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Zwei Schicksalswege

Vierundzwanzigstes Kapitel

Im Schatten von St. Paul

Nach Verlauf von zehn Tagen befand ich mich wieder daheim in den Armen meiner Mutter.

Da ihre Gesundheit sehr angegriffen war, hatte ich sie, um dieser Seereise willen sehr ungern verlassen. Mit großer Betrübnis entdeckte ich bei meiner Rückkehr eine Verschlimmerung ihres Zustandes, von der sie in ihren Briefen nichts erwähnt hatte. Als ich unsern ärztlichen Freund, Mr. Mac Glue, darüber zu Rate zog, erfuhr ich, dass auch er den ungünstigen Gesundheitszustand meiner Mutter kannte, ihn aber einer leicht zu hebenden Ursache, nämlich dem schottischen Klima, zuschrieb. Meine Mutter hatte ihre Kindheit und frühere Jugend an der Südküste Englands verlebt. Die Übersiedlung in das rauhe, scharfe Klima des Nordens, war für eine Frau in ihrem Alter immerhin bedenklich. Nach Mr. Mac Glues Ansicht konnten wir nichts besseres tun, als noch vor dem Herbst nach dem Süden zurückzukehren und uns so einzurichten, dass wir den bevorstehenden Winter in Penzance oder Torquay verlebten.

Mr. Mac Glues Vorschlag stieß meinerseits auf keinerlei Widerspruch, da ich so wie so entschlossen war am Ende des Monats meiner geheimnisvollen Berufung nach London Folge zu leisten. Für mich hatte die Sache den großen Vorteil, dass, wenn meine Mutter dem Vorschlage des Arztes beistimmte, damit einer zweiten Trennung von ihr vorgebeugt war. Ich legte ihr noch am selben Tage die Frage vor. Sie war zu meiner großen Freude nicht nur erbötig die Reise nach dem Süden zu unternehmen, sondern sogar begierig es zu tun. Die Jahreszeit war, selbst für Schottland, ungewöhnlich feucht gewesen und meine Mutter gestand endlich mit Zögern ein, dass sie sich nach der milden Luft und dem heitren Sonnenschein der Küste von Devonshire sehne.

Wir beschlossen in unserem eigenen, behaglichen Wagen mit Postpferden zu reisen und nachts in den Gasthäusern an der Straße zu rasten. Vor der Zeit der Eisenbahnen war es für einen Kranken kein geringes Unternehmen von Portshire nach London zu reisen, selbst nicht in einem leichten Wagen mit vier Pferden. Ich fand, als ich die Zeit berechnet, die wir für unsere Reise gebrauchten, dass es nur eben nicht möglich war, London am letzten Tage des Monats zu erreichen. Welche geheime Unruhe mein Gemüt unter diesen Umständen belastete, will ich nicht aussprechen. Zu meinem Glück hielt wenigstens die Gesundheit meiner Mutter die Reise aus. Die behagliche und, wie wir damals fanden, schnelle Weise zu reisen, wirkte belebend auf ihre Nerven. Sie schlief nachts in den Herbergen auf dem Wege besser, als sie zu Hause geschlafen hatte. Am letzten Tage des Monats nachmittags um drei Uhr langten wir in London an, nachdem wir zwei Mal einen Aufenthalt auf der Reise gehabt hatten. War es noch Zeit für mich, als ich meinen Bestimmungsort erreichte?

Nach meiner Auffassung der Worte, die mir die Erscheinung aufgeschrieben hatte, standen noch einige Stunden zu meiner Verfügung. Ich deutete mir den Satz: am Ende des Monats, als wäre die letzte Stunde des letzten Tages im Monate damit gemeint. Wenn ich diesen Abend um zehn Uhr meinen Platz »im Schatten von St. Paul« einnahm, so befand ich mich ja noch zwei Stunden lang an dem bestimmten Ort, ehe die Uhr mit ihrem letzten Schlage den Anfang des neuen Monats verkündete.

Um halb neun Uhr verließ ich meine Mutter, damit sie sich nach der langen Reise zur Ruhe begeben konnte und begab mich heimlich auf den Weg. Vor zehn Uhr war ich zur Stelle. Die Nacht war klar und schön und der riesige Schatten der Kirche bezeichnete deutlich die Grenzen in denen ich die kommenden Ereignisse erwarten sollte.

Die große Glocke von St. Paul schlug zehn und Alles blieb still.

Die nächste Stunde verging sehr langsam. Ich schritt auf und ab, bald in meine eigenen Gedanken vertieft, bald beobachtend, wie die Zahl der Fußgänger mit den vorrückenden Nachtstunden abnahm. Die City, wie man sie nennt, ist am Tage der bevölkertste Teil von London. Nachts aber, wenn sie aufhört der Mittelpunkt des Geschäftslebens zu sein, verschwindet ihre tätige Bevölkerung und die leeren Straßen gewinnen das Ansehn, als bildeten sie eines der entlegensten Viertel der Hauptstadt. Als es halb Elf, dann drei Viertel und endlich die volle Stunde schlug wurde es stiller und stiller ringsumher. Die Fußgänger kamen nur noch zu Zweien und Dreien vorüber und die öffentlichen Lokale, die ich beobachten konnte, wurden schon für die Nacht geschlossen.

Ich sah nach der Uhr, sie zeigte auf zehn Minuten nach Elf. Konnte ich hoffen Frau van Brandt um diese Zeit allein auf der Straße zu begegnen?

Je mehr ich darüber nachdachte, je unwahrscheinlicher wurde mir diese Aussicht. Vernünftiger war es auf die Möglichkeit eines Begegnens in Gesellschaft von Freunden zu hoffen, vielleicht begleitete sie van Brandt selbst. Ich erwog in wie weit es mir gelingen würde, diesem Menschen gegenüber zum zweiten Male meine Selbstbeherrschung zu bewahren.

Während meine Gedanken diese Richtung verfolgten, wurde meine Aufmerksamkeit durch ein dünnes, trübes Stimmchen, das eine seltsame, unscheinbare Frage an mich richtete, wieder auf meine Umgebung gelenkt.

»Mein Herr, wissen Sie vielleicht, wo ich um diese Nachtzeit eine Apotheke offen finde?«

Ich sah mich um und erblickte einen kleinen, ärmlich gekleideten Knaben mit einem Korbe am Arm und einem Zettel in der Hand.

»Die Apotheken sind alle geschlossen,« sagte ich, »wenn Du Medizin haben willst, musst Du die Nachtglocke ziehen.«

»Das getraue ich mich nicht zu tun, lieber Herr,« antwortete der kleine Fremde. »Ich bin noch so klein, ich fürchte sie schlagen mich, wenn ich sie, ohne dass jemand für mich spricht, aus ihren Betten heraus klingle.«

Das kleine Wesen sah mir beim Schein der Straßenlaternen wohl danach aus, als hätte es manche Erfahrung über Schläge für geringfügige Anlässe gemacht. Ich vermochte dem Drange ihm zu helfen unmöglich zu widerstehen.

»Ist jemand ernstlich erkrankt?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, lieber Herr.«

»Hast Du ein Rezept vom Arzte?«

Er zeigte mir seinen Zettel.

»Dieses hier habe ich,« sagte er.

Ich nahm ihm das Papier ab und besah es.

Es war das gewöhnliche Rezept zu einer stärkenden Medizin. Die Unterschrift des Arztes zeigte einen Namen, der mir vollständig unbekannt war. Darunter stand der Name des Kranken für den die Medizin verschrieben war. Ich erstaunte, als ich ihn las. Der Name war: »Mrs. Brand«.

Sofort bemächtigte sich meiner der Gedanke, dass wenigstens dem Klange nach, dies die englische Übertragung des Namens van Brandt sein sollte.

»Kennst Du die Dame, die Dich nach der Medizin schickte?« fragte ich.

»Oja, lieber Herr! Sie wohnt bei meiner Mutter und schuldet ihr die Miete. Ich habe Alles getan, was sie mir aufgetragen hat, nur die Medizin habe ich nicht geholt. Ich habe ihren Ring verpfändet und habe Brot und Butter und Eier gekauft, habe auch auf das Geld gut Acht gegeben. Meine Mutter hofft aus dem Gelde die Miete zu erlangen. Ich kann nichts dafür, lieber Herr, dass ich mich verlaufen habe. Ich bin erst zehn Jahre alt - und alle Apotheken sind geschlossen!«

Hier übermannte meinen kleinen Freund das Bewusstsein seines unverdienten Missgeschicks und er begann zu weinen. »Weine nicht, ich will dir helfen, kleiner Mann,« sagte ich. »Erst erzähle mir aber noch mehr von der Dame. Ist sie allein?«

»Sie hat Ihr kleines Töchterchen bei sich, lieber Herr.«

Mein Herz schlug schneller. Des Knaben Antwort erinnerte mich an jenes kleines Mädchen, das meine Mutter einst gesehen.

»Ist der Gemahl der Dame bei ihr?« fragte ich weiter.

»Jetzt nicht, lieber Herr. Er war bei ihr, ist aber fortgegangen und nicht wieder gekommen.«

Ich tat nur noch eine Frage zum Schluss.

»Ist der Mann ein Engländer?«

»Meine Mutter sagt, er sei ein Ausländer,« antwortete der Knabe. Ich wendete mich ab um meine Aufregung zu verbergen. Selbst dem Kinde hätte sie auffallen müssen!

War ich in diesem Augenblicke wiederum auf ihrer Spur? War sie es, die unter dem Namen einer Mrs. Brandt, arm, so arm, dass sie ihren Ring verpfänden musste, mit ihrer kleinen Tochter hier lebte, wiederum von dem Manne, der ein Ausländer war, verlassen. Sollte dieses Kind, das sich verlaufen hatte, unbewusst mein Wegweiser zu der Frau sein, die ich liebte, und die ich in tiefster Not ohne Teilnahme und Hilfe finden sollte? Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr befestigte sich der Gedanke in mir, dass ich mit dem Knaben zu dem Hause zurückgehen sollte, wo sich die Mieterin seiner Mutter befand. Die Uhr schlug ein Viertel nach Eöf. Wenn meine Vermutungen mich irre leiteten, so hatte ich ja immer noch drei Viertelstunden übrig, ehe der Monat zu Ende ging.

»Wo wohnst du?« fragte ich.

Der Knabe nannte eine Straße, deren Namen ich zum ersten Male hörte. Als ich ihn nach einer näheren Angabe fragte, war Alles, was er mir sagen konnte, dass er noch am Fluss wohne, aber er war zu verwirrt und erschrocken, um mir die Richtung bezeichnen zu können.

Während wir bemüht waren uns zu verständigen, fuhr nicht fern von uns eine Droschke langsam vorbei. Ich rief den Kutscher heran und nannte ihm den Namen der Straße. Er kannte sie ganz genau. Die Straße lag ungefähr eine Meile weit in östlicher Richtung. Er war bereit mich hin und, wenn ich es wünschte auch zurück nach der St. Pauls Kathedrale zu fahren und brauchte dazu nur zwanzig Minuten. Ich öffnete den Wagenschlag und hieß meinen kleinen Freund einsteigen. Der Knabe zögerte.

»Um Vergebung, lieber Herr, fahren wir nach der Apotheke?« fragte er.

»Nein. Erst wirst Du mit mir nach Hause fahren.«

Der Knabe fing wieder an zu weinen.

»Die Mutter schlägt mich, wenn ich ohne Medizin nach Hause komme.«

»Ich werde dafür sorgen, dass Deine Mutter Dich nicht schlägt. Ich bin selbst ein Arzt und wünsche die Dame zu sehen, ehe wir ihr die Medizin holen.«

Die Mitteilung über meinen Beruf schien dem Knaben ein gewisses Vertrauen einzuflößen, dennoch zeigte er keine Lust mich nach Hause zu seiner Mutter zu begleiten.

»Werden Sie sich von der Dame bezahlen lassen?« fragte er. »Ich habe für den Ring nicht viel Geld bekommen. Die Mutter würde das nicht gerne von der Miete abziehen lassen.«

»Die Dame braucht mir keinen Pfennig zu bezahlen.« erwiderte ich. Sofort bestieg der Knabe die Droschke. »Wenn die Mutter ihr Geld bekommt, so ist mir Alles recht.«

Armer Knabe! Dieses Kindes Erziehung für die schmutzigsten Sorgen des Lebens, war mit zehn Jahren schon beendet!

Wir fuhren ab.


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