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Namenlos



VIII.
(Chronik über April und Mai.)

Wir haben noch sieben große Städte besucht und befinden uns jetzt zu Birmingham. Indem ich meine Bücher befrage, finde ich, daß Miss Vanstone durch die »Unterhaltung« bis jetzt die ungeheure Summe von nahezu vierhundert Pfund eingenommen hat. Es ist wohl möglich, daß mein eigener Gewinn elende ein oder zweihundert Pfund mehr beträgt. Aber dafür bin ich ja der Schmied ihres Glückes, der Verleger sozusagen ihres Werkes und, wenn nur eins davon, dann bin ich schlecht bezahlt.

Ich machte die obige Entdeckung am neunundzwanzigsten des Monats, Jahrestag der Wiedereinsetzung meines königlichen Vorfahren in der Kunst der Bearbeitung des menschlichen Mitleids, Karls des Zweiten. Ich hatte mit genauer Noth mein Bücherfutteral wieder zugemacht, als das undankbare Mädchen, dessen Ruhm mein Werk ist, in das Zimmer kam und mir in eben soviel Worten anzeigte, daß die Geschäftsverbindung zwischen uns vor der Hand zu Ende sei.

Ich versuche nicht, meine Gefühle zu schildern, ich erzähle nur die Thatsachen. Sie eröffnete mir anscheinend mit größter Seelenruhe, daß sie der Rast bedürfe und daß sie »neue Dinge in Aussicht nähme«. Sie würde möglicherweise mich als Beistand dabei brauchen, würde auch möglicherweise wieder auf die »Unterhaltung« zurückkommen. Auf jeden Fall werde es genügen, wenn wir uns gegenseitig unsere Adressen angäben, unter welchen wir uns vorkommenden Falls schreiben könnten. Da sie nicht beabsichtige, mich Knall und Fall zu verlassen, so wolle sie bis nächsten Tag (es war ein Sonntag) bleiben und Montag Morgen zu ihrer Abreise bestimmen. Das war ihre Erklärung, fast in eben soviel Worten.

Gegenvorstellungen wären, Das wußte ich aus Erfahrung, sofort zurückgewiesen worden. Eine Gewalt hatte ich über sie nicht auszuüben. Der einzige Weg, den ich bei diesem Vorkommnisse einzuschlagen hatte, war: ausfindig zu machen, wie ich meinen Vortheil am Besten wahrte; und auf dieser Bahn dann, ohne einen Augenblick durch unnöthiges Zögern zu verlieren, vorzugehen.

Ein klein wenig Nachdenken hat mich dann zu der Ueberzeugung gebracht, daß sie einen tief angelegten Plan gegen Michael Vanstone im Schilde führt. Sie ist jung, hübsch, gewandt und rücksichtslos. Sie hat Geld genug zusammengeschlagen, um davon leben zu können, und hat auch Zeit genug für sich, um die schwache Seite eines alten Mannes ausfindig zu machen. Sie schreitet furchtlos zum Kampfe mit Mr. Michael Vanstone, angethan mit den erlaubten Waffen ihres Geschlechts. Braucht sie wohl mich zu einem Vorhaben wie Dieses? unsicher. Wünscht sie etwa nur, mich auf leichte Weise loszuwerden? Wahrscheinlich. Bin ich ein Mann, der sich von seinem Pflegling so behandeln läßt? Entschieden nein: Ich bin der Mann, den Weg mir vorgezeichnet zu sehen durch eine saubere Aufeinanderfolge von Entweder-Oder, und hier sind Letztere:

Ernstlich. Meine Geneigtheit gegenüber ihrem Vorhaben auszudrücken, Adressen mit ihr zu wechseln und dann insgeheim alle ihre künftigen Schritte im Auge zu behalten.

Zweitens. Zärtliche Besorgniß im Tone des erfahrenen Vaters auszusprechen und ihr zu drohen, ihrer Schwester und dem Advocaten ein Licht aufzustecken und Dieselben herbeizurufen, wenn sie bei ihrer Absicht beharrt.

Drittens. Die Kenntniß, die ich schon besitze, aufs Beste zu verwerthen, indem ich aus ihr ein Geschäftchen zwischen Mr. Michael Vanstone und mir herausschlage.

Für jetzt gefällt mir der letzte von diesen drei Wegen am Besten. Aber mein Entschluß ist viel zu wichtig, als daß ich mich übereilen sollte. Heute ist erst der neunundzwanzigste Ich will meine Chronik der Ereignisse bis Montag aussetzen.

Den 31. Mai.

Meine Entweder-Oder und ihre Pläne, Beides ist um den Haufen geworfen worden.

Die Zeitung kam, wie gewöhnlich, nach dem Frühstück herein. Ich überlas sie und stieß auf diesen merkwürdigen Satz unter den Todesanzeigen des Tages:

Am 29. D. † ZU Brighton MICHAEL VANSTONE, Esq., FRÜHER IN ZÜRICH, 77 JAHRE ALT.

Miss Vanstone war im Zimmer gerade anwesend, als ich diese zwei überraschenden Zeilen las. Sie hatte den Hut auf, ihre Koffer standen gepackt da, sie wartete ungeduldig, bis es Zeit war, an die Eisenbahn zu fahren. Ich überreichte ihr das Papier ohne ein Wort von meiner Seite. Ohne ein Wort von ihrer Seite sah sie dahin, worauf ich zeigte, und las die Nachricht von Michael Vanstones Tode.

Die Zeitung fiel ihr aus der Hand, und sie schlug rasch ihren Schleier herunter. Ich fing noch einen Augenblick auf, ehe sie ihr Angesicht vor mir verbarg. Der Eindruck auf mein Gemüth war im höchsten Grade erschreckend. Um es auf meine gewöhnliche humoristische Weise auszudrücken, ihr Gesicht machte es mir klar, das; die auffallendste, empfindlichste That, welche Michael Vanstone, Esq., früher in Zürich, in seinem Leben vollbracht hatte, die war, welche er zu Brighton am 29. des laufenden Monats vollendet.

Da ich unter den vorliegenden Umständen die Todtenstille im Zimmer recht störend fand, so gedachte ich, eine Bemerkung fallen zu lassen. Meine Achtsamkeit auf das eigene Interesse gab mir sogleich einen Gegenstand an die Hand. Ich erwähnte die »Unterhaltung«.

—— Nach Dem, was vorgefallen ist —— sagte ich, nehme ich an, daß wir mit unseren Vorstellungen nach wie vor fortfahren?

—— Nein, antwortete sie hinter dem Schleier hervor. Wir fahren mit meinen Nachforschungen fort.

—— Nachforschungen über einen Verstorbenen?

—— Nachforschungen über des Verstorbenen Sohn.

—— Mr. Noël Vanstone?

—— Ja, Mr. Noël Vanstone.

Da ich meinerseits keinen Schleier hatte, um mein Gesicht ihren Blicken zu entziehen, so beugte ich mich nieder und hob das Zeitungsblatt auf. Ihre teuflische Entschlossenheit setzte mich für einen Augenblick vollständig außer Fassung. Ich mußte mich in der That erst sammeln, ehe ich wieder mit ihr sprechen konnte.

—— Sind die neuen Nachforschungen so harmloser Art als die alten? frug ich.

—— Ganz ebenso harmlos.

—— Was soll ich nach Ihrem Wunsche heraus zu bekommen suchen?

—— Ich wünsche zu erfahren, ob Mr. Noël Vanstone nach dem Begräbniß noch zu Brighton bleibt.

—— Und wenn nicht?

—— Wenn nicht, werde ich seine neue Adresse, wo er auch immer sich aufhalten möge, wissen müssen.

— Ganz wohl, und was weiter?

—— Ich wünsche, daß Sie dann ermitteln, ob des Vaters ganzes Geld an den Sohn fällt.

Ich fing an zu sehen, wohin sie abzielte. Das Wort Geld war mir eine Ohrenweide, ich fühlte mich ganz wieder in meinem Fahrwasser.

—— Noch etwas Anderes? frug ich.

—— Nur noch Eins, antwortete sie. Bringen Sie zuverlässig heraus, wenn Sie so gut sein wollen, ob Mrs. Lecount, die Haushälterin, in Mr. Noël Vanstones Dienst bleibt oder nicht.

Ihre Stimme modulierte ein wenig, als sie Mrs. Lecounts Name erwähnte. Sie ist augenscheinlich scharfsinnig genug, um bereits Mißtrauen gegen die Haushälterin zu hegen.

—— Meine Auslagen sollen mir wie gewöhnlich bezahlt werden? fragte ich.

—— Wie gewöhnlich.

—— Wann soll ich nach Brighton aufbrechen?

—— So bald Sie nur können.

Sie stand auf und verließ das Zimmer. Nach einem augenblicklichen Zögern entschloß ich mich den neuen Auftrag auszuführen. Je geheimere Nachforschungen ich für meine schöne Anverwandte besorge, desto schwerer soll es ihr werden, los zu werden —— ihren ganz ergebenen Getreuen, Horatio Wragge.

Mein Aufbruch nach Brighton zu morgen läßt sich durch Nichts aufschieben. Also gehe ich morgen. Wenn Mr. Noël Vanstone in seines Vaters Erbe tritt, ist er das einzige menschliche Wesen mit irdischem Goldsegen, welches mir das Gefühl ungetrübten Neides einzuflößen nicht im Stande ist.


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