen. Unbekümmert um alles, was um ihn her geschah oder gesagt wurde, folgte er wie ein Hund Allan überall hin, bis der Augenblick kam, wo sie ins Boot hinabstiegen. Mr. Hawbury’s ärztliches Auge war neugierig aus ihn gerichtet und bemerkte seine wechselnde Farbe, sowie die beständige Unruhe seiner Hände. »Ich möchte für alles in der Welt nicht in der Haut jenes Mannes stecken«, dachte er, indem er den Helmstock des Bootes ergriff und den Ruderern Befehl gab, vom Wrack abzustoßen.

Da Mr. Hawbury alle Erklärungen von seiner Seite bis dahin verschoben hatte, wo sie sich auf der Rückfahrt nach Port-St.-Mary befinden würden, schickte er sich nunmehr an, zunächst Allan’s Neugier zu beschwichtigen. Die Umstände, welche ihn seinen beiden Gästen vom vorigen Abend zu Hilfe geführt, waren sehr einfach. Das verlorene Boot war von Fischersleuten aus Port-Erin, die dasselbe sofort als das des Doctors erkannt und augenblicklich einen Boten nach seinem Hause abgesandt hatten, auf der westlichen Seite der Insel auf dem Meere gefunden worden. Der Bericht des Boten von dem, was sich ereignet, hatte Mr. Hawbury natürlich mit Besorgniß für Allan’s und seines Freundes Sicherheit erfüllt. Er hatte unverzüglich Beistand gesucht und war, dem Rathe der Bootsleute folgend, zuerst nach der gefährlichsten Stelle an der Küste geeilt —— der einzigen Stelle, an der bei so ruhigem Wetter einem Boote, das von erfahrenen Männern geführt wurde, möglicherweise ein Unfall zustoßen konnte —— nämlich dem Kanal des Sundes. Nachdem er in dieser Weise seine willkommene Ankunft auf dem Schauplatze erklärt, bestand der Doctor in seiner Gastfreundschaft darauf, daß seine Gäste vom vorigen Abend auch an diesem Morgen wieder seine Gäste würden. Er erklärte, es werde für die Leute im Gasthofe zu früh sein, um sie aufzunehmen, und sie würden Betten und Frühstück in seinem, Mr. Hawbury’s, Hause bereit finden.

Bei der ersten Pause in der Unterhaltung zwischen Allan und dem Doktor berührte Midwinter, der weder an dem Gespräch theilgenommen, noch dasselbe angehört hatte, den Arm seines Freundes. »Fühlst Du Dich besser?« frug er flüsternd. »Wirst Du Dich bald hinlänglich gefaßt haben, um mir das zu erzählen, was ich zu wissen wünsche?«

Allan runzelte ungeduldig die Stirn; der Traum, sowie die Hartnäckigkeit, mit der Midwinter immer wieder auf denselben zurückkam, schienen ihm beide gleich zuwider zu sein. Er antwortete kaum mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit »Ich werde wohl keine Ruhe haben, bis ich es Dir erzähle«, sagte er; »darum will ich es lieber sogleich thun.«

»Nein!« erwiderte Midwinter mit einem Blicke auf den Doctor und dessen Ruderer »Nicht, wo Du von Andern gehört werden kannst —— nicht eher, als bis wir allein sind.«

»Wenn Sie noch einen letzten Blick aus Ihr Nachtquartier zu werfen wünschen, meine Herren«, sagte der Doctor, »so ist es gerade noch Zeit! In einer Minute wird die Küste uns das Schiff entziehen.«

Beide Armadales warfen schweigend einen letzten Blick auf das unglückselige Schiff. Einsam und verloren hatte das Wrack in der geheimnißvollen Sommernacht dagelegen, als sie es gefunden. Einsam und verloren lag dasselbe jetzt in der glänzenden Pracht des Sommermorgens, da sie es verließen.

Eine Stunde später hatte der Doctor seine Gäste auf ihre Schlafgemächer geführt, damit sie bis zur Frühstücksstunde einigermaßen der Ruhe genössen.

Kaum hatte er den Rücken gewandt, als die Thüren beider Zimmer leise geöffnet wurden und Allan und Midwinter einander im Corridor begegneten.

»Kannst Du schlafen, nach alledem, was sich zugetragen hat?« frug Allan.

Midwinter schüttelte den Kopf. »Du warst im Begriff, nach meinem Zimmer zu kommen, nicht wahr?« sagte er. »Weshalb?«

»Ich wollte Dich um Deine Gesellschaft bitten. Weshalb kamst Du nach dem meinigen?«

»Um Dich zu bitten, mir Deinen Traum zu erzählen.«

»Der Henker hole den Traum! Ich wünsche ihn zu vergessen.«

»Aber ich wünsche ihn zu hören«

Beide schwiegen; beide unterließen es instinktmäßig noch ein Wort zu sagen. Zum ersten Male seit dem Anfange ihrer Freundschaft drohte Uneinigkeit zwischen ihnen auszubrechen —— und zwar wegen eines Traumes. Allan’s sanftes Temperament verhütete dies noch zu rechter Zeit.

»Du bist der halsstarrigste Bursche, der mir je vorgekommen ist«, sagte er, »aber Du verlangst es einmal zu hören vermuthlich mußt Du es hören. Komm in mein Zimmer, und ich will Dir’s erzählen.«

Er ging voran und Midwinter folgte ihm. Die Thür schloß sich hinter ihnen und sie waren mit einander allein.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte