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Gesetz und Frau



Elftes Kapitel.

Miserrimus Dexter! Erste Begegnung.

Die Sonne verbarg sich hinter schweren Wolken, und die frühe herbstliche Dämmerung begann hernieder zu sinken, als wir noch unterwegs waren.

Wir nahmen, wie ich bemerken konnte, die Richtung nach der großen nördlichen Vorstadt London’s.

Ueber eine Stunde lang rollte der Wagen durch ein Labyrinth von Straßen, die immer enger und enger, immer schmutziger und schmutziger wurden. Dann kamen wir bei zunehmender Dunkelheit über wüste, unbebaute Flächen. Und hinter diesen lagen einige zerstreute Häusergruppen dunkel in der dunklen Atmosphäre. Der Anblick wurde immer trauriger, bis der Wagen endlich hielt, und Mrs. Macallan mir mit scharfem, ironischen Tone ankündigte:

»Wir sind am Ziel unserer Reise. Dies ist Prinz Dexter’s Palais. Wie gefällt es Ihnen?«

Ich blickte mich um und wußte nicht, was ich davon denken sollte.

Wir verließen den Wagen und standen nun auf einem ungeebneten Kiespfade. Rechts und links erblickte ich im Abzudunkeln mehrere im Bau begriffene Häuser, im ersten Stadium ihres Daseins. Ueberall lagen Bretter, Balken und Steine umher, und riesenhafte schaffotähnliche Gerüste erhoben sich aus dieser Einöde, wie große Bäume ohne Zweige und Aeste. Hinter uns breitete sich ein noch gänzlich unbebauter Platz aus, aus dem weite Kalkgruben geisterhaft hervorleuchteten. Vielleicht hundert Schritte vor uns unterschieden meine, sich an das Dunkel gewöhnende Augen ein niedriges langes Haus mit einer Hecke von wucherndem Immergrün vor seiner Front. Der Diener ging uns voran und führte uns durch Steinhaufen, über Austernschaalen und zerbrochenem Küchengeräth dem Gebäude zu. Und dies war Prinz Dexter’s Palais.

Mit Mühe fanden wir eine Klingel. Als der Diener sie zog, klang sie beinahe so laut wie eine Kirchenglocke.

Während wir darauf warteten, eingelassen zu werden, deutete Mrs. Macallan auf das alte Haus.

»Das ist auch eine von seinen Thorheiten,« sagte sie. »Speculanten haben ihm für den Grund und Boden, auf dem die alte Baracke steht, mehrere tausend Pfund geboten. Sie war ursprünglich das herrschaftliche Gebäude dieses Distrikts. Dexter kaufte es vor vielen Jahren in einer seiner abenteuerlichen Launen. Das alte Ding fällt ihm beinahe über dem Kopf zusammen, und das gebotene Geld würde er gut gebrauchen können. Aber nein! Er wies die Speculanten mit folgenden Worten ab: »mein Haus ist ein stolzes Monument des Pittoresken und Schönen zwischen den häßlichen, entwürdigenden und abgeschmackten Konstruktionen einer häßlichen, entwürdigenden und abgeschmackten Zeit. Ich behalte mein Haus, Gentleman, als eine lehrreiche Lection für Sie. Betrachten Sie es, während Sie rund um mich herbauen, und erröthen Sie, wenn Sie es können, über Ihr eigenes Werk.«

»Doch still! Ich höre Schritte im Garten. Da kommt seine Cousine. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, weil Sie sie sonst im Dunkeln für einen Mann halten könnten.«

Eine rauhe, tiefe Stimme fragte von jenseits des Thores:

»Wer ist da?«

»Mrs. Macallan,« antwortete meine Schwiegermutter.

»Was wünschen Sie?«

»Wir wünschen Herrn Dexter zu sprechen.«

»Sie können ihn nicht sprechen.«

»Weshalb nicht?«

»Wie war Ihr Name?«

»Macallan. Mrs. Macallan. Eustace Macallan’s Mutter. Nun werden Sie mich verstanden haben.«

Die Stimme murmelte etwas vor sich hin, dann knarrte das Schloß der Gartenthür, und wir wurden eingelassen.

In dem Dunkel der Gebüsche konnte ich nur unterscheiden, daß die Cousine einen Männerhut trug. Nachdem sie das Thor wieder geschlossen, führte sie uns, ohne ein Wort der Bewillkommnung nach dem Hause.

»Eine hübsche Familie«, flüsterte mir meine Schwiegermutter zu. »Diese Cousine ist das einzige Frauenzimmer im Hause und außerdem schwachsinnig.«

Wir traten in einen geräumigen Flur mit niedriger Decke, welcher, von einer kleinen Oellampe nothdürftig erleuchtet war. Es hingen Bilder an den Wänden, deren Darstellungen ich nicht unterscheiden konnte.

»Nun sagen Sie mir,« wandte sich meine Schwiegermutter an die Cousine mit dem Männerhut, »weshalb können wir Mr. Dexter nicht sprechen?«

Die Cousine nahm ein Blatt Papier von dem Flurtisch und reichte es Mrs. Macallan.

»Der Herr hat geschrieben,« entgegnete das seltsame Geschöpf in heiserem Flüsterton, als wenn ihr der bloße Gedanke an den Herrn Entsetzen einflößte. »Lesen Sie es, und gehen, oder bleiben Sie, wie Sie wollen.«

Sie öffnete eine unsichtbare Seitenthür in der Mauer, verschwand wie ein Geist vor unseren Blicken und ließ uns allein auf dem Flur.

Mrs. Macallan näherte sich der Oellampe und blickte auf das Papier, daß die Cousine ihr gegeben. Ich sah ihr über die Schulter. Das Papier enthielt einige groß und wunders schön geschriebene Zeilen:

»Nachricht:

Meine Phantasie ist im Arbeiten. Mächtige Visionen entrollen sich vor meinem Blick. Die alte Heroenzeit lebt in mir wieder auf. Das Gehirn glüht in meinem Kopf. Wer mich unter den gegenwärtigen Umständen stört, thut es auf Gefahr seines Lebens. —

Dexter«

Mrs. Macallan sah mich mit sardonischem Lächeln an.

»Bestehen Sie noch darauf, bei ihm eingeführt zu werden,« fragte sie.

»Wenn ich Ihr Leben nicht in« Gefahr bringe, ja!«

Meine Schwiegermutter legte, ohne zu antworten, das Papier wieder auf den Tisch und führte mich dann zu einer niedrig gewölbten Thür, hinter welcher ich die breiten Stufen einer Treppe bemerkte.

»Folgen Sie mir,« sagte Mrs. Macallan emporklimmend. »Ich weiß, wo ich ihn zu finden habe.«


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