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Die Blinde



Fünftes Kapitel - Die Brüder vertauschen ihre Rollen

Ich hatte mir eingebildet, ich sei ans jedes Unglück, das uns treffen könne, vorbereitet Die letzten Worte des Dieners überzeugten mich, wie thöricht diese Einbildung gewesen war. Meine trübsten Ahnungen hätten mich doch nie ein solches Unglück befürchten lassen, wie es jetzt eingetreten war. Ich war wie versteinert, dachte an Lucilla und sah den Diener hilflos an. So sehr ich mich auch anstrengen mochte, ich war unfähig, mit ihm zu reden.

Er schien anders zu fühlen. Für die unteren Volksclassen ist das feierliche Behagen charakteristisch, mit welchem sie von ihrem eigenen Unglück zu reden pflegen. Das Bewußtsein, von irgend einer Calamität betroffen zu sein, scheint sie in ihrer eigenen Achtung zu heben. Mit einer traurigen Freude an dem betrübenden Gegenstande unserer Unterhaltung erging sich der Diener in Klagen über den Verlust einer Stellung bei dem besten aller Herren, wie er sie nie wieder finden würde und die traurige Nothwendigkeit in die er jetzt versetzt sei, sich einen andern Dienst zu suchen. Seine Reden wirkten so peinlich auf meine Nerven, daß ich es zuletzt nicht mehr aushalten konnte und wieder mit ihm sprach.

»Ist Herr Oscar allein fortgegangen?« sagte ich.

»Ja, gnädige Frau, ganz allein.«

Mein Interesse für Oscar beherrschte mich zu ausschließlich, als daß ich auch nur die Frage hätte thun sollen, was aus Nugent geworden sei.

»Wann ist Ihr Herr fortgegangen?« fuhr ich fort.

»Vor mehr als zwei Stunden.«

»Warum habe ich das nicht eher erfahren?«

»Herr Oscar hatte mir die ausdrückliche Ordre gegeben, Ihnen nicht eher etwas davon zu sagen.«

So unglücklich ich schon war, fühlte ich mich doch noch muthloser, als ich das hörte. Die dem Diener gegebene Ordre sah ganz darnach aus, als habe Oscar die Absicht gehabt, nicht nur Dimchurch zu verlassen, sondern auch uns über seine späteren Bewegungen völlig im Dunkel zu lassen.

»Ist Herr Oscar nach London gegangen?« fragte ich.

»Er hat Gootheridge‘s Wagen gemiethet, um damit nach Brighton zu fahren. Und er hat mir selbst gesagt, daß er Browndown verlasse, um nie wieder zurückzukehren. Mehr weiß ich nicht.«

Er hatte Browndown verlassen, um nie wieder zu kommen? Um Lucilla’s willen konnte ich das nicht glauben. Der Diener hatte übertrieben oder er hatte mißverstanden, was Oscar ihm gesagt hatte. Da erinnerte ich mich des Briefes, den ich in der Hand hielt. Vielleicht hatte ich den Diener ganz unnöthigerweise über Dinge befragt, welche sein Herr nur mir selbst hatte anvertrauen wollen. Ehe ich aber den Diener wieder fort ließ, befragte ich ihn noch nach Nugent.

»Er ist in Browndown.«

»Um da zu bleiben?«

»Das weiß ich nicht gewiß, gnädige Frau. Ich habe ihn keine Anstalten zur Abreise wachen gesehen und er hat auch nichts gesagt, was aus eine solche Absicht schließen ließe.«

Ich mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht vor dem Diener meiner Entrüstung, die mich zu ersticken drohte, Ausdruck zu geben. Das beste Mittel, mich dieser Schwierigkeit zu überheben, war, den Diener fortzuschicken. Ich that das, nachdem ich ihm aus Vorsicht noch ein letztes Wort gesagt hatte.

»Haben Sie irgend Jemanden hier im Pfarrhause etwas von Herrn Oscar‘s Abreise gesagt?« fragte ich.

»Nein, gnädige Frau.« .

»Sagen Sie auch nichts davon, wenn Sie fortgehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir den Brief gebracht haben. Guten Abend.«

Nachdem ich so dafür gesorgt hatte, daß keine Kunde von dem Vorgefallenen Lucilla zu Ohren kommen könne, ging ich wieder zu Herrn Grosse, um mich bei ihm zu entschuldigen und ihn um Erlaubniß zu bitten, mich auf mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Ich fand unsern berühmten Gast eben in zärtlichster Besorgniß für mich damit beschäftigt, das letzte Gericht mit einem Teller zu bedecken, um dasselbe für mich warm zu halten.

»Hier haben wir eine reizende Käse-Omelette«, sagte Grosse. »Zwei Dritttheile davon habe ich aufgegessen, das andere Drittheil wollte ich um alles gern für Sie warm halten. Setzen Sie sich! setzen Sie sich! Hier ist keine Zeit zu verlieren, sonst wird die Omeis lette ganz kalt.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Grosse, aber ich habe eben eine sehr traurige Nachricht erhalten.«

»Ach Gott, erzählen Sie sie mir nicht«, platzte der Gourmand mit bestürzter Miene heraus. »Ich bitte Sie, nur keine traurige Nachricht nach einem so vortrefflichen Diner, wie ich es eben eingenommen habe. Stören Sie mich nicht in meiner Verdauung!, Meine gute, liebe Frau, wenn Sie etwas auf mich halten, stören Sie mich nicht in meiner Verdauung.

»Wollen Sie mich entschuldigen, wenn ich Sie ganz ungestört Ihrer Verdauung überlasse und mich auf mein Zimmer zurückziehe?«

Eiligst erhob er sich und öffnete die Thür für mich.

»Ja wohl! Von ganzem Herzen entschuldige ich Sie, meine gute Madame Pratolungo. Gehen Sie gern auf Ihr Zimmer.«

Ich hatte kaum die Schwelle überschritten, als sich auch schon die Thür hinter mir schloß. Ich hörte noch, wie der alte Grobian sich vergnügt die Hände rieb und in sich hinein lachte, weil es ihm so gut gelang, mich und meinen Kummer hinaus zu complimentiren.

In dem Augenblick, wo ich mein Zimmer betrat, fiel es mir ein, daß ich gut thun würde, mich dagegen zu sichern, bei der Lectüre von Oscar‘s Brief überrascht zu werden. In Wahrheit fürchtete ich mich davor, denselben zu lesen. So gern ich mir einreden wollte, daß die Aussage des Dieners falsch gewesen sei, konnte ich mich doch jetzt der dringenden Besorgniß nicht erwehren, daß der Brief seine Aussage in Betreff der Abreise Oscar’s und seines Entschlusses, nicht zurückzukehren, nur bestätigen würde. Ich kehrte wieder um und ging zu Lucilla auf ihr Zimmer.

Ich konnte sie eben erkennen bei dem trüben Schein des Nachtlichts, welches in einer Ecke brannte, um es dem Arzt oder der Wärterin möglich zu machen, zu ihr zu gelangen. Sie war allein und saß auf ihrem Lieblingssitze, einem kleinen Strohstuhl, mit der traurigen weißen Binde um die Augen, aber fleißig strickend und allem Anschein nach ganz zufrieden.

»Fühlen Sie sich nicht einsam, Lucilla?«

Sie wandte sich nach mir um und antwortete mir in ihrem vergnügtesten Ton:

»Durchaus nicht. Ich fühle mich so ganz glücklich.«

»Warum ist Zillah nicht bei Ihnen?«

»Ich habe sie fortgeschickt.«

»Fortgeschickt?«

»Ja! Ich fühlte, daß ich meines Lebens diesen Abend nicht froh werden könnte, wenn ich nicht ganz allein wäre. Ich habe ihn gesehen, liebe Freundin; ich habe ihn gesehen! Wie konnten Sie nur denken, daß ich mich einsam fühlen konnte? Ich fühle mich so unaussprechlich glücklich, daß ich stricken muß, um nur ruhig zu sitzen Wenn Sie noch lange mit mir reden, so springe ich auf und tanze, ganz gewiß, das thue ich! Wo ist Oscar? Der abscheuliche Grosse! Nein, es ist doch zu undankbar, von dem lieben Alten, der mir mein Augenlicht wiedergegeben hat, so zu reden. Aber es ist doch gar zu grausam von ihm, zu sagen, ich sei unnatürlich aufgeregt und Oscar zu verbieten, mich heute Abend zu besuchen. Ist Oscar bei Ihnen im Nebenzimmer? Ist er sehr unglücklich darüber, so von mir getrennt zu sein? Sagen Sie ihm doch, ich dachte an ihn, seit ich ihn gesehen habe, mit so neuen Gedanken!«

»Oscar ist heute Abend nicht hier, liebes Kind.«

»Nein? Dann ist er natürlich in Browndown mit seinem armen unglücklichem entstellten Bruder. Aber jetzt habe ich meinen Abscheu gegen Nugent‘s widerliches Gesicht überwunden. Ich fange an, obgleich ich, wie Sie wissen, ihn von Anfang an nicht leiden konnte — Mitleid mit ihm zu empfinden wegen seiner unglücklichen Hautfarbe. Lassen Sie uns nicht weiter davon reden! Lassen Sie uns überhaupt nicht reden! Ich möchte gern weiter an Oscar denken.«

Sie nahm ihre Strickarbeit wieder zur Hand und versenkte sich in ihre glückliche Gedankenwelt. Mir brach es das Herz, sie zu sehen und zu hören. Ich getrauete mich nicht noch ein Wort weiter zu reden, sondern ging leise zum Zimmer hinaus und trug Zillah auf, sobald Lucilla nach ihr klingeln würde, ihr zu sagen, daß ich, von den Ereignissen des Tages erschöpft, mich zur Ruhe begeben habe.

Endlich war ich allein. Endlich waren alle Manöver, die ich machte, um der traurigen Nothwendigkeit, Oscar‘s Brief zu lesen, zu entgehen, erschöpft; ich Verschloß meine Thür, erbrach den Brief und las was folgt: .

»Liebe gütige Freundin!

Verzeihen Sie mir; ich muß Ihnen eine traurige Ueberraschung bereiten. Dieser Brief soll Ihnen meinen innigsten Dank bringen, und Ihnen ein letztes Lebewohl zurufen.

Halten Sie alle Ihre Nachsicht für mich bereit. Lesen Sie diese Zeilen bis zu Ende; sie werden Ihnen erzählen, was sich zugetragen hat, seit ich das Pfarrhaus verlassen habe.

Von Nugent hatte Niemand etwas gesehen, als ich nach Hause kam. Erst eine Viertelstunde nachher hörte ich an der Thür seine Stimme, wie er nach mir rief und fragte, ob ich nach Hause gekommen sei. Ich antwortete ihm und er kam zu mir in’s Wohnzimmer. Seine ersten Worte waren: »Oscar, ich habe Dich um Verzeihung zu bitten und Dir Lebewohl zu sagen.« Ich vermag den Ton, mit welchem er diese Worte sprach, nicht zu schildern; er würde Ihnen bis in’s innerste Herz gedrungen sein, wie er mir bis in’s innerste Herz drang. Ich vermochte ihm im ersten Augenblick nicht zu antworten. Ich konnte ihm nur meine Hand reichen. Er seufzte schwer und wollte meine Hand nicht fassen.

»Ich habe Dir noch etwas zu sagen«, fing er wieder an, »warte, bis Du das gehört hast, und gieb mir nachher Deine Hand, wenn Du kanns.t« Nicht einmal hinsetzen wollte er sich. Es war mir peinlich, ihn vor mir stehen zn sehen, als wäre er mein Untergebener. Ach, es bedarf meines ganzen Muthes, meiner ganzen Ruhe, um zu wiederholen, was er zu mir sagte. Ich hatte mich mit der Absicht hingesetzt, Ihnen Alles zwischen uns Vorgefallene zu erzählen; aber da kommt mir wieder meine Schwäche in die Quere! Ich kann nicht! Die Thränen kommen mir in die Augen, sobald ich mir die Einzelheiten in’s Gedächtniß zurückrufe. Ich kann Ihnen nur das Resultat mittheilen. Das Bekenntniß meines Bruders laßt sich in drei Worte zusammenfassen. Machen Sie sich auf eine schreckliche, betrübende Enthüllung gefaßt; Nugent liebt sie. Stellen Sie sich meine Empfindungen bei dieser Entdeckung vor, nachdem ich gesehen hatte, wie meine unschuldige Lucilla ihn mit ihren Armen umschlang, nachdem ich mit meinen eigenen Augen gesehen hatte, wie sie sich bei seinem Anblick gefreut, wie sie bei meinem Anblick geschaudert hat! Brauche ich Ihnen zu sagen, was ich dabei litt? Nein.

Nugent reichte mir die Hand, als er geendigt hatte, wie ich ihm vorher die meinige gereicht hatte.

»Die einzige Art, sagte er, »wir ich die Sache gegen Dich und gegen sie wieder gut machen kann, ist, daß ich mich vor keinem von Euch je wieder blicken lasse. Reiche mir die Hand Oscar und laß’ mich ziehen.«

Wenn ich so gewollt hatte, würde die Sache damit geendet haben. Ich wollte es anders und es hat anders geendet. Können Sie rathen wie?«

Ich legte den Brief einen Augenblick bei Seite. Der Inhalt machte mich so unglücklich und versetzte mich in eine so leidenschaftliche Aufregung, daß ich nahe daran war, den Brief, ohne sein Ende zu kennen, zu zerreißen und mit Füßen zu treten. Ich ging im Zimmer auf und ab, ich tauchte mein Schnupftuch in kaltes Wasser und band es mir um den Kopf. Bald hatte ich meine Fassung wiedergewonnen; ich konnte meine Gedanken wieder für einen Augenblick von meiner armen Lucilla abwenden und zu dem Brief zurückkehren. Er lautete weiter so:

»Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, kann ich ruhig niederschreiben. Sie sollen hören, was ich beschlossen und was ich gethan habe. Ich bat Nugent, mich einen Augenblick zu entschuldigen, ich wolle hinausgehen, um ungestört zu überdenken, was er mir gesagt habe. Er versuchte mich daran zu verhindern; aber ich bestand darauf. Zum ersten Mal in unserm Leben vertauschten wir die Rollen. Ich war der Bestimmende und er folgte mir. Ich ließ ihn allein und ging in’s Thal hinaus.

Die himmlische Ruhe, die beruhigende Einsamkeit halfen mir. Jetzt wurde mir unser Beider Position ganz klar. Ehe ich wieder nach Hause zurückkehrte, war ich entschlossen, es koste was es wolle, selbst das Opfer zu bringen, zu welchem mein Bruder sich bereit, erklärt hatte. Ich hatte mich überzeugt, daß es um Lucilla‘s und meines Bruders willen, mir und nicht ihm obliege, fortzugehen.

Tadeln Sie mich nicht und grämen Sie sich nicht um meinetwegen, lesen Sie weiter. Ich möchte, daß Sie die Sache mit meinen Augen ansähen, daß Sie empfänden, wie ich in diesem Augenblick empfinde.

Wenn ich erwäge, was Nugent mir gestanden hat und was ich mit meinen, eigenen Augen gesehen habe — habe ich da ein Recht, Lucilla zu binden? Ich bin fest überzeugt, daß ich dazu kein Recht habe. Wie kann ich, nachdem ich ihr in dem Augenblick, wo ihre Augen zuerst mich erblickten, nachdem ich ihr Widerwillen und Entsetzen eingeflößt, nachdem ich sie in Nugent‘s Armen ahnungslos glücklich gesehen habe, wie kann ich da noch ein Recht auf sie als die Meinige geltend machen? Unsere Heirath ist unmöglich geworden. Um ihretwillen kann und darf ich sie nicht an ihr Wort für gebunden erachten. Die Vernichtung meines Glücks ist nichts, die Vernichtung ihres Glücks würde ein Verbrechen sein. Ich binde sie ihres Wortes, sie ist frei.

Das betrachte ich als meine Pflicht gegen Lucilla.

Nun zu Nugent. Ich verdanke es lediglich meinem Bruder, daß in jenem Criminalprozesse die Ehre unserer Familie gerettet wurde und daß ich einem schmachvollen Tode aus dem Schaffot entgangen bin. Giebt es eine Grenze für die Verbindlichkeit, die er mir durch die Leistungen eines solchen Dienstes auferlegt hat? Nein, keine. Der Mann, der Lucilla liebt und der Bruder, der mir das Leben gerettet hat, sind eine und dieselbe Person. Ich fühle mich verpflichtet, ihm die Freiheit zu gewähren, und ich gewähre sie ihm, Lucilla durch offene und loyale Mittel, wenn er kann, zu gewinnen. Sobald Herr Grosse sie für stark genug erklärt, eine solche Enthüllung zu ertragen, mag sie den Irrthum, in den sie durch meine Schuld verfallen ist, erfahren, mag sie diese Zeilen lesen, die in der Absicht geschrieben sind, so gut von ihr wie von Ihnen gesehen zu werden, und mag mein Bruder ihr nachher erzählen, was heute Abend in diesem Hause zwischen ihm und mir vorgefallen ist. Sie liebt ihn jetzt in dem Glauben, daß er Oscar sei. Wird sie ihn noch lieben, wenn sie seinen wirklichen Namen erfahren haben wird? Die Antwort auf diese Frage bleibt der Zukunft vorbehalten. Für den Fall, daß die Antwort für Nugent günstig lautet, habe ich bereits Anstalt getroffen, von meinem Einkommen eine Summe festzusetzen, welche meinen Bruder in den Stand setzen wird, sich zu verheirathen. Sein Genius soll sich, ungehemmt durch materielle Sorgen, frei entfalten können. Da ich viel mehr besitze, als ich zur Befriedigung meiner einfachen Bedürfnisse brauche, kann ich meine Ersparnisse für keinen besseren und edleren Zweck als diesen verwenden.

Das betrachte ich als meine Pflicht gegen Nugent.

Jetzt wissen Sie, was ich beschlossen habe.

Was ich gethan habe, läßt sich in zwei Worten sagen. Ich habe Browndown für immer verlassen. Ich bin fortgegangen, unter dem Schlage, der mich getroffen hat, fern von Ihnen allen zu leben oder zu sterben, wie es Gott gefällt.

Vielleicht daß ich nach Jahren, wenn ihre Kinder heranwachsen, Lucilla einmal wiedersehe, und die Hand des geliebten Weibes, die meine Frau hätte werden können, wie eine Schwesterhand drücke. Das geschieht vielleicht, wenn ich leben bleibe. Wenn ich sterbe, wird keiner von Ihnen etwas davon erfahren. Mein Tod soll keinen traurigen Schatten auf ihr Leben werfen. Verzeihen Sie mir und vergessen Sie mich, und bewahren Sie sich, wie ich es thue, die einzige und schönste Hoffnung, die uns Sterblichen bleibt, die Hoffnung auf Jenseits.

Ich lege für den Fall, daß Sie deren bedürfen sollten, die Adresse meines Banquiers in London ein. Ich werde demselben meine Instructionen geben. Wenn Sie mich lieben, wenn Sie Mitleid mit mir haben, so versuchen Sie es nicht, mich in meinem Entschlusse wankend zu machen. Sie würden mich nur traurig machen, aber nie von meinem Entschlusse abbringen. Schreiben Sie mir nicht eher, als bis Nugent Gelegenheit gehabt hat, seine eigene Sache zu verfechten und Lucilla eine Entscheidung über ihre Zukunft getroffen hat.

Noch einmal« ich danke Ihnen für die Güte, mit der Sie meine Schwäche und meine Thorheiten getragen haben. Gott fegne Sie — Leben Sie wohl.

Oscar.«

Ueber die Wirkung, welche dieser Brief beim ersten Lesen auf mich übte, sage ich nichts. Noch jetzt, nach so langer Zeit, kann ich mich nicht entschließen, die Erinnerung an das, was ich an jenem traurigen Abend, als ich allein auf meinem Zimmer saß, litt, wieder anfzufrischen. Ich will mich darauf beschränken, kurz zu erzählen, zu welchem Entschlusse ich gelangte.

Ich beschloß zuerst, mit dem Frühzug am nächsten Morgen nach London zu gehen und Oscar mit Hilfe seines Banquiers aufzusuchen, und sodann Maßregeln zu ergreifen, um den Schurken, der das Opfer des Lebensglücks seines Bruders angenommen hatte, zu verhindern, in meiner Abwesenheit das Pfarrhaus zu betreten.

Mein einziger Trost an jenem Abend war das Bewußtsein, einen festen Entschluß gefaßt zu haben. Dieses Bewußtsein gab mir die Kraft, mich bei Lucilla zu entschuldigen, ohne meinen Kummer zu verrathen, als ich sie wieder sah.

Bevor ich zu Bett ging, hatte ich sie ruhig und glücklich verlassen; ich hatte mit Grosse verabredet, daß er noch den ganzen nächsten Tag über seine reizbare Patientin von allen Besuchern fern halten solle; ich hatte mir als Verbündeten bei meinen Anstalten, um Nugent am Betreten des Hauses zu verhindern, keinen Geringeren gesichert, als den Ehrwürdigen Finch selbst. Ich sprach ihn während des Abends in seinem Studierzimmer und erzählte ihm alles Vorgefallene bis auf den einen Umstand, daß Oscar den unseligen Entschluß gefaßt habe, sein Vermögen mit seinem nichtswürdigen Bruder zu theilen. Ich ließ den Pfarrer absichtlich in dem Glauben, daß Oscar es Lucilla frei gestellt habe, die Werbungen eines Mannes anzunehmen, der sein Vermögen bis auf den letzten Heller durchgebracht habe. Die Rede des Ehrwiirdigen Finch, nachdem ich ihm diese Aussicht eröffnet hatte, war merkwürdig, soll aber, aus Ehrfurcht vor seinem geistlichen Stande, hier nicht näher berichtet werden.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Frühzuge nach London.

Noch an demselben Abend fuhr ich allein wieder nach Dimchurch zurück, ohne den Zweck, der mich nach der Hauptstadt geführt hatte, im Mindesten erreicht zu haben.

Oscar war Morgens gleich nach Eröffnung der Bank dort erschienen, hatte einige hundert Pfund aufgenommen, hatte den Banquiers gesagt, daß er ihnen demnächst eine Adresse aufgeben werde, unter welcher sie ihm schreiben könnten, und war dann ohne Weiteres nach dem Continent abgereist.

Ich brachte den Tag damit zu, Anstalten zu seiner Entdeckung auf den in solchen Fällen gebräuchlichen Wegen zu machen, und kehrte am Abend in einer aus Verzweiflung und Zorn gemischten Stimmung nach Hause zurück. In der ersten Bitterkeit meiner Enttäuschung war ich ganz ebenso entrüstet über Oscar, wie über Nugent. Aus tiefstem Herzen verwünschte ich den Tag, welcher den Einen und den Anderen nach Dimchurch gebracht hatte.

Als wir uns bereits in einiger Entfernung von London befanden und durch die ruhigen Wälder und Wiesen rasch dahin fuhren, fing mein Gemüth an, sich wieder zu beruhigen. Allmählig fing die unerwartete Entfaltung von Festigkeit und Entschlossenheit in Oscars Benehmen, so innig ich auch dieses Benehmen, noch immer beklagte, eine neue Wirkung auf mein Gemüth zu üben an. Ich dachte jetzt mit mißbilligender Bewunderung an meine eigene oberflächliche Beurtheilung der Charaktere der beiden Zwillingsbrüder zurück.

Als ich mir die Sache ungestört im Eisenbahnwagen, in welchem ich ganz allein saß, überlegen konnte, gelangte ich zu einem Schluß, welcher meinem Verfahren bei der Leitung Lucilla‘s durch die Wirren und Gefahren, die ihr noch bevorstanden, zur Richtschnur wurde.

Unsere physische Constitution hat, wie mir scheint, mehr Einfluß auf unsere Handlungsweise, nach welcher selbstverständlich unsere Mitmenschen uns beurtheilen, mehr überhaupt mit unserem ganzen Leben zu thun, als wir gewöhnlich glauben. Ein Mensch mit zarten Nerven sagt und thut Dinge, welche uns oft geringer von ihm denken lassen, als er es verdient. Ein solcher Mensch ist in der unglücklichen Lage, sich beständig von seiner schlechtesten Seite zu zeigen. Menschen mit starken Nerven dagegen erfreuen sich auch regelmäßig einer gesunden Zuversichtlichkeit des Auftretens, welches uns leicht zu der irrthümlichen Auffassung verleitet, daß ihr Wesen wirklich dem entspricht, was es bei oberflächlicher Betrachtung zu sein scheint. Vermöge ihres guten Humors sind sie gute Gesellschafter und machen sich bei den Leuten, mit denen sie in Berührung kommen, beliebt, — während sie doch unter einer äußeren physisch gesunden Hülle vielleicht ein sittlich faules inneres Wesen verbergen. Dieser letztere Typus des physischen Menschen, erschien mir als das Abbild Nugent Dubousrg’s, jener erstere als das Oscar’s. Alles Schwächliche und Kümmerliche in Oscar‘s Natur war früher in seinem Auftreten so vorherrschend zur Geltung gekommen, daß die stärkeren und edleren Seiten desselben dadurch ganz in den Hintergrund gedrängt waren. Im tiefsten Innern dieses krankhaft reizbaren Menschen, welcher sich keiner der kleinen Prüfungen seines Lebens in unserem Dorfe gewachsen gezeigt hatte, war doch etwas verborgen gewesen, was ihm, als der entscheidende Augenblick kam, die Festigkeit verlieh, das schreckliche Unglück, das ihn betroffen hatte, würdig zu tragen. Je mehr meine Reise sich ihrem Ende näherte, desto mehr überzeugte ich mich, daß ich erst jetzt, so bitter er mich auch getäuscht hatte, Oscar’s Charakter nach seinem wahren Werthe schätzen lernte. Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, fing ich bereits an, unserer hoffnungslos scheinenden Zukunft mit kühner Zuversicht entgegen zu blicken. Ich gelobte, daß Lucilla, so lange ich Kraft behielte, ihr zu helfen, den Mann nicht verlieren solle, dessen beste Eigenschaften ich verkannt hatte, bis er sich entschlossen hatte, ihr für immer den Rücken zu kehren.

Als ich im Pfarrhause eintraf, sagte man mir, daß Herr Finch mich zu sprechen wünsche. Mein lebhaftes Verlangen, Lucilla zu sehen, ließ mich keinen Aufschub ertragen. Ich ließ dem Pfarrer sagen, daß ich in wenigen Minuten bei ihm sein würde und eilte nach Lucilla’s Zimmer hinauf.

»Ist Ihnen der Tag sehr lang geworden, liebes Kind?« fragte ich, nachdem wir uns herzlich begrüßt hatten. »Es war ein köstlicher Tag«, antwortete sie vergnügt. »Grosse hat mich spazieren geführt, ehe er nach London zurückkehrte. Können Sie rathen, wohin wir gegangen sind?«

Eine böse Ahnung durchfuhr mich; ich trat einige Schritte zurück. Ich betrachtete ihr liebliches, glückliches Gesicht, ohne alle Bewunderung, ja noch schlimmer, mit dem größten Mißtrauen.

»Wohin sind Sie denn gegangen?« fragte ich.

»Natürlich nach Browndown. «

Ein Ausruf entfuhr mir: »Der infame Grosse«, murmelte ich auf französisch für mich hin. Ich konnte nicht anders, ich wäre daran gestorben, wenn ich die Worte hätte zurückdrängen müssen, so außer mir war ich.

Lucilla lachte. »O, o, es war meine Schuld, ich bestand darauf, Oscar zu sprechen. Sobald mir mein Wille geschah, benahm ich mich vortrefflich. Ich verlangte keinen Augenblick daß mir die Binde abgenommen werde, ich war zufrieden, wenn ich nur mit ihm sprechen durfte. Der liebe alte Grosse, der nicht halb so hart gegen mich ist, wie Sie und mein Vater, blieb während des ganzen Gespräches bei uns. Es hat mir so gut gethan. Brummen Sie nur nicht, rneine liebe, kleine Madame Pratolungo! Mein Arzt hat meine Unvorsichtigkeit sanctionirt. Ich brauche Sie nicht zu bitten, morgen mit mir nach Browndown zu gehen; Oscar kommt her; meinen Besuch zu erwidern.«.

Diese letzten Worte waren für mich entscheidend. Ich hatte einen ermüdenden Tag gehabt; aber er follte für mich noch nicht zu Ende sein. Ich dachte bei mir: »Ich will mit Herrn Nugent in’s Reine kommen, bevor ich mich diesen Abend zur Ruhe lege. «

.

»Können Sie mich für eine kurze Zeit entbehren?« fragte ich; »ich muß hinüber, Ihr Vater wünscht mich zu sprechen.«

Lucilla fuhr zusammen. »Was will er von Ihnen?« fragte sie eifrig.

»Er will mich wegen geschäftlicher Angelegenheiten in London sprechen« — und damit verließ ich sie, bevor ihre Neugierde mich durch weitere Fragen bei meinem augenblicklichen Gemüthszustande rasend machte.

Ich fand den Pfarrer bereit, mich mit seinem gewöhnlichen Strom der Beredtsamkeit zu überschütten. Aber fünfzig Ehrwürdige Finche hätten bei der Stimmung, in der ich mich in jenem Augenblick befand, meine Aufmerksamkeit nicht fesseln können. Zum Erstaunen des Ehrwürdigen Herrn ließ ich ihn nicht gleich zu Worte kommen, sondern fing selbst an.

»Ich komme eben von Lucilla, Herr Finch, ich weiß, was vorgefallen ist.«

»Warten Sie einen Augenblick, Madame Pratolungo. Eines ist gleich von vornherein von der größten Wichtigkeit. Ist es Ihnen völlig klar, daß, ich in keinem Sinne des Wortes zu tadeln bin? «

»Völlig«, unterbrach ich ihn. »Natürlich würden sie nicht nach Browndown gegangen sein, wenn Sie darein gewilligt hätten, Nugent Dubourg in’s Haus zu lassen.«

»Halt!« rief Herr Finch, indem er seine rechte Hand erhob. »Beste Frau, Sie sind in einem Zustand hysterischer Ueberstürzung. Sie sollen mich hören! Ich habe mehr gethan, als nur meine Einwilligung verweigern. Als der Mann, Grosse — ich bestehe darauf, daß Sie sich beruhigen — als der Grosse zu mir kam, und mit mir über die Sache sprach, that ich mehr, ich sage unendlich viel mehr, als meine Einwilligung verweigern. Sie kennen die Kraft meiner Sprache. Beunruhigen Sie sich nicht. Ich sagte: »Herr, als Geistlicher und Vater bin ich fest entschlossen. «

»Ich verstehe Sie, Herr Finch. Was Sie auch zu Herrn Grosse gesagt haben mögen, es war ganz nutzlos. Er ließ Ihre persönliche Ansicht der Sache völlig unberücksichtigt.«

»Madame Pratolungo —!«

»Er fand Lucilla durch ihre Trennung von Oscar bedenklich aufgeregt und machte seine, wie er es nennt, berufsmäßige Freiheit des Handelns geltend«

»Madame Pratolungo!«

»Sie beharrten dabei, Nugent Dubourg Ihr Haus zu verschließen. Er beharrte ebenso fest auf seinem Willen und brachte Lucilla nach Browndown.«

Herr Finch stand auf und suchte mir mit dem ganzen Gewicht seiner ungeheuren Stimme zu imponiren.

»Still!« schrie er, indem er mit der flachen Hand auf den neben ihm stehenden Tisch schlug.

Ich ließ mich nicht einschüchtern; ich schrie auch meinerseits und schlug mit meiner flachen Hand auf den Tisch.

»Erlauben Sie mir eine Frage, Herr Finch, ehe ich fortgehe«, sagte ich. »Seit Ihre Tochter nach Browndown gegangen ist, sind bereits viele Stunden verflossen. Haben Sie Herrn Nugent Dubourg gesehen?«

Der Papst von Dimchurch zog plötzlich mitten im Schleudern seiner häuslichen Bullen andere Saiten auf.

»Verzeihen Sie mir«, sagte er in seinem ausgesucht höflichsten Ton. »Dieser Punkt bedarf einer eingehenden Erklärung. «

Ich lehnte es ab, diese eingehende Erklärung abzuwarten. »Sie haben ihn nicht gesehen?« fragte ich.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, wiederholte Herr Finch. »Meine Stellung Nugent Dubourg gegenüber ist sehr merkwürdig, Madame Pratolungo. Als Vater möchte ich ihm gern den Hals umdrehen. Als Geistlicher halte ich es für meine Pflicht, meinem Unwillen Einhalt zu thun und ihm zu schreiben. Können Sie sich meine Verantwortlichkeit vergegenwärtigen? Können Sie die Unterscheidung, die ich mache, verstehen?«

Ich verstand, daß er sich fürchtete. Statt aller Antwort verneigte ich mich leicht mit dem Kopfe gegen ihn, ich hasse feige Menschen, und ging schweigend nach der Thür.

Herr Finch erwiderte meine Verneigung mit einem Blick, in welchem sich fassungslose Bewunderung aussprach. »Wollen Sie mich verlassen?« fragte er in freundlich schmeichelndem Ton.

»Ich will nach Browndown.«

Wenn ich gesagt hätte, ich gehe an einen Ort, dessen der Pfarrer in den nachdrücklichsten Stellen seiner Predigten zu gedenken oft Gelegenheit hatte, sein Gesicht hätte kaum mehr Erstaunen und Unruhe verrathen können, als bei meiner Antwort. erhob seine gewaltige Rechte, er öffnete seine beredten Lippen; aber noch bevor der nahende Strom der Beredtsamkeit sich über mich ergießen konnte, war ich zum Zimmer hinaus auf dem Wege nach Browndown.


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