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Herz und Wissen



Capitel XLIX.

Mittag war schon vorüber, als Mr. Le Frank sich zu dem versprochenen Besuch bei Mrs. Gallilee einstellte. Er betrat das Zimmer finsteren Blicks und flötete seine höflichen Erkundigungen nach dem Befinden, wie es einem armen gedrückten Musikanten zukam, im sanftesten Pianissimo.

»Es thut mir leid, Madame, Sie noch auf dem Sopha zu finden. Noch immer keine merkliche Besserung ?«

»Keine.«

»Macht Ihnen Ihr Arzt keinerlei Hoffnung?«

»Er thut, was sie Alle thun —— er predigt Geduld. Aber nichts weiter von mir! Sie scheinen mir etwas gedrückt.«

Mr. Le Frank gestand mit einem Seufzer, daß seine Erscheinung sich mit dem Zustande seines Innern gedeckt habe.

»Ich bin sehr schmerzlich enttäuscht worden,« sagte er. »Mein Künstlerstolz hat einen empfindlichen Stoß erhalten. Aber warum Sie mit meinen eigenen bescheidenen Angelegenheiten in Anspruch nehmen? Ich bitte tausendmal um Vergebung.«

Ein Blitz unruhiger Erwartung zuckte unter seinen der bescheidenen Bitte entsprechend gesenkten Augen hervor; er erwartete wohl eine Aufforderung, sich zu erklären.

Verschiedene Vorgänge vom Morgen hatten es Mrs. Gallilee wünschenswert erscheinen lassen, Herrn Le Franks Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie erkannte die Notwendigkeit, hier etwas zu sagen und raffte sich rasch zu einer Frage auf.

»Ich hoffe, daß Sie keinen Grund zur Klage über Ihre Schülerinnen haben?«

In dieser Jahreszeit, Madame, habe ich keine Schülerinnen, Sie sind alle auf dem Lande.«

Mit ihren eigenen Angelegenheiten aufs Tiefste beschäftigt, nahm sich Mrs. Gallilee die Mühe nicht, noch weiter zu grübeln. Der gerade Weg war natürlich der beste und bequemste.

»Nun, was ist’s denn?« fragte sie mit einem Anflug von Ermüdung.

Diesmal antwortete er ohne Umschweife.

»Eine schwere Demüthigung, Mrs. Gallilee! Man hat mich gezwungen, zu bereuen, worum ich Sie kürzlich bat —— mich mit der Entgegennahme der Widmung meines Liedes beehren zu wollen. Die Musikhandlungen, von denen der Verkauf abhängt, haben nicht den zehnten Theil der Nummern genommen, die wir für sie in Anschlag gebracht hatten. Hat denn der musikalische Geschmack eine so bedeutende Wandlung erfahren? Meine Komposition hat sich durchaus der modernen Richtung angepaßt, das heißt, der Richtung der modernen deutschen Schule. So wenig Melodie als irgend möglich, und dieses Wenige noch streng an die Begleitung gebunden. Und der Erfolg? Verlust statt des Profits —— und mein Vertrag zwingt mich zur Tragung der halben Publikationskosten. Und was mich schmerzlicher noch trifft —— Ihr ehrenwerther Name ist mit einem verfehlten Unternehmen assoziiert! Bitte, wenden Sie Ihr Auge von mir ab —— Künstlerblut! —— Mir wird gleich wohler sein.«

Damit zog er ein stark parfümiertes Taschentuch hervor und vergrub sein Gesicht darin mit dumpfem Stöhnen.

Mrs Gallilee’s nüchterner praktischer Verstand begriff sofort, was der gebrochene Komponist verlangte.

»Wie dumm von mir,« dachte sie, »ihm nicht schon gestern Geld angeboten zu haben. Man hätte gar nicht so viel Zeit zu verlieren brauchen.« Sie machte ihren Fehler kurz und bündig wieder gut, indem sie sagte: »Geben Sie sich keiner weiteren Besorgniß hin, Mr. Le Frank. Nun mein Name darauf steht, ist das Lied mein Eigenthum. Und wenn Ihres Verlegers Bericht gar so ungünstig lautet, schicken Sie das Lied mir zu.«

Mr. Le Frank ließ sogleich sein unbenetztes Taschentuch fallen und sprang mit theatralischem Schwunge von seinem Sitze auf. Seine großmüthige Beschützerin wollte ihn nicht anhören. Dieser herrlichen Frau war die Erhabenheit der Kunst ein unnahbares Heiligthum.

»Kein Wort mehr über diesen Gegenstand,« sagte sie. »Sagen Sie mir, wie Sie gestern Nacht gefahren. Ihre Nachforschungen können nicht entdeckt worden sein, sonst würde ich Kenntniß davon erlangt haben. Haben Sie etwas von Wichtigkeit im Zimmer meiner Nichte gefunden?«

Mr. Le Frank begriff die Situation und machte sich zum Herrn derselben mit drei Worten: »Urtheilen Sie selbst« Damit überreichte er einen Brief.

Er enthielt die Warnung des Pater Patrizio.

Stumm las Mrs. Gallilee die Zeilen, welche Carmina die zwingende Nothwendigkeit nahe legten, die Amme zu bewachen. Und noch immer schweigend, ließ sie den Brief auf ihren Schooß fallen.

»Beunruhigt Sie das?« fragte Mr. Le Frank.

»Es überwältigt mich,« sagte sie matt. »Lassen Sie mir Zeit zu denken.«

Mr. Le Frank schritt nach seinem Stuhl zurück. Er durfte sich beglückwünschen. Er hatte seine pekuniären Verpflichtungen für die verfehlte Komposttion auf ihre Schultern abgewälzt Und wie er jetzt Mrs. Gallilee betrachtete, kam ihm der Gedanke noch besserer Aussichten für die Zukunft. So lange hatte sie ihn immer in einer gewissen Entfernung erhalten. Bereitete sich jetzt die Gesinnungsänderung vor, die ihn zu der Stellung des vertrauten Freundes berief?

Sie nahm plötzlich den Brief wieder auf, und ihn ihm hinhaltend, fragte sie: »Welchen Eindruck macht das auf Sie, wo Sie einen tieferen Einblick noch nicht gewonnen haben?«

»Des Priesters vorsichtige Sprache ist ein Zeugniß für sich. Sie haben einen Gegner, der nimmer ruhen wird.«

Sie zögerte noch immer, ihn ins Vertrauen zu ziehen.

»Sie sehen mich hier an mein Zimmer gefesselt,« fuhr sie fort, »und mit der Aussicht, in dieser Hilflosigkeit noch lange Zeit ausharren zu müssen. Wie würden Sie sich an meiner Stelle gegen jenes Weib schützen?«

»Ich würde abwarten.«

»Wozu? Warum?«

»Ich würde, um mich der Sprache des Spieltisches zu bedienen, warten, bis das Weib ihre Karte zeigt.«

»Sie hat sie bereits gezeigt.«

»Darf ich fragen wann?«

»Heute Morgen.«

Mr. Le Frank verstummte. Wenn seines Rathes wirklich bedurft wurde, brauchte Mrs. Gallilee nur zu reden. Nach einem Augenblick der Ueberlegung ließ sie sich noch einmal von der bitteren Nothwendigkeit bestimmen.

»Sie sehen mich zu krank, um mich auch nur frei bewegen zu können,« sagte sie, »und meine erste Pflicht ist, Ihnen zu sagen, warum.«

Sie erzählte, was vorgegangen, ohne jeden Kommentar, ohne ein Zeichen innerer Bewegung. Aber ihres Gatten Abscheu vor ihr hatte einen Eindruck hinterlassen, den weder Stolz noch Verachtung niederzukämpfen vermocht hatten. Sie ließ den Musiklehrer glauben, daß eine Meinungsverschiedenheit in Betreff Miß Carmina's Bevormundung einen Streit herbeigeführt habe, infolgedessen der Angriff erfolgte. Das jetzt Gesagte enthüllte Mr. Le Frank das einzige Geheimniß, das sie noch vor ihm gehabt hatte.

»Während ich besinnungslos dalag,« fuhr sie fort, »hat man meine Nichte heimlich fortgebracht. Sie hatte schon immer an nervösen Zufällen gelitten, und natürlich war sie jetzt vor Entsetzen ganz übermannt. Nun liegt sie in der Amme Wohnung krank, zu krank, um fortgebracht werden zu können. Nun wissen Sie alles, was bis gestern Abend vorgefallen.«

»Man könnte sagen,« warf Mr. Le Frank leicht hin, »daß der einfachste Weg aus der Verlegenheit der wäre, die Amme für ihre brutale Handlung vor den Richter zu citiren.«

»Der würde mich einer öffentlichen Bloßstellung aussetzen,« entgegnete Mrs. Gallilee »In meiner Lebensstellung ist das unmöglich angänglich.«

Mr. Le Frank ließ dieses Bedenken als selbstverständlich gelten. »Unter den Umständen,« meinte er, »ist es nicht leicht, Ihnen einen Rath zu ertheilen. Wie können Sie jenes Weib zu Ihrem Willen zwingen, so lange Sie hier krank liegen?«

»Meine Advokaten haben Ihre Unterwerfung schon heute Morgen erzwungen.«

»Den Teufel haben sie das!« rief der über die Maßen überraschte Le Frank, sich vergessend.

»Sie haben ihr verboten,« nahm Mrs. Gallilee wieder das Wort, »in meinem Namen verboten, meiner Nichte noch weiter als Amme zu dienen. Sie haben ihr eröffnet, daß Miß Carmina mir zurückgegeben werden wird, sobald ihre Krankheit dies gestattet und mir ihre bedingungslose Unterwerfung schriftlich und von ihr unterfertigt übermittelt.«

Sie nahm das Blatt von dem Pult neben sich und las:

»Ich bitte Mrs. Gallilee für mein ungesetzliches, gewalthätiges Betragen um Verzeihung. Ich erkenne ihre Autorität als Vormünderin Miß Carmina Graywells an und unterwerfe mich derselben. Und ich werfe mich ganz auf ihre Gnade und Güte (deren ich gewiß nicht würdig bin) und bitte, daß sie mir den Schmerz der Trennung von Miß Carmina ersparen möge, unter allen und jeden Bedingungen, die sie belieben mag mir aufzuerlegen.«

»Nun was meinen Sie dazu?« war die Schlußfrage.

Einmal aufrichtig sprechend, ließ sich Mr. Le Frank zu einer überraschenden Antwort hinreißen.

»Geben Sie Ihrerseits nach,« sagte er. »Thun Sie, um was sie bittet. Und wenn Sie wieder wohl genug sind, bemühen Sie sich nach ihrer Wohnung, ohne dort jedoch irgend etwas zu berühren, was sie Ihnen an Speisen und Getränken vorsetzen möge.«

Mrs. Gallilee richtete sich starr auf. »Herr, wollen Sie mich beleidigen, indem Sie diese furchtbar ernste Sache zum Gegenstande eines gemeinen Scherzes machen?« fragte sie.

»Ich sprach niemals ernster, Madame.«

»Sie meinen —— Sie meinen im Ernst —— jenes Weib wäre im Stande, mich zu vergiften?«

»Sicherlich, das ist meine Ueberzeugung.«

Mrs. Gallilee sank in ihre Kissen zurück.

Mr. Le Frank machte nun seine Gründe geltend, die er nacheinander an den Fingern abzählte.

»Wer ist sie?« hub er seinen Vortrag an. »Sie ist eine Italienerin, ein Weib aus dem Volke. Die Menschen, unter denen sie geboren und ausgewachsen, besitzen bekanntlich keine zu hohe Achtung vor der Unantastbarkeit eines Menschenlebens. Was wissen wir von ihr? Sie hat den Priester, dem sie sich in der Beichte vertraut und dem ihr ganzes Wesen offen liegt, mit Befürchtungen der schrecklichsten Art erfüllt und an Ihnen hat sie sich mit solcher mörderischen Wuth vergriffen, daß es Wunder nimmt, wie Sie nur mit dem Leben davonkamen. Und wie sind Sie ihr hiernach begegnet? Sie haben die Tigerin davon überzeugt, daß Sie Macht haben, sie von ihrem Jungen zu trennen. Angesichts dieser einfachen Thatsachen ist der vernünftigste Schluß welcher? Zu glauben, sie habe sich unterworfen, nun Sie sie gestellt haben —— oder zu glauben, sie gewinne nur Zeit und sei fähig (wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sieht) Sie zu vergiften.«

»Was soll ich thun?«

Mit diesen Worten bewies Mrs Gallilee, daß sie sich Vernunftgründen nicht verschließe.

»Halten Sie ein wachsames Auge aus den Feind« entgegnete Mr. Le Frank. »Lassen Sie alle alle Bewegungen heimlich bewachen und durchsuchen Sie das Zimmer, in dem sie haust, wie ich gestern Abend Miß Carmina's Zimmer durchsucht habe.«

»Nun?« fragte Mrs. Gallilee.

»Nun?« wiederholte Mr. Le Frank.

Sie ließ ihrem Mißmuth freien Lauf.

»Sagen Sie doch gleich, daß Sie der Mann sind, um das für mich auszuführen,« rief sie. »Und dann sagen Sie —— wenn Sie das können —— wie es geschehen kann.«

Mr. Le Frank befleißigte sich einer zarten Galanterie, als er antwortete: »Bitte, fassen Sie sich. Ich freue mich, Ihnen zu Diensten sein zu können; und es ist so leicht auszuführen.«

»So leicht?«

»Ganz leicht, theure Lady. ist das Haus nicht ein Haus, in welchem Zimmer mit und ohne Pension an einzelne Personen miethsweise überlassen werden; und habe ich zu dieser Jahreszeit denn etwas zu thun?« Er stand auf und griff nach seinem Hut. »Sicher, erkennen Sie mich nun in meiner neuen Würde. Ein einzelner Herr sucht ein Zimmer zu miethen —— ruhige Lebensgewohnheiten —— vorzügliche Empfehlung. Man wende sich an Mrs. Gallilee —— Darf ich Sie um Ihre Adresse bitten?«


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