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Armadale



Erstes Kapitel.

Es fragt sich, ob es auf dem ganzen bewohnten Erdballe einen Ort gibt, der dem neugierigen Reisenden so wenig Interessantes bietet, wie die Stadt Castletown, welche Allan und Midwinter jetzt durchwanderten. Um mit dem Strande den Anfang zumachen, so gab es dort einen inneren Hafen zu sehen, mit einer Zugbrücke welche die Schiffe durchließ; einen äußeren Hafen, der mit einem zwerghaften Leuchtthurme endete; eine flache Küstenansicht zur Rechten und eine flache Küstenansicht zur Linken. In der Einöde der inneren Stadt stand ein plumpes graues Gebäude, welches »das Schloß« genannt wurde; außerdem ein Denkstein, der einem gewissen Gouverneur Smelt gewidmet war und dessen obere Fläche offenbar bestimmt war, eine Statue zu tragen, doch keine Statue trug. Außerdem gab es eine Kaserne, welche die der Insel zugetheilte halbe Compagnie Soldaten beherbergte und an deren einsamer Thür eine einzige Schildwache melancholisch auf und ab wankte. Die vorherrschende Farbe der Stadt war ein mattes Grau. Zwischen den wenigen offenen Verkaufsläden sah man hier und da andere, welche geschlossen waren, nachdem die Inhaber sie in Verzweiflung aufgegeben hatten. Das langweilige Umherschlendern von Bootsleuten am Lande war hier von einer dreifachen Langweiligkeit; die jungen Leute der Nachbarschaft rauchten zusammen in stummer Niedergeschlagenheit an der vor dem Winde geschützten Seite einer verfallenen Mauer; die zerlumpten Kinder sagten mechanisch »Geben Sie uns einen Penny«, und versanken, noch ehe die mildthätige Hand die großmüthige Tasche zu durchsuchen vermochte, wieder in menschenfeindliche Zweifel an der menschlichen Natur, die sie angefleht hatten. Grabesstille lag über dem Friedhofe und füllte diese elende Stadt. Nur ein einziges erfreulich aussehendes Gebäude erhob sich trostbringend in der Wüstenei jener grausigen Straßen. Von den Studenten des benachbarten König-Wilhel-Collegs frequentiert, war dieses Gebäude natürlicherweise dem Dienste eines Conditors gewidmet. Hier gab es wenigstens hinter den Fenstern etwas für den Fremden zu sehen; denn hier saßen auf hohen Sesseln die Schüler des Collegs mit baumelnden Beinen und langsam kauenden Kinnladen und verschlangen in der fürchterlichen Stille von Castletown mit ernsten Mienen ihre Kuchen.

»Mich soll der Henker holen, wenn ich noch länger die Jungen und die Kuchen anzugaffen im Stande bin!« rief Allan, seinen Freund von der Conditorei hinweg zerrend »Laß uns sehen, ob wir in der nächsten Straße nichts Unterhaltenderes finden können.«

Der erste unterhaltende Gegenstand in der nächsten Straße war der Laden eines Bildhauers und Vergolders, der eben im letzten Stadium commerciellen Verfalls den Geist aushauchte Auf dem Ladentische im Innern war nichts weiter zu sehen als der Kopf eines Knaben, der in der ungestörten Stille des Ortes friedlich schlummernd dalag. Im Fenster erblickte der vorübergehende Fremde drei arg von den Fliegen heimgesuchte kleine Bilderrahmen, einen in Folge langer Vernachlässigung mit Staub bedeckten Zettel, welcher ankündigte, daß das Haus zu vermiethen sei, und einen einzigen colorirten Kupferstich, den letzten einer Reihe von Bildern, welche nach den gewaltigsten Mäßigkeitsgrundsätzen die Gräuel der Trunkenheit - illustrierten. Die Composition, welche eine leere Branntweinflasche, eine geräumige Dachkammer, einen Bibelvorleser und eine vor ihm aus dem Boden liegende, sterbende Familie darstellt« suchte die Gunst des Publikums unter dem völlig untadelhaften Titel »Die Hand des Todes.« Allan’s Entschlossenheit, der Stadt Castletown einige Unterhaltung abzugewinnen, hatte vielem widerstanden; doch jetzt ließ dieselbe ihn endlich im Stich. Er schlug daher einen Ausflug nach einem andern Orte vor. Da Midwinter ihm bereitwillig beistimmte, kehrten sie nach dem Gasthofe zurück, um sich Auskunft geben zu lassen. Dank der entgegenkommenden Vertraulichkeit Allan’s einerseits und seinem völligen Mangel an Klarheit bei seinen Fragestellungen andrerseits sahen sich die beiden Fremden von Auskunft förmlich überfluthet, und zwar von Auskunft, die sich auf alles, nur nicht auf den Gegenstand bezog, der sie nach dem Gasthofe geführt hatte. Sie machten verschiedene interessante Entdeckungen in Bezug auf die Gesetze und die Constitution der Insel Man und die Sitten und Bräuche der Eingeborenen. Zu Allan’s großem Entzücken sprachen die Manxianer von England wie von einer wohlbekannten nahe gelegenen Insel, die sich in gewisser Entfernung von dem centralen Kaiserreiche der Insel Man, befinde. Es ward den beiden Engländern ferner offenbart, daß dieses glückliche kleine Volk sich seiner eigenen Gesetze erfreue, welche alljährlich einmal durch den Gouverneur und die beiden Oberrichten in entsprechendem Costüme auf dem Gipfel eines alten Hügels öffentlich bekannt gemacht wurden. Im Besitze dieser beneidenswerthen Institution genoß die Insel noch den unschätzbaren Segen eines eigenen Parlaments, das »Haus der Schlüssel« genannt, welches vor jenem andern Parlamente auf der benachbarten Insel den Vortheil voraus hatte, daß die Mitglieder sich ohne das Volk behalfen und sich feierlichst gegenseitig erwählten. Mit diesen und vielen andern Neuigkeiten, die er von allen möglichen Arten von Leuten innerhalb und außerhalb des Gasthofs gesammelt, verkürzte Allan sich auf seine eigene unstäte Weise die Zeit, bis das Geplauder eines natürlichen Todes starb und Midwinter, der sich inzwischen bei Seite mit dem Wirthe unterhalten hatte, ihn ruhig an den in Frage stehenden Gegenstand erinnerte. Midwinter hatte in Erfahrung gebracht, daß die schönste Küstengegend der Insel nach Westen und Süden gelegen sei und daß sich in jenen Regionen ein Fischerdorf befinde, Port-St.-Mary genannt, das sich eines Gasthofes zu rühmen habe, in welchem Reisende übernachten könnten. Wenn Allan’s Eindrücke von Castletown ihn noch zu einem Ausfluge nach einem andern Orte geneigt machten, so dürfe er dies nur sagen und es solle ihm augenblicklich ein Fuhrwerk zu Gebote stehen. Allan griff mit beiden Händen zu, und in zehn Minuten befand er sich mit Midwinter auf der Fahrt nach den westlichen Einöden der Insel.

In dieser Weise war der Tag nach Mr. Brock’s Abreise bis hierher verstrichen, ohne daß sich andere als ganz unbedeutende Ereignisse zugetragen —— so unbedeutende Ereignisse, daß selbst Midwinter’s ängstliche Wachsamkeit nichts in denselben zu erblicken vermochte, und so blieb es bis der Abend kam —— ein Abend, den wenigstens der eine der beiden Gefährten bis zu seinem letzten Lebenstage nicht vergessen sollte.

Ehe die Reisenden noch zwei Meilen ihres Weges zurückgelegt hatten, ereignete sich ein Unfall. Das Pferd stürzte und der Fuhrmann erklärte, daß dasselbe ernstlich verletzt sei. Es blieb ihnen daher keine andere Wahl, als entweder ein anderes Fuhrwerk aus Castletown kommen zu lassen oder den Weg nach Port-St.-Mary zu Fuße fortzusetzen. Sie entschlossen sieh zu Letzterem und waren noch nicht weit gegangen, als sie von einem Herrn eingeholt wurden, welcher allein in einer offenen Chaise fuhr. Derselbe stellte sich ihnen höflich als einen Arzt vor, der in unmittelbarer Nähe von Port-St.-Mary wohne, und bot ihnen Plätze in seinem Wagen an. Stets zu neuen Bekanntschaften bereit, nahm Allan sofort die Einladung an. Er und der Doctor, dessen Name, wie sich bald ergab, Hawbury war, wurden freundschaftlich vertraut, als sie noch keine fünf Minuten im Wagen gesessen hatten, während Midwinter zurückhaltend und schweigend hinter ihnen saß. Vor dem Hause des Doctors schieden sie von einander, indem Allan laut die hübschen französischen Fenster des Doctors und dessen zierlichen Blumengarten und Rasen bewunderte und ihm beim Abschied die Hand drückte, wie wenn sie einander seit frühester Kindheit gekannt hätten. In Port-St.-Mary angelangt, sahen die beiden Freunde sich in einem zweiten Castletown in verjüngtem Maßstabe. Aber die umliegende Gegend —— wild, offen und hügelig —— war ihres Rufes würdig. Ein Spaziergang half ihnen über einen guten Theil des Tages hinweg; es war noch immer der harmlose, müßige Tag, der es von Anfang an gewesen. Endlich rückte der Abend heran. Sie warteten noch eine Weile, um die Sonne zu bewundern, welche majestätisch hinter Hügel, Haide und Felsenriff ins Meer hinabsank, während sie sich von Mr. Brock und seiner langen Heimreise unterhielten; dann kehrten sie ins Hotel zurück, um ihr frühes Nachtessen zu bestellen. Immer näher und näher rückte die Nacht heran und mit ihr ein Abenteuer für die beiden Freunde, während doch ihre bisherigen Erlebnisse noch immer ein solches Abenteuer nicht ahnen ließen, sondern höchstens lächerlicher Natur waren. Das Nachtessen war schlecht zubereitet, und die Aufwärterin von einer unaussprechlichen Dummheit; der altmodische Glockenzug im Gastzimmer war, als Allan geschellt, abgerissen und hatte im Herunterfallen eine bemalte Porzellan-Schäferin getroffen und dieselbe in Scherben auf den Boden geworfen. Dieser Art waren die Ereignisse gewesen, als das Zwielicht erlosch und Kerzen ins Zimmer gebracht wurden.

Da Allan seinen Freund Midwinter nach der doppelten Strapaze einer schlaflosen Nacht und eines Unruhigen Tages wenig zur Unterhaltung aufgelegt fand, ließ er ihn auf dem Sofa ruhen und ging in die Hausflur, in der Hoffnung, dort Jemanden zu entdecken, mit dem er sich unterhalten könne. Hier führte ein abermaliges unbedeutendes Ereigniß Allan mit Mr. Hawbury zusammen und half —— ob zum Glücke oder nicht, dies sollte sich erst zeigen —— die Bekanntschaft zwischen ihnen befestigen.

Die Schenkstube des Wirthshauses befand sich an dem einen Ende der Hausflur, und in derselben war die Wirthin beschäftigt, ein Glas Grog für den Doctor zu bereiten, der soeben hereingekommen war, ein wenig zu Plaudern. Da Allan um Erlaubniß bat, beim Plaudern und Trinken der Dritte sein zu dürfen, reichte Mr. Hawbury ihm höflich das Glas, welches die Wirthin soeben gefüllt hatte. Dasselbe enthielt kalten Grog. Eine auffallende Veränderung in Allan’s Gesichte, wie er plötzlich zurücktrat und sich statt dessen Whisky ausbat, entging dem Auge des Arztes nicht. »Eine nervöse Antipathie«, sagte der Dotter, indem er das Glas ruhig für sich nahm. Diese Bemerkung nöthigte Allan zu dem Bekenntniß daß er einen unüberwindlichen Ekel gegen den Geruch und Geschmack von Rum habe, und er war thöricht genug, sich dessen ein wenig zu schämen. Mit welcher andern Flüssigkeit dieses Getränk auch immer vermischt sein mochte —— seine Geruchs- und Geschmacksorgane entdeckten dasselbe augenblicklich, und die bloße Berührung der Mischung mit seinen Lippen verursachte ihm eine tödtliche Uebelkeit. Von diesem Bekenntnisse ausgehend, wandte das Gespräch sich dem Gegenstande der Antipathien im Allgemeinen zu, und der Doctor bekannte seinerseits, daß er ein berufsmäßiges Interesse an dem Gegenstande nehme und zu Hause einige merkwürdige Illustrationen desselben besitze, die sein neuer Bekannter, falls er diesen Abend nichts Besseres zu thun habe und in einer Stunde etwa, nachdem die Berufspflichten des Doctors zu Ende seien, nach seinem Hause kommen wolle, dort in Augenschein nehmen könne.

Nachdem er die Einladung zugleich im Namen Midwinter’s mit Herzlichkeit angenommen hatte, kehrte Allem in das Gastzimmer zurück, um sich nach seinem Freunde umzuschauen. Midwinter lag noch immer halb wach halb schlafend auf dem Sofa und die Ortszeitung entfiel eben seiner matten Hand.

»Ich hörte Deine Stimme in der Hausflur«, sagte er schläfrig. »Mit wem unterhieltest Du Dich?«

»Mit dem Doctor«, erwiderte Allan. »Ich soll in einer Stunde eine Cigarre bei ihm rauchen. Willst Du mitkommen?«

Midwinter willigte mit einem milden Seufzer ein. Von Natur allen neuen Bekanntschaften abgeneigt, trug seine Müdigkeit noch zu dem Widerstreben bei, mit dem er die Einladung des Doctors annahm. Doch wie die Sachen standen, blieb ihm nichts weiter übrig als zu gehen, denn bei Allan’s constitutioneller Unvorsichtigkeit war es nicht gerathen, ihn irgendwo allein hingehen zu lassen, und namentlich nicht nach dem Hause eines Fremden. Mr. Brock hätte seinen Zögling sicherlich nicht allein zu dem Fremden gehen lassen, und Midwinter war sich noch immer ängstlich bewußt, daß er Mr.. Brocks Stelle einnehme.

»Was sollen wir anfangen, bis es Zeit ist zu gehen?« frug Allan, um sich blickend. »Giebt’s hier irgendetwas zu lesen?« fügte er hinzu, indem er die Zeitung erblickte und dieselbe vom Boden aufnahm.

»Ich bin zu müde, um nachzusehen. Wenn Du etwas findest, lies es vor«, sagte Midwinter, indem er dachte, das Lesen werde ihn vielleicht wach erhalten.

Ein Theil der Zeitung, und zwar ein nicht geringer Theil derselben, war Auszügen aus kürzlich in London erschienenen Büchern gewidmet. Eins der Werke, welches die beträchtlichste Beisteuer hierzu lieferte, war von der Art, um Allan’s besonderes Interesse zu erwecken, denn es war eine höchst pikante Erzählung von Reiseabenteuern in den Wildnissen von Australien, welche die Leiden der Reisenden schilderte, die sich in der pfadlosen Wildniß verirrt und in Gefahr waren, vor Durst umzukommen Allan kündigte seinem Freunde an, daß er etwas gefunden habe, das ihm die Haut schaudern mache, und fing eifrig die Stelle vorzulesen an. Entschlossen, nicht einzuschlafen, folgte Midwinter der Erzählung Satz für Satz, ohne ein Wort zu verlieren. Die Berathschlagung der Verirrten Reisenden, denen Verschmachtungstod entgegenstierte; ihr Entschluß, weiter zu dringen, solange ihre Kräfte noch aushielten, der heftige Regenschauer; ihre vergeblichen Bemühungen, das Regenwasser aufzufangen; die kurze Erquickung, die sie in dem Aussaugen des Wassers aus ihren durchnäßten Kleidern fanden; die erneuten Leiden, welche die nächsten Stunden brachten; das nächtliche Vordringen der Stärksten der Gesellschaft, indem sie die Schwächsten zurückließen, ihr weiterer Marsch bei Tagesanbruch, wobei sie sich von einer Flucht von Vögeln leiten ließen; ihre endliche Entdeckung eines großen Teiches, der ihnen das Leben rettete «— alles dies vermochte Midwinters sinkende Aufmerksamkeit nur noch mit Mühe zu erfassen, indem Allan’s Stimme seinem Ohre mit jedem Satze matter und matter erklang. Bald verschwanden die Worte ganz und gar und es blieb nichts, als der langsam sinkende Ton der Stimme. Dann wurde es vor seinen Augen allmählig finster, der Ton von Allan’s Stimme wich einer köstlichen Stille, und die letzten wachen Eindrücke des müden Midwinter nahmen ein sanftes Ende.

Das nächste Ereigniß, dessen er sich bewußt ward, war ein lautes Schellen an der verschlossenen Hausthür des Wirthshauses. Mit der schnellen Munterkeit eines Mannes, dessen Lebensweise ihn daran gewöhnt hat, in einem Augenblicke wach zu sein, sprang er vom Sofa auf. Ein flüchtiger Blick zeigte ihm, daß das Zimmer leer sei, und als er auf seine Uhr blickte, sah er, daß es fast Mitternacht war. Das Geräusch, welches die schläfrige Magd beim Thür öffnen machte, und die im nächsten Augenblicke folgenden schnellen Schritte in der Hausflur erfüllten ihn plötzlich mit schlimmer Ahnung. Wie er eilig vorschritt, um hinauszugehen und zu sehen, was es gebe, öffnete sich die Thür des Gastzimmers und der Doctor stand vor ihm.

»Es thut mir leid, Sie zu stören«, sagte Mr. Hawbury; »seien Sie unbesorgt, es ist kein Unglück geschehen.«

»Wo ist mein Freund?« frug Mitwinter.

»Am Hafendamm«, antwortete der Doctor. »Ich bin gewissermaßen verantwortlich für das, was er zu thun im Begriff ist, und bin der Ansicht, daß er irgendeine umsichtige Person, wie Sie, bei sich haben sollte.«

Dieser Wink genügte Midwinter. Er und der Doctor begaben sich unverzüglich nach dem Hafendamme, und auf dem Wege dorthin erzählte Mr. Hawbury die Umstände, die ihn nach dem Gasthofe geführt.

Allan hatte sich pünktlich im Hause des Doctors eingestellt und erzählt, er habe seinen milden Freund so fest eingeschlafen auf dem Sofa zurückgelassen, daß er nicht das Herz gehabt habe, ihn zu wecken. Der Abend sei sehr angenehm verstrichen und ihre Unterhaltung habe sich um mancherlei Gegenstände gedreht, bis Mr. Hawbury in einem unglückseligen Augenblicke einen Wink habe fallen lassen, daß er ein großer Freund vom Segeln sei und selbst, ein Vergnügungsboot besitze, welches im Hafen liege. Durch seinen Lieblingsgegenstand augenblicklich in Feuer und Flammen gesetzt, hatte Allan seinem gastfreundlichen Wirthe keine andere Wahl gelassen, als mit ihm nach dem Hafendamme zu gehen und ihm sein Boot zu zeigen. Die Herrlichkeit der Nacht und die sanfte Brise hatten das Uebrige gethan —— sie hatten Allan mit dem unwiderstehlichen Verlangen erfüllt, eine Wasserfahrt bei Mondschein zu machen. Der Doctor, dessen Berufspflichten ihn am Lande zu bleiben nöthigten, hatte, da er nicht gewußt, was er anders anfangen sollte, lieber Midwinter zu stören gewagt, als die Verantwortung übernommen, Mr. Armadale ganz allein um Mitternacht aufs Meer hinaussegeln zu lassen.

Als der Doctor diese Erklärung beendete, waren sie auf dem Hafendamme angelangt. Dort war der junge Armadale wirklich im Boote und spannte die Segel, wobei er aus vollem Halse sein Matrosen-Ahoi-ho sang.

»Komm her, alter Junge!« rief Allan »Du kommst gerade zu rechter Zeit zu einem Mondscheinspaße!«

Midwinter schlug vor, daß der Spaß lieber bei Tage genossen würde und sie sich inzwischen zu Bette verfügten.

»Zu Bett!« rief Allan, auf dessen aufgeregtes Temperament die Gastfreiheit des Doktors jedenfalls keine beruhigende Wirkung geübt hatte. »Hören Sie ihn an, Doctor! Man sollte glauben, er sei neunzig Jahre alt! Zu Bett, Du schläfriges altes Murmelthier! Schau Dir das dort an —— und dann denke noch ans Bett, wenn Du kannst!«

Er deutete auf das Meer. Der Mond stand hell an dem wolkenlosen Himmel; der Nachtwind wehte lau und sicher vom Lande her; das friedliche Wasser kreuselte sich lustig in der stillen Herrlichkeit der Nacht. Midwinter wandte sich mit weiser Ergebung in die Umstände zum Doctor; er hatte genug gesehen, um zu wissen, daß alle Gegenvorstellungen weggeworfen sein würden.«

»Wie ist die Fluth?« fragte er.

Der Doctor sagte es ihm.

»Sind die Ruder im Boote?«

Ja.

»Ich bin ans Wasser gewöhnt«, sagte Midwinter, die Hafentreppe hinuntersteigend »Sie dürfen mir die Obhut über meinen Freund und Ihr Boot anvertrauen.«

»Gute Nacht, Doctor!« rief Allan. »Ihr Whisky ist vortrefflich, Ihr Boot ist eine wahre Pracht, und Sie sind der beste Bursch, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin!«

Der Doctor lachte und schwenkte die Hand zum Gruße; das Boot glitt aus dem Hafen, indem Midwinter steuerte.

Die Brise brachte sie bald dem westlichen Vorgebirge gegenüber, welches die Bucht von Poolvash bildet, und es erhob sich die Frage, ob sie ins Meer hinaus oder an der Küste entlang segeln sollten. Das weiseste Verfahren für den Fall, daß der Wind sie, im Stiche ließ, war das Letztere Midwinter veränderte deshalb den Curs des Bootes und sie segelten glatt in südwestlicher Richtung der Küste gegenüber dahin.

Allmählig erhoben sich die Felsenklippen höher und immer höher, wilder und rauher, und zeigten auf der Seeseite gähnende, schwarze Abgründe Auf der Höhe des kühn emporragenden Vorgebirges Spanish-Head sah Midwinter bedeutungsvoll auf seine Uhr; doch Allan flehte um noch eine halbe Stunde, um den berühmten Sundkanal erblicken zu können, dem sie sich jetzt mit großer Schnelligkeit näherten und über den er von den Leuten, die auf seiner Jacht arbeiteten, erstaunliche Geschichten gehört hatte. Die neue Veränderung im Curse des Bootes, die Midwinter’s Einwilligung nothwendig machte, brachte dasselbe scharf vor den Wind und gewährte ihnen auf der einen Seite den großartigen Anblick der Südküste der Insel Man und auf der andern den der schwarzen Felsenabhänge der kleinen Insel, die das »Kalb« genannt und durch den dunkeln und gefährlichen Sundkanal vom Festlande getrennt wird.

Midwinter sah nochmals nach der Uhr. »Wir sind weit genug gesegelt«, sagte er. »Lege das Segel um!«

»Halt!« rief Allan vom Bug des Bootes. »Gerechter Gott! Hier liegt ein Wrack gerade vor uns!«

Midwinter ließ das Boot ein wenig abfallen und schaute nach der Stelle hin, welche der Andere ihm zeigte.

Dort, auf halbem Wege zwischen den Felsengrenzen zu beiden Seiten des Sundes gestrandet, lag, um sieh nie wieder aus seinem Grabe auf dem unterseeischen Felsen zu dem lebendigen Wasser zu erheben, verlassen und einsam in der stillen Nacht, hoch und düster und gespenstisch im gelben Mondscheine das Wrack.

»Das Schiff kenne ich«, rief Allan in großer Aufregung. »Ich hörte meine Zimmerleute gestern von demselben sprechen. Es ward in einer stockfinsteren Nacht hier herein getrieben, da sie die Lichter nicht zu sehen im Stande waren. Ein armer verwitterter alter Kauffahrer, Midwinter, den die Makler gekauft haben, um ihn abzubrechen. Laß uns hinein segeln und ihn in Augenschein nehmen.«

Midwinter zauderte. Die alte Seelust in ihm trieb ihn mächtig, Allan’s Vorschlage zu folgen, aber der Wind fing an zu fallen, und er mißtraute dem unruhigen Gewässer und den Wirbelströmen des vor ihnen liegenden Kanals »Dies ist eine häßliche Stelle für Segler, die nicht vertraut mit derselben sind«, bemerkte er.

»Unsinn!« rief Allan »Es ist so hell wie am Tage, und wir haben hier zwei Fuß Wasser.«

Ehe Midwinter noch antworten konnte, ergriff eine Strömung das Boot und zog dasselbe in den Kanal hinein, gerade dem gestrandeten Schisse zu.

»Zieh’ das Segel ein«, sagte Midwinter ruhig, »und lege die Ruder ein. Wir werden jetzt schnell genug zum Wrack hinuntergetrieben, ob es uns nun gefällt oder nicht.«

Da sie sich beide auf die Handhabung des Ruders verstanden, brachten sie das Boot bald hinlänglich in ihre Gewalt, um es in dem ruhigsten Theile des Kanals zu erhalten, das heißt auf derjenigen Seite, die sich der Insel »Kalb« zunächst befand. Als sie schnell an das Wrack herantrieben, übergab Midwinter sein Ruder an Allan und schlug, den Augenblick wohl abpassend, den Boothaken in die Vorderketten des Schiffes ein. Im nächsten Augenblicke hatten sie das Boot sicher unter dem Lee des Schiffes in ihrer Macht.

Die Schiffsleiter, deren die Arbeitsleute sich bedienten, hing über der Vorderkette herab. Midwinter stieg dieselbe hinan, indem er ein Ende des Bootstaues zwischen den Zähnen hielt, befestigte dieses und ließ das andere zu Allan ins Boot hinab. »Befestige jenes Ende«, rief er, »und warte bis ich nachgesehen, ob an Bord alles sicher ist.« Mit diesen Worten verschwand er hinter dem Bollwerk.

»Warten?« wiederholte Allan in unverhohlenem Erstaunen über die übertriebene Vorsicht seines Freundes. »Was in aller Welt will er damit sagen? Mich soll der Henker holen, wenn ich warte; wo der Eine von uns hingeht, dorthin geht auch der Andere!«

Er schlug das lose Ende des Taues um das vordere Querholz des Bootes und stand, indem er sich gewandt die Leiter hinaufschwang, im nächsten Augenblicke aus dem Verdeck »Befindet sich irgendetwas Fürchterliches an Bord?« frug er spöttisch, als er seinem Freunde begegnete.

Midwinter lächelte. »Durchaus nicht«, erwiderte er. »Aber ich konnte nicht gewiß wissen, daß wir das Schiff ganz für uns haben würden, bis ich über das Bollwerk stieg und nachsah.«

Allan ging einmal um das Verdeck herum und betrachtete das Wrack mit kritischen Blicken vom Bug bis zum Spiegel.

»Kein großes Wunder von einem Schiff«, bemerkte er. »Die Franzosen verstehen sich sonst besser auf den Schiffbau.«

Midwinter kam über das Verdeck zu ihm herüber und betrachtete ihn einige Augenblicke schweigend.

»Die Franzosen?« wiederholte er nach einer Pause. »Ist dies ein französisches Schiff?«

»Ja.«

»Woher weißt Du dies?«

»Die Leute, die an Bord meiner Jacht arbeiten, haben es mir gesagt Sie kennen es sehr genau.«

Midwinter kam ein wenig näher. Allan glaubte in Midtwinter’s Gesicht eine unerklärliche Blässe im Mondlichte wahrzunehmen.

»Erwähnten sie, wozu es bestimmt war?«

»Ja. Zum Holzhandel.«

Wie Allan diese Antwort gab, packte Midwinters hagere braune Hand ihn fest bei der Schulter, und Midwinter’s Zähne klapperten wie die eines Mannes, der von einem plötzlichen Frost ergriffen wird.

»Sagten sie Dir auch seinen Namen?« frug er mit einer Stimme, die plötzlich bis zum Flüsterton herabsank.

»Ich glaube, ja. Aber derselbe ist mir entfallen. —— Sachte, mein alter Junge, Deine langen Krallen packen meine Schulter ein wenig zu fest.«

»War der Name ——?« Er hielt inne, ließ Allan’s Schulter los und strich die großen Tropfen weg, die auf seine Stirn getreten waren. »War der Name etwa La Gráce de Dieu?«

»Wie, zum Henker, kommst Du dazu, ihn zu wissen? Allerdings ist das der Name. La Gráce de Dieu.«

Midwinter war mit einem einzigen Satze auf dem Bollwerke des Wracks.

»Das Boot!!« schrie er mit einem Angstrufe, der weit durch die Stille der Nacht drang und Allan augenblicklich an seine Seite brachte.

Das untere Ende des nachlässig befestigt gewesenen Taus schwamm lose auf dem Wasser, und vor ihnen im hellen Mondscheine schwebte ein kleiner schwarzer Gegenstand, bereits so ferne, daß sie ihn kaum noch zu sehen vermochten. Das Boot war den Wellen preisgegeben.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Midwinter hatte sich in den dunklen Schatten des Bollwerks zurückgezogen, während Allan dreist in das gelbe Licht des Mondes hinausgetreten war. So standen die beiden Freunde auf dem Verdeck des Holzschiffes einander gegenüber und blickten sich gegenseitig schweigend an. Im nächsten Augenblicke aber erfaßte Allans unverwüstliche Sorglosigkeit mit Gewalt die komische Seite ihrer Lage. Er setzte sich rittlings auf das Bollwerk und brach in sein lautestes und herzlichstes Gelächter aus.

»Alles meine Schuld«, rief er; »aber es ist jetzt nicht zu ändern. Hier sitzen wir, sicher und fest in einer selbst gelegten Falle —— und dort treibt das Boot des Doctors dahin! Komm aus Deinem Dunkel heraus, Midwinter, ich kann Dich dort kaum sehen. Uebrigens möchte ich wissen, was zunächst geschehen muß.«

Midwinter regte sich nicht; keine Antwort erfolgte. Allan aber verließ das Bollwerk, stieg das Vordercastell hinan und sah aufmerksam in das Wasser des Sundes hinunter.

»Eines ist ziemlich gewiß«, sagte er. »Da wir die Strömung auf der einen und die Klippen auf der andern Seite haben, ist auf ein Entkommen durch Schwimmen jedenfalls nicht zu rechnen. Und damit sind unsere Aussichten auf dieser Seite des Wracks zu Ende. Jetzt laß sehen, wie sich die Sache auf der andern Seite anläßt Muth, Kamerad!« rief er fröhlich, indem er an Midwinter vorüberging. »Komm mit und laß uns nachsehen, was diese alte Tonne von einem Holzschiffe im Spiegel aufzuweisen hat.« Mit diesen Worten schlenderte er, die Hände in die Taschen steckend und den Chor eines komischen Liedes vor sich hinsummend, weiter.

Seine Stimme hatte dem Anscheine nach keinen Eindruck auf seinen Freund gemacht; doch wie er ihn im Vorübergehen leicht mit der Hand berührte, zuckte Midwinter zusammen und trat langsam aus dem Schatten des Bollwerks heraus. »Komm mit!« rief Allan, einen Augenblick seinen Gesang unterbrechend und sich umsehend. Der Andere folgte ihm, noch immer ohne ein Wort zu erwidern. Dreimal stand er still, ehe er das Spiegelende des Wracks erreichte; das erste Mal, um seinen Hut von sich zu werfen und sich das Haar aus der Stirn und von den Schläfen zurückzustreichen; das zweite Mal, weil er taumelte und sich einen Augenblick an einem nahe zur Hand befindlichen Ringbolzen festzuhalten genöthigt war; das dritte Mal, um mit dem verstohlenen Spähen eines Menschen, welcher im finsteren von andern Schritten verfolgt zu werden wähnt, hinter sich zu blicken. »Noch nicht!« flüsterte er sich zu, während seine Augen forschend durch die leere Luft schweiften. »Ich werde ihn im Spiegel sehen, wie er die Hand aus die Klinke der Kajütenthür legt.«

Das Spiegelende des Wracks war von dem Gerümpel gesäubert, das die Arbeiter, welche das Schiff abbrachen, in jedem andern Theile desselben haufenweise zurückgelassen hatten. Der einzige Gegenstand, der hier auf der ebenen Fläche des Verdecks ins Auge fiel, war das niedrige hölzerne Häuschen, in dem sich die Kajütenthür befand und welches das Dach der Kajütentreppe bildete. Das Rudergehäuse und das Kompaßhäuschen waren abgebrochen; aber der Kajüteneingang und alles, was zu demselben gehörte, war noch unangerührt geblieben. Die Springluke war herabgelassen und die Thür geschlossen.

Auf dem Hintertheile des Schiffs angelangt, schritt Allan geradeswegs dem Spiegel zu und schaute über das Hackebord auf das Meer hinaus. Ringsum auf den stillen mondbeleuchteten Gewässer, war nirgends ein Boot zu erblicken. Da er wußte, daß Midwinter besser in die Ferne sehe als er, rief er ihm zu: »Komm hier heraus und schau’ aus, ob irgendwo innerhalb Hörweite von uns ein Fischer zu sehen ist.« Als er keine Antwort erhielt, sah er sich um Midwinter war ihm bis zur Kajüte gefolgt und dort still gestanden. Er ries abermals und mit lauterer Stimme und winkte ihm ungeduldig zu. Midwinter hatte ihn gehört, denn er blickte auf, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren. Dort stand er, wie wenn er an den äußersten Grenzen des Schiffs angelangt und nicht weiter zu gehen im Stande gewesen wäre.

Allan ging zu ihm zurück. Es war nicht leicht zu entdecken, worauf seine Augen gerichtet waren, denn er hielt das Gesicht vom Mondlichte abgewendet; doch hatte es den Anschein, als ob seine Blicke mit einem seltsam forschenden Ausdruck auf die Kajütenthür geheftet seien. »Was giebt es dort?« frug Allan. »Laß sehen, ob die Thür verschlossen ist.« Aber sowie er einen Schritt vorwärts that, um die Thür zu öffnen, packte Midwinters Hand ihn plötzlich am Rockkragen und schob ihn zurück. Im nächsten Augenblicke ließ die Hand, ohne ihn jedoch fahren zu lassen, in der Heftigkeit ihres Griffes nach und zitterte, wie die Hand eines Menschen, dem alle seine Kräfte versagten.

»Muß ich mich als einen Arrestanten betrachten?« frug Allan halb erstaunt, halb belustigt. »Warum, in aller Welt, stierst Du fortwährend die Kajütenthür an? Hast Du etwa ein verdächtiges Geräusch dort unten gehört? Es nützt nichts, die Ratten zu stören, wenn Du das etwa meinst; wir haben keinen Hund bei uns. Menschen? Lebendige Menschen können es nicht sein, denn diese würden uns gehört haben und aufs Verdeck gekommen sein. Todte? Ganz unmöglich! In einem von Land umschlossenen Gewässer wie dieses hier würde keine Schiffsmannschaft ertrinken, wenn nicht das Schiff zuvor in Trümmer zerfallen wäre —— und hier ist das Schiff, so fest wie eine Kirche, und kann für sich selber zeugen. Ich bitte Dich, Mensch, wie Deine Hand zittert! Was kann es in jener verfaulten alten Kajüte geben, das Dir eine solche Furcht zu verursachen im Stande ist? Weshalb schauderst und zitterst Du nur so? Giebt es etwa Gesellschaft von der übernatürlichen Sorte an Bord? Der Herr erbarme sich unser! wie die alten Weiber sagen. Siehst Du ein Gespenst?«

»Ich sehe zwei Gespenster!« antwortete der Andere, durch eine wahnsinnige Eingebung, die Wahrheit zu offenbaren, mit Gewalt zum Reden und Handeln getrieben. »Zwei!« wiederholte er mit einem schweren Keuchen, indem er vergebens die fürchterlichen Worte zurückzudrängen versuchte. »Das Gespenst eines Mannes gleich Dir, der in der Kajüte ertrinkt! Und das Gespenst eines Mannes gleich mir, der jenen einschließt!«

Das herzliche Gelächter des jungen Armadale hallte abermals laut und lange durch die Stille der Nacht dahin.

»Der ihn einschließt, wie?« sagte Allan, sobald seine Heiterkeit ihn hinlänglich hatte zu Athem kommen lassen, um zu sprechen. »Das ist ein verwünscht unfreundlicher Streich von Deinem Gespenste, Master Midwinter. Das Wenigste was ich danach thun kann, ist, daß ich das meinige aus der Kajüte heraus und frei auf dem Schiffe umherlaufen lasse.«

Vermittelst einer nur momentanen Anwendung seiner überlegenen Stärke machte er sich leicht von Midwinter’s Hand frei. »Du dort unten!« rief er fröhlich, indem er seine starke Hand auf die wacklige Klinke legte und die Kajütenthür aufriß. »Allan Armadale’s Gespenst, komm aufs Verdeck!« In seiner fürchterlichen Unkenntniß der Wahrheit steckte er den Kopf zur Thür hinein und sah lachend auf die Stelle hinab, wo sein Vater gemordet worden war. »Pah!« tief er, indem er plötzlich mit einem Schaudern des Ekels zurücktrat. »Die Luft ist bereits verpestet und die Kajüte voll Wasser.«

So war es. Die Klippen, auf denen das gestrandete Schiff lag, waren durch die unteren Balken des Spiegels gedrungen und das Wasser durch das geborstene Gebälk hereingeströmt. Hier, an der Stelle, wo die That geschehen, war die unglückselige Parallele zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart vollständig. Dasselbe was die Kajüte zur Zeit der Väter gewesen, war sie auch jetzt zur Zeit der Söhne.

Allan stieß die Thür mit dem Fuße wieder zu und war ein wenig erstaunt über das plötzliche Schweigen seines Freundes seit dem Augenblicke, wo er die Hand auf die Klinke der Kajütenthür gelegt. Als er sich umwandte, erkannte er augenblicklich die Ursache dieses Schweigens. Midwinter war auf dem Verdeck niedergesunken und lag bewußtlos vor der Kajütenthür; sein Gesicht, das nach oben gewendet war, lag blaß und stille, wie das Gesicht eines Todten, im Mondscheine da.

Allan war in einer Sekunde an seiner Seite. Indem er Midwinter’s Haupt auf seine Knie nahm, spähte er vergebens auf dem öden Wrack nach Hilfe umher. Jede solche Aussicht war ihm hier unbarmherzig abgeschnitten »Was soll ich anfangen?« sprach er in der ersten Bestürzung zu sich selber. »Es ist kein Tropfen Wasser in der Nähe, außer dem faulen Wasser in der Kajüte.« Da trieb eine plötzliche Erinnerung die Farbe wieder in sein Gesicht und er zog ein Korbfläschchen aus der Tasche »Gott segne den Doctor dafür, daß er mir dies vor dem Absegeln gab!« rief er inbrünstig aus, indem er seinem Freunde einige Tropfen des ungemischten Whisky, den die Flasche enthielt, einflößte. Das Getränk übte augenblicklich seine Wirkung auf den Bewußtlosen. Er seufzte matt und öffnete langsam die Augen. »Habe ich geträumt?« frug er, mit unsicherem Blicke zu Allan’s Gesicht aufschauend. Seine Augen schweiften höher und begegneten den abgetakelten Masten des Wracks, die sich schwarz und gespenstisch an dem nächtlichen Himmel abzeichneten. Er schauderte bei dem Anblicke derselben zusammen und barg sein Gesicht an Allan’s Knie. »Kein Traum!« murmelte er kummervoll für sich. »O, mein Gott, kein Traum!«

»Du hast Dich den Tag über zu sehr ermüdet«, sagte Allan »und dieses verwünschte Abenteuer hat Dir den Garaus gemacht. Trinke noch ein wenig Whisky, es wird Dir gut thun. Kannst Du allein aufrecht sitzen, wenn ich Dich so gegen das Bollwerk lehne?«

»Warum allein? Warum verläßt Du mich?« frug Midwinter.

Allan deutete zu den Besahnstangen des Wracks hinauf, die noch nicht abgebrochen waren. »Du bist nicht wohl genug, um es hier auszuhalten, bis am Morgen die Arbeitsleute kommen werden«, sagte er. »Wir müssen wo möglich sogleich Mittel und Wege finden, um wieder ans Land zu gelangen. Ich will hinaufsteigen und mich wohl umschauen, um zu entdecken, ob uns eine menschliche Wohnung nahe genug ist, sodaß man unser Rufen hört.«

Selbst während des Augenblickes, in dem er diese wenigen Worte sprach, schweiften Midwinters Augen wiederum argwöhnisch nach der Kajütenthür.

»Geh nicht dort heran!« flüsterte er. »Versuche um Gotteswillen nicht, die Thür zu öffnen!«

»Nein, nein«, erwiderte Allan, ihm nachgebend. »Wenn ich aus dem Takelwerk herabsteige, will ich wieder hierher kommen.« Er sprach diese Worte mit einiger Gezwungenheit, da er zum ersten Male eine gewisse geheime Angst in Midwinters Gesichte wahrnahm, die ihn besorgt machte und die er sich nicht zu erklären vermochte. »Du bist doch nicht böse auf mich?« sagte er mit der ihm eignen einfachen, sanften Gutherzigkeit »Es ist dies alles meine Schuld, das weiß ich wohl, und ich habe mich wie ein roher und thörichter Mensch benommen, indem ich Dich verlachte, da ich hätte sehen sollen, daß Du krank warst. Es thut mir sehr leid, Midwinter. Sei nicht böse auf mich!«

Midwinter erhob langsam den Kopf. Seine Augen ruhten mit einem kummervollen Interesse lange und liebevoll auf Allan’s besorgtem Gesicht.

»Böse?« wiederholte er in seinem leisesten, sanftesten Tone. »Böse auf Dich? O, mein armer Junge, bist Du etwa dafür zu tadeln, daß Du freundlich gegen mich warst, als ich in dem alten westländischen Wirthshause krank lag? Und war ich dafür zu tadeln, daß Deine Freundlichkeit mich mit Dank erfüllte? War es unsre Schuld, daß wir nie an einander zweifelten und daß wir blind zusammen den Weg einschlugen, der uns hierher führen sollte? Die grausame Zeit naht, Allan, wo wir den Tag beklagen werden, an dem wir einander kennen lernten. Gieb mir die Hand, Bruder, am Rande des Abgrundes —— gib mir Deine Hand, solange wir noch Brüder sind.«

Allan wandte sich schnell ab, überzeugt, daß Midwinter’s Geist sich noch nicht von der Erschütterung seiner Ohnmacht erholt habe. »Vergiß den Whisky nicht!« sagte er heiter, indem er in das Takelwerk sprang und zu dem Besahnmast hinaufkletterte.

Es war nach zwei Uhr; der Mond fing zu schwinden an, und die Dunkelheit, die dem Tagesanbruch vorangeht, begann das Wrack zu umhüllen. Hinter Allan, wie er jetzt von der Höhe des Besahnmastes um sich schaute, lag das weite, einsame Meer. Vor ihm befanden sich die niedrigen, schwarzen, falschen Felsen und die kurzen Wellen des Kanals, die sich zornig schäumend in die gewaltige Ruhe des jenseitigen westlichen Oceans stürzten. Zur Rechten, majestätisch vom Wasserrande zurücktretend, zeigten sich die Felsen und Abgründe, zwischen denen die kleinen grasigen Hochebenen lagen; die sanft sich abwärts senkenden Dünen und die aufwärts ziehenden Haidewildnisse der Insel Man. Zur Linken erhoben sich die schroffen Felsenufer der kleinen Insel »Kalb« —— bald sich in schwarze Schlünde spaltend, bald niedrig unterhalb der sich weithin dehnenden Gras- und Haideabhänge dahinlaufend. Weder auf dem einen noch dem andern Ufer war ein Laut vernehmbar oder ein Licht zu erblicken. Die schwarzen Außenlinien der oberen Massen erschienen schattenhaft und undeutlich an dem immer dunkler werdenden geheimnißvollen Nachthimmel; der Landwind war gefallen; die kleinen dem Ufer zueilenden Wellen zogen geräuschlos ihres Wegs; kurz, es war nah und fern kein Laut vernehmbar, außer dem eintönigen Gemurmel des Wassers vor ihm, das durch die grauenvolle Stille drang, in der Land und Meer die Ankunft des neuen Tages erwarteten.

Selbst Allans sorglose Natur empfand das Feierliche des Augenblicks. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn, wie er hinabsah und seinen Freund auf dem Verdeck anrief.

»Ich glaube, ich sehe ein Haus«, sagte er, »rechts auf der Hauptinsel nach uns zu gelegen.« Er spähte, um sicher zu gehen, nochmals nach dem undeutlichen kleinen weißen Flecken in dem grasigen Abhange der Hauptinsel, hinter dem sich matte weiße Streifen hinzogen. »Es sieht wie ein steinernes Haus mit einer Umzäunung aus«, fuhr er fort. »Ich will den Versuch machen und es anrufen.« Er schlang den Arm um einen Reif, um sich festzuhalten, machte ein Sprachrohr aus beiden Händen und ließ dieselben plötzlich, ohne einen Laut von sich zu geben, wieder sinken. »Es ist so fürchterlich stille«, flüsterte er für sich, »ich fürchte mich fast, laut zu rufen.« Abermals sah er auf das Verdeck hinunter. »Ich werde Dich doch nicht erschrecken, Midwinter —— wie?« rief er mit einem unbehaglichen Lachen. Dann richtete er seine Augen noch einmal auf den undeutlichen weißen Gegenstand in dem Grasabhange. »Ich; kann nicht umsonst hier heraufgeklettert sein«, dachte er und bildete dann wieder ein Sprachrohr aus seinen beiden Händen. Diesmal rief er mit der ganzen Kraft seiner Lunge. »Ihr dort, am Ufer!« schrie er, das Gesicht der Hauptinsel zuwendend. »Ahoi — hoi — hoi!«

Der letzte Wiederhall seiner Stimme erstarb und war verklungen. Kein Laut antwortete ihm, ausgenommen das eintönige Gemurmel des vor ihm liegenden Wassers.

Er wandte sich wieder zu seinem Freunde hinunter und sah, wie Midwinters dunkle Gestalt sich aufrichtete und dann auf dem Verdeck auf und ab ging; doch entfernte dieselbe sich, wenn sie sich dem Bug des Wracks zuwandte, nie außer Gesichtsweite der Kajüte und überschritt, in entgegengesetzter Richtung dem Spiegel zugehend, nie die Kajütenthür. »Die Ungeduld drängt ihn, von hier fortzukommen«, dachte Allanz »ich will’s noch einmal versuchen.« Er rief daher nochmals das Land an und zwar, wie es ihm frühere Erfahrungen gelehrt, im höchsten Tone seiner Stimme.

Diesmal antwortete ihm ein anderer Laut als der des murmelnden Wassers. Das Brüllen erschrockener Kühe erscholl aus dem Gebäude auf dem grasigen Abhange und drang weit und melancholisch durch die frühe Morgenstille. Allan wartete und lauschte. Wenn das Gebäude ein Farmhaus war, so mußte die Unruhe unter den Kühen die Leute erwecken. War dasselbe jedoch nur ein Stall, so blieb nichts weiter zu erwarten. Das Brüllen der erschrockenen Thiere erscholl bald lauter, bald leiser —— und es geschah weiter nichts.

»Noch einmal!« sagte Allan, auf die unruhige Gestalt hinabblickend, die dort auf und ab schritt. Er rief zum dritten Male das Land an. Zum dritten Male wartete und lauschte er.

In einem Augenblicke, wo das Gebrüll der Thiere verstummt war, hörte er hinter sich auf dem gegenüberliegenden Ufer des Kanals —— matt und fern hin in der Einsamkeit der Insel »Kalb« —— einen kurzen, scharfen Schall, gleich dem fernen Gerassel eines schweren Thürriegels, welcher schnell zurückgezogen wurde. Er wandte sich augenblicklich nach dieser Richtung und strengte seine Augen an, ob er vielleicht ein Haus erblickte. Die letzten matten Strahlen des schwindenden Mondlichts zitterten hier und dort auf den höchsten Felsen und den steilen Anhöhen, doch über das ganze Land zwischen denselben lag eine tiefe schwarze finsterenis; ausgebreitet, und in dieser finstereniß war das Haus, falls überhaupt ein Haus vorhanden war, nicht sichtbar.

»Ich habe endlich Jemanden geweckt«, rief Allan seinem Freunde ermuthigend zu, welcher Letztere noch immer mit einer seltsamen Gleichgültigkeit gegen alles, was über ihm und um ihn vorging, auf dem Verdeck auf- und ab schritt. »Paß auf, wenn die Antwort kommt!« Und Allan rief, das Gesicht der kleinen Insel zuwendend, abermals laut um Hilfe.

Der Ruf ward nicht beantwortet, wohl aber von einer gellenden, Höhnenden Stimme nachgeahmt —— mit wilderem und immer wilderem Gekreisch, das sich aus der tiefen fernen finsterenis; erhob und eine schauerliche Mischung von menschlicher und thierischer Stimme war. Ein plötzlicher Argwohn schoß durch Allan’s Gehirn, der ihn schwindeln und die Hand erstarren machte, mit der er sich am Takelwerke festhielt. In athemlosem Schweigen schaute er nach der Stelle hin, von der das erste Nachahmen seines Hilferufs erschollen war. Nach einer kurzen Pause ward das Gekreisch wiederholt, und der Schall desselben kam näher. Plötzlich sprang eine schwarze Gestalt, welche die eines Mannes zu sein schien, aus dem Gipfel eines Felsens hervor und tanzte und schrie in dem schwindenden Glanze des Mondlichts. Das Geschrei eines erschrockenen Weibes vermischte sich mit dem des springenden Geschöpfes auf dem Felsen. Ein rother Funke von einem Lichte blitzte durch ein unsichtbares Fenster in die Dunkelheit hinaus. Das heisere Rufen einer Zornigen Männerstimme ward durch das Geschrei hindurch gehört. Eine zweite schwarze Gestalt erschien aus dem Felsen, rang mit der ersteren und verschwand mit dieser in der finstereniß. Das Geschrei wurde immer matter und matter —— das der Frau hörte auf —— die heisere Stimme des Mannes ward noch einmal auf einen Augenblick vernommen, wie dieselbe dem Wrack Worte zurief, die der Entfernung halber unverständlich waren, jedoch offenbar eine Mischung von Wuth und Furcht ausdrückten. Einen Augenblick später ward abermals der Schall des Thürriegels gehört, der rothe Lichtfunke erlosch und die ganze kleine Insel lag wieder ruhig in nächtlichem Schatten da. Das Brüllen der Kühe auf der Hauptinsel hörte auf, erscholl dann noch einmal und verstummte endlich ganz.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Kalt und eintönig wie zuvor drang das ewige Gemurmel der kurzen Wellen durch den weiten, weiten Raum —— der einzige Laut, der noch blieb, während die geheimnißvolle Stille der Morgendämmerung gleich einem Schleier vom Himmel herabsank und das Wrack umhüllte.

Allan stieg vom Besahnmast herunter und kehrte zu seinem Freunde auf dem Verdeck zurück.

»Wir müssen uns gedulden bis die Zimmerleute zur Arbeit kommen«, sagte er, wie er Midwinter auf halbem Wege bei seinem rastlosen Spaziergange begegnete. »Nach dem, was sich ereignet hat, kommt mir’s nicht darauf an zu gestehen, daß ich genug davon habe, das Land anzurufen. Denke nur, daß sich in jenem Hause dort am Ufer ein Wahnsinniger befindet und ich ihn mit meinem Rufen aufgeweckt habe! Schauerlich, nicht wahr?«

Midwinter stand einen Augenblick still und sah Allan mit der Miene eines Menschen an, zu dem man in ganz vertraulicher Weise von Dingen spricht, die ihm völlig fremd sind. Es hatte das Ansehen, als ob er von dem, was sich soeben auf der Insel »Kalb« zugetragen, durchaus gar nichts vernommen habe.

»Außerhalb dieses Schiffes ist nichts schauerlich«, sagte er, »auf demselben aber alles!«

Nachdem er mit diesen seltsamen Worten geantwortet, wandte er sich wieder ab und setzte seinen Spaziergang fort.

Allan nahm die Whiskyflasche auf, die neben ihm auf dem Verdecke lag, und erquickte seine Lebensgeister durch einen Trunk aus derselben. »Dies hier ist etwas an Bord, das nicht schauerlich ist«, entgegnete er munter, indem er den Stöpsel wieder in die Flasche schob. »Und hier ist noch etwas«, fügte er hinzu, indem er eine Cigarre aus seinem Etui nahm und dieselbe anbrannte »Drei Uhr!« fuhr er dann, auf seine Uhr blickend, fort und setzte sich, den Rücken gegen das Bollwerk lehnend, gemüthlich auf dem Verdeck nieder. »Es ist nicht mehr weit vom Tagesanbruch; wir werden bald durch Vogelgezwitscher aufgemuntert werden. Weißt Du, Midwinter, Du scheinst Dich von jener unglückseligen Ohnmacht völlig erholt zu haben. Wie Du draus los marschierst! Komm her und rauche eine Cigarre und mache Dir’s bequem. Was soll das ewige Hin- und Hergetrabe nützen?«

»Ich warte«, sagte Midwinter.

»Wartest! Worauf?«

»Auf das, was entweder Dir oder mir oder uns beiden zustoßen wird, ehe wir dies Schiff verlassen.«

»Mit aller Hochachtung vor Deinem überlegenen Urtheile bin ich doch der Ansicht, lieber Junge, daß sich bereits genug zugetragen hat. Das Abenteuer genügt vollkommen, wie es augenblicklich steht. Eine fernere Entwicklung desselben ist mehr als ich verlange.«

Er erquickte sich abermals durch einen Trunk aus der Whiskyflasche und plauderte, seine Cigarre paffend, auf seine gewohnte leichte Weise fort. »Ich besitze nicht Deine glänzende Einbildungskraft, alter Junge, und hoffe, daß das nächste Ereigniß die Ankunft des Bootes mit den Arbeitsleuten sein wird. Ich vermuthe, daß Deine erstaunliche Phantasie mit Dir durchgegangen ist, während Du ganz allein hier unten warst. Komm! Woran dachtest Du, während ich oben im Besahnmast war und die Kühe ängstigte?«

Midwinter stand plötzlich still. »Gesetzt, ich sagte es Dir?« fragte er seinerseits.

»Gesetzt, Du thätest das?«

Die marternde Versuchung, die Wahrheit zu offenbaren, die durch die unbarmherzige Fröhlichkeit seines Gefährten schon einmal in ihm erweckt worden war, bemächtigte sich Midwinter’s zum zweiten Male. Er lehnte sich im finsteren an die hohe Schiffsseite zurück und blickte schweigend auf Allan’s Gestalt hinab, die gemüthlich auf dem Verdeck ausgestreckt lag. »Entreiße ihn«, flüsterte ein Dämon listig, »dieser Unwissenheit und Unbefangenheit, dieser mitleidslosen Gemüthsruhe. Zeige ihm die Stelle, wo die That begangen ward; lehre ihn dieselbe kennen, wie Du sie kennst, fürchten, wie Du sie fürchtest. Erzähle ihm von dem Briefe, den Du verbrannt, und von den Worten, die kein Feuer zu verzehren vermag und die in diesem Augenblicke in Deinem Gedächtnisse leben. Laß ihn Dein Gemüth sehen, wie dasselbe gestern war, als es Dein sinkendes Vertrauen zu Deinen eigenen Ueberzeugungen wieder erweckte, um auf Dein Leben auf dem Wasser zurückzublicken und Dich durch die glückliche Erinnerung zu trösten, daß Du während all’ Deiner Reisen nie auf dieses Fahrzeug gestoßen bist. Laß ihn Dein Gemüth in seinem gegenwärtigen Zustande sehen, wo das Schiff, bei diesem Wendepunkte Deines Lebens, beim Beginne Deiner Freundschaft mit dem einen Manne unter allen Menschen, den Dein Vater Dich meiden hieß, Dich plötzlich gefangen hat. Gedenke jener Worte des Sterbenden und flüstere ihm dieselben ins Ohr, damit auch er ihrer gedenke:

»Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei, unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist.« So flüsterte der Versucher. Und so stieg der Einfluß des Vaters, gleich einem Gifthauche, aus dessen Grabe empor und vergiftete das Gemüth des Sohnes.

Allan verwunderte sich über das plötzliche Schweigen seines Freundes. Er schaute schläfrig über seine Schulter zurück. »Wieder in Gedanken versunken!« rief er mit einem milden Gähnen.

Midwinter trat aus dem Schatten hervor und näher an Allan heran. »Ja«, sagte er, »ich denke an die Vergangenheit und an die Zukunft.«

»Die Vergangenheit und die Zukunft?« wiederholte Allan, indem er sich’s in einer neuen Lage bequem zu machen suchte. »Was mich betrifft, so bin ich über die Vergangenheit stumm. Es ist dies für mich ein schmerzlicher Gegenstand —— die Vergangenheit heißt augenblicklich so viel, wie der Verlust des von Mr. Hawbury geborgten Bootes. Laß uns von der Zukunft reden. Hast Du Dir etwa eine praktische Ansicht über dieselbe gebildet, wie der liebe alte Brock es nennt? Hast Du die nächste ernste Frage in Erwägung gezogen, die an uns beide bei unserer Rückkehr nach dem Gasthofe herantritt —— die Frage wegen des Frühstücks?«

Nach einem kurzen Zögern trat Midwinter noch einen Schritt näher. »Ich habe an Deine Zukunft und die meinige gedacht«, sagte er; »ich habe an die Zeit gedacht, wo Dein Lebensweg und der meinige weit aus einander liegen werden.«

»Sieh, der Tag bricht an!« rief Allan aus. »Sieh, wie die Masten bereits deutlicher hervortreten! Verzeihe —— was sagtest Du?«

Midwinter antwortete nicht. Der Kampf zwischen dem erblichen Argwohne, der ihn vorwärts trieb, und seiner unbezwinglichen Liebe zu Allan, die ihn zurückhielt, ließ die nächsten Worte auf seinen Lippen ersterben. Er wandte in sprachlosem Schmerze das Gesicht ab. »O, mein Vater!« dachte er. »Es wäre besser gewesen, Du hättest mich an jenem Tage getödtet, da ich an Deiner Brust lag, als daß Du mich leben ließest, um dies zu leiden!«

»Was sagtest Du von der Zukunft?« frug Allan. »Meine Aufmerksamkeit war eben auf den Tagesanbruch gerichtet, deshalb hörte ich es nicht.«

Midwinter bemeisterte seine Bewegung und antwortete. »Du hast mich mit Deiner gewohnten Güte behandelt; sagte er, »indem Du den Plan faßtest, mich mit Dir nach Thorpe-Ambrose zu nehmen. Nach Ueberlegung der Sache bin ich jedoch der Ansicht, daß es besser sein wird, wenn ich mich nicht in einen Ort eindränge, wo man mich nicht kennt und nicht erwartet.« Seine Stimme zitterte, und er schwieg wieder. Je mehr er vor dem Bild des glücklichen Lebens, das er auf diese Weise von sich wies, zurückwich, desto deutlicher stand ihm dasselbe vor der Seele.

Allan dachte augenblicklich an die Mystification, die er sich in Bezug auf den neuen Verwalter gegen seinen Freund erlaubt, als sie mit einander in der Kajüte der Jacht berathschlagt hatten. »Ob er sich’s überlegt hat«, fragte er sich, »und endlich die Wahrheit zu argwöhnen anfängt? Ich will versuchen, es aus ihm herauszubringen. —— Schwatze so viel Unsinn wie Du willst, mein lieber Junge«, erwiderte er, »aber vergiß nicht, daß Du mir versprochen hast, mich in Thorpe-Ambrose als Gutsherr zu sehen und mir Deine Ansicht über den neuen Verwalter zu sagen.«

Midwinter trat plötzlich hart an Allan heran. »Ich rede nicht von Deinem Verwalter oder Deinen Gütern«, sagte er leidenschaftlich; »ich spreche von mir selbst. Hörst Du wohl? Von mir selbst! Ich bin kein passender Gefährte für Dich. Du weißt nicht, wer ich bin.« Ebenso schnell wie er hervorgetreten war, zog er sich wieder in den dunkeln Schatten des Bollwerks zurück. »O Gott, ich kann es ihm nicht sagen«, flüsterte er vor sich hin.

Auf einen Augenblick, doch nur auf einen Augenblick, fühlte Allan sich überrascht« »Weiß nicht, wer Du bist?« Doch schon nach diesen Worten gewann seine gemächliche Gutmüthigkeit wieder die Oberhand. Er nahm die Whiskyflasche vom Boden auf und schüttelte dieselbe bedeutungsvoll »Hör einmal«, sagte er, »wieviel hast Du von dieser Medicin des Doctors eingenommen, während ich oben im Besahnmast saß?«

Der leichte Ton, in dem er zu sprechen fortfuhr, brachte Midwinter außer sich. Er trat wieder ins Licht hinaus und stampfte zornig mit dem Fuße. »Höre mich an!« begann er. »Du weißt nicht die Hälfte der gemeinen Beschäftigungen meines Lebens. Ich bin der Knecht eines Krämers gewesen; ich habe den Laden ausgekehrt und die Fensterläden geschlossen; ich habe Packete in der Stadt ausgetragen und an den Thüren der Kunden auf das Geld für meinen Herrn gewartet.«

»Ich habe nie etwas halb so Nützliches gethan«, erwiderte Allan mit vollkommener Gelassenheit. »Du lieber alter Junge, welch ein fleißiger Bursche Du einst gewesen sein mußt!«

»Ich war einst ein Landstreicher und ein gemeiner Lump«, entgegnete der Andere wüthend; »ich bin ein Acrobat, ein Straßenjunge, ein Zigeunerbursch gewesen! Ich habe mit tanzenden Hunden auf der Landstraße um Kupferpfennige gesungen! Ich habe eine Bedientenlivree getragen und bei Tische aufgewartet! Ich bin ein gewöhnlicher Matrosenkoch und ein Mensch für alles bei einem verhungernden Fischer gewesen! Was hat ein vornehmer Herr in Deiner Stellung mit einem Manne in der meinigen gemein? Kannst Du mich in der Gesellschaft zu Thorpe-Ambrose einführen? Mein Name allein würde schon ein Vorwurf für Dich sein. Denke Dir nur die Gesichter Deiner neuen Nachbarin wenn ihr Diener Ozias Midwinter und Allan Armadale in einem Athem anmeldet! »Er brach in ein gellendes Lachen aus und wiederholte die beiden Namen mit einer verachtungsvollen Bitterkeit des Nachdrucks, die erbarmungslos den Contrast zwischen denselben markierte.

Etwas in dem Klange seines Lachens berührte selbst Allan’s unbekümmerte Natur ein wenig unangenehm. Er richtete sich auf dem Verdeck empor und sprach zum ersten Male in ernstem Tone. »Ein Scherz ist ein Scherz, Midwinter«, sagte er, »solange Du ihn nicht zu weit treibst. Ich erinnere mich, wie Du einmal etwas Aehnliches zu mir sagtest, als ich Dich in Sommersetshire pflegte. Du zwangst mich, Dich zu fragen, ob gerade ich von allen Leuten auf der Welt es verdient habe, daß Du mich zurückwiesest und fern hieltest. Zwinge mich nicht, dies noch einmal zu sagen. Scherze, so viel Du willst, alter Junge, aber in einer andern Weise. Diese Art und Weise thut mir weh.«

So einfach diese Worte waren und so einfach der Ton, in dem sie gesprochen wurden, schienen sie doch augenblicklich eine Veränderung in Midwinter’s Gemüthe hervorzubringen. Seine empfindsame Natur bebte wie bei einer plötzlichen Erschütterung zurück. Ohne ein Wort zu erwidern, schritt er dem Vordertheile des Schiffes zu, setzte sich auf einen Bretterhaufen zwischen den Masten und strich sich in einer gedankenlosen, verdutzten Weise mit der Hand über die Stirn. Obgleich seines Vaters Glaube an ein Verhängniß auch der seinige war; obgleich in seinem Geiste nicht der geringste Zweifel darüber herrschte, daß die Frau, welche Mr. Brock in Sommersetshire gesehen, dieselbe sei, die sich in London das Leben zu nehmen versucht hatte; obgleich das ganze Grauen, das ihn nach dem Durchlesen des Briefes aus Wildbad erfüllt, ihn auch jetzt wieder ergriffen hatte, drang ihm doch die Art und Weise, in der Allan sich auf ihre Freundschaft berief, mit einer Macht ins Herz, die unwiderstehlicher war als selbst die Macht seines Aberglaubens. »Warum sollte ich ihn betrüben?« flüsterte er für sich. »Wir sind hier noch nicht am Ende —— noch lauert jene Frau im Hintergrunde. Warum sollte ich mich ihm widersetzen, da das Unglück einmal geschehen ist und die Warnung zu spät kommt? Was geschehen soll, wird geschehen. Was habe ich mit der Zukunft zu schaffen —— und was er?«

Er kehrte zu Allan zurück, setzte sich an seiner Seite nieder und faßte seine Hand. »Vergieb mir«, sagte er sanft; ich habe Dir zum letzten Male wehe gethan« Und noch ehe es Allan möglich war, hierauf zu antworten, nahm er hastig die Whiskyflasche vom Verdeck auf. »Komm!« rief er mit einer plötzlichen Anstrengung, die Fröhlichkeit seines Freundes nachzuahmen, »Du hast die Medicin des Doctors versucht; warum sollte ich nicht dasselbe thun?«

Allan war entzückt. »Dies nenne ich eine höchst vortheilhafte Veränderung«, sagte er. »Midwinter ist wieder der Alte. Horcht Da sind die Vögel! Sei mir gegrüßt, du lächelnder Morgen!« Er sang die Worte dieses Rundgesanges mit seiner alten fröhlichen Stimme und schlug Midwinter mit seiner gewohnten frohen Herzlichkeit auf die Schulten »Wie ist es Dir gelungen, jene verwünschte Migräne aus dem Kopfe loszuwerden? Weißt Du wohl, daß Du mit Deiner Prophezeihung entweder dem Einen oder dem Andern von uns müsse etwas zustoßen, ehe wir dies Schiff verließen, förmlich unangenehm wurdest?«

»Reiner Unsinn!« erwiderte Midwinter verachtungsvoll. »Ich glaube, mein Kopf hat sich nie ganz wieder erholt, seit ich jenes Fieber hatte; ich habe nun einmal einen Sparren zu viel im Kopfe, wie die Leute zu sagen pflegen. Laß uns von etwas Anderem reden. Von jenen Leuten, denen Du Dein Häuschen vermiethet hast? Ob man sich wohl auf den Bericht des Agenten über die Familie des Majors verlassen kann? Es mag vielleicht außer seiner Frau und seiner Tochter noch eine Dame im Hause sein.«

»Oho!« rief Allan. »Fängst auch Du jetzt etwa an, an Nymphen unter den Bäumen und Courschneidereien im Obstgarten zu denken? Wie? Noch eine Dame, so? Gesetzt, der Familienkreis des Majors hat keine solche auszuweisen? Wir werden jene halbe Krone noch einmal kreiseln lassen müssen, um zu bestimmen —— wer von uns beiden den Vorrang bei Miß Milroy haben soll.«

Diesmal antwortete Midwinter in demselben leichten und sorglosen Tone, den Allan angeschlagen hatte. »Nein, nein«, sagte er; »der Hauswirth des Majors hat das erste Anrecht an die Beachtung der Tochter des Majors. Ich will mich in den Hintergrund zurückziehen und auf die nächste Dame warten, die in Thorpe-Ambrose ankommt.«

»Sehr wohl. Ich will eine dahin gehende Aufforderung an die Frauen von Norfolk im Park anschlagen lassen«, bemerkte AlIan. »Bist Du besonders eigen in Bezug aus Größe und Farbe? Welches ist Dein Lieblingsalter?«

Midwinter spielte mit seinem Aberglauben, wie man mit einer geladenen Flinte spielt, die uns tödten, oder mit einem wilden Thiere, das uns fürs ganze Leben verstümmeln kann. Er nannte das Alter der Frau in dem schwarzen Kleide und dem rothen gewirkten Shawl, wie er dasselbe selbst berechnet hatte.

»Fünfunddreißig.«

Allein sowie diese Worte seinen Lippen entfielen, verließ ihn plötzlich seine erkünstelte Fröhlichkeit. Er sprang von seinem Sitze auf, völlig taub gegen Allans Neckereien wegen dieser sonderbaren Antwort, und nahm in tiefem Schweigen seinen rastlosen Spaziergang auf dem Verdeck wieder auf. Der Gedanke, der ihn vorher in der Dunkelheit bei seinem Auf- und Abgehen begleitet, begleitete ihn auch jetzt in der Tageshelle Schritt für Schritt. Es bemächtigte sich seiner abermals die Ueberzeugung daß entweder ihm oder Allan irgendetwas zustoßen müsse, ehe sie das Wrack verließen.

Mit jeder Minute ward es heller am östlichen Himmel, und die finsteren Stellen auf dem Verdeck des Holzschiffes zeigten in der Helle des Tages ihre nackte Leerheit. Wie der Landwind sich wieder erhob, erwachte auch das Meer und fing im Morgenlichte zu murmeln an. Selbst das kalte Geplätscher der kurzen Wellen veränderte seinen melancholischen Klang und schlug sanfter an das Ohr, als die milden Strahlen der Sonne warm auf dieselben herabfielen. Midwinter machte auf dem Vordertheile des Schiffes Halt und suchte sich wieder in die Gegenwart zu versetzen. Wohin er sich wandte, sah er sich von den erheiternden Einflüssen der Stunde umgeben. Das frohe Morgenlächeln des Sommerhimmels goß in seiner barmherzigen Liebe zur alten milden Erde seine allumfassende Herrlichkeit selbst über das Wrack aus! Der Thau, der glitzernd auf den Feldern der Inseln lag, funkelte auch auf dem Verdeck, und das abgenutzte rostige Tafelwerk war ebenso glänzend geschmückt wie die frischen, grünen Blätter am Ufer. Indem er rings umherschaute, wanderten Midwinter’s Gedanken unwillkürlich zu dem Gefährten, der das Abenteuer der Nacht mit ihm getheilt hatte. Er kehrte nach dem Hintertheile des Schiffes zurück und redete Allan an. Da er keine Antwort erhielt, trat er zu der liegenden Gestalt heran und betrachtete dieselbe näher. Allan war, sich selbst überlassen, von seiner Ermüdung überwältigt worden. Sein Kopf war zurückgesunken, sein Hut herabgefallen. Er lag, der Länge nach auf dem Verdeck ausgestreckt, in festem friedlichen Schlummer.

Midwinter nahm seinen Spaziergang wieder auf; sein Geist war in Zweifel versunken; seine eigenen früheren Gedanken erschienen ihm plötzlich sehr seltsam. Mit wie trüben Ahnungen hatte er der kommenden Zeit entgegengesehen —— und wie harmlos war diese Zeit jetzt gekommen! Die Sonne stieg am Himmel auf, die Stunde der Erlösung rückte immer näher und näher, und von den beiden Armadale, die auf dem unglückseligen Schiffe gefangen waren, lag der eine in sanftem Schlummer da, während der andere ruhig das Erwachen des neuen Tages beobachtete.

Die Sonne stieg höher; die Stunde rückte vor. In dem geheimen Argwohne gegen das Wrack, der ihm noch immer anhaftete, schaute Midwinter spähend nach beiden Ufern hinüber, um Zeichen erwachenden menschlichen Lebens zu entdecken. Allein es war noch immer einsam am Lande. Die Rauchsäulen, die bald aus den Essen der Bauernhütten emporkräuseln sollten, waren noch nirgend zu sehen.

Nach einem kurzen Sinnen kehrte er wieder nach dem Hintertheile des Schiffes zurück, um zu sehen, ob sich nicht ein Fischerboot innerhalb Hörweite hinter ihnen befinde. Für, den Augenblick mit diesem neuen Gedanken beschäftigt, ging er eilig an Allan vorüber, indem er kaum bemerkte, daß dieser noch immer schlafe. Mit dem nächsten Schritte würde er sich am Hackebord befunden haben —— doch ein Laut verhinderte ihn, diesen Schritt zu thun, ein Laut, der einem matten Stöhnen glich. Er wandte sich um und betrachtete den Schläfer auf dem Verdeck. Er kniete nieder und beobachtete ihn näher.

»Jetzt ist das Unglück da!« flüsterte er für sich. »Nicht für mich —— aber für ihn.«

Es war da in der hellen Frische des Morgens; es war gekommen in dem Geheimnisse und dem Grauen eines Traumes. Das Gesicht, welches Midwinter zuletzt so ruhig gesehen, war jetzt das verzerrte Gesicht eines Leidenden. Der Schweiß stand dicht auf Allan’s Stirn und feuchtete sein lockiges Haar. Seine halb geöffneten Augen zeigten nichts als das Weiße des matt glänzenden Augapfels. Seine ausgestreckten Hände kratzten und krallten auf dem Verdeck umher. Von Zeit zu Zeit stöhnte und murmelte er vor sich hin; aber die Worte, die ihm entschlüpften wurden durch sein Zähnefletschen unverständlich. Dort lag er —— körperlich dem Freunde so nahe, der sich über ihn hinbeugte; im Geiste sofern, daß die Beiden sich ebenso gut in verschiedenen Welten hätten befinden können —— dort lag er, während der Schein der Morgensonne auf sein Gesicht herabströmte, in den Qualen seines Traumes.

In dem Geiste des Mannes, der ihn betrachtete, erwachte eine Frage, und nur diese eine. Was hatte das Verhängnis, das ihn auf diesem Schiffe gefangen hielt, ihn sehen zu lassen bestimmt?

Hatte der verrätherische Schlaf die Pforten des Grabes für denjenigen der beiden Armadale geöffnet, den der andere über die Wahrheit in Unwissenheit erhalten? Offenbarte die Ermordung des Vaters sich in einem Traumgesichte dem Sohne, hier an derselben Stelle, wo das Verbrechen begangen worden war?

Indem diese Frage alles Andere in seinem Geiste in den Schatten drängte, kniete der Sohn des Mörders auf dem Verdeck nieder und betrachtete den Sohn des Mannes, den seines Vaters Hand erschlagen.

Der Kampf zwischen dem schlafenden Körper und dem wachen Geiste ward jeden Augenblick heftiger. Des Träumenden hilfloses Jammern nach Erlösung ward lauter; seine Hände erhoben sich und krallten die leere Luft. Mit der alles überwindenden Furcht ringend, in der er noch immer befangen war, legte Midwinter seine Hand sanft auf Allan’s Stirn. So leicht die Berührung war, regten sich doch in dem träumenden Manne geheime Sympathien, die dieselbe beantworteten. Sein Stöhnen hörte auf und seine Hände sanken langsam herab. Es erfolgte ein Augenblick der Erwartung, und Midwinter schaute näher hin. Sein Athem strich leicht über das Gesicht des Schlafenden hin. Da richtete Allan sich plötzlich empor, warf sich auf seine Knie, als wäre ein Trompetenstoß an sein Ohr gedrungen —— und im Augenblick war er wach.

»Du hast geträumt«, sagte Midwinter, als der Andere ihn in der ersten Verwirrung des Erwachens wild anstierte.

Allan’s Augen schweiften über das Verdeck hin —— anfangs mit leerem Blicke, dann mit einem Ausdrucke zorniger Ueberraschung. »Sind wir noch immer hier?« sagte er, während Midwinter ihm aufstehen half. »Was ich sonst immer an Bord dieses verdammten Schisses thun mag«, fügte er nach einem Augenblicke hinzu, »jedenfalls will ich hier nicht wieder einschlafen!«

Indem er diese Worte sprach, spähten die Augen seines Freundes mit stiller Frage in seinem Gesichte. Sie gingen neben einander auf dem Schiffe auf und ab.

»Erzähle mir Deinen Traum«, bat Midwinter mit einem seltsamen Tone des Argwohns in seiner Stimme und einer seltsamene Kürze in seinem Wesen.

»Ich kann es noch nicht erzählen«, erwiderte Allan. »Warte ein wenig, bis ich mich wieder gefaßt habe.«

Sie gingen noch einmal auf und ab. Midwinter stand still und ergriff abermals das Wort.

»Schau mich einen Augenblick an, Allan!« sagte er hastig.

Es lag in Allan’s Gesichte, wie er dasselbe dem Sprechenden zuwandte, etwas von der Qual des Traumes und etwas von dem natürlichen Erstaunen über diese soeben an ihn gerichtete seltsame Aufforderung; doch war keine Spur von Groll oder lauerndem Mißtrauen darin zu entdecken. Midwinter wandte sich schnell zur Seite und verbarg, so gut er es vermochte, den Ausdruck freudiger Ueberraschung, zu dem ihn sein erleichtertes Herz zwang.

»Sehe ich ein wenig verstört aus?« frug Allan, indem er seinen Arm nahm und ihn wieder weiter führte. »Beunruhige Dich deshalb nicht. Mir ist der Kopf wild und schwindlich —— aber ich werde es bald überwinden.«

Sie schritten während der nächsten wenigen Minuten schweigend auf und ab, der Eine, indem er sich des Grauens seines Traumes zu entschlagen bemüht war, der Andere, indem er zu entdecken versuchte, worin das Grauen dieses Traumes bestanden habe. Von ihrer bedrückenden Furcht befreit, hatte sich Midwinter’s abergläubische Natur sofort auf eine weitere Schlußfolgerung gestürzt. Hatte etwa der Schläfer im Traume eine andere Vision gehabt als die Offenbarung der Vergangenheit? Hatte sein Traum ihn in dem Buche der Zukunft seine künftige Lebensgeschichte lesen lassen? Der blose Gedanke an diese Möglichkeit verdoppelte Midwinter’s Verlangen, in das Geheimniß einzudringen, welches Allan’s Schweigen ihm noch immer vorenthielt.

»Ist Dein Kopf jetzt klarer?« frug er. »Kannst Du mir jetzt Deinen Traum erzählen?«

Während er diese Frage that, rückte der letzte denkwürdige Augenblick in dem Abenteuer nahe heran.

Sie waren am Spiegel angelangt und im Begriff, sich wieder umzuwenden. Während Allan die Lippen öffnete, um jene Frage Midwinter’s zu beantworten, schaute er mechanisch aufs Meer hinaus, und anstatt zu antworten lief er plötzlich an den Hackebord und schwenkte mit lautem Jubelrufe den Hut.

Midwinter gesellte sich zu ihm und sah ein großes sechsruderiges Boot, das gerade in den Kanal des Sundes hineinruderte. Eine Gestalt, die sie beide zu erkennen glaubten, erhob sich hastig hinter den Rudertaljen und erwiderte hutschwenkend Allan’s Begrüßung. Das Boot kam näher; der Steuermann rief ihnen munter zu, und sie erkannten die Stimme des Doctors.

»Gott sei gelobt, daß Sie sich beide über Wasser befinden!« sagte Mr. Hawbury, als sie ihm auf dem Verdeck des Holzschiffes entgegenkamen. »Welcher Wind von allen Winden des Himmels hat Sie hierher geweht?«

Bei dieser Frage blickte er Midwinter an; aber Allan erzählte anstatt seines Freundes ihm die Geschichte der vergangenen Nacht und befrug seinerseits den Doctor. Das eine, alles verzehrende Interesse in Midwinter’s Geiste, das Geheimniß des Traumes zu erfahren, ließ ihn während alles dessen schweigen. Unbekümmert um alles, was um ihn her geschah oder gesagt wurde, folgte er wie ein Hund Allan überall hin, bis der Augenblick kam, wo sie ins Boot hinabstiegen. Mr. Hawbury’s ärztliches Auge war neugierig aus ihn gerichtet und bemerkte seine wechselnde Farbe, sowie die beständige Unruhe seiner Hände. »Ich möchte für alles in der Welt nicht in der Haut jenes Mannes stecken«, dachte er, indem er den Helmstock des Bootes ergriff und den Ruderern Befehl gab, vom Wrack abzustoßen.

Da Mr. Hawbury alle Erklärungen von seiner Seite bis dahin verschoben hatte, wo sie sich auf der Rückfahrt nach Port-St.-Mary befinden würden, schickte er sich nunmehr an, zunächst Allan’s Neugier zu beschwichtigen. Die Umstände, welche ihn seinen beiden Gästen vom vorigen Abend zu Hilfe geführt, waren sehr einfach. Das verlorene Boot war von Fischersleuten aus Port-Erin, die dasselbe sofort als das des Doctors erkannt und augenblicklich einen Boten nach seinem Hause abgesandt hatten, auf der westlichen Seite der Insel auf dem Meere gefunden worden. Der Bericht des Boten von dem, was sich ereignet, hatte Mr. Hawbury natürlich mit Besorgniß für Allan’s und seines Freundes Sicherheit erfüllt. Er hatte unverzüglich Beistand gesucht und war, dem Rathe der Bootsleute folgend, zuerst nach der gefährlichsten Stelle an der Küste geeilt —— der einzigen Stelle, an der bei so ruhigem Wetter einem Boote, das von erfahrenen Männern geführt wurde, möglicherweise ein Unfall zustoßen konnte —— nämlich dem Kanal des Sundes. Nachdem er in dieser Weise seine willkommene Ankunft auf dem Schauplatze erklärt, bestand der Doctor in seiner Gastfreundschaft darauf, daß seine Gäste vom vorigen Abend auch an diesem Morgen wieder seine Gäste würden. Er erklärte, es werde für die Leute im Gasthofe zu früh sein, um sie aufzunehmen, und sie würden Betten und Frühstück in seinem, Mr. Hawbury’s, Hause bereit finden.

Bei der ersten Pause in der Unterhaltung zwischen Allan und dem Doktor berührte Midwinter, der weder an dem Gespräch theilgenommen, noch dasselbe angehört hatte, den Arm seines Freundes. »Fühlst Du Dich besser?« frug er flüsternd. »Wirst Du Dich bald hinlänglich gefaßt haben, um mir das zu erzählen, was ich zu wissen wünsche?«

Allan runzelte ungeduldig die Stirn; der Traum, sowie die Hartnäckigkeit, mit der Midwinter immer wieder auf denselben zurückkam, schienen ihm beide gleich zuwider zu sein. Er antwortete kaum mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit »Ich werde wohl keine Ruhe haben, bis ich es Dir erzähle«, sagte er; »darum will ich es lieber sogleich thun.«

»Nein!« erwiderte Midwinter mit einem Blicke auf den Doctor und dessen Ruderer »Nicht, wo Du von Andern gehört werden kannst —— nicht eher, als bis wir allein sind.«

»Wenn Sie noch einen letzten Blick aus Ihr Nachtquartier zu werfen wünschen, meine Herren«, sagte der Doctor, »so ist es gerade noch Zeit! In einer Minute wird die Küste uns das Schiff entziehen.«

Beide Armadales warfen schweigend einen letzten Blick auf das unglückselige Schiff. Einsam und verloren hatte das Wrack in der geheimnißvollen Sommernacht dagelegen, als sie es gefunden. Einsam und verloren lag dasselbe jetzt in der glänzenden Pracht des Sommermorgens, da sie es verließen.

Eine Stunde später hatte der Doctor seine Gäste auf ihre Schlafgemächer geführt, damit sie bis zur Frühstücksstunde einigermaßen der Ruhe genössen.

Kaum hatte er den Rücken gewandt, als die Thüren beider Zimmer leise geöffnet wurden und Allan und Midwinter einander im Corridor begegneten.

»Kannst Du schlafen, nach alledem, was sich zugetragen hat?« frug Allan.

Midwinter schüttelte den Kopf. »Du warst im Begriff, nach meinem Zimmer zu kommen, nicht wahr?« sagte er. »Weshalb?«

»Ich wollte Dich um Deine Gesellschaft bitten. Weshalb kamst Du nach dem meinigen?«

»Um Dich zu bitten, mir Deinen Traum zu erzählen.«

»Der Henker hole den Traum! Ich wünsche ihn zu vergessen.«

»Aber ich wünsche ihn zu hören«

Beide schwiegen; beide unterließen es instinktmäßig noch ein Wort zu sagen. Zum ersten Male seit dem Anfange ihrer Freundschaft drohte Uneinigkeit zwischen ihnen auszubrechen —— und zwar wegen eines Traumes. Allan’s sanftes Temperament verhütete dies noch zu rechter Zeit.

»Du bist der halsstarrigste Bursche, der mir je vorgekommen ist«, sagte er, »aber Du verlangst es einmal zu hören vermuthlich mußt Du es hören. Komm in mein Zimmer, und ich will Dir’s erzählen.«

Er ging voran und Midwinter folgte ihm. Die Thür schloß sich hinter ihnen und sie waren mit einander allein.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Als Mr. Hawbury mit seinen Gästen im Frühstückszimmer zusammentraf, war ihm der seltsame Contrast ihrer Charaktere, den er bereits früher wahrgenommen, auffallender denn je. Der Eine saß hungrig und lustig an dem wohlbesetzten Frühstückstische und schweifte von einer Schüssel zur andern, wobei er erklärte, daß er in seinem Leben noch nicht so gut gefrühstückt. Der Andere dagegen saß allein am Fenster; seine Tasse stand undankbar verlassen und kaum halb geleert vor ihm; die Speisen lagen kaum ungerührt aus seinem Teller! Des Doctors Morgengruß für die beiden Freunde drückte genau die verschiedenen Eindrücke aus, die sie auf ihn hervorgebracht hatten. Er schlug Allan auf die Schulter und begrüßte ihn mit einem Scherze. Midwinter dagegen empfing er mit einer steifen Verbeugung und sagte: »Ich fürchte, Sie haben sich noch nicht von den Anstrengungen der vergangenen Nacht erholt.«

»Nicht die Nacht ist’s, Doctor, die ihn übler Laune gemacht hat«, bemerkte Allan, »sondern etwas, das ich ihm erzählt habe. Doch ist es nicht meine Schuld. Hätte ich nur vorher gewußt, daß er an Träume glaubt, so würde ich nicht die Lippen geöffnet haben.«

»Träume?« wiederholte der Doctor, indem er sich direct an Midwinter wandte und, den Sinn von Allan’s Worten mißdeutend, ihn anredete. »Bei Ihrer Constitution sollten Sie wohl bereits an Träume gewöhnt sein.«

»Hierher, Doctor; Sie sind an den unrechten Mann gekommen!« rief Allan. »Ich bin der Träumer, nicht er. Sehen Sie nicht so erstaunt aus; es war nicht in diesem gemüthlichen Hause, sondern an Bord jenes verdammten Holzschiffes. Die Sache ist die: Ich schlief kurz vor Ihrer Ankunft ein, und es läßt sich nicht leugnen, daß ich einen sehr garstigen Traum hatte. Nun, als wir hier angelangt ——«

»Warum langweilst Du Mr. Hawbury mit einer Sache, die unmöglich Interesse für ihn haben kann?« fiel Midwinter ungeduldig ein, indem er zum ersten Male die Lippen öffnete.

»Ich bitte um Vergebung«, erwiderte der Doctor mit einiger Schärfe; »soviel ich davon gehört habe, interessiert mich die Sache allerdings.«

»Das ist recht, Doctor!« sagte Allan. »Ich bitte Sie, interessieren Sie sich für die Sache; denn ich wünsche, daß Sie ihm den Unsinn ausreden, den er sich in den Kopf gesetzt hat. Was sagen Sie hierzu? Er besteht darauf, daß mein Traum eine Warnung für mich ist, gewisse Leute zu meiden, und er besteht darauf, daß einer dieser Leute —— er selber sei! Haben Sie je etwas der Art gehört? Ich gab mir die größte Mühe und setzte ihm die ganze Sache aus einander. »Zum Henker mit der Warnung«, sagte ich; »Träume kommen aus dem Magen! Du weißt nicht, was ich alles beim Doktor zu Nacht gegessen und getrunken habe, aber ich weiß es.« Glauben Sie wohl, daß er auf mich hören wollte? Durchaus nicht. Versuchen Sie es jetzt einmal; Sie sind Mediciner und er muß Sie anhören. Thun Sie mir den Gefallen, Doctor, und geben Sie mir ein Zeugniß über meine schlechte Verdauung; ich will Ihnen mit Vergnügen meine Zunge zeigen.«

»Ihr Gesicht ist genug für mich«, erwiderte Mr. Hawbury. »Ich will Ihnen auf der Stelle ein Attest geben, daß Sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht an schlechter Verdauung gelitten haben. Lassen Sie Ihren Traum hören, damit wir sehen, was wir daraus machen können —— das heißt, falls Sie nichts dawider haben.«

Allan deutete mit seiner Gabel auf Midwinter.

»Wenden Sie sich an meinen Freund dort«, sagte er; »er besitzt einen weit bessern Bericht über denselben, als ich Ihnen zu geben im Stande bin. Sollten Sie es wohl glauben? Er brachte die ganze Geschichte sofort zu Papier, als ich sie ihm erzählte, und schließlich ließ er mich es unterzeichnen, als wäre es mein letztes Bekenntniß auf meinem Wege zum Galgen gewesen. Heraus damit, alter Junge! Ich sah, wie Du es in Dein Taschenbuch legtest «— heraus damit!«

»Sprichst Du wirklich im Ernste?« fragte Midwinter, indem er sein Taschenbuch mit einem Widerstreben herausnahm, das unter den vorliegenden Umständen fast beleidigend war, denn es lag in demselben ein Mißtrauen gegen den Doctor, hier in des Doctors eigenem Hause.

Mr. Hawburtys Gesicht röthete sich. »Bitte, zeigen Sie mir es ja nicht, wenn es Ihnen im mindesten zuwider ist«, sagte er mit der gezwungenen Höflichkeit eines Mannes, der sich beleidigt fühlt.

»Unsinn!« rief Allan. »Wirf es hier herüber!«

Anstatt diesem Ersuchen Folge zu leisten, nahm Midwinter das Blatt Papier aus seinem Taschenbuche, verließ seinen Platz und trat zu Mr. Hawbury heran. »Ich bitte Sie um Vergebung«, sagte er, indem er dem Doktor das Manuscript überreichte. Seine Augen senkten sich aus den Boden und sein Gesicht verdüsterte sich, indem er sich in dieser Weise entschuldigte. »Ein geheimnißvoller, verdrießlicher Geselle«, dachte der Doctor, als er ihm mit steifer Höflichkeit dankte; »sein Freund ist tausendmal so viel werth als er.« Midwinter kehrte zum Fenster zurück und setzte sich schweigend und mit jener alten Resignation, die Mr. Brock einst so unbegreiflich gewesen, wieder nieder.

»Lesen Sie das, Doctor«, sagte Allan, als Mr. Hawbury das beschriebene Blatt auseinander faltete. »Es ist nicht in meiner weitschweifigen Manier abgfaßt; doch ist nichts hinzugefügt und nichts weggelassen. Es ist genau das, was ich geträumt habe, und genau das, was ich selbst geschrieben haben würde, wenn ich das Schreiben loshätte ——« was nicht der Fall ist, außer was Briefe betrifft, und die kratze ich Ihnen im Handumdrehen fertig.«

Mr. Hawbury legte das Manuscript offen vor sich auf den Frühstückstisch und las folgende Zeilen :

»Allan Armadales Traum.

Zu früher Stunde am Morgen des vierzehnten Juni achtzehnhundert einundfünfzig befand ich mich mit einem Freunde —— einem jungen Manne meines Alters —— allein an Bord des französischen Holzschiffes La Gráce de Dieu, welches als Wrack in dem Sundkanal zwischen der Hauptinsel Man und der kleinen Nebeninsel Kalb lag. Da ich die Nacht zuvor nicht im Bette zugebracht hatte und mich von Schläfrigkeit überwältigt fühlte, schlief ich auf dem Verdeck des Schiffes ein. Ich erfreute mich zur Zeit meiner gewohnten vortrefflichen Gesundheit, und der Morgen war so weit vorgerückt, daß die Sonne bereits aufgegangen war. Unter diesen Umständen und zu dieser Tageszeit ging ich vom Schlafen zum Träumen über. Soviel ich mich nach Verlauf weniger Stunden erinnere, war die Reihenfolge der Ereignisse, die sich mir im Traume darstellten, folgende:

Das Erste, dessen ich mir bewußt ward, war die Erscheinung meines Vaters. Er nahm mich langsam bei der Hand, und wir befanden uns in der Kajüte eines Schiffes.

Das Wasser stieg allmählig immer höher und höher, und ich und mein Vater sanken mit einander im Wasser unter.

Es folgte ein Zwischenraum von Vergessenheit; dann kam mir das Bewußtsein, daß ich im finsteren allein gelassen sei.

Ich wartete.

Die Finsternis theilte sich und zeigte mir —— wie in einem Bilde —— einen großen einsamen Teich, der von offenen Feldern umgeben war. Ueber der äußersten Grenze des Teiches erblickte ich den wolkenlosen westlichen Himmel, der vom Sonnenuntergang geröthet war.

An dem diesseitigen Rande des Teiches stand der Schatten eines Weibes.

Es war nur der Schatten. Nichts zeigte an, wen dieser Schatten vorstelle, oder mit welchem lebenden Wesen er Aehnlichkeit habe. Das lange Kleid zeigte mir, daß es der Schatten eines Weibes sei, doch weiter nichts.

Es ward wieder finster, und so blieb es eine Weile; dann ward es zum zweiten Male hell.

Ich befand mich in einem Zimmer, wo ich vor einem langen Fenster stand. Der einzige Gegenstand, den ich sah, oder den ich gesehen zu haben mich jetzt erinnere, war eine kleine Statue, welche neben mir stand. Die Statue befand sich zu meiner Linken und das Fenster zu meiner Rechten. Das Fenster ging auf einen Rasenplatz und Blumengarten hinaus, und der Regen schlug heftig an die Fensterscheiben.

Ich war nicht allein im Zimmer. Mir gegenüber am Fenster stand der Schatten eines Mannes.

Ich sah nichts weiter von demselben —— ich wußte nichts weiter von demselben, als was ich von dem Schatten des Weibes gesehen und gewußt hatte. Aber der Schatten des Mannes bewegte sich. Derselbe streckte den Arm nach der Statue aus —— und die Statue fiel in Scherben zu Boden.

Mit einer verworrenen Empfindung, die theils Zorn, theils Bekümmerniß war, bückte ich mich, um die Scherben zu betrachten. Als ich mich wieder aufrichtete, war der Schatten verschwunden und ich sah nichts weiter.

Die Finsternis öffnete sich zum dritten Male und zeigte mir den Schatten des Weibes und den des Mannes zugleich.

Es war mir, wenigstens soviel ich mich jetzt zu erinnern vermag, keine Umgebung sichtbar.

Der Schatten des Mannes stand mir am nächsten, der des Weibes weiter zurück. Von der Stelle, an der sie stand, kam ein Laut gleich dem leisen Ausgießen einer Flüssigkeit. Ich sah sie mit der einen Hand den Schatten des Mannes berühren und ihm mit der andern ein Glas reichen. Er nahm das Glas und reichte dasselbe mir. In dem Augenblicke, da ich dasselbe an die Lippen setzte, fühlte ich mich vom Kopf bis zu den Füßen von einer tödtlichen Ohnmacht befallen. Wie ich wieder zum Bewußtsein kam, war der Schatten verschwunden und das dritte Traumgesicht zu Ende.

Die Finsternis kehrte wieder zurück und nochmals folgte ein Zwischenraum der Vergessenheit.

Ich war mir nichts weiter bewußt, bis ich den Morgensonnenschein auf meinem Gesichte fühlte und meinen Freund sagen hörte, ich sei aus einem Traume erwacht.«

Nachdem der Doctor die Erzählung aufmerksam bis zur letzten Zeile durchgelesen hatte, wo sich Allan’s Unterschrift befand, sah er über den Frühstückstisch zu Midwinter hinüber und klopfte, mit einem satirischen Lächeln, mit den Fingern auf das Manuskript.

»Viele Köpfe, viele Sinne«, sagte er. »Ich stimme mit keinem von Ihnen beiden in Bezug auf diesen Traum überein. Mit Ihrer Theorie«, sagte er lächelnd, indem er Allan anblickte, »sind wir bereits fertig: Das Nachtessen, das Sie nicht zu verdauen im Stande sind, soll noch erfunden werden. Zu meiner Theorie wollen wir sogleich kommen; die Theorie Ihres Freundes fordert zuerst unsere Aufmerksamkeit.« Er wandte sich wieder zu Midwinter, wobei der Triumph, den er über einen ihm unliebsamen Mann zu erringen hoffte, ein wenig zu deutlich in seinem Gesichte und seinem Wesen ausgedrückt war. »Wenn ich recht verstanden habe«, fuhr er fort, »so halten Sie diesen Traum für eine Warnung, die in übernatürlicher Weise an Mr. Armadale gerichtet ist; für eine Warnung vor gefährlichen Ereignissen, die ihn bedrohen und vor gefährlichen Leuten, die mit jenen Ereignissen in Verbindung stehen und die er wohl thun wird zu meiden. Darf ich fragen, ob Sie zu diesem Schlusse gelangt sind, weil Sie überhaupt an Träume glauben, oder weil Sie Gründe haben, diesem einen Traume eine besondere Wichtigkeit beizulegen?«

»Sie haben meine Ueberzeugung vollkommen richtig angegeben«, erwiderte Midwinter, der sich durch den Ton und die Blicke des Doctors gereizt fühlte. »Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie bitte, sich mit diesem Zugeständniß zu begnügen und mich meine Gründe für mich behalten zu lassen.«

»Das ist genau dasselbe, was er zu mir sagte«, unterbrach ihn Allan »Ich glaube nicht, daß er überhaupt irgendwelche Gründe hat.«

»Sachte, sachte!« sagte Mr. Hawbury. »Wir können den Gegenstand besprechen, ohne uns in die Geheimnisse anderer Leute zu drängen. Lassen Sie uns jetzt zu meiner Methode einer Erklärung des Traumes kommen. Es wird Mr. Midwinter wahrscheinlich nicht überraschen zu hören, daß ich die Sache aus einem wesentlich praktischen Gesichtspunkte betrachte.«

»Dies wird mich durchaus nicht im geringsten überraschen«, entgegnete Midwinter. »Der Gesichtspunkt eines Arztes geht, wenn er ein Problem über die Menschheit zu lösen hat, selten über das Secirmesser hinaus.«

Der Doctor fühlte sich hier seinerseits ein wenig gereizt. »Unsere Grenzen sind nicht ganz so eng«, sagte er; »doch bin ich einzuräumen bereit, daß Ihr Glaube gewisse Artikel in sich schließt, an die wir Aerzte nicht glauben. Wir glauben zum Beispiel nicht, daß es gerechtfertigt ist, wenn ein verständiger Mann irgendeinem Phänomen, das innerhalb des Bereichs seiner Sinne kommt, eine übernatürliche Deutung gibt, bevor er die sichere Ueberzeugung gewonnen hat, daß keine natürliche Erklärung desselben möglich ist.«

»Höre, das ist sehr einleuchtend«, rief Allan. —— »Er traf Sie scharf mit seinem »Secirmesser«, Doctor; jetzt aber haben Sie ihm mit Ihrer »natürlichen Erklärung« eins versetzt. Lassen Sie uns dieselbe hören.«

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Mr. Hawbury. »Es liegt in meiner Theorie über die Träume durchaus nichts Außerordentliches, es ist die Theorie, die von dem größeren Theile meiner Berufsgenossen anerkannt wird. Ein Traum ist weiter nichts als die während des Schlafs im Gehirn wiederauftauchenden Bilder und Eindrücke, die dasselbe im wachen Zustande in sich aufgenommen hatte; und diese Reproduction ist aus verschiedenen äußeren und inneren Gründen mehr oder weniger verworren, undeutlich oder widersprechend. Ohne näher in diesen letzteren Theil des Gegenstandes einzugehen, der einen sehr merkwürdigen und interessanten Theil desselben ausmacht, wollen wir die Theorie im Allgemeinen nehmen, wie ich dieselbe soeben angegeben habe, und sie sofort ans den Traum anwenden, um den es sich gegenwärtig handelt.« Er nahm das beschriebene Blatt Papier vom Tische auf und ließ den steifen Lehrton fahren, in den er unwillkürlich verfallen war. »ich sehe in diesem Traume bereits ein Ereigniß«, fuhr er fort, »von dem ich weiß, daß es eine Wiederhervorbringung eines wachen Eindruckes ist, den Mr. Armadale in meiner eigenen Gegenwart empfing. Falls er mir nur behilflich sein will, indem er sein Gedächtnis; anstrengt, verzweifle ich nicht daran, die Spuren der ganzen Reihe von Ereignissen, die hier angegeben sind, in etwas zu entdecken, das er während der vierundzwanzig oder weniger Stunden, die seinem Einschlafen auf dem Verdeck des Holzschiffes vorangingen, gesagt, gedacht, gesehen oder gethan hat.«

»Ich will mit Vergnügen mein Gedächtnis; anstrengen«, sagte Allan. »Wo fangen wir an?«

»Machen wir den Anfang damit, daß Sie mir sagen, was Sie gestern gethan haben, ehe Sie und Ihr Freund mir auf dem Wege nach diesem Orte begegneten«, erwiderte Mr. Hawbury. »Sagen wir also, Sie standen auf und frühstückten. Was dann?«

»Dann nahmen wir einen Wagen«, sagte Allan, »und fuhren von Castletown nach Douglas, um meinen alten Freund Mr. Brock an Bord des Dampfschiffes zu begleiten, in dem er nach Liverpool überfahren sollte. Wir kehrten nach Castletown zurück und trennten uns an der Thür des Hotels. Midwinter ging ins Haus hinein und ich nach meiner Jacht, die im Hafen liegt. —— A propos, Doctor, vergessen Sie nicht, daß Sie eine Fahrt mit uns zu machen versprochen haben, ehe wir die Insel Man verlassen.«

»Besten Dank —— doch lassen Sie uns bei der Sache bleiben. Was dann?«

Allan zögerte. Sein Geist schwamm bereits im vollsten Sinne des Wortes auf dem Wasser.

»Was thaten Sie an Bord der Jacht?«

»O, ich weiß! Ich machte Ordnung in der Kajüte —— gründliche Ordnung. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich kehrte jedes einzelne Stück um. Und mein Freund kam in einem Uferboote heraus und half mir. Das erinnert mich daran, daß ich Sie noch nicht gefragt habe, ob Ihr Boot in der Nacht Schaden genommen hat. Wenn dasselbe irgendwie beschädigt ist, so bestehe ich darauf, daß Sie es mir wieder auszubessern gestatten.«

Der Doctor gab alle ferneren Versuche, Allan’s Gedächtniß zu cultiviren, in Verzweiflung auf.

»Ich zweifle daran, ob wir auf diese Weise unsern Zweck erreichen werden«, sagte er. »Es wird besser sein, daß wir die Ereignisse des Traumes in ihrer regelmäßigen Ordnung vornehmen und dabei die Fragen stellen, die sich von selbst bieten. Hier sind also die beiden ersten Ereignisse. Sie träumen, daß Ihr Vater Ihnen erscheint; daß Sie beide zusammen in der Kajüte eines Schiffes sind; daß das Wasser in derselben immer höher emporsteigt und daß Sie zusammen untersinken. Darf ich fragen, ob Sie unten in der Kajüte des Wracks waren?«

»Ich konnte nicht dort sein«, entgegnete Allan, »da die Kajüte voll Wasser war. Ich sah hinunter, bemerkte dies und schloß dann wieder die Thür.«

»Sehr gut«, fuhr Mr. Hawbury fort. »Hier haben wir die wachen Eindrücke so weit klar genug. Sie hatten die Kajüte in Ihren Gedanken, und Sie hatten das Wasser in Ihren Gedanken; und das Rauschen der Kanalströmung war, wie ich dies wohl weiß, ohne Sie erst zu fragen, das Letzte, was Ihre Ohren hörten, ehe Sie einschliefen. Die Idee des Ertrinkens ist nach solchen Eindrücken eine zu natürliche, als daß wir uns bei derselben aufzuhalten brauchten. Ist hier sonst noch etwas zu beachten, ehe wir weiter gehen? Ja; es bleibt noch ein Umstand zu erklären übrig.«

»Der wichtigste Umstand von allen«, bemerkte Midwinter, sich in das Gespräch mischend, ohne jedoch seinen Platz am Fenster zu verlassen.

»Sie meinen das Erscheinen von Mr. Armadale’s Vater? Ich war im Begriff, desselben zu erwähnen«, erwiderte Mr. Hawbury. »Ist Ihr Vater am Leben?« frug er, abermals gegen Allan gewendet.

»Mein Vater starb, ehe ich geboren war.«

Der Doctor sah einigermaßen verblüfft aus. »Dadurch wird die Sache ein wenig verwickelter«, sagte er. »Woher wußten Sie, daß die Gestalt, die Ihnen im Traume erschien, die Ihres Vaters sei?«

Allan zögerte abermals. Midwinter zog seinen Sessel ein wenig vom Fenster ab und blickte den Doctor zum ersten Male aufmerksam an.

»Dachten Sie an Ihren Vater, ehe Sie einschliefen?« fuhr Mr. Hawbury fort. »Gab es zu Hause bei Ihnen irgendeine Beschreibung oder ein Porträt von ihm, das Ihre Gedanken beschäftigte?«

»Es, das versteht sich!« rief Allan, plötzlich die verlorene Erinnerung erfassend. »Midwinter, erinnerst Du Dich nicht des Miniaturbildchens, das Du in der Kajüte am Boden fandest, als wir dort Ordnung machten? Du sagtest, ich scheine keinen Werth darauf zu legen, aber ich versicherte Dir das Gegentheil, da es das Porträt meines Vaters sei ——«

»Und war das Gesicht in Ihrem Traume dem Gesicht auf dem Bilde gleich?«

»Genau! Hören Sie, Doctor, dies fängt an interessant zu werden!«

»Was sagen Sie jetzt?« frug Mr. Hawbury, sich wieder dem Fenster zuwendend.

Midwinter verließ hastig seinen Platz und setzte sich neben Allan an den Tisch. Ebenso wie er schon vorher einmal in Mr. Brocks behaglichem gesunden Menschenverstande eine Zuflucht vor der Tyrannei seines eigenen Aberglaubens gesucht, flüchtete er sich jetzt mit derselben ungestümen Hast und derselben geradsinnigen Aufrichtigkeit zu des Doctors Theorie der Träume. »Ich sage dasselbe was mein Freund sagt«, antwortete er, vor Enthusiasmus erglühend; »dies fängt an interessant zu werden. Fahren Sie fort —— bitte, fahren Sie fort!«

Der Doctor blickte seinen seltsamen Gast nachsichtiger an, als er bisher gethan. »Sie sind in meiner Erfahrung der erste Mystiker der einer klaren Augenscheinlichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen bereit war. Ich verzweifle nicht daran, Sie zu bekehren, ehe unsere Nachforschungen zu Ende sind.

Lassen Sie uns jetzt zu den nächsten Ereignissen übergehen«, fuhr er fort, nachdem er einen Blick in das Manuscript gethan. »Der Zwischenraum von Vergessenheit, der, wie hier angegeben ist, den ersten Erscheinungen des Traumes folgte, ist leicht zu erklären.

Derselbe ist nichts weiter als das momentane Aufhören der Thätigkeit des Gehirns, indem eine tiefere Welle des Schlafs dasselbe überfluthet, wie denn auch das darauf folgende Gefühl des Alleinseins in der Dunkelheit nur den Uebergang von der vollkommenen Ruhe des Gehirns zu neuer Thätigkeit desselben andeutet, nur daß es dabei noch nicht bis zur Reproduction einer neuen Reihe von Eindrücken kommt. Lassen Sie uns sehen, welcher Art die folgenden Bilder sind. Ein einsamer Teich, von offenen Feldern umgeben; ein vom Sonnenuntergang gerötheter Horizont an der jenseitigen Grenze des Teiches, und der Schatten eines Weibes am diesseitigen Rande desselben. Sehr gut. Jetzt, Mr. Armadale, wie kam jener Teich in Ihren Kopf? Die offenen Felder sahen Sie auf Ihrer Fahrt von Castletown nach diesem Orte. Aber wir haben in dieser Gegend keine Teiche oder Seen; auch können Sie deren ebenso wenig kürzlich anderswo gesehen haben, denn Sie langten hier nach einer Segelfahrt auf dem Meere an. Müssen wir uns mit einem Bilde oder einem Buche oder einer Unterhaltung mit Ihrem Freunde behelfen?«

Allan blickte Midwinter an. »Ich erinnere mich nicht! von Teichen oder Seen gesprochen zu haben«, erklärte er. »Erinnerst Du Dich an etwas der Art?«

Anstatt die Frage zu beantworten, wandte Midwinter sich plötzlich zum Doctor.

»Haben Sie die letzte Nummer der Manxer Zeitung?« frug er.

Der Doetor holte dieselbe von dem Nebentische.

Midwinter suchte die Stelle, welche jene Auszüge aus einer kürzlich erschienenen Reisebeschreibung von Australien enthielt, die am vergangenen Abend Allan’s Interesse so lebhaft erweckt hatten, während er, Midwinter, über dem Vorlesen derselben eingeschlafen war. Dort, in der Stelle, welche schilderte, wie die Reisenden, von Durst gequält, endlich die Entdeckung machten, die ihnen das Leben rettete —— dort befand sich der große Teich, der in Allan’s Traume figuriert hatte!

»Legen Sie die Zeitung noch nicht fort«, sagte der Doctor, als Midwinter ihm dieselbe gezeigt und ihm die nothwendigen Erklärungen gegeben hatte. »Es ist sehr leicht möglich, daß wir, ehe wir mit unseren Nachforschungen zu Ende sind, jener Auszüge noch ferner bedürfen werden. Den Teich haben wir gefunden. Wie steht es mit dem Sonnenuntergange? Es wird in diesem Zeitungsauszuge nichts der Art erwähnt. Suchen Sie noch einmal in Ihrem Gedächtnisse, Mr. Armadale; es fehlt uns Ihr wacher Eindruck von einem Sonnenuntergange; also, haben Sie die Güte!«

Allan vermochte abermals keine Antwort zu geben, und abermals half Midwinters lebendiges Gedächtniß ihm aus der Verlegenheit.

»Ich glaube, die Spur dieses Eindrucks ebenso wohl finden zu können, als ich die jenes andern fand«, sagte er zum Doctor gewendet. »Nachdem wir gestern Nachmittag hier angelangt waren, machten mein Freund und ich einen langen Spaziergang über die Hügel ——«

»Das ist’s!« rief AlIan. »Jetzt erinnere ich mich. Die Sonne war eben im untergehen, als wir zum Nachtessen nach dem Hotel zurückkehrten —— und der Himmel bot eine so herrliche gluthrothe Färbung, daß wir beide stillstanden, um ihn zu betrachten. Und dann plauderten wir von Mr. Brock und ergingen uns in Muthmaßungem welche Station er auf seiner Heimreise jetzt wohl erreicht haben möge. Mein Gedächtniß mag vielleicht schwer in Gang zu bringen sein, Doctor, doch sobald dasselbe einmal im Gange ist, werden Sie es nicht so bald wieder zum Stehen bringen. Ich bin noch nicht halb zu Ende.«

»Warten Sie einen Augenblick, aus Barmherzigkeit für Mr. Midwinters Gedächtniß und das meinige«, bat der Doctor. »Wir haben die Spuren Ihrer Vision der offenen Felder, des Teiches und des Sonnenunterganges in Ihren wachen Eindrücken entdeckt. Doch der Schatten des Weibes ist noch unerklärt geblieben. Können Sie uns das Original zu dieser geheimnißvollen Gestalt in der Traumlandschaft zeigen?«

Allan war abermals unfähig, dem Doctor zu helfen, und Midwinter wartete, mit athemlosem Interesse die Blicke auf das Gesicht des Doctors heftend, der Dinge, die da kommen würden. Es herrschte zum ersten Male tiefes Schweigen im Zimmer. Mr. Hawbury blickte fragend von Allan zu Allan’s Freunde. Keiner von beiden antwortete ihm. Zwischen dem Schatten und dem Wesen des Schattens lag eine tiefe, geheimnißvolle Kluft, die sie alle Drei nicht ausfüllen konnten.

»Geduld«, sagte der Doctor gelassen. »Wir wollen die Gestalt am Teiche für jetzt ruhen lassen und sehen, ob wir dieselbe nicht später irgendwo wieder aufnehmen können. Erlauben Sie mir zu bemerken, Mr. Midwinter, daß es keine Kleinigkeit ist, einen Schatten zu identifizieren; aber wir wollen nicht verzweifeln. Diese unerfaßliche Jungfrau vom See wird vielleicht, wenn wir sie das nächste Mal treffen, eine greifbare Gestalt annehmen.«

Midwinter erwiderte nichts. Von diesem Augenblicke begann sein Interesse, an der Nachforschung nachzulassen.

»Welches ist die nächste Scene in dem Traume?« fuhr Mr. Hawbury fort, indem er wieder in das Manuscript sah. »Wir. Armadale sieht sich in einem Zimmer. Er steht vor einem langen Fenster, das auf einen Rasenplatz und Blumengarten geht, und der Regen schlägt an die Fensterscheiben. Der einzige Gegenstand, den er im Zimmer sieht, ist eine kleine Statue, und seine einzige Gesellschaft ist die des Schattens eines Mannes, der ihm gegenübersteht. Der Schatten streckt den Arm aus, und die Statue fällt in Scherben aus den Boden; der Träumende, voll Unmuth und Verdruß hierüber (bemerken Sie wohl, meine Herren, daß die Verstandesfähigkeiten des Träumenden hier ein wenig erwachen und der Traum auf einen Augenblick ganz natürlich von der Ursache zur Wirkung übergeht) —— der Träumende also bückt sich, um die Scherben zu betrachten. Wie er sich wieder aufrichtet, ist seine Umgebung verschwunden. Das heißt, in der Ebbe und Fluth des Schlafes ist jetzt die Fluth an der Reihe, und das Gehirn ruht ein wenig von seiner Anstrengung. Was gibt es, Mr. Armadale? Geht Ihr unbändiges Gedächtniß wieder einmal mit Ihnen durch?«

»Ja«, rief Allan, »im vollen Galopp. Ich habe die zerbrochene Statue aufgespürt, dieselbe ist nichts Anderes als eine Porzellan-Schäferin, die ich im Gastzimmer des Hotels vom Kaminsims warf, als ich gestern Abend um das Nachtessen schellte. Hören Sie, welche Fortschritte wir machen! Wie? Es ist fast wie ein Räthselrathen. Das nächste Mal kommst Du an die Reihe, Midwinter!«

»Nein!« sagte der Doctor. »Ich komme an die Reihe, wenn Sie es erlauben. Ich fordere das lange Fenster, den Garten und den Rasenplatz als mein Eigenthum. Sie werden das lange Fenster im nächsten Zimmer finden, Mr. Armadale. Wenn Sie zu demselben hinausschauen, werden Sie den Garten und Rasenplatz vor demselben erblicken, und wenn Sie Ihr erstaunliches Gedächtniß anstrengen, werden Sie sich erinnern, daß Sie die Güte hatten, besonders schmeichelhafte Notiz von meinem eleganten französischen Fenster und meinem hübschen Garten zu nehmen, als ich Sie und Ihren Freund gestern nach Port-St.-Mary fuhr.«

»Ganz recht«, erwiderte Allan, »das that ich allerdings. Aber wie steht es mit dem Regen, der in meinem Traume ans Fenster schlug? Ich habe seit einer Woche keinen Tropfen Regen gesehen.«

Mr. Hawbury zögerte. Die Manxer Zeitung, die auf dem Tische liegen geblieben war, fiel ihm ins Auge. »Wenn wir nichts Anderes zu finden im Stande sind«, sagte er, »wollen wir versuchen, ob wir die Idee des Regens nicht an derselben Stelle finden können, wo wir die Idee des Teiches fanden.« Er las den Auszug sorgfältig durch. »Ich hab’s!« rief er. »Hier wird beschrieben, wie den durstigen Reisenden in Australien der Regen zu Hilfe kam, ehe sie den Teich gefunden hatten. Siehe da, der Regenschauer, Mr. Armadale, der Ihnen in den Kopf kam, nachdem Sie Ihrem Freunde gestern Abend den Auszug vorgelesen! Und Sie, Mr. Midwinter, sehen Sie wohl, wie der Traum gewöhnlich die wachen Eindrücke durch einander mischt!«

»Können Sie den wachen Eindruck entdecken, der die menschliche Gestalt am Fenster erklärt?« frug Midwinter. »Oder werden wir den Schatten des Mannes übergehen, wie wir bereits den Schatten des Weibes übergangen haben?«

Er that die Frage mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, doch lag in dem Tone, in dem er sprach, ein Anflug von bitterem Spott, der dem Ohre des Doctors nicht entging, sodaß dieser augenblicklich kampfbereit war.

»Wenn man am Strande Muscheln sammelt, Mr. Midwinter, nimmt man gewöhnlich diejenigen Muscheln zuerst, die Einem am nächsten liegen«, entgegnete der Doctor. »Wir sammeln augenblicklich Thatsachen und wollen diejenigen zuerst aufnehmen, die am leichtesten zu finden sind. Lassen Sie den Schatten des Mannes und den Schatten des Weibes für jetzt mit einander spazieren gehen —— wir wollen sie nicht aus den Augen verlieren, das verspreche ich Ihnen. Alles zu seiner Zeit, mein lieber Herr, alles zu seiner Zeit!«

Auch er war höflich, und auch er war sarkastisch. Der kurze Waffenstillstand zwischen den beiden Gegnern war bereits wieder zu Ende. Midwinter kehrte bedeutungsvoll wieder zu seinem Platze am Fenster zurück. Der Doctor wandte demselben augenblicklich noch bedeutungsvoller wieder den Rücken. Allan, welcher an anderer Leute Ansichten nie etwas auszusetzen fand und das Benehmen Anderer nie einer kritischen Prüfung unterwarf, trommelte fröhlich mit seinem Messerhefte auf den Tisch.

»Fahren Sie fort, Doctor!« rief er aus. »Mein erstaunliches Gedächtniß ist noch immer so frisch wie je.«

»Wirklich?« sagte Mr. Hawbury, abermals die Erzählung von dem Traume mit den Blicken durchlaufend. »Erinnern Sie sich dessen, was sich ereignete, als Sie und ich gestern Abend mit der Wirthin am Schenktisch plauderten?«

»Das versteht sich! Sie waren so gütig, mir ein Glas Grog zu reichen, das die Wirthin soeben für Sie gemischt hatte. Und ich war genöthigt, dasselbe auszuschlagen, weil der Geschmack von Rum, wie ich Ihnen sagte, mir stets Uebelkeit und Schwäche verursacht, in welcher Weise derselbe immer vermischt sein mag.«

»Ganz recht«, erwiderte der Doctor. »Und der Vorfall ist hier im Traume wieder hervorgebracht. Sie sehen diesmal den Schatten des Mannes und den des Weibes zusammen. Sie hören das Ausgießen der Flüssigkeit, nämlich Rum aus der Flasche und Wasser aus dem Kruge der Wirthin im Hotel; das Glas wird von dem Frauenschatten —— der Wirthin —— dem Schatten des Mannes —— der ich bin —— gereicht; der männliche Schatten reicht dasselbe Ihnen —— genau dasselbe, was ich that. Die Uebelkeit und Schwäche aber, die Sie mir vorher beschrieben, erfolgt ganz natürlich. Ich bin empört, Mr. Midwinter, diese geheimnißvollen Erscheinungen mit so jämmerlich unromantischen Originalen wie einer Hotelwirthin und einem Mann, der in einer ländlichen Gegend herumdoctort, zu Identifizieren. Aber Ihr Freund wird Ihnen bestätigen, daß das Glas Grog von der Wirthin gemischt wurde und daß dasselbe durch meine Hand an ihn gelangte. Wir haben die Schatten jetzt, genau, wie ich es erwartete, gefunden, und es bleibt uns jetzt nur noch zu erklären übrig —— was mit zwei Worten geschehen kann —— in welcher Weise dieselben im Traume erschienen. Nachdem der träumende Geist versucht hatte, den wachen Eindruck von dem Doktor und der Wirthin einzeln in Verbindung mit den verkehrten Umständen hervorzubringen, findet derselbe sich beim dritten Versuche zurecht und bringt den Doctor und die Wirthin zusammen unter den richtigen Umständen zum Vorschein. Da haben Sie die Geschichte in einer Nußschale! —— Erlauben Sie mir, Ihnen mit meinem besten Danke für Ihre vollständige und auffallende Bestätigung der rationellen Theorie der Träume Ihr Manuskript zurückzugeben.« Mit diesen Worten überreichte der Doctor Midwinter dasselbe mit der unbarmherzigen Höflichkeit eines Siegers.

»Wunderbar! Von Anfang bis zu Ende kein Punkt übergangen! Beim Jupiter!« rief Allan mit der bereitwilligen Bewunderung großer Unwissenheit. »Welch eine erstaunliche Sache doch die Wissenschaft ist!«

»Kein Punkt übergangen, wie Sie sagen«, bemerkte der Doctor wohlgefällig. »Und dennoch bezweifle ich, ob es uns gelungen ist, Ihren Freund zu überzeugen!«

»Sie haben mich nicht überzeugt«, sagte Midwinter. »Aber ich maße mir deshalb nicht an zu behaupten, daß Sie Unrecht haben.«

Er sprach sehr ruhig, ja fast traurig. Die fürchterliche Ueberzeugung von dem übernatürlichen Ursprunge des Traumes, der er zu entfliehen versucht, hatte sich abermals seiner bemächtigt Sein ganzes Interesse an der Untersuchung war zu Ende; seine ganze Empfindsamkeit gegen die irritierenden Wirkungen derselben verschwunden. Irgendeinem andern Manne gegenüber würde Mr. Hawbury sich durch ein Zugeständniß, wie das, welches sein Gegner ihm soeben gemacht, besänftigt gefühlt haben; aber er hegte eine zu herzliche Abneigung gegen Midwinter, um ihn im friedlichen Genusse seiner eigenen Meinung zu belassen.

»Geben Sie zu«, frug der Doktor kampflustiger denn je, »daß ich die Spuren jedes Ereignisses in dem Traume bis zu den wachen Eindrücken zurückverfolgt habe, die dem Traume Mr. Armadales vorangingen?«

»Ich möchte dies gerade nicht in Abrede stellen«, sagte Midwinter resigniert.

»Habe ich die Schatten mit ihren lebenden Originalen identifiziert?«

»Sie haben dies zu Ihrer eigenen und zu meines Freundes Zufriedenheit gethan. Zur meinigen nicht.«

»Zur Ihrigen nicht? Können wohl Sie dieselben Identifizieren?«

»Nein. Ich kann blos warten, bis die lebenden Originale sich in der Zukunft offenbaren.«

»Das« heißt wie ein Orakel gesprochen, Mr. Midwinter. Haben Sie gegenwärtig irgendeine Vorstellung, wer jene lebenden Originale sind?«

»Ja. Ich glaube, daß künftige Ereignisse den Schatten des Weibes mit einer Person Identifizieren werden, der mein Freund noch nicht begegnet ist, und den des Mannes mit mir.«

Allan wollte sprechen Der Doctor verhinderte ihn daran.

»Lassen Sie uns darüber klar werden«, sagte er zu Midwinter. »Darf ich, indem ich Ihre eigene Betheiligung für den Augenblick bei Seite lasse, fragen, wie ein Schatten, an dem keine besonderen Kennzeichen wahrnehmbar sind, mit einem lebenden Weibe identifiziert werden kann, das Ihr Freund gar nicht kennt?« Midwinters Gesicht röthete sich ein wenig. Er fing an, die Geißel der Logik des Doctors zu fühlen.

»Das Landschaftsbild in dem Traume hatte seine besonderen Kennzeichen«, sagte er, »und in dieser Landschaft wird das Weib erscheinen, wenn es sich zum ersten Male zeigt.«

»Und dasselbe soll vermuthlich mit dem Mannesschatten der Fall sein«, sagte der Doctor, »den Sie so beharrlich mit Ihrer eignen Person Identifizieren. Sie werden in der Zukunft mit einer in Gegenwart Ihres Freundes zerbrochenen Statue, mit einem langen auf einen Garten hinausgehenden Fenster und einem Regen in Verbindung stehen, der ans Fenster schlägt? Wollen Sie dies sagen?«

»Dies will ich sagen.«

»Und so soll es sich vermuthlich auch mit der nächsten Vision verhalten? Sie und das geheimnisvolle Weib werden an einem bis jetzt unbekannten Orte zusammengeführt werden und Mr. Armadale eine bis jetzt ungenannte Flüssigkeit überreichen, die ihm Unwohlsein verursachen wird? Wollen Sie mir allen Ernstes sagen, daß Sie dies glauben?«

»Ich sage Ihnen allen Ernstes, daß ich dies glaube.«

»Und Ihrer Ansicht nach werden diese Erfüllungen des Traumes den Fortgang gewisser Ereignisse bezeichnen, in die Mr. Armadale’s Glück oder Mr. Armadale’s Sicherheit in gefährlicher Weise verwickelt ist?«

»Dies ist meine feste Ueberzeugung.«

Der Doctor stand auf, legte sein moralisches Secirmesser bei Seite, nahm dasselbe jedoch nach einem Augenblick der Ueberlegung wieder auf.

»Noch eine letzte Frage«, sagte er. »Haben Sie irgendeinen Grund dafür anzugeben, daß Sie eine so fern liegende mystische Ansicht vorziehen, wenn eine unwiderlegbare Erklärung des Traumes klar vor Ihren Augen liegt?«

»Keinen Grund«, erwiderte Midwinter, »den ich Ihnen oder meinem Freunde zu nennen im Stande bin.«

Der Doctor sah mit der Miene eines Mannes auf seine Uhr, der sich plötzlich erinnert, seine Zeit vergeudet zu haben.

»Wir gehen nicht von demselben Punkte aus«, sagte er, »und würden zu keiner Uebereinstimmung gelangen, wenn wir bis zum Tage des jüngsten Gerichts disputierten. Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie etwas plötzlich verlasse. Es ist später als ich glaubte, und meine Patienten erwarten mich im Consultationszimmer. Wenigstens habe ich Sie überzeugt, Mr. Armadale, und deshalb ist die Zeit, die wir auf diese Auseinandersetzung verwendet haben, keine ganz verlorene. Bitte, verweilen Sie hier und rauchen Sie Ihre Cigarrez ich werde Ihnen in weniger als einer Stunde wieder zu Diensten stehen.« Er nickte Allan herzlich zu, verbeugte sich steif gegen Midwinter und verließ das Zimmer.

Sowie der Doctor den Rücken gewendet hatte, verließ Allan seinen Platz am Tische und wandte sich mit jener unwiderstehlichen Herzlichkeit zu seinem Freunde, die stets ihren Weg zu Midwinters Sympathie gefunden hatte —— von dem ersten Tage an, da sie einander in dem Wirthshause in Sommersetshire begegnet waren.

»Jetzt, da das Wortgefecht zwischen Dir und dem Doctor vorüber ist«, sagte Allan, »wünsche ich meinerseits ein paar Worte zu sagen. Willst Du etwas für mich thun, das Du nicht für Dich selber zu thun einwilligen würdest?«

Midwinter’s Gesicht klärte sich augenblicklich auf. »Ich will alles thun, was Du von mir verlangst«, antwortete er.

»Sehr wohl. Willst Du den Traum von diesem Augenblicke an gänzlich aus unserer Unterhaltung verbannen?«

»Ja, wenn Du dies wünschest.«

»Willst Du noch einen Schritt weiter gehen? Willst Du aufhören, an denselben zu denken?«

»Es ist schwer, den Gedanken daran zu unterdrücken, Allan; aber ich will es versuchen.«

»Du bist ein guter Junge! Jetzt gib mir jenes bettelhafte Stück Papier und laß mich’s zerreißen und damit der Sache ein Ende machen.«

Er versuchte, seinem Freunde das Manuscript aus der Hand zu reißen; doch Midwinter war zu schnell für ihn und rettete das Papier vor Allan’s Griff.

»So gieb mir’s dacht« bat Allan. »Es liegt mir besonders daran, meine Cigarre damit anzubrennen.«

Midwinter zögerte. Es war schwer, Allan zu widerstehen; dennoch widerstand er ihm. »Ich will ein wenig warten«, sagte er, »ehe ich es Dir gebe, um Deine Cigarre damit anzubrennen.«

»Wie lange? Bis morgen?«

»Länger.«

»Bis wir die Insel Man verlassen?«

»Länger.«

»Zum Henker —— gieb mir eine deutliche Antwort auf eine deutliche Frage! Wie lange willst Du warten?«

Midwinter legte das Manuscript sorgfältig wieder in sein Taschenbuch.

»Ich will warten«, sagte er, »bis wir in Thorpe-Ambrose angelangt sind.«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Ozias Midwinter an Mr. Brock.

Thorpe-Ambrose, 15. Juni 1851.

Lieber Mr. Brock!

Wir sind seit kaum einer halben Stunde hier angelangt, und zwar in dem Augenblicke, wo die Diener das Haus für die Nacht zu schließen im Begriff waren. Allan ist, von der langen Tagereise ermüdet, zur Ruhe gegangen und hat mich in dem Zimmer, das man hier die Bibliothek nennt, allein gelassen, um Ihnen einen Bericht über unsere Reise nach Norfolk abzustatten Da ich besser an Strapazen jeder Art gewöhnt bin als er, so fühle ich mich noch munter genug, um einen Brief zu schreiben, obgleich die Stehuhr auf dem Kaminsims Mitternacht zeigt und wir seit zehn Uhr morgens auf der Reise waren.

Die letzten Nachrichten, die Sie von uns empfingen, kamen von Allan’s Hand und zwar von der Insel Man. Wenn ich nicht irre, erzählte er Ihnen von der Nacht, die wir auf dem Wrack zubrachten. Verzeihen Sie mir, lieber Mr. Brock, wenn ich mich über diesen Gegenstand nicht eher gegen Sie ausspreche, als bis ich desselben mit etwas mehr Fassung werde gedenken können. Der schwere Kampf gegen mich selbst muß wieder ganz von vorn durchgefochten werden; aber ich will mit Gottes Hilfe endlich dennoch siegen.

Es ist unnöthig, Sie mit einer Schilderung unserer Streifzüge in den nördlichen und westlichen Gegenden der Insel oder der kurzen Seefahrten zu langweilen, die wir machten, als die Ausbesserungen an der Jacht endlich beendet waren. Es wird besser sein, daß ich sogleich beim gestrigen Morgen —— dem Morgen des Fünfzehnten —— anfange. Wir waren mit der Nachtfluth in den Hafen von Douglas eingelaufen, und sowie das Postamt geöffnet war, sandte Allan auf meinen Rath ans Land, um die Briefe holen zu lassen. Der Bote kehrte nur mit einem einzigen Briefe zurück, und die Schreiberin desselben war die frühere Herrin von Thorpe-Ambrose, Mrs. Blanchard.

Ich halte es für recht, daß Sie von dem Inhalte dieses Briefes unterrichtet werden, denn derselbe hat beträchtlichen Einfluß auf Allan’s Pläne geübt. Er hat, wie Sie wissen, die Gewohnheit, alle seine Sachen zu verlieren, und hat natürlich auch diesen Brief bereits verloren. Deshalb muß ich Ihnen das Wesentliche desselben mittheilen, so gut es mir möglich ist.

Die erste Seite meldete die Abreise der Damen von Thorpe-Ambrose. Sie verließen den Ort vorgestern, den Dreizehntem mit dem Entschluß, ins Ausland zu reisen und gewisse alte Bekannte zu besuchen, die in Italien, in der Umgegend von Florenz, ansässig sind. Es scheint sehr wohl möglich, daß Mrs. Blanchard und ihre Nichte sich ebenfalls dort niederlassen werden, falls sie ein passendes Wohnhaus mit Grundstück zu finden im Stande sind. Sie haben beide eine große Vorliebe für das italienische Volk und Land und sind wohlhabend genug, um hierin ganz ihrer Neigung zu folgen. Die ältere Dame hat ihr Wittthum und die jüngere ist im Besitz des ganzen väterlichen Vermögens.

Der Inhalt der nächsten Seite war, Allan’s Ansicht nach, nichts weniger als angenehm. Nachdem sie in den dankbarsten Ausdrücken von der Güte gesprochen, mit der Allan ihr und ihrer Nichte gestattet, ihre Abreise von ihrer alten Heimath so lange zu verschieben, wie es ihnen beliebte, fügte Mrs. Blanchard hinzu, daß sein rücksichtsvolles Benehmen einen so außerordentlich günstigen Eindruck bei den Freunden und Untergebenen der Familie hervorgebracht habe, daß diese ihn bei seiner Ankunft auf dem Gute feierlich zu empfangen wünschten. Es sei bereits eine vorläufige Zusammenkunft der Gutspächter und bedeutendsten Leute der benachbarten Stadt zu diesem Zwecke gehalten worden und Allan dürfe binnen kurzem einen Brief von dem Geistlichen erwarten, worin dieser anfragen werde, wann Mr. Armadale persönlich von seinen Gütern in Norfolk Besitz zu nehmen gedenke.

Sie werden jetzt die Ursache unserer eiligen Abreise von der Insel Man errathen. Der erste Gedanke Ihres ehemaligen Zöglings, nachdem er Mrs. Blanchard’s Bericht von den Verhandlungen bei jener Zusammenkunft gelesen, war der, daß er sich diesem öffentlichen Empfange entziehen müsse, und der einzige sichere Ausweg schien ihm der zu sein, daß er nach Thorpe-Ambrose abreiste, ehe noch der Brief des Geistlichen an ihn gelangte. Ich that mein Möglichstes, ihn zu bestimmen, daß er sich die Sache ein wenig überlege, ehe er handle; aber er ließ sich nicht stören, sondern fuhr fort, seinen Mantelsack zu packen In zehn Minuten war sein Gepäck in Ordnung, und in weiteren fünf Minuten hatte er seiner Mannschaft Befehl gegeben, mit der Jacht nach Sommersetshire zurückzukehren. Der Dampfer nach Liverpool lag neben uns im Hafen, und es blieb mir wirklich nichts weiter übrig, als entweder mit ihm an Bord zu gehen oder ihn allein reisen zu lassen. Ich verschone Sie mit dem Berichte von unserer stürmischen Ueberfahrt, von der Art und Weise, wie wir in Liverpool aufgehalten wurden und dann auf unserer Landreise jedes mal die Abfahrt der Züge versäumten. Sie wissen, daß wir sicher hier angelangt sind, und dies wird Ihnen genügen. Was die Dienerschaft darüber denkt, daß ihr neuer Squire ohne ein Wort der Meldung unter ihnen erscheint, hat wenig auf sich. Wie aber das Empfangscomité darüber denken mag, wenn unsere Ankunft morgen bekannt wird, ist, wie ich fürchte, eine ernstere Sache.

Da ich bereits der Dienerschaft erwähnt habe, kann ich Ihnen sogleich sagen, daß der letzte Theil von Mrs. Blanchard’s Briefe ausschließlich von dem zum Haushalt gehörigen Personale handelte. Es scheint, daß alle Diener, sowohl die im Hause, als die außerhalb desselben beschäftigtem mit Ausnahme von dreien, hier warten, in der Hoffnung, daß Allan sie behalten wird. Zwei dieser Ausnahmen sind leicht zu erklären: Mrs. Blanchards und Miß Blanchard’s Kammerjungfern begleiten die Damen auf ihrer Reise. Die dritte Ausnahme betrifft das erste Stubenmädchen, und in diesem Falle hat die Sache einen kleinen Haken. Um mich kurz zu fassen, das Stubenmädchen ist wegen einer »Leichtfertigkeit mit einem Fremden«, wie Mrs. Blanchard sich etwas geheimnißvoll ausdrückt, über Hals und Kopf fortgeschickt worden.

Ich fürchte, daß Sie über mich lachen werden, aber ich muß die Wahrheit bekennen. Ich bin nach dem, was uns auf der Insel Man begegnete, selbst gegen die unbedeutendsten Widerwärtigkeiten, die in keiner Weise mit Allan’s Einführung in seine neue Lebensbahn oder mit seinen neuen Aussichten in Verbindung stehen können, so argwöhnisch geworden, daß ich bereits einen der Diener über diese dem Anscheine nach so unwichtige plötzliche Entlassung des Stubenmädchens befragt habe. Alles, was ich in Erfahrung bringen kann, ist, daß man einen fremden Mann in verdächtiger Weise in den Anlagen hatte umherlauern sehen; daß das Stubenmädchen eine so häßliche Person ist, um fast mit Gewißheit annehmen zu können, der Mann habe einen geheimen Zweck gehabt, indem er sich angenehm bei ihr machte; und daß er seit dem Tage ihrer Entlassung nicht mehr in der Gegend gesehen worden ist. So viel über die einzige Person, die in Thorpe-Ambrose aus dem Dienste entlassen worden ist. Ich hoffe nun, daß aus dieser Angelegenheit nicht etwa Unannehmlichkeiten für Allan erwachsen. Was die übrige dagebliebene Dienerschaft betrifft, so sagt Mrs. Blanchard von dem männlichen sowohl als dem weiblichen Theile derselben, daß sie vollkommen zuverlässige Leute sind; sie werden deshalb ohne Zweifel alle ihre gegenwärtigen Stellen behalten.

Da ich jetzt mit Mrs. Blanchards Briefe zu Ende bin, liegt mir zunächst die Pflicht ob, Ihnen Allan’s herzlichste Grüße auszurichten und Sie in seinem Namen zu bitten, daß Sie sobald als möglich hierher kommen und ihm einen längeren Besuch machen. Obgleich ich mir nicht anmaßen darf zu glauben, daß meine Wünsche viel dazu beitragen werden, Sie zur Annahme dieser Einladung zu bestimmen, so muß ich dennoch bekennen, daß ich meine eignen Gründe habe, um Ihre Anwesenheit dringend zu wünschen. Allan hat mir unschuldigerweise in Bezug auf unsere künftigen Beziehungen zu einander eine neue Sorge verursacht; ich bedarf daher Ihres Rathes sehr, um zu sehen, in welcher Weise ich diese Sorge beseitigen kann.

Was mich augenblicklich in Verlegenheit setzt, ist nämlich die Verwalterstelle zu Thorpe-Ambrose. Bis heute wußte ich blos, daß Allan seine eigenen Pläne hierüber gefaßt habe, die unter Anderem sich seltsamerweise auch auf das Vermiethen des ehemaligen Verwalterhäuschens bezogen, da der neue Verwalter im Herrenhause wohnen sollte. Ein von mir aus der Reise hierher zufällig hingeworfenes Wort bewog Allan, sich deutlicher über den Gegenstand auszusprechen als er bisher gethan, und ich erfuhr zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, daß der Mann, den er zu dieser Verwalterstelle ausersehen, Niemand anderes sei als ich!

Es ist unnöthig, Ihnen zu sagen, wie tief ich diesen neuen Beweis von Allan’s Güte gegen mich empfand. Die erste Freude darüber, daß er mir versicherte, ich verdiene den stärksten Beweis des Vertrauens, den er mir zu geben im Stande sei, ward bald durch den Schmerz verbittert, der sich in alle Freude mischt —— wenigstens in alle Freude, die ich je gekannt habe. Meine frühere Lebensweise ist mir noch nie in einem so betrübenden Lichte erschienen wie jetzt, da ich fühle, wie vollkommen untauglich dieselbe mich für die Stelle gemacht hat, die ich lieber als jede andere im Dienste meines Freundes bekleiden möchte. Ich fand den Muth, ihm zu sagen, daß ich nichts von der Geschäftskenntniß und Erfahrung besitze, die sein Verwalter haben müsse. Diesem Einwande begegnete er durch die großmüthige Erklärung, ich könne lernen; und er versprach, den Mann aus London kommen zu lassen, der bereits eine Zeit lang das Amt eines Verwalters dort versehen habe und deshalb ganz geeignet sei, mir die nöthige Anweisung zu geben. Glauben auch Sie, daß ich es lernen kann? Falls Sie es glauben, will ich Tag und Nacht arbeiten, um mich zu unterrichten .

Sollten aber, wie ich es fürchte, die Pflichten eines Verwalters zu ernster Natur sein, um von einem so jungen und unerfahrenen Menschen wie ich aus dem Stegreif erlernt zu werden, dann bitte ich Sie, Ihre Reise nach Thorpe-Ambrose zu beschleunigen und Ihren Einfluß auf Allan geltend zu machen. Er wird sich durch nichts Geringeres bewegen lassen, von meiner Person abzusehen und einen Verwalter anzustellen, der wirklich für die Stelle taugt. Ich bitte Sie dringend, in dieser Angelegenheit genau in der Weise zu handeln, die Ihnen als die beste für Allan’s Interesse erscheint. Wie sehr ich mich immer enttäuscht fühlen mag, er soll dies niemals gewahr werden.

Ich verbleibe, lieber Mr. Brock,
Ihr dankbarer

Ozias Midwinter.

P.S. Ich öffne dieses Couvert wieder, um noch ein Wort hinzuzufügen. Sollten Sie seit Ihrer Rückkehr nach Sommersetshire irgendetwas von der Frau im schwarzen Kleide und rothen Shawl gehört oder gesehen haben, so bitte ich Sie, mich, wenn Sie schreiben, davon zu benachrichtigen. O. M.

Mrs. Oldershaw an Miß; Gwilt.
Damen-Toiletten-Niederlage, Diana-Street, Pimliw.

Meine liebe Lydia!

Damit mein Brief nicht zu spät auf die Post komme, schreibe ich Dir in meinem Geschäftslocale und auf einem Geschäfts-Briefbogen, da ich, seit ich Dich zuletzt gesehen, Neuigkeiten für Dich habe, die ich Dir ohne Zeitverlust mitzutheilen für rathsam halte.

Fangen wir also beim Anfange an. Nachdem ich die Sache sorgfältig überlegt, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß Du dem jungen Armadale gegenüber wohl thun wirst, über Madeira und alles was sich dort zutrug, den Mund zu halten. Der Mutter gegenüber war Deine Stellung ohne Zweifel eine vortreffliche. Du warst ihr heimlich behilflich gewesen, ihren Vater zu hintergehen; Du warst, sobald Du ihrem Zwecke gedient, in einem jämmerlich zarten Alter auf das undankbarste von ihr entlassen worden —— und als Du nach einer Trennung von mehr als zwanzig Jahren plötzlich mit ihr zusammenkamst, fandest Du sie in sinkender Gesundheit und als Mutter eines erwachsenen Sohnes, den sie in vollkommener Unwissenheit über die wahre Geschichte ihrer Heirath gelassen hatte. Hast Du dem jungen Herrn gegenüber irgendwelche derartige Vortheile? Wenn er nicht ein geborener Einfaltspinsel ist, wird er Dich mit Deinen empörenden Verleumdungen gegen das Andenken seiner Mutter ungläubig abweisen und, da Du ihm nach so langer Zeit keine Beweise von der Sache vorzulegen im Stande bist, ist damit Deine goldene Armadale-Geldgrube eingestürzt. Ich will damit nicht gesagt haben, daß die schwere Schuld der Verpflichtung der alten Dame nach dem, was Du auf Madeira für sie gethan, bereits getilgt sei, und stelle durchaus nicht in Abrede, daß, da die Mutter Dir entwischt ist, zunächst der Sohn an der Reihe ist, Dich zu belohnen. Nur mußt Du ihn in der rechten Weise bearbeiten, meine Liebe. Der Vorschlag, den ich Dir zu machen wage, geht dahin: Bearbeite ihn in der rechten Weise!

Und welche ist die rechte Weise? Dies bringt mich auf meine Neuigkeiten. Hast Du Dir Deinen Plan, mit Hilfe Deiner Schönheit und Deines Scharfsinnes Dein Glück bei diesem jungen Herrn zu versuchen, wohl überlegt? Die Idee verfolgte mich, nachdem Du mich verlassen, in so seltsamer Weise, daß ich schließlich ein Billet an meinen Advokaten sandte und ihn ersuchte, das Testament, vermöge dessen der junge Armadale in den Besitz der Güter gelangte, sorgfältig in Doctor’s Commons zu prüfen. Das Resultat erweist sich als ein bei weitem ermuthigenderes als wir beide, Du und ich, zu hoffen gewagt haben würden. Nach dem Berichte des Advokaten bleibt kein Schatten von Zweifel mehr über das, was Du thun mußt. In zwei Worten, Lydia, ergreife den Stier bei den Hörnern —— und heirathe ihn!!

Ich rede im vollen Ernste. Dieses Wagniß verlohnt sich weit besser als Du glaubst. Bringe ihn nur dahin, daß er Dich zur Mrs. Armadale macht, und dann kannst Du allen künftigen Entdeckungen Trotz bieten. Solange er lebt, kannst Du mit ihm anfangen, was Du willst; und wenn er stirbt, berechtigt das Testament Dich, ungeachtet alles dessen, was er thun oder sagen mag —— ob Du Kinder hast oder nicht —— zu einem aus den Gütern zu entnehmenden Einkommen von zwölfhundert Pfund das Jahr, solange Du lebst. Es unterliegt dies keinem Zweifel —— der Advokat hat das Testament selbst gelesen. Mr. Blanchard hatte natürlich, als er diese Verfügung traf, seinen Sohn und dessen Wittwe im Auge. Da dieselbe jedoch sich nicht auf einen bestimmten, mit Namen genannten Erben beschränkt oder später irgendwo widerrufen ist, so ist sie bezüglich des jungen Armadale ebenso gültig, wie sie dies für den Sohn von Mr. Blanchard gewesen sein würde. Welch eine Aussicht für Dich. nach all dem Elend und den Gefahren, die Du überstanden: Herrin von Thorpe-Ambrose zu sein, solange er am Leben bleibt, und wenn er stirbt, eine lebenslängliche Jahresrente! Erangele ihn Dir, mein armes, liebes Geschöpf; erangele ihn Dir um jeden Preis!

Du wirst, wenn Du dies liest, vermuthlich denselben Einwand erheben, den Du machtest, als wir vor kurzem über den Gegenstand sprachen —— ich meine Dein Alter. Jetzt höre mich an, mein gutes Geschöpf. Es handelt sich nicht darum, ob Du mit Deinem letzten Geburtstage Dein fünfunddreißigstes Jahr erreicht hast —— wir wollen die fürchterliche Wahrheit eingestehen und nichts weiter darüber sagen —— sondern darum, ob Du so alt aussiehst wie Du bist, oder nicht. Meine Ansicht über diesen Gegenstand sollte wohl die maßgebendste in ganz London sein —— und sie ist es. Ich habe eine zwanzigjährige Erfahrung im Verjüngen verwitterter alter Gesichter und abgenutzter alter Gestalten unseres reizenden Geschlechts —— und ich versichere Dir mit Entschiedenheit, daß Du nicht um einen Tag älter als dreißig Jahre aussiehst, wenn überhaupt so alt. Wenn Du meinen Rath annehmen und insgeheim ein paar von meinen Schönheitsmitteln anwenden willst, so will ich Dir noch drei Jahre weniger garantieren. Ich will all das Geld verlieren, das ich Dir in dieser Sache vorzustrecken genöthigt sein werde, wenn Du, nachdem ich Dich in meiner Wundermühle wieder jung gemacht habe, irgendeinem Manne älter als siebenundzwanzig Jahre erscheinst —— ausgenommen natürlich, wenn Du in den frühen Morgenstunden sorgenvoll aus dem Schlafe erwachst; und dann meine Liebste, wirst Du in der Zurückgezogenheit Deines Privatgemachs alt und häßlich sein, und dies wird nichts auf sich haben.

Aber, wirst Du vielleicht einwenden, nehmen wir alles dies an, so bin ich doch im besten Falle immer noch sechs Jahre älter als er, und dies steht mir von vornherein entgegen. Meinst Du? Ueberlege Dir’s noch einmal. Deine eigenen Erfahrungen werden Dich sicherlich gelehrt haben, daß die aller gewöhnlichste Schwäche von jungen Leuten im Alter des jungen Armadale die ist, daß sie sich in Frauen verlieben, die älter sind als sie. Welche Art von Männern schätzt uns wirklich in der Blüthe unserer Jugend —— ich habe in Wahrheit alle Ursache, Gutes von der Blüthe der Jugend zu sprechen, denn ich habe heute funfzig Guineen dadurch verdient, daß ich dieselbe aus den fleckigen Schultern einer Frau hervorbrachte, die Deine Mutter sein könnte —— also, welche Art von Männern, sage ich, ist bereit, uns anzubeten, wenn wir bloße Kinder von siebzehn Jahren sind? Die munteren jungen Herren etwa, die selber in der Blüthe der Jugend stehen? Nein! Sondern die schlauen alten Gesellen, die hoch in den Vierzigen sind.

Und was ist die Moral von alledem? Daß Du, im Besitze eines Kopfes, wie Du ihn zwischen den Schultern trägst, alle Chancen auf Deiner Seite hast. Wenn Du Deine gegenwärtige verlassene Lage fühlst, was ich sehr wohl glaube; wenn Du weißt, welch eine charmante Frau Du in den Augen der Männer noch immer sein kannst, sobald es Dir beliebt; wenn Du wirklich nach jenem abscheulichen Anfalle von Verzweiflung an Bord des Dampfbootes Deine ganze ehemalige Entschlossenheit wiedergefunden hast, so wirst Du keiner ferneren Ueberredung von mir bedürfen, um dieses Experiment zu versuchen.

Wenn man bedenkt, wie die Ereignisse in dieser Welt sich drehen! Wäre jener andere junge Einfaltspinsel nicht ins Wasser gesprungen, um Dich zu retten, so würde dieser junge Einfaltspinsel nimmer die Güter erhalten haben. Es hat wirklich das Ansehen, als ob das Schicksal bestimmt habe, daß Du Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose werden sollst —— und wer kann seinem Schicksal entgehen, wie der Dichter sagt?

Sende mir, liebstes Wesen, eine einzige Zeile, um Ja oder Nein zu sagen, und glaube an die aufrichtige Liebe

Deiner alten Freundin

Maria Oldershaw.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Donnerstag.

Du altes Geschöpf, ich will nicht eher Ja oder Nein sagen, als bis ich einen langen Blick in meinen Spiegel gethan habe. Wenn Du für irgendein Wesen, außer Deinem gottlosen alten Selbst, die geringste Rücksicht zu fühlen fähig wärst, so würdest Du wissen, daß nach allem, was ich gelitten habe, der bloße Gedanke an eine abermalige Heirath genügt, um mich schaudern zu machen.

Doch kann es nicht schaden, wenn Du, während ich zu einer Entscheidung zu kommen versuche, mir noch ein wenig weitere Auskunft zukommen läßt. Es bleiben Dir aus dem Verkauf meiner Sachen noch zwanzig Pfund übrig; sende mir eine Postanweisung von zehn Pfund für meine eigenen Ausgaben und verwende die andern zehn zu heimlichen Nachforschungen in Thorpe-Ambrose. Ich wünsche zu wissen, wann die beiden Blanchardschen Frauenzimmer fortziehen und wann der junge Armadale die kalte Asche des Familienherdes aufzurühren kommt. Bist Du Dir vollkommen sicher darüber, daß er so leicht zu regieren sein wird, wie Du sagst? Falls er nach seiner heuchlerischen Mutter artet, so kann ich Dir Eins sagen —— Judas Ischariot ist wieder lebendig geworden.

Ich fühle mich in dieser Wohnung sehr behaglich. Im Garten sind reizende Blumen und die Vögel wecken mich morgens auf das angenehmste aus dem Schlafe. Ich habe ein ziemlich gutes Klavier gemiethet. Der einzige Mann, an dem mir im aller mindesten gelegen ist —— habe keine Angst, er hat seit vielen Jahren im Grabe gelegen und zwar hieß er Beethoven —— leistet mir in meinen einsamen Stunden Gesellschaft. Die Wirthin würde mir ebenfalls Gesellschaft leisten, wenn ich es ihr gestatten wollte. Ich hasse die Weiber. Der neue Hilfsprediger machte gestern meiner andern Hausgenossin einen Besuch und kam, wie er heraus und über den Rasen ging, an mir vorüber. Meine Augen haben, trotz meiner fünfunddreißig Jahre, jedenfalls noch nichts von ihrer Macht verloren! Der arme Mann erröthete förmlich, wie ich ihn ansah! Welche Farbe würde wohl sein Gesicht überzogen haben, wenn einer der kleinen Vögel im Garten ihm die wahre Geschichte der reizenden Miß Gwilt ins Ohr gezwitschert hätte?

Adieu, Mutter Oldershaw. Ich bezweifle eigentlich, ob ich mit aufrichtiger Liebe die Deine oder sonst irgend Jemandes bin; aber wir lügen alle am Fuße unserer Briefe, nicht wahr? Falls Du daher mit aufrichtiger Liebe meine alte Freundin bist, bin ich natürlich

mit aufrichtiger Liebe die Deine,

Lydia Gwilt.

P.S. Behalte Deine abscheulichen Pulver und Schmieren und Schminken für die fleckigen Schultern Deiner Kunden; keine Spur derselben soll je meine Haut berühren, das verspreche ich Dir. Wenn Du Dich wirklich nützlich zu machen wünschst, so versuche mir ein Beruhigungsmittel zu verschaffen, das mich davon heilt, im Schlafe die Zähne zu fletschen. Ich werde mir nächstens einen derselben ausbrechen, und ich möchte wissen, was dann aus meiner Schönheit werden soll?

Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

Damen-Toiletten-Niederlage, Dienstag.

Meine liebe Lydia —— Es ist außerordentlich schade, daß Dein Brief nicht an den jungen Armadale gerichtet war; Deine anmuthige Keckheit würde ihn entzückt haben. Mich rührt dieselbe nicht; ich bin so sehr daran gewöhnt, wie Du weißt. Wozu vergeudest Du Deinen funkelnden Witz an Deine unerschütterliche Oldershaw, meine Liebste? Sowie die Funken desselben aufsprühen, erlöschen sie schon wieder. Willst Du diesmal versuchen, ernst zu sein? Ich habe Neuigkeiten aus Thorpe-Ambrose für Dich, die kein Scherz sind und mit denen nicht gespielt werden darf.

Eine Stunde nachdem ich Deinen Brief erhalten, brachte ich die Nachforschungen in Gang. Da ich nicht wußte, zu welchen Folgen dieselben führen dürften, hielt ich es für das Sicherste, im finsteren anzufangen. Anstatt irgend Jemand von den Leuten zu verwenden, die in meinem eigenen Dienste stehen und welche Dich und mich kennen, ging ich nach dem geheimen Nachforschungs-Comptoir auf dem Shadyside-Platz und übergab die Sache, als eine Fremde, den Händen des Inspectors, ohne Deiner irgendwie dabei zu erwähnen. Dies hieß allerdings nicht, die Sache in der wohlfeilsten Weise anfangen, das gestehe ich, aber es war die sicherste Weise, und dies ist bei weitem wichtiger.

Der Inspector und ich verstanden einander in zehn Minuten, und es kam augenblicklich die rechte Person für den Zweck zum Vorschein —— ein junger Mann von so harmlosem Aussehen, wie Dir nur einer im Leben vorgekommen sein mag. Er reiste eine Stunde darauf nach Thorpe-Ambrose ab. Ich traf das Uebereinkommen, daß ich mir an den Nachmittagen von Sonnabend, Montag und heute auf dem Comptoir die Nachrichten abholen wolle. Aber ich fand deren keine vor bis heute, wo unser vertrauter Agent soeben nach der Stadt zurückgekehrt war und mich erwartete, um mir einen vollen Bericht über seinen Ausflug nach Norfolk abzustatten.

Vor allem laß mich Dich über Deine beiden Fragen beruhigen; ich kann Dir beide beantworten. Die Blanchardschen Frauenzimmer reisen am dreizehnten nach dem Auslande ab, und der junge Armadale segelt in diesem Augenblicke in seiner Jacht irgendwo auf dem Meere umher. Es geht in Thorpe-Ambrose ein Gerede von einem öffentlichen Empfange den man ihm zugedacht, und von einer Zusammenberufung der Orts-Magnaten, um sich hierüber zu berathen. Mit den Reden und dem ganzen Aufheben wird bei solchen Gelegenheiten meistens eine Menge Zeit vergeudet und es ist daher nicht wahrscheinlich, daß der öffentliche Empfang dem neuen Squire viel vor Ende des Monats zu Theil wird.

Ich denke, daß unser Bote, wenn er nicht mehr als dies für uns gethan hätte, schon sein Geld verdient haben würde. Aber der harmlose junge Mann ist ein wahrer Jesuit im heimlichen Nachforschen —— wobei er vor all den papistischen Pfaffen, die ich gesehen habe, den Vorzug voraus hat, daß seine Schlauheit nicht in seinem Gesichte geschrieben sieht. Da er sich seine Auskunft durch die weibliche Dienerschaft des Hauses zu verschaffen genöthigt war, wandte er sich mit bewundernswerther Discretion an die häßlichste Person im ganzen Hause. »Wenn die Mädchen hübsch sind und die Wahl haben«, sagte er zu mir, »vergeuden sie viel kostbare Zeit in ihrer Wahl eines Liebhabers. Sind sie aber häßlich und haben keinen Schatten von Aussicht auf eine Wahl, so stürzen sie sich auf den ersten besten Liebhaber, der ihnen in den Weg läuft, wie ein verhungernder Hund sich auf einen Knochen stürzt.« Es gelang unserm vertrauten Agenten, da er nach diesen vortrefflichen Grundsätzen handelte, nach einigem unvermeidlichen Verzuge, sich mit dem Oberstubenmädchen zu Thorpe-Ambrose in Verbindung und schon beim ersten Zusammenkommen in den Besitz ihres vollen Vertrauens zu setzen. Der erhaltenen Instructionen eingedenk, brachte er die Person zum Plaudern und ward natürlich umständlich mit dem ganzen Bedientengeschwätze bekannt gemacht. Der größere Theil desselben war ohne die allergeringste Wichtigkeit. Doch hörte ich geduldig zu und wurde endlich durch eine werthvolle Entdeckung entschädigt Dieselbe ist folgende:

Wie es scheint, steht in den Parkanlagen von Thorpe-Ancbrose ein hübsches Häuschen Aus irgendeinem nicht bekannten Grunde hat es dem jungen Armadale beliebt, dasselbe zu vermuthen, und der neue Bewohner ist bereits eingezogen. Dieser ist ein armer Major außer Diensten, Namens Milroy —— eine bescheidene Art von Mann, wie es heißt, der eine Liebhaberei von Beschäftigungen in der Mechanik, außerdem aber ein häusliches Mißgeschick in der Gestalt einer bettlägerigen Gattin hat, die noch von Niemandem erblickt worden ist. Nun, und was soll alles dies? wirst Du mit jener sprühenden Ungeduld fragen, die Dir so vortrefflich steht. Meine liebe Lydia, sprühe nicht! Die Familienangelegenheiten dieses Mannes sind für uns beide von der größten Wichtigkeit, denn zum großen Unglück hat der Mann eine Tochter!

Du wirst Dir denken können, wie ich unsern Agenten ausfragte, und wie dieser sein Gedächtniß durchstöberte, als ich im Verlauf der Unterhaltung plötzlich eine solche Entdeckung machte. Wenn der Himmel für die geschwätzigen Zungen der Weiber verantwortlich ist, so sei der Himmel gelobt! Der Redefluß tröpfelte von Miß Blanchard’s Zunge zu der von Miß Blanchard’s Jungfer, von Miß Blanchard’s Jungfer zur Jungfer von Miß Blanchard’s Tante, von der Jungfer von Miß Blanchards Tante zu dem häßlichen Oberstubenmädchen, von dem häßlichen Oberstubenmädchen zu dem harmlos aussehenden jungen Manne und ergoß sich endlich in das richtige Behältniß —— und die durstige Mutter Oldershaw hat alles aufgeschlürft. Mit deutlichen Worten, meine Liebste, verhält sich die Sache also folgendermaßen. Die Tochter des Majors ist ein Mädchen von kaum sechzehn Jahren; lebhaft und hübsch —— das hassenswerthe kleine Ungeheuer —— unordentlich in ihrer Kleidung —— dem Himmel sei Dank —— und in ihren Manieren noch nicht ausgefeilt genug —— dem Himmel sei nochmals Dank! Sie ist zu Hause erzogen worden. Die Erzieherin, der sie zuletzt anvertraut war, verließ sie, ehe ihr Vater nach Thorpe-Ambrose kam. Ihre Ausbildung bedarf durchaus der letzten Politur, und der Vater weiß nicht, was er jetzt deshalb thun soll. Unter seinen Bekannten weiß ihm Niemand eine neue Erzieherin zu empfehlen und er kann sich nicht entschließen, das Mädchen in eine Schule zu senden. Und so steht jetzt die Sache, nach des Majors eigener Angabe —— denn dahin sprach er sich bei einem Morgenbesuche aus, den Vater und Tochter im großen Hause abstatteten.

Damit hast Du jetzt meine versprochene Neuigkeit, und ich denke mir, daß Du leicht mit mir darin übereinstimmen wirst, daß diese Armadalesche Angelegenheit sofort auf die eine oder andere Weise arrangiert werden muß. Falls Du —— bei Deinen hoffnungslosen Aussichten und bei dem Anrechte, daß Du, wie ich wohl sagen darf, an diesen jungen Menschen hast —— Dich entschließest, ihn aufzugeben, werde ich das Vergnügen haben, Dir den Ueberschuß zu senden, den Du noch bei mir gut hast, nämlich siebenundzwanzig Schillinge und so frei sein, mich ferner nur meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen. Solltest Du Dich aber im Gegentheil dazu entschließen, in Thorpe-Ambrose Dein Glück zu versuchen, dann möchte ich, da es durchaus keinem Zweifel unterliegen kann, daß das Aeffchen des Majors den jungen Squire zu fangen versuchen wird, wohl wissen, in welcher Weise Du der doppelten Schwierigkeit, den jungen Armadale zu entflammen und Miß Milroy auszustechen, zu begegnen gedenkst

Aufrichtig die Deine

Maria Oldershaw.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Mittwoch Morgen.

Mrs. Oldershaw —— Senden Sie mir meine siebenundzwanzig Schillinge und widmen Sie sich Ihren eigenen Angelegenheiten.

Die Ihre,

L.G.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Mittwoch Abend.

Du liebe Alte, behalte die siebenundzwanzig Schillinge und verbrenne meinen letzten Brief. Ich bin andern Sinnes geworden.

Ich schrieb das erste Mal nach einer schauerlichen Nacht; diesmal nach einem Spazierritte, einem großen Glase Bordeaux und seiner gebratenen Hühnerbrust. Ist dies eine hinreichende Erklärung? Bitte, sage Ja —— denn ich wünsche, zu meinem Klavier zurückzukehren.

Doch nein, ich kann noch nicht dorthin zurück —— ich muß zuvor Deine Frage beantworten. Aber bist Du wirklich so einfältig, Dir einzubilden, daß ich Dich und Deinen Brief nicht durchschaue? Du weißt ebenso wohl wie ich, daß die Schwierigkeit, in der der Major sich befindet, die beste Gelegenheit für uns ist; aber Du wünschest, daß ich die Verantwortlichkeit des ersten Vorschlags auf mich nehme, nicht wahr? Gesetzt, ich thäte dies nach Deiner weitschweifigen Weise? Gesetzt ich sagte: Bitte, frage mich nicht, in welcher Weise ich den jungen Armadale zu entflammen und Miß Milroy auszustechen gedenke; die Frage ist wirklich eine so abscheulich schroffe, daß ich sie nicht beantworten kann. Frage mich lieber, ob der bescheidene Ehrgeiz meines Daseins dahin geht, Miß Milroy’s Erzieherin zu werden? —— Ja, wenn ich bitten darf, Mrs. Oldershaw —— und wenn Sie mir dazu behilflich sein wollen, indem Sie mir Ihre Empfehlung geben.

Da hast Du’s! Wenn sich irgendein großes Unglück ereignet, was vollkommen wohl möglich ist, da wirst Du großen Trost in der Erinnerung finden, daß dies alles meine Schuld war!

Willst Du jetzt, da ich dies für Dich gethan habe, auch etwas für mich thun?

Es verlangt mich, die kurze Zeit, die mir noch hier bleibt, auf meine eigene Weise zu verträumen. Sei eine barmherzige Mutter Oldershaw und verschone mich mit den Widerwärtigkeiten des ganzen Manövers und dem Dafür und Dawider bezüglich meiner Aussichten in diesem neuen unternehmen. Kurz, denke für mich, bis ich für mich selber zu denken gezwungen bin.

Ich will lieber nichts weiter schreiben, da ich sonst leicht etwas Wüthendes sagen dürfte, das Dir nicht behagen möchte. Ich habe heute Abend einen meiner Wuthanfälle. Ich sehne mich nach einem Gatten, den ich ärgern, oder nach einem Kinde, das ich schlagen könnte. Ergötzest Du Dich zuweilen daran, die Sommerinsecten sich in den Kerzenflammen tödten zu sehen? Ich thue dies oft. Gute Nacht, Madame Jesabel. Je länger Du mich hier lassen kannst, desto besser. Die Luft sagt mir zu und ich sehe charmant aus.

L. G.

Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.
Meine liebe Lydia!

Manche Leute an meiner Stelle würden sich durch den Ton Deines letzten Briefes ein wenig beleidigt fühlen. Aber ich bin Dir so innig zugethan! Und wenn ich ein Wesen liebe, ist es schwer für dieses Wesen, mich zu beleidigen! Mache das nächste Mal keinen so langen Spazierritt und trinke nur ein kleines Glas Bordeaux. Mehr sage ich nicht.

Wollen wir unser Wortgefecht jetzt aufgeben und einmal ernstlich reden? Wie außerordentlich schwer es den Frauen zu werden scheint, einander zu verstehen —— namentlich wenn sie die Feder in der Hand haben! Doch wollen wir’s versuchen.

Zum ersten also entnehme ich aus Deinem briefe, daß Du den weisen Entschluß gefaßt hast, das Thorpe-Ambrosesche Experiment zu versuchen —— und Dir gleich beim Beginn eine vortreffliche Stellung zu sichern, indem Du ein Mitglied von Major Milroy’s Familienkreise wirst. Sollten die Umstände Dir ungünstig sein und eine andere Person die Gouvernantenstelle erhalten, so wird Dir nichts übrig bleiben, als in einer andern Rolle Mr. Armadales Bekanntschaft zu tauchen. In jedem Falle wirst Du meines Beistandes bedürfen, und der erste Punkt, der zwischen uns entschieden werden muß, ist deshalb die Frage in Bezug auf das, was ich zu thun bereit und zu thun im Stande bin, um Dir zu helfen.

Eine Frau von Deinem Aussehen, meine liebe Lydia, Deinen Manieren, Deinen Talenten und Deiner Erziehung kann fast jede ihr beliebige Stellung in der Gesellschaft erlangen, wenn sie Geld in der Tasche und für den Nothfall achtbare Empfehlungen aufzuweisen hat. Erstens, was das Geld betrifft. Ich verpflichte mich, dasselbe zu verschaffen, unter der Bedingung, daß Du Dich meiner Hilfe mit entsprechender Pecuniärer Dankbarkeit erinnerst, falls Du den Armadaleschen Preis erringst. Dein Versprechen, in dieser Weise meiner gedenken zu wollen, soll in Verbindung mit deutlichen Zahlen von meinem eigenen Advokaten zu Papier gebracht werden, damit wir die Sache sofort abmachen und unterschreiben können, wenn ich Dich in London sehe.

Dann, was die Empfehlung betrifft. Hier stehen Dir meine Dienste abermals zu Gebote —— unter einer andern Bedingung. Dieselbe ist folgende: Du führst Dich unter dem Namen in Thorpe-Ambrose ein, den Du seit jener fürchterlichen Angelegenheit bezüglich Deiner Heirath wieder angenommen hast —— ich meine Deinen Mädchennamen Gwilt. Ich habe hierbei nur einen einzigen Zweck im Auge; ich wünsche keine unnöthige Gefahr zu laufen. Meine Erfahrung als vertraute Rathgeberin meiner Kunden in mancherlei romantischen Fällen geheimer Verlegenheiten hat mich gelehrt, daß ein falscher Name in neun Fällen unter zehn eine sehr unnöthige und sehr gefährliche Art von Betrug ist. Deine Annahme eines falschen Namens könnte durch nichts gerechtfertigt werden als durch die Furcht, von dem jungen Armadale erkannt zu werden —— eine Furcht, von der wir glücklicherweise durch das Verfahren seiner Mutter befreit sind, die ihre frühere Bekanntschaft mit Dir vor ihrem Sohne wie vor allen andern Leuten geheim gehalten hat.

Die nächste und letzte Schwierigkeit, meine Liebste, betrifft Deine Aussichten, in Major Milroy’s Familie als Gouvernante Aufnahme zu finden. Sobald Du einmal im Hause bist, kannst Du mit Deinen Talenten für Musik und Sprachen, vorausgesetzt, daß Du Deine Heftigkeit zu beherrschen im Stande bist, Deine Stelle zu behalten sicher sein. Wie die Sachen jetzt stehen, ist der einzige Zweifel nur der, ob Du dieselbe erlangen wirst.

Bei der Schwierigkeit, in der der Major sich augenblicklich befindet, spricht alles dafür, daß er durch Zeitungsannoncen eine Gouvernante sucht. Nehmen wir an, er thut dies —— wohin wird er dann die Bewerberinnen bestellen? Darin liegt die wahre Schwierigkeit für uns. Giebt er eine Adresse in London an, so mögen wir nur sofort jeder Chance zu Deinen Gunsten Lebewohl sagen, und zwar aus dem Grunde, weil wir seine Annonce nicht unter allen ähnlichen Annoncen von Leuten herauszuerkennen im Stande sein werden, die ebenfalls Gouvernanten suchen und ebenfalls Adressen in London angeben. Falls aber unser Glück uns nicht im Stiche läßt und er seine Correspondenten an einen Kaufladen oder ein Postamt oder was sonst immer in Thorpe-Ambrose verweist, so ist uns unsere Annonce dadurch so deutlich bezeichnet, wie wir es nur wünschen können. In diesem Falle hege ich wenig oder gar keinen Zweifel darüber, daß Du —— mit Hilfe einer Empfehlung von mir —— Deinen Weg in den Familienkreis des Majors finden wirst. Wir haben einen großen Vorzug vor den andern Personen voraus, die sich ebenfalls um die Stelle bewerben werden. Vermöge meiner Nachforschungen am Orte selber wissen wir, daß Major Milroy ein armer Mann ist, und wir wollen einen so niedrigen Gehalt fordern, daß der Major sich sicherlich dadurch verlocken läßt. Was den Stil des Briefes betrifft, so möchte ich wissen, wer uns beide in der Abfassung einer bescheidenen und interessanten Bewerbung um die Stelle zu übertreffen im Stande wäre?

Alles dies liegt indessen noch in der Zukunft. Für jetzt geht mein Rath dahin, daß Du bleibst, wo Du bist, und nach Herzenslust fort träumst, bis Du wieder von mir hörst. Ich halte die Times regelmäßig, und Du magst Dich darauf verlassen, daß die Annonce meinem scharfen Auge nicht entgehen wird. Wir können dem Major glücklicherweise Zeit lassen, ohne dadurch unserm eigenen Interesse zu schaden, denn es steht für jetzt noch nicht zu befürchten, daß das Mädchen Dir zuvorkommen wird. Der öffentliche Empfang wird, wie wir wissen, nicht vor Ende des Monats stattfinden können, und wir dürfen uns mit Sicherheit darauf verlassen, daß die Eitelkeit des jungen Armadale ihn vom Hause fern halten wird, bis alle seine Schmeichler zu seiner Bewillkommnung versammelt sind. Laß uns noch wenigstens zehn Tage warten, ehe wir die Gouvernanten-Idee aufgeben und die Köpfe zusammenstecken, um einen neuen Plan ausfindig zu machen.

Ist es nicht merkwürdig, wie viel von der Entscheidung dieses pensionierten Offiziers abhängt? Was mich betrifft, so werde ich jetzt jeden Morgen mit einem und demselben Gedanken erwachen. Welche Adresse wird der Major angeben, wenn er eine Annonce in die Zeitung setzt —— Thorpe-Ambrose oder London?

Immer von Herzen die Deine

Maria Oldershaw.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Allan stand am Morgen nach seiner ersten Nacht in Thorpe-Ambrose frühe auf und betrachtete mit einem gewissen Mißbehagen darüber, daß er sich in seinem eigenen Hause so fremd fühlte, den Theil seines neuen Besitzthums, den er durch das Fenster seiner Schlafstube erblicken konnte.

Das Schlafzimmer befand sich über der großen Eingangsthür mit ihrem Porticus, ihrer Terrasse und ihrer Stufenflucht, vor der im Hintergrunde der große dichte Park die Aussicht schloß. Der Morgennebel um schwebte leicht die fernen Bäume, und die Kühe weideten gesellig in der unmittelbaren Nähe des eisernen Stakets, das den Park von der Auffahrt zum Hause trennte. »Alles mein !« dachte Allan,«indem er seine Besitzungen verdutzt anstaunte. »Hol’ mich der Henker; das will mir nicht in den Kopf! Alles mein!«

Er kleidete sich an, verließ sein Zimmer und ging den Corridor entlang, der nach der Treppe und der großen Eingangshalle führte, wobei er im Vorüber- gehen der Reihe nach alle Thüren öffnete. Die Gemächer in diesem Theile des Hauses waren Schlafzimmer und Ankleidezimmer, hell, geräumig und vollständig meublirt; alle diese Räumlichkeiten waren unbenutzt, das Schlafzimmer neben Allan’s eigenem Schlafzimmer allein ausgenommen, welches Midwinter angewiesen worden war. Dieser schlief noch, als sein Freund zu ihm hineinschaute, da er bis spät in der Nacht gesessen hatte, um seinen Brief an Mr. Brock zu schreiben. Allan ging bis ans Ende des ersten Corridors, bog im rechten Winkel in einen zweiten ein und sah sich, nachdem er denselben durchschritten, an dem oberen Ende der großen Haupttreppe. »Nichts Romantisches hier«, sprach er bei sich, indem er die mit schönen Teppichen bedeckte bequeme steinerne Treppe hinabsah, die in die moderne helle Eingangshalle führte. »Es ist nichts in diesem Hause, was Midwinters unruhige Nerven zu stören geeignet wäre.« Auch war dort in der That nichts der Art zu sehen; Allan’s durchaus oberflächliche Beobachtung hatte ihn für diesmal wenigstens nicht irre geleitet. Das stattliche Herrenhaus von Thorpe-Ambrose, welches nach dem Abreißen des verfallenen alten Wohnhauses errichtet worden war, war kaum fünfzig Jahre alt. In keinem Theile desselben war irgendetwas Malerisches oder etwas, das im allermindesten an Geheimnisse und Romantik erinnerte, zu finden. Es war eben ein Landhaus in rein conventionellem Stil — das Product der classischen Idee in verständiger Weise durch den commerciellen englischen Geist hindurchfiltrirt. Von außen betrachtet bot dasselbe den Anblick einer modernen Fabrik, die sich bemüht, wie ein Tempel des Alterthums auszusehen; im Innern war es vom Souterrain bis zum Dache ein Wunder von reicher Bequemlichkeit. »Uebrigens ist es ganz recht so«, dachte Allan, indem er langsam und zufrieden die breite flachstufige Treppe hinunterging. »Zum Henker mit aller Heimlichkeit und Romantik! Laßt uns sauber sein und Bequemlichkeit haben, sage ich!«

In der Eingangshalle angelangt, stand der neue Herr von Thorpe-Ambrose still und schaute sich ringsum, in Ungewißheit, wohin er sich zunächst wenden solle. Die vier Empfangszimmer im Erdgeschoß, je zwei auf jeder Seite, öffneten sich nach der Eingangshalle. Allan versuchte aufs Gerathewohl die nächste Thür zu seiner Rechten und sah sich im besten Gesellschaftszimmer. Hier gewahrte er das erste Lebenszeichen unter der anziehendsten Gestalt des Lebens. Ein junges Mädchen war im alleinigen Besitz des Gesellschaftszimmers. Das Wischtuch in ihrer Hand schien darauf hinzudeuten, daß ihr die häuslichen Verrichtungen oblagen; in diesem Augenblicke aber gestattete sie den Ansprüchen der Natur den Vorrang vor den Verpflichtungen ihres Dienstes. Mit andern Worten —— sie betrachtete ihr eigenes Antlitz in dem Spiegel über dem Kamine.

»So, so, erschreckt nicht vor mir«, sagte Allan, als das Mädchen vor dem Spiegel zurückfuhr und ihn in unaussprechlicher Verwirrung anstarrte. »Ich bin ganz Eurer Ansicht, mein Kind: Euer Gesicht ist sehr wohl des Ansehens werth. Wer seid Ihr? —— Das Stubenmädchen —— gut! Und Ihr heißt? Susan, wie? Kommt! Euer Name gefällt mir schon. Wißt Ihr, wer ich bin, Susan? Ich bin Euer Herr, obgleich Ihr dies kaum glauben mögt. Euer Zeugniß? O, ja wohl! Mrs. Blanchard hat Euch ein vortreffliches Zeugniß gegeben. Ihr sollt bleiben; fürchtet nichts. Und Ihr werdet ein braves Mädchen sein, Susan, und hübsche Häubchen und saubere Schürzen und bunte Bänder tragen, und werdet hübsch aussehen und die Meubles abstäuben, wie?«

Nachdem er in dieser Weise die Pflichten eines Stubenmädchens zusammengefaßt, spazierte Allan wieder in die Eingangshalle hinaus und entdeckte hier fernere Lebenszeichen. Ein Bedienter erschien und verbeugte sich, wie es einem Vasallen in einer Leinwandjacke zukommt, vor seinem Herrn.

»Und wer mögt Ihr wohl sein?« frug Allan. »Doch nicht der Mann, der uns gestern Abend einließ? Ah, das dachte ich mir wohl. Der zweite Bediente, wie? Zeugniß? O, ja, vortreffliches Zeugniß. Versteht sich, Ihr bleibt. Könnt mich als Kammerdiener bedienen, wie? O, zum Kuckuck mit der Kammerdienerei! Ich kleide mich lieber allein an und bürste meine Kleider am liebsten selbst, und zwar wenn ich schon drin stecke; und wenn ich es nur verstünde, beim heiligen Georg, so möcht’ ich mir sogar die Stiefel selber putzen! Was ist dies für ein Zimmer? Wohnzimmer,y wie? Und dies natürlich das Eßzimmer Gerechter Himmel, welch eine Speisetafel! So lang wie meine Jacht, ja noch länger. Aber hört —— beiläufig —— wie heißt Ihr? Richard, wie? —— Nun Richard, das Schiff, in dem ich segle, habe ich selber gebaut. Was sagt Ihr dazu? Ihr seht mir gerade wie der rechte Mann aus, um mir an Bord als Steward zu dienen. Wenn Ihr auf dem Wasser nicht seekrank werdet —— o, Ihr werdet seekrank auf dem Wasser? Nun, dann wollen wir nicht weiter davon reden. Und welches Zimmer ist dies? Ah, ja wohl, das Bibliothekzimmer, versteht sich —— schlägt mehr in Mr. Midwinters Fach als in das meinige. Mr. Midwinter ist der Herr, der hier gestern Abend mit mir ankam; und laßt Euch’s gesagt sein, Richard, Ihr alle sollt ihm dieselbe Aufmerksamkeit wie mir erzeigen. Wo sind wir jetzt? Welche Thür ist diese hier hinten? Billardzimmer und Rauchzimmer wie? Das ist herrlich. Noch eine Thür! Und noch mehr Treppen? Wohin führt diese Treppe —— und wer kommt hier herauf? Lassen Sie sich Zeit, Madame; Sie sind nicht mehr ganz so jung wie ehedem —— lassen Sie sich Zeit!«

Diese humane Warnung galt einer corpulenten ältlichen Frau, welche Allan passender mit »Mutter« denn mit »Madame« angeredet hätte. Vierzehn Stufen waren alles, was sie vom Herrn des Hauses trennte; sie stieg dieselben mit vierzehnmaligem Stillstehen und vierzehn Seufzern hinan. Die Natur, die sich in allen Dingen so mannigfaltig zeigt, ist im weiblichen Geschlechte ganz besonders mannigfaltig. Es giebt Frauen, deren persönliche Eigenschaften an die Liebesgötter und die Grazien erinnern; und es giebt andere, deren persönliche Eigenschaften an Fetttöpfe erinnern. Die in Frage stehende war eine von den andern Frauen.

»Freut mich, Sie so wohl zu sehen, Madame«, sagte Allan, als die Köchin —— denn als solche offenbarte sie sich —— in der Majestät ihres Amtes vor ihm stand. »Sie heißen Gripper, wie? Ich betrachte Sie als die schätzbarste Person im ganzen Hause, Mrs. Gripper, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Niemand im Hause einen so herzhaften Appetit hat wie ich. Meine Befehle? O, nein, ich wünsche keine Befehle zu geben. Ich überlasse das alles Ihnen. Eine kräftige Suppe —— Fleisch, aus dem der Saft nicht heraus gebraten ist —— da haben Sie in zwei Worten meine Begriffe von einem guten Diner Aufgepaßt! Hier kommt noch Jemand. O, versteht sich —— der Kellerineister. Wir wollen den Wein im Keller von vorne an durchprobieren und uns bis zu Ende durch trinken, Herr Kellermeister; und wenn ich Euch dann noch keine gründliche Ansicht über denselben abzugeben im Stande bin, wollen wir wieder von vorn anfangen. Da wir vom Weine sprechen —— hollah! Hier kommen noch mehr Leute die Treppe herauf. Schon gut, schon gut! Bemüht Euch nicht. Ihr alle habt vortreffliche Zeugnisse und sollt alle bei mir bleiben. Was wollte ich soeben sagen? Etwas über den Wein; ganz recht. Ich will Euch etwas sagen, Herr Kellermeister; es kommt nicht alle Tage ein neuer Herr in Thorpe-Ambrose an, und es ist mein Wunsch, daß wir alle im besten Vernehmen mit einander anfangen: Laßt die Leute unten einen großartigen Schmaus haben, um meine Ankunft zu feiern; und gebt ihnen, was sie am liebsten haben, damit sie meine Gesundheit trinken. Ein Herz, das nimmer froh, ist zu beklagen, nicht wahr, Mrs. Gripper? Nein; ich will mir den Keller jetzt nicht ansehen; ich wünsche auszugehen und vor dem Frühstück ein wenig frische Lust zu athmen. Wo ist Richard? Sagt einmal, habe ich hier irgendwo einen Garten? Auf welcher Seite des Hauses? Auf dieser Seite, wie? Ihr braucht mich nicht herumzuführen. Ich will allein gehen, Richard, und mich womöglich auf meinem eigenen Besitzthum verirren.«

Mit diesen Worten ging Allan, fröhlich pfeifend, die Terrassenstufen vor dem Hause hinunter. Er hatte die ernste Pflicht, seine häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, zu seiner eigenen völligen Zufriedenheit erfüllt. »Die Leute reden von der Schwierigkeit, mit ihrer Dienerschaft fertig zu werden«, dachte Allan. »Was in aller Welt wollen sie damit sagen? Ich finde dies durchaus nicht schwer.« Nachdem er durch ein zierliches Gitterthor eingetreten war, ging er, den Weisungen des Bedienten folgend, in das Gebüsch hinein, hinter dem die Gärten von Thorpe-Ambrose gelegen waren. »Ein hübscher schattiger Ort, um eine Cigarre zu rauchen«, sagte Allan, wie er, die Hände. in den Taschen, daher schlenderte. »Ich wollte, ich könnte es mir in den Kopf hinein trommeln, daß dies alles wirklich mir gehört.«

Das Gebüsch öffnete sich auf einen großen Blumengarten, der in der hellen Morgensonne funkelnd in seiner Sommerpracht dalag. Auf der einen Seite führte ein Bogengang, der durch eine Mauer gebrochen war, nach dem Obstgarten; auf der andern gelangte man vermittelst einer Rasenterrasse aus einen niedrigeren Platz, der wie ein italienischer Garten angelegt war. An den Springbrunnen und Statuen vorübergehend, erreichte Allan abermals ein Gebüsch, das dem Anscheine nach in einen entlegenen Theil der Anlagen auslief. Bis hierher hatte sich nirgendwo ein menschliches Wesen sehen oder hören lassen; doch als er am Ende des zweiten Gebüsches anlangte, war es ihm, als ob er etwas höre. Er stand still und lauschte Es waren zwei deutlich vernehmbare Stimmen —— eine ältere, die sehr halsstarrig, und eine jugendliche, die sehr aufgebracht klang.

»Es nützt nichts, Miß«, sagte die erstere Stimme. »Ich darf es nicht erlauben und will es nicht erlauben. Was würde wohl Mr. Armadale dazu sagen?«

»Wenn Mr. Armadale der Gentleman ist, für den ich ihn halte, Ihr altes Ungeheuer«, erwiderte die jugendliche Stimme, »so würde er sagen: »Kommen Sie in meinen Garten, so oft es Ihnen beliebt, Miß Milroy, und pflücken Sie so viele Sträuße, wie es Ihnen gefällt.«

Allan’s klare blaue Augen funkelten muthwillig. Durch einen plötzlichen Einfall angespornt, schlich er leise nach dem Ende des Gebüsches, schoß um die Ecke, sprang über ein niedriges Staket und befand sich in einem zierlichen kleinen Gehege, durch das sich ein Kiespfad hinzog. In kurzer Entfernung erblickte er auf diesem Pfade eine junge Dame, die ihm den Rücken zuwandte und sich an einem alten Manne vorbeizudrängen versuchte, der sich ihr, mit dem Rechen in der Hand, hartnäckig und kopfschüttelnd in den Weg stellte.

»Kommen Sie in meinen Garten, so oft es Ihnen beliebt, Miß Milroy, und pflücken Sie so viele Sträuße, wie es Ihnen gefällt«, rief Allan, ihre Worte wiederholend.

Die junge Dame wandte sich mit einem hellen Aufschrei zu ihm um; ihr Musselinröckchen das sie vor sich emporhielt, entglitt ihrer Hand, und aus demselben stürzte ein ganzer Schoß voll Blumen auf den Kiespfad.

Ehe noch ein Wort weiter gesagt werden konnte, trat der unerschütterliche alte Mann vor und ging mit der größten Gelassenheit auf den Gegenstand seines eigenen persönlichen Interesses ein, wie wenn durchaus gar nichts vorgefallen und außer ihm und seinem neuen Herrn Niemand zugegen gewesen wäre.

»Ich heiße Sie bescheidentlich in Thorpe-Ambrose willkommen, Sir«, sagte der Alte. »Ich heiße Abraham Sage und bin seit mehr als vierzig Jahren in diesen Anlagen angestellt gewesen; ich hoffe, daß Sie die Güte haben werden, mir meine Stelle zu lassen.«

Mit diesen Worten, nur sein eigenes Interesse verfolgend, redete der Gärtner seinen neuen Herrn an —— und sprach vergebens. Allan lag auf dem Kiespfade auf den Knieen, um die gefallenen Blumen aufzusammeln, und empfing seine ersten Eindrücke von Miß Milroy. Sie war hübsch und auch wieder nicht hübsch; sie bezauberte, sie enttäuschte, sie bezauberte abermals. Nach dem gewöhnlichen Maßstabe für weibliche Schönheit war sie zu klein und zu entwickelt für ihr Alter. Und dennoch würden wenige Männer ihre Gestalt anders gewünscht haben als sie war. Ihre kleinen Hände waren so hübsch gerundet und hatten so niedliche Grübchen, daß es schwer war, zu bemerken, wie roth sie seien vor Uebermaß gesegneter Jugend und Gesundheit. Ihre Füße waren eine zierliche Entschuldigung für ihre alten schlecht sitzenden Schuhe, und der Anblick ihrer Schultern entschädigte für das Musselingewand, das dieselben zu bedecken bestimmt war. Ihre dunkelgrauen Augen bezauberten durch die klare Weichheit der Farbe, durch ihre Lebhaftigkeit, Zärtlichkeit und die sanfte Gutherzigkeit des Ausdrucks; ihr Haar war, soweit ein abgetragener alter Gartenhut dasselbe sichtbar werden ließ, gerade von derjenigen helleren Schattierung von Braun, die durch den Contrast den Werth der dunkleren Schönheit ihrer Augen erhöhte. Nach diesen Reizen aber fingen die dieselben begleitenden kleinen Fehler und Unvollkommenheiten dieses sich selbst widersprechenden Mädchens wieder an. Ihre Nase war zu kurz, ihr Mund zu groß, ihr Gesicht zu rund und zu rosig. Die grausige Gerechtigkeit der Photographie würde kein Erbarmen mit ihr gehabt und die Bildhauer des alten Griechenland würden sie mit Bedauern aus ihrem Atelier herauscomplimentirt haben. Allein, alles dies zugegeben, war der Gürtel, der Miß Milroy’s Taille umschlang, dennoch ein Venus-Gürtel, und Allan hatte sich bereits in sie verliebt, ehe noch die zweite Handvoll Blumen aufgesammelt war.

»O, thun Sie das nicht, bitte, Mr. Armadale, thun Sie das nicht!« sagte sie, die Blumen unter Protest entgegennehmend, wie Allan dieselben in den Schoß ihres Kleides zurückwarf. »Ich bin so beschämt! Ich beabsichtigte gar nicht, mich in dieser dreisten Weise in Ihren Garten einzuladen; meine Zunge ging mit mir durch —— glauben Sie es mir! Was kann ich nur zu meiner Entschuldigung sagen? O, Mr. Armadale, was müssen Sie nur von mir denken!«

Allan sah plötzlich eine Gelegenheit zu einem Compliment und warf ihr dasselbe sofort mit der dritten Handvoll Blumen zu.

»Das will ich Ihnen gleich sagen, Miß Milroy«, antwortete er in seiner offenen knabenhaften Weise. »Ich denke, daß der glücklichste Spaziergang, den ich in meinem ganzen Leben gemacht habe, derjenige ist, der mich heute Morgen hierher führte.«

Er sah dabei lebhaft und schön aus. Er redete nicht zu einem Weibe, das von Bewunderung übersättigt war, sondern zu einem Mädchen, das eben erst sein Frauenleben begann —— und es that ihm jedenfalls keinen Abbruch, daß er in der Rolle des Herrn von Thorpe-Ambrose sprach. Der reumüthige Ausdruck schwand allmählig aus Miß Milroy’s Gesichte; sie blickte bescheiden und lächelnd auf die Blumen in ihrem Schoße.

»Ich verdiene tüchtig ausgezankt zu werden«, sagte sie. »Ich verdiene keine Complimente Mr. Armadale, am allerwenigsten von Ihnen.«

»O, doch!« rief der ungestüme Allan, indem er behende aufsprang. »Und übrigens ist es kein Compliment; es ist wahr. Sie sind das hübscheste —— ich bitte um Vergebung, Miß Milroy! Diesmal ging meine Zunge mit mir durch.«

Nichts fällt wohl der weiblichen Natur im Alter von sechzehn Jahren schwerer, als ernst zu sein. Miß Milroy kämpfte mit sich —— kicherte —— kämpfte abermals —— und bezwang sich dann für den Augenblick.

Der Gärtner, der noch immer regungslos an derselben Stelle stand und auf die nächste passende Gelegenheit wartete, erblickte dieselbe jetzt und schob sanft sein persönliches Interesse in die erste Spalte des Schweigens, die sich für ihn geöffnet, seit Allan auf dem Schauplatze erschienen war.

»Ich heiße Sie bescheidentlich in Thorpe-Ambrose willkommen, Sir«, sagte Abraham Sage, hartnäckig seine kleine Vorstellungsrede noch einmal anfangend. »Ich heiße ——«

Ehe er noch seinen Namen aussprechen konnte, blickte Miß Milroy zufällig in das halsstarrige Gesicht des Gartenkünstlers —— und verlor augenblicklich und unwiderruflich alle Macht über ihren schwer errungenen Ernst. Allan, niemals abgeneigt, jeder Art von geräuschvollem Beispiele zu folgen, stimmte mit großem Behagen in ihr Gelächter ein. Der weise Mann der Gärten verrieth weder Erstaunen, noch zeigte er sich gekränkt. Er wartete einen abermaligen Augenblick des Schweigens ab und suchte denselben, als die beiden jungen Leute innehielten, um Athem zu schöpfen, wiederum mit einigen Worten zu Gunsten seiner persönlichen Interessen auszufüllen.

»Ich bin seit mehr als vierzig Jahren«, fuhr Abraham Sage unerschütterlich fort, »in diesen Anlagen ——«

»Ihr sollt noch vierzig Jahre in diesen Anlagen beschäftigt bleiben«, erwiderte Allan, sobald er zu sprechen im Stande war, »wenn Ihr nur den Mund halten und Eurer Wege gehn wollt!«

»Danke Ihnen bestens, Sir«, sagte der Gärtner mit der äußersten Höflichkeit, doch ohne irgendein Anzeichen, daß er den Mund halten und seiner Wege gehen wolle.

»Nun?« sagte Allan.

Abraham Sage räusperte sich sorgfältig, nahm seinen Rechen aus der einen Hand in die andere, und indem er dieses unschätzbare Werkzeug mit ernstem Interesse und großer Aufmerksamkeit betrachtete, wandte sich dieser unerschütterliche Alte abermals an Allan: »Ich wünsche bei einer passenderen Gelegenheit einmal von meinem Sohne achtungsvollst zu Ihnen zu reden, Sir. Es wird Ihnen vielleicht im Laufe des Tages gelegener sein? Ihr ergebenster Diener, Sir, und meinen besten Dank. Mein Sohn ist streng mäßig. Er ist an den Stall gewöhnt und ein Mitglied der anglicanischen Kirche —— ohne eine belästigende Familie.« Nachdem Abraham Sage in dieser Weise seinen Sohn provisorisch der Achtung seines Herrn empfohlen, schulterte er seinen unschätzbaren Rechen und humpelte langsam von dannen.

»Wenn dies eine Probe von einem zuverlässigen alten Diener ist«, sagte Allan, »so denke ich, daß ich es lieber wagen will, mich von einem neuen betrügen zu lassen. Jedenfalls, Miß Milroy, sollen Sie nicht wieder von ihm belästigt werden. Alle Blumenbeete in diesen Gärten stehen Ihnen zu Diensten —— und alles Obst in der Obstzeit ebenfalls.

»O, Mr. Armadale, Sie sind sehr, sehr gütig. Wie soll ich Ihnen danken?«

Allan sah abermals eine Gelegenheit zu einem Complimente —— einem sehr zierlichen Complimente —— diesmal in Gestalt einer Schlinge.

»Sie können mir die größte Gefälligkeit erweisen«, sagte er, »indem Sie mir zur Verschönerung meiner Anlagen behilflich sind.«

»Mein Himmel! Wie das?« frug Miß Milroy unschuldig.

Allan zog die Schlinge fest zu, indem er sagte: »Indem Sie mich auf Ihrem Morgenspaziergange mitnehmen, Miß Milroy.« Er sprach —— lächelte — und bot seinen Arm.

Sie sah ihrerseits die Gelegenheit zum Coquettiren. Sie legte ihre Hand in seinen Arm —— erröthete —— zögerte —— und zog dieselbe plötzlich wieder zurück.

»Ich glaube nicht, daß es ganz recht ist, Mr. Armadale«, sagte sie, sich mit der größten Aufmerksamkeit mit ihren Blumen beschäftigend. »Sollten wir nicht irgendeine ältere Dame hier bei uns haben? Ist es nicht unpassend für mich, Ihren Arm anzunehmen, bis ich Sie ein wenig besser kenne? Ich bin dies zu fragen genöthigt, weil ich so wenig Anweisung gehabt habe. Ich habe so wenig von der Gesellschaft gesehen; ein Freund meines Papas sagte einmal, ich sei zu dreist für mein Alter. Was meinen Sie?«

»Ich denke, es ist ein Glück, daß der Freund Ihres Papas jetzt nicht hier ist«, antwortete Allan; »ich würde jedenfalls Streit mit ihm anfangen. Was die Gesellschaft betrifft, Miß Milroy, so weiß Niemand weniger von derselben als ich; doch wenn wir hier eine ältere Dame bei uns hätten, so muß ich meinestheils gestehen, daß sie mir außerordentlich im Wege sein würde. Wollen Sie nicht?« schloß Allan, indem er bittend nochmals seinen Arm anbot. »Bitte!«

Miß Milroy blickte seitwärts von ihren Blumen zu ihm hinauf. »Sie sind ebenso schlimm wie der Gärtner, Mr. Armadale!« Unschlüssig und fast zitternd ließ sie ihre Augen wieder zu Boden sinken. »Ich bin überzeugt, daß es unrecht ist«, sagte sie —— und nahm unverzüglich und ohne das geringste Zögern seinen Arm.

Jung, froh und glücklich, schritten sie zusammen über den Rasen des Geheges, während der helle Sonnenschein des Sommermorgens auf ihren blumigen Pfad fiel.

»Und wohin gehn wir jetzt?« frug Allan. »Nach einem andern Garten?«

Sie lachte fröhlich. »Wie außerordentlich sonderbar von Ihnen, Mr. Armadale, dies nicht zu wissen, da es doch alles Ihnen gehört! Sehen Sie Thorpe-Ambrose wirklich heute Morgen zum ersten Male? Wie unbeschreiblich seltsam dies Ihnen erscheinen muß! Nein, nein, machen Sie mir für jetzt keine Complimente mehr. Sie könnten mir sonst den Kopf verdrehen. Wir haben die alte Dame nicht bei uns, und ich muß mich wirklich in Acht nehmen. Lassen Sie mich nützlich sein und Ihnen alles über Ihre eigenen Anlagen erzählen. Wir gehen zu jenem kleinen Pförtchen hinaus, und dann über eine Naturbrücke, und dann um die Ecke der Baumanlagen —— wohin wohl? Dorthin, wo ich wohne, Mr. Armadale; nach dem reizenden kleinen Häuschen, das Sie dem Papa vermiethet haben. O, wenn Sie wüßten, wie glücklich wir uns schätzten, die Wohnung zu bekommen!«

Sie schwieg, sah zu ihrem Gefährten auf und hielt dadurch ein abermaliges Compliment zurück, das dem unverbesserlichen Allan eben auf den Lippen schwebte.

»Ich werde Ihren Arm loslassen, wenn Sie es sagen!« rief sie coquettirend. »Aber wir waren wirklich glücklich, das Häuschen zu erlangen, Mr. Armadale. Der Papa sagte an dem Tage, da wir einzogen, daß wir Ihnen große Dankbarkeit schuldig seien. Und ich sagte noch vor einer Woche dasselbe.«

»Sie, Miß Milroy!« rief Allan aus.

»Ja. Es überrascht Sie vielleicht, dies zu hören; aber wenn Sie dem Papa nicht dies Häuschen vermiethet hätten, so glaube ich, hätte ich die Schmach und den Jammer zu erleiden gehabt, daß man mich in die Schule sandte.«

Allan erinnerte sich des halben Kronthalers, den er auf dem Kajütentische seiner Jacht hatte kreiseln lassen. »Wenn sie wüßte, daß ich gewissermaßen das Loos darüber entscheiden ließ!« dachte er schuldbewußt.

Das momentane Schweigen ihres Gefährten mißdeutend, fuhr Miß Milroy fort: »Sie werden wahrscheinlich nicht begreifen, warum mir so sehr davor grausen sollte, in eine Schule geschickt zu werden. Wäre ich in früher Jugend —— ich meine in dem Alter, in —— dem die meisten Kinder in die Schule gehen —— nach einer Schule gesandt worden, so würde ich mir jetzt nichts daraus gemacht haben. Aber ich hatte zu jener Zeit keine Gelegenheit dazu. Es war dies die Zeit der Krankheit meiner Mama und der unglücklichen Speculationen meines Papas; und da der Papa Niemand hatte, der ihn trösten konnte, blieb ich natürlich bei ihm zu Hause. Sie brauchen nicht zu lachen; ich war von einigem Nutzen, das kann ich Ihnen versichern. Ich half dem Papa durch seine Sorgen hindurch, indem ich nach Tische auf seinem Schoße saß und ihn bat, mir von all den außerordentlichen Leuten zu erzählen, die er gekannt, als er in der weiten Welt umhergereist. Ohne meine Unterhaltung des Abends und seine Uhr am Tage ——«

»Seine Uhr?« wiederholte Allan.

»Ja! Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Der Papa ist nämlich ein erstaunliches Genie in der Mechanik. Sie werden dasselbe sagen, wenn Sie seine große Stehuhr sehen. Sie ist nach dem Modell der berühmten Uhr zu Straßburg gebaut, ohne natürlich deren Größe zu erreichen. Denken Sie nur, er fing dieselbe an, als ich acht Jahre alt war, und sie war an meinem letzten Geburtstage, wo ich doch sechzehn ward, noch nicht vollendet! Einige unserer Bekannten waren ganz erstaunt darüber, daß er eine solche Beschäftigung aufnahm, als seine Sorgen anfingen. Aber der Papa klärte sie hierüber sehr schnell auf; er erinnerte sie daran, das Louis der Sechzehnte die Uhrmacherei anfing, als seine Leiden begannen —— und dann fühlte sich jeder völlig zufriedengestellt.« Sie schwieg plötzlich und wechselte verlegen die Farbe. »O, Mr. Armadale«, sagte sie diesmal in ungekünstelter Verwirrung, »hier geht meine unglückselige Zunge schon wieder mit mir durch! Ich plaudere schon mit Ihnen, wie wenn ich Sie seit Jahren gekannt hätte! Dies ist es, was Papas Freund meinte, als er sagte, meine Manieren seien zu dreist. Es ist vollkommen war. Ich habe eine schreckliche Art und Weise, vertraut mit den Leuten zu werden, wenn ——« Sie legte ihrer Zunge plötzlich den Zaum an, da sie auf dem Punkte war, mit den Worten zu schließen: »Wenn sie mir gefallen.«

»Nein, nein; bitte, fuhren Sie fort!« bat Allan. »Es ist auch mein Fehler, leicht vertraut zu werden. Ueberdies müssen wir ja vertraut mit einander werden; wir sind so nahe Nachbarn. Ich bin ein ziemlich uncultivirter Bursche, und ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, was ich Ihnen sagen wollte; aber ich wünsche, daß Ihr Häuschen gemüthlich und freundschaftlich mit meinem großen Hause, und mein großes Haus gemüthlich und freundschaftlich mit Ihrem Häuschen verkehrt. Da haben Sie, was ich meine. Fahren Sie fort, Miß Milroy; bitte, fahren Sie fort!«

Sie lächelte und zögerte. »Ich erinnere mich nicht recht, wo ich war«, erwiderte sie. »O, jetzt erinnere ich mich, daß ich Ihnen etwas zu erzählen hatte. Dies kommt davon, daß ich Ihren Arm an nahm, Mr. Armadale. Wenn Sie nur darein willigen wollten, daß wir getrennt gingen, so würde ich viel besser von der Stelle kommen. Sie wollen es nicht? Nun, wollen Sie mir dann sagen, was ich Ihnen zu sagen wünschte? Wo war ich, ehe ich zu den Sorgen des Papas und zu seiner Uhr abschweifte?«

»In der Schule!« erwiderte Allan nach einer erstaunlichen Anstrengung des Gedächtnisses.

»Nicht in der Schule, meinen Sie«, sagte Miß Milroy; »und dies alles durch Sie! Jetzt kann ich wieder fortfahren, und das ist ein großer Trost. Ich spreche völlig im Ernste, Mr. Armadale, wenn ich sage, daß ich zur Schule geschickt worden wäre, falls Sie zu Papas Anfrage wegen des Häuschens Nein gesagt hätten. Die Sache ereignete sich folgendermaßen. Als wir einzuziehen anfingen, hatte Mrs. Blanchard die große Freundlichkeit, uns sagen zu lassen, daß uns ihre Dienerschaft zur Verfügung stehe, wenn wir der Hilfe bedürften. Papa und ich konnten hierauf nicht umhin, ihr unsere Aufwartung zu machen und ihr zu danken. Wir sahen Mrs. Blanchard und Miß Blanchard. Mrs. Blanchard war außerordentlich liebenswürdig, und Miß sah in ihren Trauerkleidern reizend aus. Ich bin überzeugt, daß Sie sie bewundern! Sie ist groß und schlank und blaß und anmuthig in ihren Manieren —— ganz Ihre Vorstellung von Schönheit, wie ich mir denke?«

»Nicht im geringsten«, versetzte Allan. »Meine Vorstellung von Schönheit ist in diesem Augenblicke ——«

Miß Milroy sah es kommen und zog augenblicklich ihre Hand von seinem Arme zurück.

»Ich wollte sagen, ich habe weder Mrs. Blanchard noch ihre Nichte je gesehen«, fügte Allan, sich eiligst verbessernd, hinzu.

Miß Milroy ließ Gnade für Recht ergehen und legte ihre Hand wieder in seinen Arm.

»Wie sonderbar, daß Sie sie nie gesehen haben!« fuhr sie fort. »Sie sind für alle und alles in Thorpe-Ambrose ein Fremder! Nun, nachdem Miß Blanchard und ich ein Weilchen dagesessen und mit einander geplaudert hatten, hörte ich Mrs. Blanchard meinen Namen aussprechen und hielt sofort den Athem an. Sie frug den Papa, ob meine Erziehung vollendet sei. Der Papa kam augenblicklich mit seiner großen Noth zum Vorschein. Meine alte Erzieherin, müssen Sie wissen, hatte uns kurz vor unserm Hierherkommen verlassen, um sich zu verheirathen, und es konnte uns Niemand unter unsern Bekannten eine neue empfehlen, deren Forderungen nicht zu hoch für uns waren. »Ich habe von Leuten, die die Sache besser verstehen als ich, gehört, daß das Annoncieren eine riskante Sache sei, Mrs. Blanchard«, sagte der Papa. »Bei Mrs. Milroy’s schlechter Gesundheit fällt diese ganze Sorge mir anheim, und ich vermuthe, ich werde mein kleines Mädchen schließlich in eine Schule zu senden genöthigt sein. Ist Ihnen zufällig eine Schule bekannt, die den Mitteln eines armen Mannes entsprechen würde?« Mrs. Blanchard schüttelte den Kopf —— ich hätte sie auf der Stelle küssen mögen. »Meine Erfahrungen, Major Milroy«, sagte dieser wahre Engel von einer Frau, »stimmen mich zu Gunsten des Annoncierens. Wir fanden die Erzieherin meiner Nichte durch eine Annonce, und Sie können sich ihren Werth für uns vorstellen, wenn ich Ihnen sage, daß sie über zehn Jahre in unserer Familie blieb.« Ich hätte auf die Knie sinken und Mrs, Blanchard danken mögen —— und es nimmt mich blos Wunder, daß ich es nicht that! Der Papa war frappiert —— das sah ich sehr wohl —— und er erwähnte der Sache auf dem Heimwege. »Obgleich ich lange außerhalb der großen Welt gelebt habe«, sagte er, »erkenne ich doch eine feine Frau und eine verständige Frau, sowie ich sie nur sehe, mein Kind. Mrs. Blanchard’s Erfahrung läßt mich das Annoncieren in einem neuen Lichte erblicken —— ich muß mirs überlegen.« Nunmehr hat er sich es überlegt, und ich weiß, obgleich er es mir nicht offen bekannt, daß er schon gestern Abend den Entschluß gefaßt hat, zu annoncieren. Wenn also der Papa Ihnen dafür dankt, daß Sie ihm das Häuschen vermiethet haben, so danke ich Ihnen ebenfalls. Ohne Sie würden wir nie die Bekanntschaft der lieben Mrs. Blanchard gemacht haben; und ohne die liebe Mrs. Blanchard wäre ich in die Schule geschickt worden.«

Ehe Allan noch etwas erwidern konnte, kamen sie um die Ecke der Baumanlagen und standen vor dem Häuschen. Eine Schilderung desselben ist unnöthig; es war das typische Häuschen, wie wir es aus unserm ersten Zeichenunterricht kennen —— mit dem hübschen Strohdach, den üppigen Schlinggewächsen, den bescheidenen Gitterfenstern, dem Porticus von Baumästen und dem geflochtenen Vogelkäfig.

»Ist es nicht reizend!« sagte Miß Milroy. »Bitte, kommen Sie herein!«

»Darf ich? Wird der Major es nicht zu früh finden?«

»Ob es früh oder spät sei, ich weiß gewiß, daß der Papa sich sehr freuen wird, Sie zu sehen.«

Sie ging munter auf dem Gartenpfade voran und öffnete die Thür des Wohnzimmers. Wie Allan ihr in das kleine Zimmer folgte, sah er an der abgelegenen Seite desselben allein an einem altmodischen Schreibtische einen Herrn sitzen, der seinem Gaste den Rücken zuwandte.

»Papa! Eine Ueberraschung für Dich!« sagte Miß Milroy, ihn von seiner Beschäftigung abziehend; »Mr. Armadale ist in Thorpe-Ambrose angelangt, und ich habe ihn zu Dir gebracht.«

Der Major wandte sich schnell und erstaunt um, stand auf, war einen Augenblick völlig verblüfft, erholte sich jedoch augenblicklich von seinem Erstaunen und näherte sich mit gastfreundlich ausgestreckter Hand, um seinen jungen Hauswirth zu begrüßen.

Ein Mann von größerer Welterfahrung und schärferer Beobachtungsgabe, als Allan besaß, würde Major Milroy’s Lebensgeschichte sofort in dessen Gesichte gelesen haben. Die Familiensorgen, die ihn getroffen, verriethen sich sogleich, als er sich von seinem Sessel erhob, in seiner gebeugten Gestalt und seinen bleichen, tiefgefurchten Wangen. Die Wirkung einer und derselben einförmigen Beschäftigung und fortwährender einförmiger Gedankenrichtung machte sich zunächst in der schweren, träumerischen Selbstversunkenheit seines Wesens fühlbar, während seine Tochter zu ihm sprach. Und im nächsten Augenblicke, wie er sich aufraffte, um seinen Gast willkommen zu heißen, ward seine Selbstoffenbarung vollständig; denn in diesem Augenblicke flackerte in den müden Augen des Majors ein matter Strahl seines glücklichen Jugendgeistes auf; in dem schweren und träumerischen Wesen des Majors zeigte sich eine Veränderung, die in unverkennbarer Weise gesellschaftliche Vorzüge und Talente andeutete, die er sich in keiner unedlen socialen Schule angeeignet hatte. Ein Mann, der in seiner mechanischen Beschäftigung eine geduldige Zuflucht vor seinen Leiden gesucht; ein Mann, der nur von Zeit zu Zeit sich selber entrissen ward und sich wieder als das erkannte, was er einst gewesen —— so stand Major Milroy jetzt, an dem ersten Morgen ihrer Bekanntschaft vor Allan —— eine Bekanntschaft, die ein Ereigniß in Allan’s Leben zu bilden bestimmt war.

»Ich freue mich von Herzen, Sie zu sehen, Mr. Armadale«, sagte er in jenem ruhigen klanglosen Tone, der meistens den Leuten eigen ist, deren Beschäftigungen einsam und einförmig sind. »Sie haben mir bereits eine große Güte erzeigt, indem Sie mich als Ihren Miethsmann annahmen, und Sie erweisen mir jetzt durch diesen freundschaftlichen Besuch eine zweite. Falls Sie nicht bereits gefrühstückt haben, gestatten Sie mir, meinerseits alle Ceremonien bei Seite zu lassen und Ihnen einen Platz an unserm kleinen Tische anzubieten.«

»Mit dem größten Vergnügen, Major Milroy, wenn ich nicht im Wege bin«, erwiderte Allan, über den ihm zu Theil werdenden Empfang entzückt. »Ich habe mit Bedauern von Miß Milroy gehört, daß Mrs. Milroy leidend ist. Mein unerwartetes Hiersein —— der Anblick eines fremden Gesichts dürfte sie vielleicht ——«

»Ich begreife Ihr Zögern, Mr. Armadale«, sagte der Major; »doch ist dasselbe ganz unnöthig Mrs. Milroy’s Leiden fesselt sie durchaus an ihr Zimmer. —— Haben wir alles auf dem Tische, dessen wir bedürfen, mein Kind?« frug er, plötzlich der Unterhaltung eine andere Wendung gebend, sodaß ein schärferer Beobachter als Allan unfehlbar gemerkt haben würde, daß der Gegenstand ein unangenehmer für ihn sei. »Willst Du herkommen und den Thee besorgen?«

Miß Milroy’s Aufmerksamkeit schien anderweitig in Anspruch genommen; sie gab keine Antwort. Während ihr Vater und Allan Höflichkeiten mit einander ausgetauscht, hatte sie den Schreibtisch geordnet und mit der ungezügelten Neugier eines verzogenen Kindes die verschiedenen zerstreut auf demselben umherliegenden Papiere untersucht. In dem Augenblicke, nachdem der Major zu ihr gesprochen, entdeckte sie, zwischen den Löschpapierblättern der Schreibmappe versteckt, ein Stückchen Papier, riß dasselbe heraus, betrachtete es und wandte sich schnell mit einem Ausrufe der Ueberraschung um.

»Täuschen mich meine Augen, Papa?« frug sie. »Oder warst Du wirklich mit dieser Annonce hier beschäftigt, als ich hereinkam?«

»Ich hatte dieselbe soeben geschrieben«, antwortete der Vater. »Aber, mein Kind, Mr. Armadale ist hier —— wir warten auf’s Frühstück.«

»Mr. Armadale weiß die ganze Geschichte«, erwiderte Miß Milroy. »Ich habe sie ihm im Garten erzählt.«

»O, ja!« sagte Allan. »Bitte, betrachten Sie mich nicht als einen Fremden, Major! Es handelt sich um die Erzieherin, ich habe in einer indirecten Weise ebenfalls etwas mit der Sache zu schaffen.«

Major Milroy lächelte. Doch ehe er noch etwas entgegnen konnte, wandte seine Tochter, die inzwischen die Annonce gelesen, sich zum zweiten Male eifrig zu ihm.

»O, Papa«, sagte sie, »hier ist etwas, das mir gar nicht gefällt! Warum gibst Du die Anfangsbuchstaben der Großmama an? Warum sagst Du, man solle an das Haus der Großmama in London adressieren?«

»Mein liebes Kind! Deine Mutter kann in dieser Sache gar nichts thun, wie Du weißt. Und was mich betrifft, so tauge ich nicht im geringsten dazu, fremde Damen über ihren Charakter und ihre Befähigung auszuforschen. Deine Großmama ist am Orte; sie ist die geeignete Person, um die Briefe entgegenzunehmen und alle nothwendigen Erkundigungen einzuziehen.«

»Aber ich wünsche die Briefe selbst zu sehen«, sagte das verzogene Kind. »Einige derselben werden sicherlich sehr amüsant sein ——«

»Ich mache Ihnen keine Entschuldigungen wegen dieses außerordentlich unceremoniösen Empfangs Mr. Armadale«, sagte der Major mit drolligem und ruhigem Humor zu Allan. »Derselbe mag Ihnen als eine nützliche Warnung dienen, daß Sie, wenn Sie sich einmal verheirathen und eine Tochter haben, nicht gleich mir damit anfangen, derselben ihren Willen zu lassen.«

Allan lachte und Miß Milroy fuhr hartnäckig fort.

»Ueberdies«, sagte sie, »möchte ich in der Wahl der Briefe behilflich sein, die wir beantworten wollen, Ich denke doch, daß ich in der Wahl meiner eigenen Erzieherin ein Wort mitzureden habe. Warum sagst Du nicht, daß sie die Briefe hierher senden sollen —— nach dem Postamte oder zum Papierhändler oder wohin Du sonst willst? Nachdem Du und ich die Briefe gelesen haben, können wir diejenigen, die wir vorziehen, der Großmama zusenden, und sie kann dann alle ihre Fragen thun und die beste Gouvernante aussuchen, ohne daß ich ganz im Dunkeln darüber bleibe —— was ich ganz unmenschlich finden würde. Sie nicht auch, Mr. Armadale? Laß mich die Adresse ändern, Papa —— bitte, lieber Papa!«

»Wir werden kein Frühstück erhalten, Mr. Armadale, wenn ich nicht Ja sage«, meinte der Major gutmüthig. »Thue was Du willst, mein Kind«, fügte er zu seiner Tochter gewendet hinzu. »Solange schließlich Deine Großmama die Sache für uns ordnet, ist alles Uebrige von geringer Bedeutung.«

Miß Milroy nahm die Feder ihres Vaters, strich mit derselben die letzte Zeile der Annonce durch und schrieb die veränderte Adresse mit eigener Hand folgendermaßen:

»Man adressiere an das Postamt zu Thorpe-Ambrose, Norfolk.«

»So!« sagte sie, geschäftig ihren Platz am Frühstücksstische einnehmend. »Jetzt mag die Annonce nach London wandern, und falls eine Gouvernante danach kommt —— o, Papa, wer wird sie nur sein? —— Thee oder Kaffee Mr. Armadale? Ich schäme mich wirklich, daß ich Sie so lange warten ließ. Aber es ist ein solcher Trost«, fügte sie schelmisch hinzu, »sich vor dem Frühstück alle Geschäfte vom Halse geschafft zu haben !«

Vater, Tochter und Gast setzten sich gesellig um den kleinen runden Tisch —— bereits die besten Nachbarn und die besten Freunde.

Drei Tage später schaffte einer der Londoner Zeitungsjungen sich ebenfalls vor dem Frühstück sein Geschäft vom Halse. Sein Bezirk war Diana-Street, Pimliw; und die letzte seiner Morgenzeitungen war die, welche er an der Thür von Miss. Oldershaw’s Hause abgab.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Etwa eine Stunde nachdem Allan seine Entdeckungsreise durch seine Besitzungen angetreten hatte, stand auch Midwinter auf und erfreute sich seinerseits beim Tageslichte an der Pracht des neuen Hauses.

Durch seine lange Nachtruhe erfrischt, kam er ebenso fröhlich wie Allan die große Treppe herunter. Gleich ihm schaute er der Reihe nach in die geräumigen Zimmer des Erdgeschosses und befand sich in athemlosen Erstaunen über den Glanz und Luxus, von dem er sich umgeben sah. »Das Haus, in dem ich als Knabe diente, war ein sehr stattliches«, dachte er, »aber es war mit diesem nicht zu vergleichen! Ob nur Allan ebenso erstaunt und entzückt ist wie ich? Die Pracht des Sommermorgens lockte ihn durch die offene Hausthür hinaus, gleich wie dies bei Allan der Fall gewesen war. Er sprang munter die Stufen hinab, indem er eine jener Melodien summte, nach denen er in seiner alten Vagabondenzeit getanzt hatte. Selbst die Erinnerungen an seine elende Kindheit wurden an diesem frohen Morgen durch das glänzende Medium gefärbt, durch welches er auf sie zurück sah. »Wenn ich nicht aus der Uebung gekommen wäre, dachte er, indem er sich auf das Stacket lehnte und über dasselbe hinweg auf den weiten Park blickte, »möchte ich auf diesem herrlichen Grase einige meiner alten Gaukelkunststücke versuchen.«

Er wandte sich um, erblickte am Eingange des Gebüsches zwei Diener, die sich mit einander unterhielten, und frug sie nach dem Herrn des Hauses. Die beiden Männer deuteten lächelnd auf den Garten; Mr. Armadale sei vor mehr als einer Stunde dorthin gegangen, und, wie sie bereits erfahren, Miß Milroy in den Anlagen begegnet. Midwinter schlug den Pfad durch das Gebüsch ein; doch da er bei dem Blumengarten anlangte, stand er still, überlegte ein wenig und ging wieder zurück. »Wenn Allan die junge Dame getroffen hat«, sprach er bei sich, »bedarf er meiner nicht.« Diese Worte begleitete er mit einem Lachen, dann wandte er sich rücksichtsvoll ab, um die Schönheiten von Thorpe-Ambrose auf der andern Seite des Hauses in Augenschein zu nehmen.

Um die Vorderseite des Gebäudes herumgehend, stieg er einige Stufen hinab, schritt auf einem gepflasterten Pfade entlang und sah sich bald in einem schmalen Gärtchen an der Hinterseite des Hauses. Hinter ihm befand sich eine Reihe von kleinen Zimmern, die in gleicher Ebene mit den Gesindestuben gelegen waren. Vor ihm, am entlegensten Ende des kleinen Gartens, erhob sich eine durch eine Lorbeerhecke geschützte Mauer, mit einer Thür an dem einen Ende, die an den Ställen vorüber zu einem Thore führte, vermittelst dessen man auf die Landstraße gelangte. Da er sah, daß er hiermit nur den Weg zum Hause entdeckt habe, den die Dienerschaft und die Handwerksleute benutzten, ging Midwinter abermals wieder zurück und blickte im Vorübergehen durch das Fenster eines der Zimmer im Erdgeschosse Waren dies etwa die Gesindestuben? Nein; diese befanden sich dem Anscheine nach in einem andern Theile des Erdgeschosses; das Fenster, durch das er sah, war das einer Polterkammer. Die beiden nächsten Zimmer dieser Reihe waren leer. Das vierte Fenster, dem er sich näherte, bot einige Abwechselung. Dasselbe bildete zugleich eine Thür und stand in diesem Augenblicke offen.

Durch die Bücherbretter angezogen, die er an der Wand bemerkte, trat Midwinter in das Zimmer. Die Bücher, nur wenige an der Zahl, beschäftigten ihn nicht lange; ein Blick auf die Rücken derselben genügte ihm, ohne daß er sie herunterenahm. Die Waverley-Romane, Erzählungen von Miß Edgeworth und deren zahlreichen Nachahmern, Gedichte von Mrs. Hemans und einige Bände von illustrierten »Andenken« bildeten den größeren Theil dieser kleinen Bibliothek. Midwinter wandte sich, um das Zimmer zu verlassen, als ein Gegenstand auf der einen Seite des Fensters, den er bisher nicht bemerkt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich zog und ihn still stehen machte. Es war dies eine Statuette auf einer Console —— eine verkleinerte Copie der berühmten Niobe im Museum zu Florenz. Mit einem plötzlichen Zweifel, der sein Herz pochen machte, sah er von der Statuette nach dem Fenster. Es war ein langes Thürfenster, und die Statuette befand sich, indem er vor dem Fenster stand, zu seiner Linken. Er schaute mit einem Argwohn hinaus, wie er ihn bisher noch nicht gefühlt hatte. Die Aussicht, welche sich vor ihm ausbreitete, war die eines Rasenplatzes und eines Gartens. Einen Augenblick kämpfte sein Geist gegen den Schluß, der sich ihm aufdrang —— doch vergebens. Hier, um ihn und vor ihm, lag das Zimmer, welches Allan in der zweiten Vision seines Traumes gesehen hatte, und trieb ihn erbarmungslos von der glücklichen Gegenwart zu der grausigen Vergangenheit zurück.

Er zögerte sinnend und schaute sich dabei rings um. In seinem Gesichte und seinem Wesen war erstaunlich wenig von einer Gemüthsbewegung wahrzunehmen; ruhig blickte er von dem einen zum andern der wenigen Gegenstände in dem Zimmer, wie wenn die Entdeckung ihn nicht so sehr überrascht als betrübt hätte. Ein Strohgeflecht von ausländischer Production bedeckte den Fußboden. Zwei Rohrstühle und ein einfacher Tisch bildeten das ganze Geräth. Die Wände waren mit einer einfachen Tapete bedeckt und ohne allen Bilderschmuck; die Einförmigkeit derselben ward durch nichts als eine Thür, die ins Innere des Hauses führte, einen kleinen Ofen und die Bücherbretter unterbrochen, die Midwinter bereits bemerkt hatte. Er wandte sich wieder zu den Büchern und nahm diesmal einige derselben herunter.

Das erste, welches er öffnete, enthielt eine von Frauenhand herrührende Inschrift, deren Tinte durch die Zeit erblaßt war. Er las: »Jane Armadale von ihrem geliebten Vater. Thorpe-Ambrose, October 1828.« In den folgenden Bänden, die er aufschlug, fand er dieselbe Inschrift. Seine Kenntniß der Data und Personen verhalf ihm zu dem richtigen Schlusse. Die Bücher mußten Allan’s Mutter angehört haben, welche in der Zeit zwischen ihrer Rückkehr von Madeira und der Geburt ihres Sohnes ihren Namen in dieselben eingeschrieben hatte. Midwinter nahm darauf einen Band von einem andern Brette herunter —— einen Theil von Mrs. Hemans Werken. Das leere Anfangsblatt des Buches war auf beiden Seiten mit einer Abschrift von Versen, und zwar wieder von Mrs. Armadale’s Hand, angefüllt. Die Verse waren »Lebewohl an Thorpe-Ambrose« überschrieben und vom März 1829 datiert — nur zwei Monate nach Allan’s Geburt.

Das einzige Interesse des kleinen Gedichts, das an sich ohne den geringsten Werth war, lag in der Familiengeschichte, die dasselbe erzählte. Sogar das Zimmer, in dem Midwinter stand, war beschrieben —— die Aussicht auf den Garten, die Glasthür, die sich nach demselben öffnete, die Bücherbretter, die Niobe und einige andere vergängliche Zierrathen, welche die Zeit vernichtet hatte. Mit ihren Brüdern im Zwiste und sich ihrer ganzen Familie entziehend, hatte die Wittwe des Gemordeten ihrer eigenen Angabe zufolge sich hierher zurückgezogen und keinen andern Trost mitgenommen, als die Liebe und Verzeihung ihres Vaters. So kam ihr Kind zur Welt. Des Vaters Güte und sein kürzlich erfolgter Tod bildeten den Gegenstand vieler Verse, die in ihrem alltäglichen Ausdrucke der Reue und Verzweiflung glücklicherweise zu unklar waren, um einen Leser, der nicht bereits mit der Wahrheit bekannt war, irgendwie über die Heirathsgeschichte in Madeira aufzuklären. Dann folgten Andeutungen auf die Entfremdung der Schreiberin von all ihren übrigen Angehörigen und auf ihre nahe bevorstehende Abreise von Thorpe-Ambrose, und schließlich die Verkündigung des Entschlusses, sich von all ihren alten Verbindungen loszumachen; alles, selbst die unbedeutendste Kleinigkeit von dem zurückzulassen, was sie an die schreckliche Vergangenheit erinnern könnte, und ihr künftiges Leben von der Geburt ihres Kindes zu datieren, das ihr zum Troste gegeben und jetzt das einzige Wesen in der Welt war, welches ihr noch von Liebe und Hoffnung sprach. Und damit war abermals die alte Geschichte leidenschaftlichen Gefühls erzählt, das sich lieber durch Redensarten tröstet, als allem Troste entsagt.

Midwinter stellte das Buch mit einem schweren Seufzer wieder an seinen Platz.

»Hier in dem Landhause —— oder dort am Bord des Wracks ——« sagte er bitter, »die Spuren von dem Verbrechen meines Vaters folgen mir überall, wohin ich immer gehe.« Er schritt dem Fenster zu, stand still und schaute auf das einsame, vernachlässigte, kleine Zimmer zurück. »Ist dies Zufall?«,frug er sich. »Die Stelle, an der seine Mutter duldete, ist diejenige, die er im Traume sieht; und an dem ersten Morgen in dem neuen Hause wird dieselbe nicht ihm, sondern mir gezeigt. O, Allan! Allan! Wie wird dies enden?«

Eben noch mit diesem Gedanken beschäftigt, vernahm er von dem gepflasterten Pfade an der Seite des Hauses her Allan’s Stimme, der ihn beim Namen rief. Er trat hastig in den Garten hinaus. In demselben Augenblicke kam Allan um die Ecke gelaufen, voll Entschuldigungen, daß er in der Gesellschaft seiner neuen Nachbarn vergessen habe, was er der Gastfreundschaft und seinem Freunde schuldig sei.

»Ich habe Dich wirklich nicht vermißt«, sagte Midwinter; »und es freut mich sehr, zu hören, daß die neuen Nachbarn Dir bereits so gut gefallen.«

Während dieser Worte versuchte er Allan nach der Vorderseite des Hauses zurückzuführen; doch Allan’s flüchtige Aufmerksamkeit war durch das offene Fenster und das einsame kleine Zimmer angezogen worden. Er trat augenblicklich in dasselbe hinein. Midwinter folgte ihm und beobachtete ihn in athemloser Angst, wie er sich dort umschaute. Allan’s Gemüth ward durch keine Spur der Erinnerung an den Traum gestört, und sein Freund ließ keine Silbe der Anspielung auf denselben laut werden.

»Genau der Ort, den man von Dir aufgestöbert zu werden erwarten durfte!« rief Allan fröhlich. »Klein und gemüthlich und anspruchslos. Ich kenne Dich, Meister Midwinter! Du wirst hierher entschlüpfen, wenn die Grafschaftsfamilien mir ihre Besuche machen, und ich denke mir, daß ich bei solchen entsetzlichen Gelegenheiten nicht lange hinter Dir zurückbleiben werde. Was giebt’s? Du siehst krank und bekümmert aus. Hungrig? Natürlich bist Du hungrig! Unverzeihlich von mir,« Dich so lange warten zu lassen —— diese Thür führt vermuthlich irgendwo hin; wir wollen sehen, ob wir einen Weg ins Haus entdecken. Ich habe dort im Häuschen nicht viel gegessen, denn ich weidete meine Blicke an Miß Milroy, wie die Dichter sich ausdrücken. O, der kleine Engel! Sie kehrt Einem das Herz im Leibe um, sowie man sie nur erblickt. Was ihren Vater betrifft —— so warte, bis Du seine wunderbare Uhr siehst! Sie ist zweimal so groß als die berühmte Uhr in Straßburg und. hat einen gewaltigen Schlag, wie man seit Menschengedenken noch nie gehört hat!«

In dieser Weise das Lob seiner neuen Freunde aus vollem Halse singend, zog Allan seinen Freund Midwinter eiligst mit sich den steinernen Gang des Souterrains entlang, welcher, wie er richtig vermuthet hatte, zu einer mit der Eingangshalle in Verbindung stehenden Treppe führte. Sie kamen auf ihrem Wege an den Gesindestuben und der offen stehenden Küche vorbei. Beim Anblicke der Köchin und des hellen Feuers konnte Allan nicht mehr vernünftig bleiben und seine Würde als Hausherr behaupten.

»Aha, Mrs. Gripper, dort sind Sie ja bei ihren Töpfen und Pfannen und Ihrem feurigen Ofen! Man muß wahrlich ein Sadrach, Mesech und der andre Bursche sein, um es dort aushalten zu können. Frühstück, sobald es Ihnen beliebt! Eier, Würstchen, Schinken, Nieren, Marmelade, Wasserkresse, Kaffee und so weiter! Mein Freund und ich gehören zu den wenigen Auserwählten, für die zu kochen ein wahres Privilegium ist. Ein Paar Gourmands, Mrs. Gripper, wahre Gourmands! —— Du wirst sehen«, fuhr Allan fort, wie sie ihren Weg nach der Treppe fortsetzten, »daß ich jene würdige Person wieder jung machen werde; ich bin besser als ein Arzt für Mrs. Gripper. Wenn sie lacht, erschüttert sie ihre fetten Seiten; und wenn sie ihre fetten Seiten erschüttert, strengt sie ihr Muskelsystem an; und wenn sie ihr Muskelsystem anstrengt —— Ha! Hier ist Susan wieder. Drückt Euch nicht so ängstlich gegen das Geländer, mein Kind; wenn es Euch nicht unangenehm ist, mich aus der Treppe anzustoßen, so gestehe ich, daß ich Euch recht gern anstoße Sie sieht wie eine aufgeblühte Rose aus, wenn sie erröthet, nicht wahr? Halt, Susan! Ich wünsche Euch einige Befehle zu geben. Gebt Euch besondere Mühe mit Mr. Midwinter’s Zimmer; schüttelt sein Bett wie toll, und stäubt seine Meubles ab, bis Euch Eure hübschen, runden Arme schmerzen! —— Unsinn, mein lieber Junge! Ich bin nicht zu familiär mit ihnen; ich ermuntere sie blos zu ihrer Arbeit. Nun denn, Richard, wo frühstücken wir? O, hier. Unter uns gesagt, Midwinter, diese prachtvollen Zimmer sind zu groß für mich; es ist mir, als ob ich nie mit meinen eignen Meubles auf vertrautem Fuße stehen könne. Meine Lebensansichten sind dazu zu gemüthlich und ungezwungen —— ein Küchenstuhl, weißt Du, und eine niedrige Decke, das genügt. »Der Mensch nur wenig braucht hinieden, doch braucht er dieses lange.« Dies ist nicht gerade das richtige Citat; aber es drückt aus, was ich meine, und wir wollen uns nicht mit dem Corrigiren aufhalten.«

»Ich bitte um Vergebung«, unterbrach ihn Midwinter, »es erwartet Dich hier etwas, das Du noch nicht bemerkt hast.«

Bei diesen Worten deutete er ein wenig ungeduldig auf einen Brief, der auf dem Frühstückstische lag. Er vermochte Allan die ominöse Entdeckung zu verhehlen, die er an diesem Morgen gemacht; doch das lauernde Mißtrauen gegen Ereignisse, das jetzt in seiner argwöhnischen Natur erweckt worden war, —— jenen instinctmäßigen Verdacht gegen alles, was sich an diesem ersten denkwürdigen Tage in dem neuen Hause ereignete; dies war er nicht zu bemeistern im Stande.

Allan überflog den Brief und warf denselben dann über den Tisch seinem Freunde zu. »Ich verstehe kein Wort davon«, sagte er; »verstehst Du es?«

Midwinter las den Brief laut und langsam vor.

»Sir! Ich hoffe, daß Sie mir die Freiheit verzeihen werden, die ich mir nehme, indem ich diese wenigen Zeilen an Sie richte, noch ehe Sie in Thorpe-Ambrose angekommen sind. Sollten Sie sich durch die Umstände bewogen fühlen, Ihre Geschäftsangelegenheiten nicht Mr. Darch’s Händen zu übergeben ——« Hier hielt er plötzlich inne und überlegte ein wenig.

»Darch ist unser Freund, der Advokat«, sagte Allan, da er vermuthete, daß Midwinter den Namen vergessen habe. »Erinnerst Du Dich nicht, wie ich beim Empfange der beiden Anerbietungen für das Parkhäuschen den halben Kronthaler auf dem Kajütentische kreiseln ließ. —— Kopf für den Major, Wappen für den Advokaten? Dies ist der Advokat.«

Midwinter setze, ohne etwas zu erwidern, die Lectüre des Briefes fort. »Sollten Sie sich durch die Umstände bewogen fühlen, Ihre Geschäftsangelegenheiten nicht Mr. Darch’s Händen zu übergeben, so erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich mich glücklich schätzen werde, Ihren Interessen meine Thätigkeit zu widmen, wenn Sie mich mit Ihrem Zutrauen zu beehren geneigt sind. Indem ich für diesen Fall eine Empfehlung von meinen Agenten in London beilege und nochmals wegen dieser Belästigung um Vergebung bitte, habe ich die Ehre, mich zu zeichnen, Sir, mit Hochachtung Ihr ergebenster Diener A. Pedgift Senior.«

»Umstände?« wiederholte Midwinter, indem er den Brief niederlegte »Welche Umstände könnten Dich wohl abgeneigt machen, Mr. Darch Deine Geschäftsangelegenheiten zu übergeben?«

»Nichts kann mich abgeneigt machen«, sagte Allan. »Außerdem, daß er der Familienanwalt hier ist, war Darch auch der Erste, der mir die Nachricht von meiner Erbschaft nach Paris sandte; und sowie ich dergleichen Geschäftsangelegenheiten zu vergeben habe, so ist natürlich Darch der Mann.«

Midwinter warf einen argwöhnischen Blick auf den offen auf dem Tische liegenden Brief. »Ich fürchte sehr, Allan, daß bereits etwas nicht ist wie es sein sollte«, sagte er. »Dieser Mann würde es nimmer gewagt haben, sich Dir anzutragen, wenn er nicht guten Grund zu glauben hätte, daß Du ihn annehmen werdest. Du wirst am sichersten gehen, wenn Du heute Morgen noch Mr. Darch melden läßt, daß Du hier bist, und für jetzt von Mr. Pedgift’s Briefe keine Notiz nimmst.«

Ehe sie noch ferner etwas sagen konnten, erschien der Diener mit dem Frühstück. Ihm folgte in einer kleinen Weile der Kellermeister —— ein Mann von der wesentlich vertraulichen Sorte, mit einer wohl modulierten Stimme, hofmännischem Wesen und einer knolligen Nase. Jeder Andere als Allan würde in seinem Gesichte gelesen haben, daß er ins Zimmer gekommen sei, um seinem Herrn eine besondere Meldung zu machen. Allan aber, der nie etwas unter der Oberfläche sah, und dessen Gedanken mit dem Briefe des Advokaten vollauf beschäftigt waren. verhinderte ihn an der Ausführung seines Vorhabens, indem er geradezu die Frage an ihn richtete: »Wer ist Mr. Pedgift?«

Der Kellermeister öffnete sofort die Schleußen seiner Localkenntnisse. Mr. Pedgift sei der zweite der beiden Advokaten des Orts; nicht so lange ansässig, nicht so wohlhabend, nicht so allgemein angesehen wie der alte Mr. Darch. Er habe nicht die Geschäfte der höchsten Grafschaftsfamilien und sei in der guten Gesellschaft nicht so beliebt wie der alte Mr. Darch. Dessen ungeachtet sei er auf seine Weise ein sehr tüchtige: Mann und der ganzen Umgegend als ein fähiger und achtbarer Rechtsanwalt bekannt. Mit einem Worte, er gebe in seinem Fache Mr. Darch wenig nach und sei ihm insofern persönlich überlegen —— falls er sich so ausdrücken dürfe —— als Darch sehr mürrisch und Pedgift dies nicht sei.

Nachdem er diese Auskunft gegeben, ging der Kellermeister, indem er den Vortheil seiner Lage weislich benutzte, ohne Verzug auf die Angelegenheit über, die ihn in das Frühstückszimmer geführt hatte. Der Johannis-Termin rückte heran und es sei hier Brauch, die Pächter zu dem Zahltagsdiner einzuladen, was eine Woche vor diesem Diner geschehen müsse. Da die Zeit dränge und bisher noch keine Befehle ertheilt und kein Verwalter in Thorpe-Ambrose eingesetzt worden sei, scheine es wünschenswerth, daß eine zuverlässige Person die Sache zur Sprache bringe. Der Kellermeister sei diese zuverlässige Person und er wage es deshalb jetzt, seinen Herrn mit dem Gegenstande zu belästigen.

Hier öffnete Allan die Lippen, um ihn zu unterbrechen, ward aber seinerseits unterbrochen, ehe er ein Wort aussprechen konnte.

»Wartet« sagte Midwinter zu Allan, da er in dessen Gesichte las, daß er in Gefahr sei, öffentlich als Verwalter angekündigt zu werden. »Wartet« wiederholte er eifrig, »bis ich zuvor mit Dir gesprochen habe.«

Das hofmännische Wesen des Kellermeisters ward weder durch Midwinters Einmischung noch durch seine eigene Entlassung aus dem Zimmer im mindesten gestört. Nichts als die Röthe, die in seine Zwiebelnase stieg, verrieth das Gefühl der Kränkung, das sich seiner bemächtigte, indem er sich zurückzog Mr. Armadale’s Aussichten, sich und seinen Freund an diesem Tage mit dem besten Weine im Keller zu tractiren, waren im Sinken, als der Kellermeister wieder in das Souterrain zurückkehrte.

»Dies ist außer allem Spaße, Allan«, begann Midwinter, als sie allein waren.« »Es muß an dem Zahltage Deinen Pächtern ein Mann vorgestellt werden, der wirklich zu der Verwalterstelle taugt. Mir ist es bei dem besten Willen unmöglich, mich innerhalb einer Woche gehörig in die Sache hineinzuarbeiten. Ich muß dringend wünschen, daß Deine Sorge für mein Wohlergehen Dich nicht Deinen Leuten gegenüber in eine falsche Stellung bringt, und könnte mir nimmer vergeben, wenn ich die unglückselige Ursache wäre ——«

»Sachte, sachte!« rief Allan, staunend über die außerordentliche Ernsthaftigkeit seines Freundes. »Wird es Dich zufrieden stellen, wenn ich mit der Abendpost einen Brief nach London sende und den Mann wieder herbestelle, der schon vorher da war?«

Midwinter schüttelte den Kopf. »Unsere Zeit ist kurz«, sagte er; »und der Mann ist vielleicht nicht mehr frei. Warum es nicht zuvor in der Nachbarschaft versuchen? Du wolltest an Mr. Darch schreiben. Schreibe sogleich und sieh, ob er uns nicht zwischen jetzt und der Abendpost aus der Verlegenheit helfen kann.«

Allan ging an einen Nebentisch, auf dem sich Schreibmaterialien befanden. »Du sollst in Frieden frühstücken, Du alter Sorgenkopf«, erwiderte er und schrieb sofort mit seiner gewohnten spartanischen Kürze an Mr. Darch:

»Verehrter Herr! Hier bin ich mit Sack und Pack. Wollen Sie mir die große Gefälligkeit erzeigen, mein Rechtsanwalt zu sein? Ich frage dies, weil ich Sie sofort zu consultiren wünsche Bitte, lassen Sie sich im Verlauf des Tages hier sehen und bleiben Sie, falls es Ihnen irgend möglich, zu Tische da. Aufrichtig der Ihre, Allan Armadale.«

Nachdem er diesen Brief mit unverhohlener Bewunderung seiner eigenen Schnelligkeit in literarischer Composition laut vorgelesen, adressierte er denselben an Mr. Darch und klingelte. »Hier, Richard, überbringt diesen Brief sogleich und wartet auf Antwort. Und, hört, falls es in der Stadt irgendwelche Neuigkeiten gibt, so sammelt dieselben und bringt sie mit Euch zurück! —— Sieh, wie ich mit meinen Dienern umzugehen weiß!« fuhr Allan fort, indem er zu seinem Freunde am Frühstückstische zurückkehrte. »Sieh nur, wie ich mich meinen neuen Pflichten anpasse! Ich bin noch keinen ganzen Tag hier und fange bereits Interesse an der Umgegend zu nehmen an!«

Als die beiden Freunde mit dem Frühstück fertig waren, gingen sie hinaus, um den Morgen im Schatten eines Baumes im Park zu verträumen. Der Mittag kam, doch Richard nicht mit ihm. Es schlug ein Uhr, und noch immer keine Antwort von Mr. Darch. Midwinter’s Ungeduld konnte den Verzug nicht ertragen. Er ließ Allan schlummernd im Grase liegen und ging nach dem Hause, um Erkundigungen anzustellen. Die Stadt, unterrichtete man ihn, sei wenig mehr als zwei Meilen vom Hause entfernt, doch sei es eben Markttag und Richard werde möglicherweise von einigen der vielen Bekannten aufgehalten, die er bei dieser Gelegenheit getroffen.

Eine halbe Stunde später kehrte der säumige Bote zurück und ward hinaus gesandt, um sich bei seinem Herrn unter dem Baume im Park zu melden.

»Habt Ihr die Antwort von Mr. Darch?« frug Midwinter, da er sah, daß Allan zu träge sei, um selber zu fragen.

»Mr. Darch war beschäftigt, Sir. Ich erhielt Befehl zu sagen, er wolle die Antwort senden.«

»Nichts Neues in der Welt?« frug Allan schläfrig, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Augen zu öffnen.«

»Nein, Sir; nichts Besonderes.«

Indem Midwinter den Mann argwöhnisch beobachtete, las er deutlich in seinem Gesichte, daß er nicht die Wahrheit rede. Er war sichtlich verlegen und fühlte sich augenscheinlich erleichtert, als das Schweigen seines Herrn ihm zu gehen gestattete. Nach kurzem Ueberlegen folgte Midwinter dem Diener und holte ihn in der Auffahrt vor dem Hause ein.

»Richard«, sagte er ruhig, »würde ich, wenn ich sagte, daß es allerdings etwas Neues in der Stadt gab und daß Ihr dasselbe Eurem Herrn nicht gern mittheilen mögt, die Wahrheit errathen haben.«

Der Mann erschrak und wechselte die Farbe.

»Ich weiß nicht, wie Sie es entdeckt haben, Sir«, sagte er; »aber ich kann nicht leugnen, daß Sie recht gerathen haben.«

»Wenn Ihr mir die Neuigkeit mittheilen wollt, will ich die Verantwortlichkeit übernehmen, Mr. Armadale von derselben in Kenntniß zu setzen.«

Nach einigem Zögern und nachdem er seinerseits Midwintens Gesicht einen Augenblick argwöhnisch beobachtet, entschloß Richard sich endlich, zu erzählen, was er an diesem Tage in der Stadt gehört.

Die Neuigkeit von Allan’s plötzlichem Erscheinen in Thorpe-Ambrose war der Ankunft des Dieners an seinem Bestimmungsorte um einige Stunden vorausgeeilt Ueberall, wohin er ging, fand er, daß sein Herr den Gegenstand der öffentlichen Besprechung bildete. Die Meinung über Allan’s Benehmen war unter den Hauptbewohnern der Stadt, den vornehmen Familien der Umgegend und den ersten Pächtern auf der Besitzung allgemein eine ungünstige. Der Ausschuß für den öffentlichen Empfang des neuen Squire hatte erst gestern den Plan für die Procession entworfen; hatte die wichtige Frage in Bezug auf die Triumphbogen erledigt und eine competente Person ernannt, welche Subscriptionen für die Flaggen, Blumen, Festmahle, Feuerwerke und die Musikanten sammeln sollte. In weniger als einer Woche wäre dann das Geld zusammengebracht gewesen und der Pfarrer würde an Mr. Armadale geschrieben und ihn ersucht haben, den Tag zu bestimmen. Und jetzt hatte Allan die öffentliche Bewillkommnung die man ihm zu Ehren beabsichtigt, verachtungsvoll zurückgewiesen! Jeder nahm es für ausgemacht an, daß er heimliche Nachricht von dem ihm zugedachten Empfange erhalten habe. Jeder erklärte, er habe sich absichtlich wie ein Dieb in der Nacht in sein Haus eingeschlichen, um sich den Aufmerksamkeiten seiner Nachbarn zu entziehen. Kurz, der empfindsame Stolz der kleinen Stadt fühlte sich tief verletzt, und um Allans beneidenswerthe Stellung in der Achtung seiner Nachbarn war es geschehen.

Einen Augenblick stand Midwinter dem Ueberbringer dieser schlimmen Nachrichten in schweigender Bekümmerniß gegenüber. Dann aber trieb ihn das Bewußtsein von Allan’s kritischer Lage, jetzt, da ihm das Unheil bekannt war, unverzüglich ein Mittel zu suchen, wodurch die Sache wieder gut gemacht werden könne.

»Hat das Wenige, was Ihr von Eurem Herrn gesehen habt, Euch zu seinem Gunsten eingenommen, Richard?« frug er.

Diesmal antwortete der Mann ohne alles Zögern. »Einem bessern und gütigeren Herrn als Mr. Armadale kann Niemand zu dienen wünschen.«

»Wenn das Eure Ansicht ist«, fuhr Midwinter fort, »so werdet Ihr nichts dawider haben, mir einige Auskunft zu geben, die Eurem Herrn behilflich sein kann, sich seinen Nachbarn gegenüber zu rechtfertigen. Kommt mit mir ins Haus.«

Er ging in das Bibliothekzimmer. Nachdem er die nöthigen Fragen gethan, stellte er eine Liste von den Namen und Adressen der einflußreichsten Bewohner der Stadt und Umgegend zusammen, und sobald er damit fertig war, klingelte er dem oberen Bedienten, da er Richard unterdessen nach dem Stalle gesandt hatte, um zu bestellen, daß innerhalb einer Stunde der Wagen vorfahre.

»Wenn der verstorbene Mr. Blanchard ausfuhr, um Besuche in der Umgegend zu machen, war es da nicht Euer Dienst, ihn zu begleiten?«" frug Midwinter, als der obere Bediente erschien. »Sehr gut! Dann haltet Euch gefälligst bereit, in einer Stunde mit Mr. Armadale auszufahren.« Nachdem er diesen Befehl gegeben, verließ er wieder das Haus und kehrte mit der Besuchliste in der Hand zu Allan zurück. Er lächelte ein wenig traurig, wie er die Stufen hinabging. »Wer hätte gedacht«, sagte er bei sich, »daß meine Bedientenjungen-Erfahrungen in den Sitten und Bräuchen vornehmer Leute eines Tages um Allan’s willen der Erinnerung werth sein würden?«

Der Gegenstand des öffentlichen Abscheus lag unschuldig schlummernd im Grase, den Gartenhut über die Nase gedrückt, die Weste und Beinkleider gelöst. Midwinter weckte ihn, ohne einen Augenblick zu zögern, und theilte ihm rückhaltlos die Neuigkeiten des Dieners mit.

Allan hörte die ihm in dieser Weise aufgedrungene Offenbarung ruhig an. »O, sie mögen zum Henker gehen!« war alles, was er sagte. Laß uns noch eine Cigarre rauchen.« Midwinter nahm ihm die Cigarre aus der Hand. Indem er darauf bestand, daß Allan die Sache ernstlich nehme, sagte er ihm mit deutlichen Worten, er müsse sich aus der falschen Stellung reißen, die er seinen beleidigten Nachbarn gegenüber einnehme, indem er ihnen persönlich seine Aufwartung mache und sich entschuldige Allan richtete sich staunend im Grase auf; seine Augen öffneten sich leicht vor ungläubigem Entsetzen. Er frug, ob Midwinter wirklich die Absicht habe, ihn in einen Cylinderhut, einen sauber gebürsteten Rock und ein Paar reine Handschuhe zu zwingen? Ob er daraus ausgehe, ihn mit dem Diener auf dem Bock und dem Kartenetui in der Hand, in einen Wagen zu sperren und von Haus zu Haus zu schicken, um einen Haufen Narren um Verzeihung zu bitten, daß er ihnen nicht gestattet, ihn öffentlich zu »zeigen.« Wenn wirklich etwas so unerhört Lächerliches gethan werden müsse, könne es doch jedenfalls nicht heute geschehen. Er habe versprochen, zu der reizenden Miß Milroy im Parkhäuschen zurückzukehren und Midwinter mitzubringen. Was in aller Welt sei ihm an der guten Meinung der benachbarten Gutsherrschaften gelegen? Die einzigen Freunde, um die es ihm zu thun sei, seien diejenigen, die er bereits besitze. Die ganze Nachbarschaft möge ihm den Rücken wenden, wenn es ihr beliebe —— es sei dem Squire von Thorpe-Ambrose vollkommen einerlei, ob er ihr Gesicht oder ihren Rücken sehe.

Nachdem Midwinter ihn in dieser Weise hatte fortreden lassen, bis sein ganzer Vorrath von Einwendungen erschöpft war, versuchte er zuerst, was sein persönlicher Einfluß bei Allan vermöge. Er faßte ihn liebevoll bei der Hand. »Ich will Dich um eine große Gefälligkeit bitten«, sagte er. »Wenn Du diesen Leuten nicht um Deiner selbst willen Deinen Besuch machen willst —— willst Du es nicht wenigstens mir zu Liebe thun?«

Allan stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus, richtete seinen Blick in stummem Erstaunen auf das besorgte Gesicht seines Freundes und gab gutmüthig nach. Wie Midwinter seinen Arm nahm und ihn nach dem Hause zurückführtq warf er einen kläglichen Blick aus die Kühe neben ihnen, die in dem kühlen Schatten sich friedlich mit den Schwänzen peitschten. »Laß es nicht in der Nachbarschaft verlauten«, sagte er, »aber ich möchte gern mit meinen Kühen tauschen.«’

Midwinter verließ ihn, damit er sich ankleiden, nachdem er zurückzukehren versprochen, wenn der Wagen vorfahren werde. Allan’s Toilette versprach keine sehr schnelle zu werden. Er begann dieselbe damit, daß er seine Visitenkarten las, und schritt dann zu einem zweiten Stadium vor, indem er in einen Kleiderschrank schaute und die ganze gutsherrschaftliche Umgegend zum Teufel wünschte. Ehe er noch ein drittes Mittel entdecken konnte, um seine Aufgabe zu verzögern, bot sich ihm dieser Vorwand unerwarteterweise durch das Erscheinen Richard’s, welcher ein Billet überbrachte. Es war soeben der Bote mit Mr. Darch’s Antwort gekommen. Allan schloß schnell den Kleiderschrank und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Briefe des Advokaten. Die erfreuliche Antwort Mr. Darch’s lautete also:

»Sir! Ich habe die Ehre, Ihnen den Empfang Ihres werthen Schreibens von heute zu melden, in welchem Sie mich mit dem Antrage, Ihr Rechtsanwalt zu werden, und mit der Einladung zu einem Besuche in Ihrem Hause beehren. In Bezug auf den ersteren Punkt bitte ich um Erlaubniß, die mir zugedachte Ehre mit Dank ablehnen zu dürfen. Was Ihre freundliche Einladung zu einem Besuche betrifft, so muß ich Sie benachrichtigen, daß ich gewisse Dinge bezüglich der Vermiethung des Parkhäuschens zu Thorpe-Amibrose erfahren habe, die es mir, wenn ich gegen mich selber gerecht sein will, unmöglich machen, Ihre Einladung anzunehmen. Ich habe in Erfahrung gebracht, Sir, daß mein Anerbieten gleichzeitig mit dem von Major Milroy an Sie gelangte und daß Sie, da beide Anträge vor Ihnen lagen, einem Fremden, dessen Bewerbung durch einen Hausagenten kam, den Vorzug vor einem Manne gaben, der während zweier Generationen Ihren Anverwandten treue Dienste geleistet hat und welcher der Erste war, der Sie von dem wichtigsten Ereignisse in Ihrem Leben unterrichtete. Nachdem Sie mir hierdurch den Beweis gegeben haben, was Sie den Anforderungen der gewöhnlichsten Höflichkeit und Gerechtigkeit schuldig zu sein glaubten, darf ich mir nicht mit der Hoffnung schmeicheln, irgendwelche von den Eigenschaften zu besitzen, die mich zu einem Platze auf der Liste Ihrer Freunde berechtigen würden.
Ich verbleibe, Sir,

Ihr gehorsamster Diener
James Darch.«

»Laßt den Boten warten!« rief Allan aufspringend und indem sein Gesicht vor Entrüstung erglühte. »Gebt mir Tinte, Feder und Papier! Beim Lord Harry, das sind hübsche Leute hier in dieser Gegend; die ganze Nachbarschaft hat sich gegen mich verschworen!« In einer edlen Wuth epistolarischer Begeisterung ergriff er die Feder.

»Sir —— Ich verachte Sie und Ihren Brief ——« Hier machte die Feder einen Klecks und der Schreiber zögerte einen Augenblick. »Zu stark«, dachte er; »ich will’s dem Advokaten in seinem eigenen trocknen, beißenden Stile zurückgeben.« Er begann noch einmal auf einem reinen Blatt Papier. »Sir — Sie erinnern mich an eine irländische Widersinnigkeit. Ich meine jene Geschichte in Joe Miller, wo Pat in Gegenwart eines Spaßvogels bemerkt, »die Reciprocität ist alle auf einer Seite.« Ihre Reciprocität ist allerdings ganz und gar auf einer Seite. Sie schlagen es aus, mein Rechtsanwalt zu sein, und beklagen sich dann darüber, daß ich es ausschlage, Ihr Hauswirth zu sein.« Nach diesen Worten machte er eine zärtliche Pause. »Sehr fein!« dachte er. »Argument und scharfer Hieb, alles zusammen Wo ich nur diese Gewandtheit im Schreiben herhaben mag?« Dann beendete er den Brief, indem er nur noch zwei Sätze hinzufügte »Was Ihre Zurückweisung meiner Einladung betrifft, so befinde ich mich um nichts schlechter durch dieselbe. Ich bin froh, weder als Freund noch als Hauswirth mit Ihnen zu thun zu haben. Allan Armadale.«

Er nickte seiner Composition frohlockend zu, indem er dieselbe adressierte und dann zu dem Boten hinunter sandte. »Darch muß ein dickes Fell haben«, sagte er, »wenn er das nicht fühlt.«

Rädergerassel vor dem Hause rief ihn plötzlich zu seinem Geschäfte zurück. Der Wagen wartete, um ihn auf seiner Visitenrunde herumzufahrem auch Midwinter war bereits, wie er versprochen, auf Posten. »Lies das«, rief Allan, ihm den Brief des Advokaten zuwerfend. »Ich habe ihm einen Zermalmer zurückgeschrieben.«

Er eilte an den Kleiderschrank zurück, um seinen Rock zu holen. Eine wunderbare Veränderung war mit ihm vorgegangen; er fühlte jetzt wenig oder gar keine Abneigung mehr, die Besuche zu machen. Die angenehme Aufregung, die mit der Beantwortung von Darch’s Brief verbunden war, hatte ihn in eine vortreffliche, zur Offensive gegen seine Nachbarschaft geneigte Stimmung versetzt »Was sie auch sonst von mir sagen mögen, sie sollen wenigstens nicht sagen, daß ich mich fürchtete, ihnen entgegenzutreten.« Bei diesen Gedanken gerieth er noch mehr in die Hitze, und so ergriff er Hut und Handschuhe und eilte aus dem Zimmer. Im Corridor begegnete er Midwinter, der den Brief des Advokaten in der Hand hielt.

»Sei frohen Muths!« rief Allan, da er die Sorge im Gesichte seines Freundes bemerkte und dieselbe für den Augenblick falsch deutete. »Wenn wir nicht darauf rechnen können, daß Darch uns Jemanden verschafft, der uns in der Verwalterstube behilflich ist, so wird Pedgift es thun.«

»Mein lieber Allan, daran dachte ich nicht, sondern an Mr. Darch’s Brief. Ich vertheidige diesen sauern Menschen nicht —— aber ich fürchte, wir müssen zugeben, daß er einige Ursache hat, sich zu beklagen. Bitte, gib ihm nicht noch weitere Gelegenheit hierzu. Wo ist Deine Antwort auf diesen Brief?«

»Abgegangen!« erwiderte Allan. »Ich schmiede das Eisen stets solange es warm ist —— ein Wort und ein Schlag, und zwar den Schlag zuerst, das ist meine Art. Ich bitte Dich, mein lieber Junge, ängstige Dich nicht um die Verwalterbücher und den Zahltag. Hier! Hier ist ein Bund Schlüssel, den man mir gestern Abend gab; einer derselben öffnet die Thür des Zimmers, wo die Verwaltungsbücher liegen; geh hinein und lies in denselben, bis ich wieder zurückkomme. Ich gebe Dir mein heiliges Ehrenwort, daß ich die ganze Geschichte mit Pedgift abmachen will, ehe Du mich wiedersiehst.«

»Einen Augenblicks rief Midwinter, ihn entschlossen auf dem Wege nach dem Wagen anhaltend. »Ich sage nichts gegen Mr. Pedgift’s Zuverlässigkeit, denn ich weiß von nichts, das mich ihm zu mißtrauen berechtigte. Aber er hat sich Dir nicht in sehr zartfühlender Weise vorgestellt; auch hat er ganz verschwiegen, daß er zur Zeit, da er an Dich schrieb, wußte, wie feindselig Darch gegen Dich gestimmt sei — während er doch sicher davon gewußt hat. Watte ein Wenig, ehe Du zu diesem Fremden gehst; warte, bis wir uns heute Abend darüber besprechen können.«

»Warten!«» erwiderte Allan. »Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich stets das Eisen schmiede, solange es warm ist? Verlaß Dich auf meine Charakterkenntniß alter Junge; ich werde Pedgift sehr schnell durchschauen und dann danach handeln. Halte mich um Himmels willen nicht länger auf. Ich bin in einer herrlichen Laune, auf die ansässigen Gutsherrschaften loszugehen, und ich fürchte, sie könnte vermuthen, wenn ich nicht sogleich aufbreche.«

Nach dieser vortrefflichen Entschuldigung für seine Eile stürzte Allan von dannen. Ehe es möglich war, ihn nochmals zurückzuhalten, war er in den Wagen gesprungen und fortgefahren.



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Midwinters Gesicht verfinsterte sich, als die letzte Spur des Wagens seinen Blicken entschwand. »Ich habe mein Möglichstes gethan«, sagte er, wie er düster wieder ins Haus zurückkehrte. »Mr. Brock selber könnte nicht mehr thun, wenn er hier wäre!«

Er betrachtete den Schlüsselbund, den Allan ihm in die Hand gedrückt, und seine empfindsame, selbstquälerische Natur fühlte sich plötzlich von dem Verlangen ergriffen, sich an den Verwalterbüchern zu versuchen. Nachdem er sich das Zimmer hatte zeigen lassen, in welchem man nach der Vermiethung des Parkhäuschens die sämtlichen Bücher des Verwalters nebst Zubehör einstweilen untergebracht hatte, setzte er sich an das Pult und versuchte, wie weit seine eigenen Fähigkeiten ihm durch die Geschäftsbücher über die Besitzung Thorpe-Ambrose hindurch helfen würden. Der Erfolg stellte ihm seine Unwissenheit klar vor Augen. Die Hauptbücher verwirrten ihn; die Pachtcontracte und selbst die Correspondenz hätte ebenso gut in einer andern Sprache abgefaßt sein können —— so wenig verstand er davon. Mißmuthig verließ er das Zimmer. Er erinnerte sich mit einer gewissen Bitterkeit jenes zweijährigen einsamen Selbstunterrichts im Laden des Buchhändlers zu Shrewsbury. »Wenn ich nur in einem Geschäfte hätte arbeiten können!« dachte er. »Wenn ich nur gewußt hätte, daß die Gesellschaft von Dichtern und Philosophen eine zu hohe für einen Vagabonden wie ich sei!«

Er setzte sich allein in der großen Hausflur nieder; die Stille derselben senkte sich schwerer und immer schwerer auf sein kummerbeladenes Gemüth; die Pracht derselben ärgerte ihn wie eine Beleidigung, die man von einem geldstolzen Manne erfährt. »Der Teufel hole das Haus!« murmelte er, indem er seinen Hut und Stock ergriff. »Mir ist der rauheste Felsenabhang, auf dem ich jemals schlief, lieber als dies Haus!«

Ungeduldig stieg er die Stufen hinab und stand in der Ausfahrt still, um zu überlegen, in welcher Richtung er den Park verlassen solle, um in die jenseits liegenden offenen Felder zu gelangen. Falls er den Weg einschlug, den der Wagen genommen, lief er Gefahr, Allan durch ein zufälliges Begegnen in seinen guten Vorsätzen Wanken zu machen. Ging er durchs Hinterthor hinaus, so kannte er sich selber zu gut um zu bezweifeln, daß er nicht im Stande sein werde, an dem »Traumzimmer« vorbeizugehen, ohne wieder in dasselbe einzutreten. Es blieb deshalb nur noch ein Weg übrig, und dies war der, welchen er am Morgen eingeschlagen und wieder ausgegeben hatte. Er hatte jetzt nicht zu fürchten, daß er Allan und der Tochter des Majors im Wege sein werde. Ohne länger zu zögern, schritt Midwinter durch die Gärten, um sich mit den offenen Gefilden auf jener Seite der Besitzung bekannt zu machen.

Durch die Ereignisse des Tages völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, war sein Gemüth voll von jenem erbitterten Widerwillen gegen alle Annehmlichkeiten, die der Reichthum den Glücklichen dieser Welt bietet; voll von jener Erbitterung, mit der die Armen und Unglücklichen den Reichthum zu betrachten pflegen. »Das Haideglöckchen kostet nichts!« dachte er, indem er verachtungsvoll auf die Menge seltener und schöner Blumen sah, die ihn rings umgaben, »und die Butterblumen und Maßliebchen sind ebenso hübsch wie die besten unter euch!« Er schritt zwischen den künstlich gebildeten ovalen und eckigen Beeten des italienischen Gartens umher und fühlte eine Vagabonden-Gleichgültigkeit gegen die Symmetrie und den Geschmack der Anlagen. »Wie viele Pfund hast Du wohl per Fuß gekostet?« sagte er, indem er verächtlich auf den letzten Pfad zurückblickte, wie er denselben verließ. »Schlängele dich hoch und tief wie ein Schafweg, über den Hügel hin, wenn du kannst!«

Er kam in das Gebüsch, das Allan vor ihm betreten hatte, ging durch das Gehege und über die Brücke von Baumstämmen am Ende desselben und langte am Häuschen des Majors an. Seine schnelle Beobachtung erkannte dasselbe auf den ersten Blick, und er stand an dem Gartenpförtchen still, um die hübsche kleine Wohnung zu betrachten, die nimmer zu vermiethen gewesen wäre, falls Allan nicht den unglückseligen Entschluß gefaßt hätte, seinem Freunde die Verwalterstelle aufzubringen.

Der Sommernachmittag war warm; die Luft lau und still. Im oberen wie im unteren Stockwerk des Häuschens waren alle Fenster geöffnet. Aus einem derselben im oberen Stockwerk drang deutlich der Schall menschlicher Stimmen durch die Stille des Paris. In den mißtönenden Klang einer harten, grellen und zornig klagenden Frauenstimme —— einer Stimme, deren Frische und Wohlklang gänzlich geschwunden war und der nichts mehr blieb, als ihre harte Kraft —— mischte sich jeden Augenblick in tieferen und ruhigeren Tönen, besänftigend und mitleidsvoll die Stimme eines Mannes. Obgleich die Entfernung zu groß war, um Midwinter die Worte unterscheiden zu lassen, fühlte er doch die Unschicklichkeit, sich innerhalb Hörweite aufzuhalten, und that deshalb sofort einen Schritt. um seinen Weg fortzusetzen. In demselben Augenblicke jedoch erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, in welchem er, nach Allan’s Beschreibung, leicht Miß Milroy’s Gesicht erkannte, an dem offenen Fenster des Zimmers. Midwinter stand wider Willen still, um sie anzublicken. Der Ausdruck des hübschen Gesichts, das Allan so lieblich angelächelt hatte, war kummervoll und entmuthigt. Nachdem sie zerstreut auf den Park hinausgeschaut, wandte sie plötzlich den Kopf zurück ins Zimmer, da dem Anscheine nach etwas im Innern gesagt worden war, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. »O, Mama, Mama«, rief sie entrüstet, wie kannst Du nur so etwas sagen!« Die Worte wurden unmittelbar am Fenster gesprochen; sie drangen an Midwinter’s Ohr und machten ihn forteilen, ehe er mehr hören konnte. Doch hatte die Offenbarung von Major Milroy’s häuslicher Lage noch nicht ihr Ende erreicht. Wie Midwinter um die Ecke des Gartenzaunes bog, reichte eben ein Krämerjunge der Magd ein Paket über das Pförtchen. »Nun«, sagte der Junge mit der unbezwinglichen Frechheit seiner Klasse, »was macht die Alte?« Die Magd erhob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben. »Was macht die Alte!« wiederholte sie, indem sie zornig den Kopf in den Nacken warf, als der Knabe fortrannte. »Wenn es nur Gott gefiele, die Alte endlich zu sich zu nehmen, so würde dies fürs ganze Haus ein wahrer Segen sein.«

Das hübsche häusliche Bild, das Allan’s Enthusiasmus seinem Freunde von den Bewohnern des Parkhäuschens entworfen, hatte freilich nichts von diesen düsteren Schatten gezeigt. Es war klar, daß die Miethsleute bis hierher ihr Geheimnis; vor ihrem Hauswirthe bewahrt hatten. Nachdem Midwinter noch fünf Minuten weiter gegangen, kam er an das Parkthor. »Ist es meine Bestimmung, heute nichts zu sehen und zu hören, was mir Muth und Hoffnung für die Zukunft einflößen kann?« dachte er, wie er ärgerlich das Thor hinter sich zuschlug. »Selbst die Leute, denen Allan jenes Haus vermiethet hat, sind Leute, deren Leben durch ein Familienleid verbittert ist, welches ich und eben nur ich zu entdecken das Unglück haben mußte!«

Er schlug den ersten besten Weg ein, der vor ihm lag, und ging, kaum auf seine Umgebung achtend, in Gedanken versunken weiter. Es verstrich über eine Stunde, ehe er sich an die Nothwendigkeit erinnerte, zurückzukehren. Sowie ihm dies einfiel, sah er auf seine Uhr und beschloß umzukehren, damit er zu rechter Zeit zu Hause anlange, um Allan bei seiner Rückkehr empfangen zu können. In zehn Minuten war er an einer Stelle angelangt, wo drei Wege in einander liefen, und eine kurze Beobachtung überzeugte ihn, daß er vorher durchaus nicht beachtet hatte, auf welchem der drei Wege er gekommen war.

Ein Wegweiser war nirgends zu sehen; die Gegend war rings umher flach und öde und von breiten Gräben durchschnitten. Hier und dort weideten Kühe, und in der Entfernung, jenseits der Weiden, die den Horizont säumten, stand eine Windmühle. Allein nirgendwo war ein Haus zu sehen und auf keinem der drei Wege zeigte sich nah oder fern ein einziges menschliches Wesen. Da gewahrte Midwinter endlich bei einem Rückblick auf den Weg, auf dem er soeben zurückgekehrt war, zu seiner Zufriedenheit die Gestalt eines Mannes, der sich ihm schnell näherte und von dem er sich Auskunft über den Weg erbitten konnte.

Die Gestalt, vom Kopfe bis zu den Füßen in Schwarz gekleidet, kam näher —— ein beweglicher Flecken auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs. Es war ein hagerer, ältlicher Mann; er trug einen ärmlichen alten schwarzen Frack und eine wohlfeile braune Perücke die sich durchaus nicht für sein eigenes Haar auszugeben versuchte. Kurze schwarze Beinkleider schmiegten sich, gleich anhänglichen alten Dienern, um seine dürren Beine, und rußige schwarze Gamaschen versteckten von seinen plumpen Füßen so viel als sie vermochten Schwarzer Flor fügte sein Scherflein zu der Schäbigkeit seines alten Kastorhuts hinzu; eine altmodische schwarze Cravatte umschlang trübselig seinen Hals und reichte bis zu seinen knochigen Kinnbacken empor. Das einzige bischen Farbe, das er an sich trug, war ein Advokaten-Acten-Beutel von blauer Sersche, der ebenso mager und welk war wie er selber; und der einzige anziehende Theil in seinem glatt rasierten, erschöpften alten Gesicht war sein Gebiß, welches zwei lückenlose Reihen trefflich gepflegter Zähne zeigte und, ebenso ehrlich wie seine Perücke, allen fragenden Blicken deutlich die Antwort gab: »Wir liegen die Nacht über auf seinem Toilettenspiegel und bringen unsere Tage in seinem Munde zu.«

Der ganze unbedeutende Blutvorrath in dem Körper des Mannes stieg röthlich schimmernd in seine fleischlosen Wangen, als Midwinter ihm entgegenkam und ihn nach dem Wege nach Thorpe-Ambrose frug. Seine schwachen wässrigen Augen blickten in einer für den Beschauer peinlichen Verwirrung hierhin und dorthin. Wäre ihm, anstatt eines Mannes, ein Löwe begegnet und wären die an ihn gerichteten Worte eine Drohung gewesen anstatt einer Frage, so hätte er nicht verlegener und geängstigter aussehen können. Zum ersten Male in seinem Leben sah Midwinter einen Wiederschein seiner eigenen Schüchternheit in Gegenwart von Fremden, und zwar mit zehnfacher Intensivität nervösen Leidens, im Gesichte eines Andern und eines Mannes, der alt genug war, um sein Vater sein zu können.

»Belieben Sie, die Stadt zu meinen, Sir, oder das Gut? Ich bitte um Vergebung, aber es wird in dieser Gegend beiden derselbe Name gegeben.«

Er sprach in einem schüchtern sanften Tone, mit einem einschmeichelnden Lächeln und einer ängstlichen Höflichkeit, was alles den betrübenden Eindruck machte, als ob er von den Leuten, mit denen er hauptsächlich umgehe, für seine eigene Höflichkeit mit barschen Antworten bezahlt werde.

»Ich wußte nicht, daß sowohl die Stadt als das Gut unter dem Namen bekannt seien«, sagte Midwinter. »Ich meinte das Gut« Er bemeisterte, indem er diese Worte sprach, instinctmäßig seine eigene Schüchternheit, und sprach mit einem freundlichen Wesen, das in seinem Umgange mit Fremden eine große Seltenheit bei ihm war.

Der Gentleman schien die warme Erwiderung seiner eigenen Höflichkeit dankbar anzuerkennen. Sein Gesicht hellte sich auf und er fand ein wenig Muth. Sein dürrer Zeigefinger deutete eifrig auf den rechten Weg. »Das ist der Weg, Sir«, sagte er, »und wenn Sie wieder an zwei Wege kommen, seien Sie so gütig, den Weg zur Linken einzuschlagen. Ich bedaure, daß ich Geschäfte in der andern Richtung habe —— ich meine in der Stadt. Es würde mir sonst Vergnügen gemacht haben, mit Ihnen zu gehen und Ihnen den Weg zu zeigen. Schönes Sommerwetter, Sir, zum Spazierengehen! Sie können nicht fehlgehen, wenn Sie sich links halten. O, bitte, gern geschehen! Ich fürchte, ich habe Sie aufgehalten, Sir. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückkehr und —— guten Morgen.«

Als er mit seiner Rede, zu der er sich in dem Wahne bewogen fühlte, daß er um so höflicher erscheinen werde, je mehr er spräche, zu Ende kam, war auch sein Muth wieder erschöpft. Er eilte auf seinem eigenen Wege davon, wie wenn Midwinter’s Versuche, ihm zu danken, ihn mit einer Reihe von Prüfungen bedrohten, die zu fürchterlich seien, als daß er sich denselben aussetzen könne. In zwei Minuten hatte sich seine fliehende schwarze Gestalt bereits in der Entfernung verkleinert, bis sie wieder, wie schon vorher, gleich einem beweglichen schwarzen Fleck auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs aussah.

Während Midwinter den Rückweg nach dem Hause fortsetzte, ging ihm der Mann seltsam im Kopf herum. Er vermochte sich dies nicht zu erklären. Es fiel ihm nicht ein, daß er vielleicht unmerklich an sich selbst erinnert ward, da er in dem Gesichte des armen Geschöpfes die deutlichen Spuren früheren Unglücks und gegenwärtigen nervösen Leidens wahrnahm. Er war verdrießlich über sein eigensinniges Interesse an diesem ihm zufällig begegneten Wanderer, wie ihn bereits alles Uebrige verdrossen hatte, was ihm seit dem Beginn des Tages zugestoßen war. »Habe ich wieder einmal eine unglückliche Entdeckung gemacht?« frug er sich ungeduldig. »Werde ich diesen Mann wohl jemals wiedersehen? Wer mag er nur sein?«

Die Zeit sollte diese beiden Fragen beantworten, ehe noch viele Tage über dem Haupte des Fragenden dahingegangen waren.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Allan war noch nicht zurückgekehrt, als Midwinter im Hause anlangte. Es hatte sich nichts ereignet, außer daß eine Entschuldigung aus dem Parkhäuschen gesandt worden war. »Major Milroy’s Empfehlung und er bedaure, daß Mrs. Milroy’s Krankheit ihn verhindere, Mr. Armadale bei sich zu sehen.« Es war klar, daß Mrs. Milroy’s gelegentlichen Krankheitsanfälle nicht blos vorübergehende Störungen in dem häuslichen Frieden bewirkten. Wenigstens hatte Midwinter nach dem, was er selbst vor etwa drei Stunden vor dem Parkhäuschen gehört hatte, diese Ueberzeugung gewonnen. Midwinter begab sich in das Bibliothekzimmer, um unter den Büchern die Rückkehr seines Freundes geduldig abzuwarten.

Es war nach sechs Uhr, als die wohlbekannte herzliche Stimme wieder im Hause gehört ward. Allan stürzte in einem Zustande unbezwinglicher Aufregung in das Bibliothekzimmer und stieß Midwinter, ehe dieser ein Wort sagen konnte, ohne alle Ceremonie wieder in den Sessel zurück, von dem er sich zu erheben im Begriff war.

»Hier ist ein Räthsel für Dich, alter Junge!« rief Allan. »Warum gleiche ich dem Aufseher des Augias-Stalles, ehe Hercules herbeigerufen wurde, um denselben auszufegen? Weil ich meine Stellung zu behaupten hatte, und eine arge Schweinerei daraus gemacht habe! Warum lachst Du nicht? Beim heiligen Georg, er sieht die Pointe nicht! Versuchen wir’s noch einmal. Warum gleiche ich dem ——«

»Um Himmelswillen, Allan, sei einen Augenblick ernsthaft!« unterbrach ihn Midwinter. »Du weißt nicht, wie sehr mir daran gelegen ist zu hören, ob Du die gute Meinung Deiner Nachbarn wiedergewonnen hast.«

»Das sollte das Räthsel Dir gerade erzählen.« erwiderte Allan. »Nun, im Ganzen geht meine Ansicht dahin, daß Du besser gethan haben würdest, wenn Du mich nicht unter jenem Baume im Park gestört hättest. Ich habe mir die Sache genau berechnet, und habe das Vergnügen, Dich zu unterrichten, daß ich, seit ich Dich sah, in der Meinung der ansässigen Gutsherrschaften genau um drei Stufen tiefer gesunken bin.«

»Natürlich mußt Du Deinen Scherz durchsetzen«, sagte Midwinter bitter. »Nun, wenn ich nicht lachen kann, so kann ich doch warten.«

»Mein lieber Junge, ich scherze nicht; ich meine wirklich, was ich sage. Du sollst hören, was sich ereignet hat; Du sollst einen ausführlichen Bericht über meinen ersten Besuch haben. Derselbe wird eine Probe von allen übrigen sein. Zuerst laß Dir gesagt sein, daß ich in der besten Absicht von der Welt geirrt habe. Als ich aufbrach, um diese Besuche zu machen, war ich, wie ich offen gestehe, in Wuth über jenes alte Thier von Advokaten, und hatte allerdings ein Lüstchen, mich übermüthig zu benehmen. Aber dies Gefühl verlor sich unterwegs; und bei der ersten Familie, der ich meinen Besuch machte, trat ich, wie gesagt, mit den besten Absichten von der Welt ein. O, du lieber, lieber Himmel! In diesem Hause, wie in jedem andern, in das ich später kam, immer und immer wieder dasselbe funkelnagelneue Empfangszimmer, in dem ich warten mußte; dahinter dasselbe zierliche Gewächshaus; dieselben ausgewählten Bücher zu meiner Durchsicht —— ein religiöses Buch, ein Buch über den Herzog von Wellington, ein Buch über den Sport und ein Buch über nichts Besonderes, mit prachtvollen Illustrationen geziert. Herunter kam der Papa mit seinem hübschen weißen Haar und die Mama mit ihrer hübschen Spitzenhaube; herunter kam der junge Mister mit seinem rosigen Angesichte und seinem strohfarbenen Backenbarte, und die junge Miß mit ihren runden Wangen und umfangreichen Röcken. Denke nicht, daß ich im geringsten unfreundlich war; ich machte den Anfang stets in derselben Weise mit ihnen —— ich bestand darauf, allen die Hand zu geben. Dies machte sie gleich stutzig. Wenn ich dann zu dem zarten Punkte —— dem öffentlichen Empfange —— kam, so gebe ich Dir mein Ehrenwort darauf, daß ich mir die größte Mühe von der Welt gab, mich zu entschuldigen. Aber es hatte nicht die geringste Wirkung. Sie ließen meine Entschuldigungen zum einen Ohre hinein und zum andern wieder hinausgehen. Einige Leute würde dies entmuthigt haben; ich dagegen versuchte es auf andere Weise mit ihnen. Ich wandte mich zunächst zum Herrn des Hauses und stellte ihm die Sache ganz freundschaftlich vor. »Die Wahrheit zu gestehen«, sagte ich, »wünschte ich dem Redenhalten zu entgehen —— ich hätte mich da erheben müssen, wissen Sie, und Ihnen ins Gesicht sagen, daß Sie der beste aller Menschen sind, und daß ich um Erlaubniß bitte, auf Ihr Wohlsein trinken zu dürfen; worauf dann Sie sich erheben und mir das Gleiche ins Gesicht sagen, und so weiter, Mann für Mann, indem wir rund um die Tafel herum einander loben und langweilen.« In dieser leichten, unbefangenen, überzeugenden Art und Weise stellte ich ihm die Sache vor. Meinst Du, daß ein Einziger von ihnen es in demselben freundschaftlichen Geiste aufnahm? Nicht Einer! Ich bin der festen Ueberzeugung daß sie ihre Reden für den Empfang mit den Fahnen und Blumen in Bereitschaft hatten und daß sie heimlich ärgerlich über mich sind, weil ich ihnen den Mund stopfte, als sie gerade anzufangen im Begriff waren. Wie dem immer sei, sowie wir zu dem Gegenstande der Reden kamen —— ob sie denselben zuerst berührten oder ich —— augenblicklich sank ich die erste jener drei Stufen in ihrer Achtung. Glaube nicht, daß ich mir keine Mühe gab, mich wieder zu erheben! Ich machte verzweifelte Anstrengungen. Da ich die Entdeckung machte, daß sie sich alle zu wissen sehnten, welch eine Art von Leben ich geführt, bis ich das Besitzthum Thorpe-Ambrose erbte, so that ich mein Möglichstes, um sie zufrieden zu stellen. Und was bewirkte dies wohl? Ich will gehangen sein, wenn ich ihnen nicht eine zweite Täuschung bereitete! Wenn sie entdeckten, daß ich niemals in Eton oder Harrow, Cambridge oder Oxford gewesen sei, waren sie förmlich stumm vor Erstaunen. Ich denke mir, sie hielten mich für eine Art Vagabund; kurz ich sank die zweite Stufe in ihrer Achtung Macht nichts! Ich ließ mich nicht aus dem Felde schlagen, denn ich hatte Dir versprochen, mein Möglichstes zu thun, und ich that es. Ich versuchte zunächst ein heiteres Geplauder über die Umgegend. Die Frauen sagten nichts Besonderes; die Männer fingen, zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, alle an zu condoliren. Sie sagten, ich werde innerhalb zwanzig Meilen vom Hause kein Koppel Hunde zu finden im Stande sein, und sie hielten es für nicht mehr als recht, mich davon zu unterrichten, in welcher schmachvollen Weise man zu Thorpe-Ambrose die Wildlager vernachlässigt habe. Ich ließ sie zu Ende condoliren, und was glaubst Du, that ich dann? Ich brachte mich abermals in die Patsche »O, lassen Sie sich das nicht kümmern«, sagte ich; »es liegt mir durchaus gar nichts an irgend einer Art von Jagd. Wenn ich auf meinem Spaziergange einem Vogel begegne, ist es mir unmöglich, eine Begierde zu fühlen, ihn zu tödten; es macht mir im Gegentheil Vergnügen, den Vogel umherfliegen und sich seines Daseins freuen zu sehen.« Da hättest Du ihre Gesichter sehen sollen! Hatten sie mich vorher für eine Art Vagabond gehalten, so hielten sie mich jetzt offenbar für toll. Es herrschte eine Todtenstille, und ich sank die dritte Stufe in der allgemeinen Achtung. Im nächsten Hause, und im nächsten, und wieder im nächsten ging es ebenso. Ich glaube, wir waren alle vom Teufel besessen. Es kam stets auf eine oder die andre Weise zum Vorschein, daß ich keine Reden halten könne, daß ich ohne Universitätsbildung ausgewachsen sei, und daß ich Vergnügen an einem Spazierritt finden könne, ohne einem unglückseligen, übelriechenden Fuchse oder einem armen wahnsinnigen, kleinen Hasen nachzugaloppieren. Diese drei unglücklichen Fehler in mir sind, wie es scheint, bei einem Gutsbesitzer unverzeihlich, namentlich wenn er den Anfang damit gemacht hat, daß er einem öffentlichen Empfange aus dem Wege gegangen ist. Ich denke, am besten kam ich noch mit den Gemahlinnen und Töchtern fort. Die Frauen und ich verfielen überall früher oder später auf Mrs. Blanchard und ihre Nichte. Wir wurden stets darüber einig, daß sie sehr weise gehandelt haben. indem sie nach Florenz gezogen seien; und der einzige Grund, den wir für diese Ansicht anzugeben hatten, war der, daß die Betrachtung der Meisterstücke italienischer Kunst nach dem traurigen Verluste, den die beiden Damen erlitten, einen wohlthätigen Einfluß auf ihr Gemüth haben werde. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf, daß jede einzelne der Damen in jedem Hause, das ich besuchte, früher oder später auf Mrs. und Miß Blanchards Verlust und zu den Meisterstücken italienischer Kunst zu reden kam. Was wir ohne die Hilfe dieses glänzenden Gedankens hätten anfangen sollen, weiß ich wirklich nicht. Der einzige angenehme Augenblick bei all diesen Besuchen war der, wo wir alle zusammen die Köpfe schüttelten und erklärten, daß die Meisterwerke sie trösten würden. Was den Rest betrifft, so habe ich nur noch eins zu sagen: Was ich an einem andern Orte sein könnte, weiß ich nicht; hier aber bin ich der unrechte Mann am unrechten Orte. Laß mich in Zukunft mit meinen eignen wenigen Freunden auf meine eigne Weise fertig werden; verlange Alles in der Welt von mir, nur verlange nicht, daß ich noch fernere Besuche bei meinen Nachbarn machen soll.«

Mit dieser charakteristischen Bitte schloß Allan seinen Bericht über seine Entdeckungsreise unter den ansässigen Gutsherrschaften. Midwinter schwieg einen Augenblick. Er hatte Allan bis zu Ende plaudern lassen, ohne seinerseits ein Wort zu sagen. Der unglückliche Erfolg der Besuche —— ein Erfolg, der in Verbindung mit allen übrigen, seit gestern gemachten, Erfahrungen Allan gleich beim Beginn seines Aufenthalts in der Gegend mit Ausschließung von allem gesellschaftlichen Verkehre bedrohte —— hatte Midwinter’s Kraft so vollständig gebrochen, daß er unfähig war, dem ihn allmählig beschleichenden drückenden Einflusse seines Aberglaubens noch ferneren Widerstand zu leisten. Es kostete ihn schon einige Anstrengung, jetzt zu Allan aufzublicken; noch mehr kostete es ihn Anstrengung, sich zu einer Erwiderung zu ermannen.

»Es soll geschehen, wie Du wünschest«, sagte er ruhig. »Ich bedaure das, was sich zugetragen hat, aber ich bin Dir nichtsdestoweniger dankbar dafür, Allan, daß Du gethan, was ich Dich zu thun bat.«

Sein Haupt sank auf seine Brust, und die fatalistische Resignation, die ihn schon auf dem Wrack beruhigt, beruhigte ihn auch jetzt wieder. »Was sein muß, wird sein!« dachte er abermals. »Was habe ich und was hat er mit der Zukunft zu schaffen?«

»Guten Muth!« rief Allan. »Was Deine Angelegenheiten betrifft, so befinden sich dieselben jedenfalls auf gedeihlichen: Wege. Ich machte einen angenehmen Besuch in der Stadt, von dem ich Dir noch nicht erzählt habe. Ich habe Pedgift gesehen und Pedgift’s Sohn, der ihm in der Expedition behilflich ist. Sie sind die beiden herrlichsten Advocaten, die mir je im Leben vorgekommen sind, und was noch mehr ist, sie können uns den Mann verschaffen, dessen Du bedarfst, um Dich über die Verwalterpflichten zu unterrichten.«

Midwinter sah schnell auf. Es stand bereits deutliches Mißtrauen gegen Allan’s Entdeckung in seinem Gesichte geschrieben, doch sagte er nichts.

»Ich dachte an Dich«, fuhr Allan fort, »sowie die beiden Pedgifts und ich ein Glas auf unsere freundschaftliche Verbindung getrunken hatten, den vortrefflichsten Sherry, den ich in meinem ganzen Leben gekostet habe; ich habe mir eine Quantität von derselben Sorte bestellt, doch darum handelt es sich jetzt nicht. In zwei Worten erzählte ich diesen beiden würdigen Burschen Deine Schwierigkeit, und in zwei Secunden hatte der alte Pedgift die ganze Geschichte begriffen. »Ich habe den Mann in meiner Expedition«, sagte er, »und will ihn, ehe der Zahltag herankommt, mit Vergnügen zu Ihrer Verfügung stellen.«

Bei dieser letzten Ankündigung gab Midwinter seinem Mißtrauen in Worten Ausdruck. Er fragte Allan schonungslos aus. Der Name des Mannes war, wie sich ergab, Bashwoot Er war einige Zeit —— Allan erinnerte sich nicht, wie lange in Mr. Pedgift’s Diensten gewesen. Vorher hatte er bei einem Herrn in Norfolk, dessen Namen Allan vergessen, im westlichen Districte der Grafschaft, eine Verwalterstelle innegehabt, die er aber in Folge gewisser Familienverhältnisse wieder verloren hatte. Pedgift verbürgte sich für ihn und wollte ihn zwei oder drei Tage vor dem Zahltagsdiner nach Thorpe-Ambrose senden. Früher könne er in der Expedition nicht gut entbehrt werden. Es sei unnöthig, sich ferner wegen dieses Gegenstands zu beunruhigen; Pedgift lache über die Idee, daß es irgendwelche Schwierigkeit mit den Pächtern geben könne. Zwei oder drei Tage des Studirens der Verwalterbücher würden Midwinter unter der Leitung eines Manns, der ein praktisches Verständniß der Schae besitze, vollkommen für den Zahltag vorbereiten, und die übrigen Geschäfte könnten bis später warten.

»Hast Du diesen Mr. Bashwood selbst gesehen Allan?« fragte Midwinter, noch immer auf seiner Hut.

»Nein«, erwiderte Allan, »er war auswärts mit dem Actenbeutel, wie der junge Pedgift sich ausdrückte. Sie sagten mir, er sei ein anständiger, ältlicher Mann, zwar ein wenig zerschlagen durch seine Leiden und ein wenig nervös und verwirrt im Wesen, wenn er mit Fremden zu thun hat, aber vollkommen tüchtig und vollkommen zuverlässig —— dies sind Pedgift’s eigne Worte.«

Midwinter schwieg und überlegte ein wenig, da er ein neues Interesse an dem Gegenstande fand. Der fremde Mann, den er soeben hatte beschreiben hören, und der fremde Mann, den er an der Stelle, wo die drei Wege zusammenliefen, getroffen, hatten eine seltsame Aehnlichkeit mit einander. War dies etwa ein abermaliges Glied in der immer länger werdenden Kette von Ereignissen? Midwinter war entschlossen nur um so mehr behutsam zu sein, als ihn der Zweifel, daß dies der Fall sein könne, beschlich.

»Willst Du mir erlauben, wenn Mr. Bashwood kommt, ihn zu sehen und zu sprechen, ehe irgendetwas bestimmt wird?« fragte er.

»Das versteht sich!« erwiderte Allan. Er schwieg und sah auf seine Uhr. »Und ich will Dir sagen, was ich inzwischen für Dich thun will, alter Junge«, fügte er hinzu, »ich will Dich dem hübschesten Mädchen in ganz Norfolk vorstellen! ist noch grade Zeit, vor Tische nach dem Parkhäuschen zu laufen. Komm mit und laß Dich Miß Milroy vorstellen.«

»Das wird für heute nicht möglich sein«, entgegnete Midwinter und richtete ihm dann die Entschuldigung aus, die am Nachmittage vom Major eingetroffen war. Allan war erstaunt und fühlte sich enttäuscht, doch war er nicht von seinem Entschlusse abzubringen, sich bei den Bewohnern des Parkhäuschens in Gunst zu setzen. Nachdem er ein wenig nachgesonnen, fiel ihm ein Mittel ein, von den gegenwärtigen ungünstigen Verhältnissen guten Gebrauch zu machen. »Ich will eine schickliche Besorgniß für Mrs. Milroy’s Genesung an den Tag legen«, sagte er ernst, »morgen früh werde ich ihr mit meiner besten Empfehlung einen Korb mit Erdbeeren senden.«

Der Tag ging zu Ende, ohne daß noch etwas Bemerkenswerthes vorfiel.

Das einzige bemerkenswerthe Ereigniß des folgenden Tags war eine abermalige Offenbarung von Mrs. Milroy’s krankhafter, böser Laune. Eine halbe Stunde später. nachdem Allan? Korb mit Erdbeeren im Parkhäuschen abgegeben worden, ward ihm derselbe mit einer kurzen und bissigen Bestellung, die von der Krankenwärterin der Mrs. Milroy in kurzer und bissiger Manier ausgerichtet wurde, unangerührt wieder zurückgebracht. »Mrs. Milroy’s Empfehlung und sie lasse sich bedanken. Erdbeeren bekämen ihr nie.« Falls diese merkwürdig gereizte Anerkennung einer Höflichkeit Allan hatte ärgern sollen, so erreichte dieselbe durchaus nicht ihren Zweck. Anstatt sich durch die Mutter beleidigt zu fühlen, drückte er seine Theilnahme für die Tochter aus. »Das arme kleine Wesen«, war alles, was er sagte, dachte aber dabei: »Sie muß mit einer solchen Mutter ein hartes Leben führen!«

Später am Tage machte er selbst einen Besuch im Häuschen, doch konnte er Miß Milroy nicht sehn. Sie war oben beschäftigt Der Major empfing seinen Besuch in seiner Arbeitsschürze, weit tiefer in seine wunderbare Uhr versunken und allen äußern Eindrücken weit unzugänglicher, als Allan ihn bei der ersten Zusammenkunft gefunden hatte. Sein Benehmen war ebenso herzlich wie zuvor, doch war kein Wort weiter über seine Gemahlin aus ihm herauszubringen, als daß, wie er sich ausdrückte, Mrs. Milroy’s Befinden sich seit gestern nicht gebessert habe.

Die beiden nächsten Tage vergingen ruhig und ohne alle Ereignisse Allan beharrte dabei, seine Nachfragen im Parkhäuschen fortzusetzen, doch alles, was er von der Tochter des Majors sah, beschränkte sich darauf, daß sie für einen einzigen kurzen Augenblick am Fenster der oberen Etage sichtbar ward. Man hörte nichts weiter von Mr. Pedgift, und Mr. Bashwood’s Ankunft verzögerte sich noch. Midwinter weigerte sich, irgendetwas in der Sache zu unternehmen, bis hinlängliche Zeit verstrichen sei, daß er eine Antwort auf den Brief haben konnte, den er am Abend seiner Ankunft in Thorpe-Ambrose an Mr. Brock geschrieben. Er war ungewöhnlich still und schweigsam, und brachte den größern Theil der Zeit in der Bibliothek unter den Büchern zu. Die Zeit verging langsam. Die ansässigen Gutsherrschaften erwiderten Allan’s Besuche, indem sie aufs förmlichste ihre Karten abgaben. Darauf kam Niemand mehr dem Hause nahe. Das Wetter war einen Tag so schön wie den andern. Allan wurde ein wenig unruhig und unzufrieden. Er fing an, Mrs. Milroy’s Krankheit übel zu nehmen und mit Bedauern an seine verlassene Jacht zu denken.

Der nächste Tag, der zwanzigste des Monats, brachte einiges Neue aus der Außenwelt. Mr. Pedgift ließ sagen, daß sein Schreiber Mr. Bashwood, sich am folgenden Tage in Thorpe-Ambrose einstellen werde, und Midwinter erhielt eine Antwort auf seinen Brief an Mr. Brock.

Der Brief war vom achtzehnten datiert, und der Inhalt desselben heiterte nicht nur Allan, sondern auch Midwinter auf. Mr. Brock kündigte ihnen an, daß er an dem Tage, an dem er schreibe, nach London zu reisen im Begriff sei, wohin er im Interesse eines kranken Anverwandten beschieden worden, dessen Curator er war. Nachdem er diese Geschäfte abgethan, habe er gute Hoffnung, irgendeinen seiner Freunde unter der Geistlichkeit in London bereit zu finden, sein Amt für ihn zu verrichten, und in diesem Falle hoffe er, innerhalb einer Woche oder schon früher von London nach Thorpe-Ambrose reisen zu können. Unter diesen Umständen wolle er den größern Theil der von Midwinter beregten Gegenstände aufsparen, bis sie einander sahen. Da jedoch in Bezug auf die Verwalterstelle in Thorpe-Ambrose die Zeit von Wichtigkeit sein dürfe, wolle er hiermit sogleich sagen, daß er keinen Grund sehe, weshalb Midwinter nicht versuchen sollte, sich mit den Verwalterpflichten vertraut zu machen, und warum es ihm nicht gelingen sollte, seinem Freunde in dieser Stellung unschätzbare Dienste zu leisten.

Während Midwinter zu Hause blieb, um den ermuthigenden Brief des Pfarrers immer und immer wieder mit einer Aufmerksamkeit durchzulesen, als sei ihm daran gelegen, jedes Wort desselben auswendig zu lernen, ging Allan etwas früher als gewöhnlich aus, um seine tägliche Nachfrage im Häuschen zu machen, oder, mit andern Worten, um einen vierten Versuch zu machen, seine Bekanntschaft mit Miß Milroy fortzusetzen. Der Tag hatte in ermuthigender Weise begonnen und schien bestimmt, auch in dieser Weise fortzufahren. Als Allan um die Ecke des zweiten Gebüsches bog und in das kleine Gehege eintrat, in dem er Miß Milroy zum ersten Male begegnet war, fand er dort Miß Milroy vor, welche langsam auf dem Rasenplatze auf und ab ging, dem Anscheine nach Jemanden erwartend.

Sie erschrak ein wenig, als sie Allan erblickte, kam ihm jedoch ohne Zögern entgegen. Sie erschien einigermaßen verändert, aber nicht zu ihrem Vortheil. Ihre rosige Farbe hatte durch die Einsperrung im Hause gelitten, und ein markierter Ausdruck der Verlegenheit umwölkte ihr hübsches Gesicht.

»Ich weiß kaum, wie, ich es bekennen soll, Mr. Armadale«, sagte sie hastig, ehe Allan noch ein Wort herauszubringen im Stande war, »aber ich kam allerdings heute Morgen in der Hoffnung hierher, Sie zu treffen. Ich bin sehr bekümmert gewesen; ich habe nur soeben erst, und zwar durch Zufall, etwas von der Art und Weise erfahren, in der die Mama das Geschenk von Obst aufgenommen hat, das Sie ihr zu senden die Güte hatten. Wollen Sie versuchen, sie zu entschuldigen? Sie ist seit Jahren außerordentlich leidend gewesen und kennt sich nicht immer. Nachdem Sie so sehr freundlich gegen mich und den Papa gewesen, konnte ich wirklich nicht umhin, dem Hause zu entschlüpfen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken. Bitte, vergeben und vergessen Sie, Mr. Armadale, ich bitte Sie!« Ihre Stimme bebte bei diesen letzten Worten, und in ihrem Eifer, seine Verzeihung für ihre Mutter zu erlangen, legte sie ihre Hand auf seinen Arm.

Allan war selbst ein wenig verlegen. Ihr Ernst überraschte ihn, und ihre sichtliche Ueberzeugung, daß er sich beleidigt gefühlt, verursachte ihm aufrichtiges Bedauern. Da er nicht wußte, was er thun solle, folgte er seinem Instincte und nahm ihre Hand.

»Meine liebe Miß Milroy, wenn Sie noch ein Wort darüber sagen, werden Sie mich betrüben«, erwiderte er, indem er in der Verwirrung des Augenblicks unbewußt ihre Hand immer fester und fester in der seinigen drückte. »Ich fühlte mich keinen Augenblick im mindesten beleidigt; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich es auf Mrs. Milroy’s Krankheit schob. Beleidigt!« rief Allan, mit Energie zu seiner alten Manier zurückkehrend. »Ich ließe mir gern tagtäglich meinen Obstkorb zurücksenden, wenn ich nur die Gewißheit hätte, daß dies Sie stets am nächsten Morgen ins Gehege hinaus bringen würde.«

Ein Theil der entflohenen Farbe kehrte wieder in Miß Milroy’s Wangen zurück. »O Mr. Armadale, Ihre Güte ist in der That unbegrenzt«, sagte sie; »Sie können sich keine Vorstellung machen, wie sehr Sie mir das Herz erleichtert haben!« Sie schwieg, ihre frohe Stimmung hatte sich mit einer Schnelligkeit wiedergefunden, als wäre sie ein Kind, und ihre angeborene Heiterkeit funkelte wieder in ihren Augen, wie sie schüchtern lächelnd zu Allan’s Gesicht aufschaute. »Sind Sie nicht der Ansicht«, fragte sie sittsam, »daß es fast Zeit ist, meine Hand loszulassen?«

Ihre Blicke begegneten sich. Allan folgte zum zweiten Male seinem Instincte Anstatt ihre Hand loszulassen, erhob er dieselbe zu seinen Lippen und küßte sie. In einem Augenblicke blühte wieder die ganze entschwundene Rosenfarbe in Miß Milroy’s Gesicht. Sie entriß Allan ihre Hand, wie wenn er sie verbrannt hätte.

»Ich bin überzeugt, daß das unrecht ist, Mr. Armadale«, sagte sie, und wandte schnell den Kopf ab, denn sie lächelte wider Willen.

»Ich beabsichtigte, mich dadurch dafür zu entschuldigen, daß ich Ihre Hand zu lange festgehalten«, stammelte Allan. »Eine Entschuldigung kann doch nicht unrecht sein, wie?«

Es gibt Gelegenheiten, obwohl nicht viele, wo der weibliche Geist genau die Macht der reinen Vernunft zu schätzen im Stande ist. Die gegenwärtige Gelegenheit war eine solche. Es war Miß Milroy eine abstracte Proposition vorgelegt worden, und sie war überzeugt. Wenn es als eine Entschuldigung habe gelten sollen, so sei dies etwas andres, gab sie zu. »Ich hoffe nur«, sagte die kleine Kokette, ihn schlau anblickend, »daß Sie mich nicht hintergehen. Nicht, daß dies jetzt viel zu bedeuten hätte«, fügte sie mit einem ernsten Kopfschütteln hinzu; »haben wir wirklich etwas Unpassendes gethan, Mr. Armadale, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach keine fernere Gelegenheit haben, dasselbe zu wiederholen.«

»Sie gehen doch nicht fort?« rief Allan in großer Bestürzung.

»Schlimmer als das, Mr. Armadale, meine neue Gouvernante kommt.«

»Kommt?« wiederholte Allan »Kommt bereits?«

»Es ist so gut wie gewiß. Wir erhielten heute Morgen die Antworten auf unsere Annonce. Der Papa und ich öffneten dieselben und lasen sie zusammen, und wir wählten beide denselben Brief unter allen übrigen heraus. Ich wählte denselben, weil er so hübsch geschrieben war, und der Papa wählte ihn, weil die Forderungen so mäßig waren. Er wird den Brief heute an die Großmama in London senden, und falls sie auf Erkundigung Alles befriedigend findet, soll die Gouvernante genommen werden. Sie können sich nicht denken, wie ängstlich mir bereits zu Muthe ist, eine fremde Gouvernante ist eine so schreckliche Aussicht. Aber es ist nicht ganz so schlimm wie eine Pension, und ich setze große Hoffnung in diese neue Dame, da sie einen so hübschen Brief schreibt. Derselbe söhnt mich fast, wie ich schon zum Papa sagte, mit ihrem abscheulichen unromantischen Namen aus.«

»Was ist ihr Name?« fragte Allan »Brown? Grubb? Scraggt? Irgendetwas der Art?«

»O still, still! Nicht ganz so entsetzlich Ihr Name ist Gwilt. Fürchterlich unpoetisch, nicht wahr? Die Dame, die sie empfiehlt, muß indessen eine achtbare Person sein, denn sie wohnt in demselben Theile von London, in dem die Großmama wohnt. Halt, Mr. Armadale, wir gehen den verkehrten Weg. Nein, ich kann heute Morgen nicht bleiben, um Ihre reizenden Blumen anzuschauen —— und —— danke sehr —— ich kann Ihren Arm nicht annehmen. Ich habe mich hier bereits zu lange aufgehalten. Der Papa wartet auf sein Frühstück, und ich muß den ganzen Weg zurück laufen. Ich danke Ihnen, daß Sie die Mama so gütig entschuldigt haben, danke, noch einmal und noch einmal, und jetzt adieu!«

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte Allan.

Sie reichte ihm die Hand. »Keine Entschuldigungen mehr, wenn ich bitten darf, Mr. Armadale«, sagte sie schelmisch Ihre Blicke begegneten sich abermals, und die kleine weiche Hand fand abermals den Weg zu Allan’s Lippen. »Es ist diesmal keine Entschuldigung!« rief Allan, sich eiligst vertheidigend. »Es —— es ist ein Zeichen meiner Hochachtung.«

Sie trat ein paar Schritte zurück und brach in ein helles Lachen aus. »Sie werden mich nicht wieder in Ihren Anlagen sehen, Mr. Armadale«, sagte sie fröhlich, »bis ich mich unter Miß Gwilt’s Schutze befinde!« Mit diesem Lebewohl lief sie, so schnell sie konnte, durch das Gehege zurück.

Allan stand still und beobachtete sie mit stummer Bewunderung, bis sie nicht mehr zu sehen war. Seine zweite Zusammenkunft mit Miß Milroy hatte einen erstaunlichen Eindruck auf ihn gemacht. Zum ersten Male, seit er Besitzer von Thorpe-Ambrose geworden, war er in ernstliche Betrachtungen über das, was er seiner neuen Stellung schuldig war, versunken. »Es fragt sich«, dachte Allan, »ob ich nicht am besten mit meinen Nachbarn Friede machen werde, indem ich mich verheirathe. Ich will mir diesen ganzen Tag zum Ueberlegen nehmen, und falls ich desselben Sinnes bleibe, will ich morgen früh Midwinter darüber zu Rathe ziehen.«

Als der Morgen kam und Allan ins Frühstückszimmer hinunterging, entschlossen, seinen Freund über die Verpflichtungen zu Rathe zu ziehen, die er gegen seine Nachbarn im Allgemeinen und gegen Miß Milroy im Besonderen habe, war kein Midwinter zu sehen. Als er sich nach ihm erkundigte, hieß es, daß man ihn in der Hausflur gesehen und daß er einen Brief vom Tische genommen habe, den die Morgenpost für ihn gebracht und mit welchem er augenblicklich nach seinem Zimmer zurückgekehrt sei. Allan ging sofort wieder die Treppe hinauf und klopfte an die Thür seines Freundes.

»Darf ich eintreten?« fragte er.

»Nicht eben jetzt«, war die Antwort.

»Du hast einen Brief erhalten, nicht wahr?« fuhr Allan fort. »Doch keine schlimmen Nachrichten? Es ist doch nichts passiert?«

»Nichts. Ich bin heute Morgen nicht ganz wohl. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich; ich will herunterkommen, sobald es mir möglich ist.«

Es ward von beiden Seiten nichts weiter gesprochen. Allan kehrte ein wenig enttäuscht nach dem Frühstückszimmer zurück. Er hatte sich darauf gefreut, sich über Hals und Kopf in eine Berathschlagung mit Midwinter zu stürzen, und jetzt war diese Berathschlagung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. »Welch ein seltsamer Bursch er ist!« dachte Allan. »Was in aller Welt kann er dort, allein in seinem Zimmer eingeschlossen, Vorhaben?«

Er hatte nichts vor, sondern saß am Fenster und hielt den Brief, den er am Morgen erhalten, offen in der Hand. Derselbe war von Mr. Brocks Hand und lautete wie folgt:

»Mein lieber Midwinter!

Ich habe wörtlich nur zwei Minuten Zeit, um Ihnen vor Abgang der Post mitzutheilen, daß ich soeben in den Kensington —— Gärten der Frau begegnet bin, die uns bis jetzt nur als die Frau im rothen, gewirkten Shawl bekannt ist. Ich bin ihr und ihrer Gefährtin —— einer respektablen ältlichen Dame —— bis nach ihrer Wohnung gefolgt, nachdem ich sie zweimal deutlich Allan’s Namen hatte aussprechen hören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich die Frau nicht aus den Augen verlieren werde, bis ich mich überzeugt habe, daß sie kein Unheil in Thorpe-Ambrose anzustiften im Sinne hat, und erwarten Sie, wieder von mir zu hören, sobald ich weiß, wie diese seltsame Entdeckung enden soll.

Aufrichtig der Ihre

Decimuis Brock.«

Nachdem Midwinter den Brief zum zweiten Male durchgelesen, faltete er denselben nachdenklich zusammen und legte ihn zu dem Berichte von Allan’s Traume in sein Taschenbuch.

»Ihre Entdeckung wird nicht dort bei Ihnen enden, Mr. Brock«, sagte er. »Sie mögen mit der Frau thun, was Sie wollen; wenn der Augenblick kommt, wird die Frau hier sein.«

Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, daß er sich hinlänglich wieder gefaßt habe, um Allan’s Blicken zu begegnen, und so ging er hinunter, um seinen Platz am Frühstückstische einzunehmen.



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