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Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

IV.

»Sie ist aus meiner Irrenanstalt entflohen.«

Ich kann nicht mit voller Wahrheit sagen, daß der fürchterliche Schluß, auf den diese Worte hindeuten, mich wie eine plötzliche, unerwartete Offenbarung getroffen hätte. Einige der sonderbaren Fragen, welche die Frau in Weiß nach meinem unüberlegten Versprechen, sie unbeschränkt thun zu lassen, was sie wolle, an mich gerichtet, hatten schon die Vermuthung in mir aufkommen lassen, daß sie entweder von Natur flüchtig und unstet sei, oder irgend ein kürzlich erlittener, erschütternder Schlag das Gleichgewicht ihrer Geistesfähigkeiten gestört habe. Aber die Idee wirklichen Wahnsinns, die wir Alle mit dem bloßen Namen einer Irrenanstalt verbinden, war mir, offen gestanden, in Bezug auf sie, keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Ich hatte in ihrer Sprache und ihrem Benehmen Nichts bemerkt, was dies zur Zeit gerechtfertigt hätte, und selbst jetzt nach dem neuen Lichte, das die Worte des Fremden zum Constabler auf die Sache geworfen, sah ich noch Nichts, das eine solche Ansicht gerechtfertigt hätte.

Was hatte ich gethan? Dem Opfer der schrecklichsten aller Einkerkerungen Beistand zur Flucht geleistet, oder in die weite Welt von London ein Wesen losgelassen, dessen Handlungen zu beaufsichtigen meine Pflicht und die Pflicht jedes Menschen war? Mir schwindelte, als sich mir diese Frage aufwarf, bei dem vorwurfsvollen Bewußtsein, daß sie zu spät komme.

In meinem verstörten Gemüthszustande war es unnöthig, an ein Schlafengehen zu denken, als ich endlich in meiner Wohnung in Clement’s Inn anlangte. In wenigen Stunden sollte ich meine Reise nach Cumberland antreten. Ich setzte mich und versuchte, erst zu zeichnen und dann zu lesen – aber die Frau in Weiß war zwischen mir und meinem Bleistifte, zwischen mir und meinem Buche. War das unglückliche Geschöpf zu Schaden gekommen? Das war mein erster Gedanke, obgleich ich ihn selbstsüchtig von mir wies. Dann folgten andere Gedanken, bei denen zu verweilen wenig qualvoll war. Wo hatte sie den Fiaker anhalten lassen? Was war jetzt aus ihr geworden? Hatten die Männer in der Chaise sie gefunden und festgehalten? Oder war sie noch frei und Herrin ihrer eigenen Handlungen und gingen wir Beide auf unseren weit auseinanderliegenden Pfaden einem und demselben Punkte in der geheimnisvollen Zukunft zu, an dem wir noch einmal einander begegnen sollten?

Es war mir eine Erleichterung, als die Stunde kam, meine Thür zu schließen, von meinen Londoner Beschäftigungen, meinen Schülern und Freunden Abschied zu nehmen und mich in Bewegung zu setzen auf dem Wege zu neuen Interessen und einem neuen Leben. Sogar das Gewühl und Getöse an der Eisenbahnstation, die zu anderen Zeiten so unerträglich sind, belebten mich und thaten mir wohl.

Meine Reiseinstruction enthielt die Weisung für mich, nach Carlisle zu fahren und dann meinen Weg auf einer Zweigbahn fortzusetzen, welche der Küste zulief. Als erstes Unglück nahm unsere Locomotive zwischen Lancaster und Carlisle Schaden. Der hiedurch herbeigeführte Verzug hatte zur Folge, daß ich für den Zug, mit dem ich sogleich auf der Zweigbahn meine Reise hätte fortsetzen sollen, zu spät kam. Ich hatte mehrere Stunden zu warten, und als ich endlich mit einem späteren Zuge auf der Limmeridge House am nächsten gelegenen Station anlangte, war es nach zehn Uhr und die Nacht so finster, daß ich kaum den Weg nach der Ponychaise sehen konnte, welche Mr. Fairlie geschickt hatte, mich zu erwarten.

Der Kutscher, offenbar durch meine späte Ankunft sich verletzt fühlend, war in jenem Zustande äußerst achtungsvoller Verdrießlichkeit, welcher englischen Dienern eigen ist. Wir fuhren langsam und in tiefem Schweigen durch die Dunkelheit. Die Wege waren schlecht, und die dichte Finsterniß vergrößerte die Schwierigkeit, schnell zu fahren. Es waren nach meiner Uhr beinahe anderthalb Stunden vergangen, seitdem wir die Station verlassen hatten, als ich das Rauschen der See in der Ferne und das Knirschen der Räder auf glattem Kieswege hörte. Wir waren durch ein Thor gekommen, ehe wir auf dem Kieswege anlangten, und mußten noch durch ein zweites, ehe wir vor dem Hause hielten. Ich wurde von einem feierlichen Bedienten ohne Livree ehrfurchtsvoll empfangen, von ihm unterrichtet, daß die Familie sich für die Nacht zurückgezogen, und dann in ein großes, hohes Zimmer geführt, wo am unteren Ende einer langen Mahagonispeisetafel ein Nachtessen meiner harrte.

Ich war zu müde und zu verdrießlich, um viel zu essen oder zu trinken, besonders da der feierliche Diener mich auf eine ebenso umständliche Weise bediente, als ob anstatt eines einzigen Mannes eine kleine Mittagsgesellschaft im Hause angekommen sei. In einer Viertelstunde war ich bereit, mich auf mein Schlafzimmer führen zu lassen. Der feierliche Diener führte mich auf ein hübsch möblirtes Zimmer, sagte: »Das Frühstück ist um neun Uhr aufgetragen, Sir,« schaute sich um, ob auch Alles an Ort und Stelle sei – und zog sich geräuschlos zurück.

»Was werde ich diese Nacht in meinen Träumen sehen?« dachte ich bei mir, als ich mein Licht auslöschte, »die Frau in Weiß oder die unbekannten Bewohner dieses Hauses?« Es war ein eigenthümliches Gefühl, wie ein alter Freund der Familie im Hause zu schlafen, und dennoch nicht ein einziges Mitglied derselben, auch nur dem Ansehen nach, zu kennen!


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