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Herr Marmaduke und der Pfarrer

I.

Es scheint schon Winter bei uns, am Rande des schottischen Hochlandes, zu sein.

Als der Abend hereinbrach, sah ich zum Fenster hinaus, ehe ich die Fensterläden schloss und die Vorhänge für die Nacht zuzog. Die Wolken verbargen die Gipfel der Hügel auf jeder Seite unseres Tales. Seltsame Nebel zogen von niedrigeren Abhängen weg und kamen ihnen wieder nahe, je nachdem der wechselnde Wind sie trieb. Die sich verdunstenden Gewässer des Sees vor unserem Fenster schienen die kommende Finsternis im voraus anzunehmen. An den entfernteren Hügeln wurden Gießbäche sichtbar, als die Nebel sich teilten, und schlichen wie Silberfäden über den braunen Boden. Es war ein trauriges Bild. Die allgemeine Stille wurde nur durch das Rauschen unseres kleinen Wasserfalles auf der Rückseite des Hauses unterbrochen. Es tat mir nicht leid, die Fensterläden zu schließen und den Blick auf die vier Wände unseres Wohnzimmers zu beschränken.

Dieser Tag war gerade mein Geburtstag. Ich saß beim Braunkohlenfeuer, indem ich auf die Lampe und den Tee wartete und sozusagen von der ausblickfreien Warte meines fünfundfünfzigsten Lebensjahres herab über mein vergangenes Leben nachdachte. Es gab erstaunlich wenig, worauf ich zurückblicken konnte. Seit beinahe dreißig Jahren hatte es der allweisen Vorsehung gefallen, mein Schicksal an diesen entlegenen schottischen Weiler zu binden und mich zum Pfarrer von Cauldkirk mit einem jährlichen Gehalte von vierundsiebzig Pfund Sterling zu machen. Ich und meine Angehörigen sind zusammen in Ruhe älter und älter geworden. Ich habe meine Frau überlebt; ich habe ein Geschlecht meiner Pfarrkinder begraben, ein anderes verheiratet; ich habe die Abnutzung der Jahre besser ertragen als die Kirche, in welcher ich predige, und das Pfarrhaus, in welchem ich wohne, die beiden jämmerlich baufällig sind und die beide noch auf die frommen Wohltaten reicherer Leute, als ich es bin, rechnen, um die Mittel für eine Baureparatur zu erlangen. Man möge mich nicht missverstehen!

Nicht, dass ich mich über die geringe Stellung beklage, die ich einnehme. Ich habe reichliche Segnungen erfahren und ich danke Gott für dieselben. Ich habe mein bisschen Land und meine Kuh. Ich habe auch meine gute Tochter Felicia, die nach ihrer verstorbenen Mutter genannt ist, aber ihre anmutigen Blicke, wie man meint, eher von mir geerbt hat. Auch lasst mich meine ältere Schwester Judith nicht vergessen, eine freundlose, ledige Person, unter meinem Dache geborgen, deren Gemütsart ich etwas weniger geneigt wünschen könnte, Personen und Dinge von der dunklen Seite zu betrachten, aber der Himmel verhüte, dass ich ihre ausgleichenden Tugenden verleugnen sollte. Nein! Ich bin dankbar für das, was mir von oben gegeben worden, und ergeben bei dem, was mir genommen worden ist.

Mit was für schönen Aussichten trat ich ins Leben ein! Entsprossen von einem guten, alten schottischen Stamme, beglückt mit allen Vorteilen der Erziehung, welche die Einrichtungen Schottlands und Englands abwechselnd bieten konnten; mit einer Laufbahn vor mir als Jurist und im Parlament - und alles gleichsam in den Wind geworfen durch die maßlose Verschwendung meines unglücklichen Vaters; Gott vergib ihm!

Ich zweifle, ob ich fünf Pfund in meiner Börse hatte, als das Mitleid meiner Verwandten mütterlicher Seite mir eine Zufluchtsstätte in Cauldkirk eröffnete und mich vor der Welt für den Rest meines Lebens verbarg.

14. September - So weit hatte ich mein Tagebuch am Abend des dreizehnten geführt, als ein meinem Haushalte und mir selbst so völlig unerwartetes Ereignis eintrat, dass mir die Feder, möchte ich sagen, sogleich aus der Hand fiel.

Es war die Zeit, als wir unseren Tee oder unser Abendessen beendigt hatten - ich weiß kaum, wie ich es nennen soll. In der Stille konnten wir hören, wie der Regen sich gegen das Fenster ergoss und der Wind, welcher sich mit der Dunkelheit erhoben hatte, um das Haus heulte.

Meine Schwester Judith, die ihrer Gewohnheit nach die düstere Ansicht vertrat - reichliche Züge guten schwarzen Tees und zwei Vorlagen eines solchen Hammelschenkels, wie nur Schottland ihn hervorbringen kann, hatten nicht die Wirkung, ihre Lebensgeister aufzurichten - meine Schwester, sage ich, bemerkte, dass es diese Nacht auf der See zugrunde gehende Schiffe und ertrinkende Menschen geben würde. Meine Tochter Felicia, das heiterste weibliche Wesen, das ich je gekannt habe, versuchte, den düsteren Prophezeiungen ihrer Tante eine freundlichere Wendung zu geben. »Wenn die Schiffe zugrunde gehen müssen«, sagte sie, »können wir sicherlich hoffen, dass die Menschen gerettet werden.« »Wenn Gott will«, setzte ich hinzu, indem ich damit dem menschenfreundlichen Gefühlsausdruck meiner Tochter den passenden religiösen Ton gab, da war alles, was ihm fehlte - und dann fuhr ich mit meiner Aufzeichnung der Ereignisse und Betrachtungen des Tages fort. Nichts wurde gesprochen. Felicia ergriff ein Buch, Judith ihre Stickerei. - Auf einmal wurde die Stille durch einen Schlag gegen die Haustür unterbrochen. Meine beiden Gesellschafterinnen stießen, wie es die Art der Frauen ist, einen Schrei aus. Ich selbst war bestürzt und wunderte mich, wer draußen in dem Regen und in der Dunkelheit sein könnte. Es musste ein Fremder sein. Mochte es hell oder dunkel sein, jede Person in oder bei Caulskirk, die Einlass wünschte, wusste, wo der Schellengriff an der Seite der Tür zu finden war.

Ich wartete eine Weile, um zu hören, was folgen würde. Der Schlag wurde wiederholt, aber sanfter. Es geziemte mir als Mann und als Geistlicher, ein Beispiel zu geben. Ich ging in den Hausgang hinaus und rief durch die Tür: »Wer ist da?« Die Stimme eines Mannes antwortete - so schwach, dass ich ihn kaum hören konnte: »Ein verirrter Reisender.«

Hierauf drückte sogleich meine freundliche Schwester ihre Ansicht von der Sache durch die offene Tür des Sprechzimmers aus: »Bruder Noah, es ist ein Dieb, lass ihn nicht herein!«

Was würde der barmherzige Samariter an meiner Stelle getan haben? Sicherlich würde er es gewagt und die Tür geöffnet haben. Ich ahmte den barmherzigen Samariter nach.

Ein Mann, der vom Regen troff, wankte, mit einem Ränzchen auf dem Rücken und einem dicken Stock in der Hand, herein und würde, glaube ich, in den Hausgang gefallen sein, wenn ich ihn nicht aufgefangen hätte. Judith guckte aus dem Zimmer und sagte: »Er ist betrunken.« Felicia stand hinter ihr und hielt ein angezündetes Licht in die Höhe, um besser zu sehen, was vorging. »Sieh ihm ins Gesicht, Tante!« sagte sie. »Er ist von Müdigkeit erschöpft, der arme Mann! Bringe ihn herein, Vater, bringe ihn herein!«

Gute Felicia! Ich war stolz auf mein Mädchen. »Er wird den Teppich verderben!« sagte Schwester Judith. Ich entgegnete: »Still! Schäme dich!«, brachte ihn herein und ließ ihn noch triefend in meinem eigenen Lehnstuhl nieder. Würde der barmherzige Samariter an seinen Teppich oder seinen Sessel gedacht haben? Ich dachte an sie, aber ich blieb Sieger. Ach, wir sind ein in Verfall geratenes Geschlecht in unseren Tagen!

»Sei schnell, Vater!« sagte Felicia, »er wird in Ohnmacht fallen, wenn du ihm nicht etwas gibst!«

»Ich nahm einen von unseren kleinen Trinkbechern heraus (unter uns »Quaigh« genannt) während Felicia auf mein Geheiß nach der Rahmkanne in die Küche eilte. Nachdem ich den Becher mit Kornbranntwein und Rahm in gleichen Teilen gefüllt hatte, bot ich ihm denselben an. Er trank ihn aus, als wenn es ebensoviel Wasser gewesen wäre. »Anregend und nährend im gleichen Grade, Sie werden's spüren, mein Herr«, bemerkte ich ihm. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« »Bereit für einen anderen!« erwiderte er.

Felicia lachte laut auf. Ich gab ihm einen anderen. Als ich mich wendete, um ihm den Trank zu geben, trat Schwester Judith auf mich zu und schnappte die Rahmkanne weg. Niemals war Schwester Judith, auch in ihrer besten Zeit nicht, eine freigebige Person, besonders nicht, wenn es sich um Rahm handelte. Er reichte mir den leeren Becher zurück. »Ich glaube, mein Herr, Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte er. »Im Namen der Vorsehung«, setzte ich hinzu. »Aber ich möchte bemerken, wenn ich den Zustand Ihrer Kleider betrachte, dass ich Ihnen noch einen anderen Dienst anzubieten habe, ehe Sie uns erzählen, wie Sie in diesen bejammernswerten Zustand gerieten.«

Mit dieser Erwiderung führte ich ihn die Treppe hinauf, legte die spärlichen Schätze meines Kleiderschrankes vor ihn hin und überließ ihm, dieselben so gut als möglich zu benutzen. Er war ein etwas kleiner Mann, ich habe an die sechs Fuß. Als er in meinen Kleidern zu uns herunter kam, hatten wir den fröhlichsten Abend, dessen ich mich seit Jahren erinnern kann.

Ich dachte, Felicia würde in einen Lachkrampf fallen, und selbst Schwester Judith lachte, so eine komische Figur spielte er im geistlichen Kleide.

Was das Missgeschick betrifft, welches ihn betroffen hatte, so bot es ein Beispiel mehr von der unnatürlichen Eilfertigkeit des englischen Reisenden in Gegenden, die ihm unbekannt sind.

Er befand sich auf einer Fußtour durch Schottland und er hatte sich gerühmt, ohne Führer von einer Stadt zwanzig Meilen zu Fuß quer über das schottische Hochland zu einer anderen Stadt zu gehen.

Einzig ein Wunder war es, dass er seinen Weg nach Cauldkirk fand, anstatt an seinem Wagnis in dem einsamen Hügelland zugrunde zu gehen.

»Wollen Sie heute abend in Ihrem Gebete zum Throne der Gnade Ihren Dank für Ihre Errettung darbringen?« fragte ich ihn. Und er antwortete: »Gewiss will ich dies!«

Wir haben im Pfarrhause ein Zimmer übrig, aber es ist seit mehr als einem Jahre nicht bewohnt worden. Wir machten ihm daher sein Bett für diese Nacht auf dem Sofa des Empfangszimmers und so ließen wir ihn mit dem Feuer an einer Seite seines Lagers und dem Branntwein nud dem Hammelschinken an der anderen für den Fall der Not. Er nannte seinen Namen, als wir ihm gute Nacht wünschten: Marmaduke Felmer von Lonion, Sohn eines jetzt verstorbenen Geistlichen der englischen Staatskirche. Es war klar, will ich hinzufügen, dass wir, ehe er sprach, die Gastfreundschaft des Pfarrhauses einem Manne von seiner Bildung gewährt hatten.

15. September. Ich habe einen besonders angenehmen Tag zu verzeichnen, den wir teils der Rückkehr des schönen Wetters, teils den geselligen Talenten unseres Gastes verdankten.

Wieder in seiner eigenen Kleidung, war er, obschon es ihm an Höhe des Wuchses fehlte, doch ein Mann im schönsten Ebenmaß mit bemerkenswert kleinen Händen und Füßen; er hatte ein geistreiches, ausdrucksvolles Gesicht und große, dunkle Augen von außerordentlicher Mannigfaltigkeit des Blickes. Er war von angenehmem und heiterem Temperament, das sich über Geringfügiges freuen konnte, und in liebenswürdiger Weise bereit, seine Talente uns allen angenehm zu machen.

Zudem konnte eine Person von meiner Erfahrung und Einsicht nicht wohl übersehen, dass er am zufriedensten in Gesellschaft mit Felicia war. Ich habe schon die anmutigen Blicke und die weiblichen Vorzüge meiner Tochter erwähnt. Es war natürlich, dass ein junger Mann, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, welcher vor seinem einunddreißigsten Geburtstag stand, zu einem schönen Mädchen von vierundzwanzig Jahren sich hingezogen fühlte. In derartigen Dingen habe ich immer, meiner eigenen Jugend wohl eingedenk, eine freiere Ansicht vertreten.

Als der Abend hereinbrach, nahm ich mit Bedauern eine gewisse Veränderung an unserem Gaste zum Schlimmern wahr. Er zeigte Müdigkeit, schlief mehrmals auf seinem Stuhle ein, wachte wieder auf und ein Zittern durchlief seinen Körper. Das Reserve-Zimmer war jetzt wohlgelüftet und hatte ein hellloderndes Feuer den ganzen Tag gehabt.

Ich bat ihn, keine Umstände zu machen und sich sogleich zu Bett zu begeben.

Felicia, welche die Zubereitung von ihrer ausgezeichneten Mutter gelernt hatte, machte ihm einen warmen Schlaftrunk von Eiern, Zucker, Muskatnuss und Spirituosen, ebenso köstlich für den Geruch wie für den Geschmack.

Schwester Judith wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und erfreute mich dann mit einer ihrer Unglücksweissagungen. »Du wirst den Tag bereuen, Bruder, an dem du ihn in das Haus einließest; er ist nahe daran, in unseren Händen krank zu werden.«


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