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Armadale



Neuntes Kapitel.

Allan war noch nicht zurückgekehrt, als Midwinter im Hause anlangte. Es hatte sich nichts ereignet, außer daß eine Entschuldigung aus dem Parkhäuschen gesandt worden war. »Major Milroy’s Empfehlung und er bedaure, daß Mrs. Milroy’s Krankheit ihn verhindere, Mr. Armadale bei sich zu sehen.« Es war klar, daß Mrs. Milroy’s gelegentlichen Krankheitsanfälle nicht blos vorübergehende Störungen in dem häuslichen Frieden bewirkten. Wenigstens hatte Midwinter nach dem, was er selbst vor etwa drei Stunden vor dem Parkhäuschen gehört hatte, diese Ueberzeugung gewonnen. Midwinter begab sich in das Bibliothekzimmer, um unter den Büchern die Rückkehr seines Freundes geduldig abzuwarten.

Es war nach sechs Uhr, als die wohlbekannte herzliche Stimme wieder im Hause gehört ward. Allan stürzte in einem Zustande unbezwinglicher Aufregung in das Bibliothekzimmer und stieß Midwinter, ehe dieser ein Wort sagen konnte, ohne alle Ceremonie wieder in den Sessel zurück, von dem er sich zu erheben im Begriff war.

»Hier ist ein Räthsel für Dich, alter Junge!« rief Allan. »Warum gleiche ich dem Aufseher des Augias-Stalles, ehe Hercules herbeigerufen wurde, um denselben auszufegen? Weil ich meine Stellung zu behaupten hatte, und eine arge Schweinerei daraus gemacht habe! Warum lachst Du nicht? Beim heiligen Georg, er sieht die Pointe nicht! Versuchen wir’s noch einmal. Warum gleiche ich dem ——«

»Um Himmelswillen, Allan, sei einen Augenblick ernsthaft!« unterbrach ihn Midwinter. »Du weißt nicht, wie sehr mir daran gelegen ist zu hören, ob Du die gute Meinung Deiner Nachbarn wiedergewonnen hast.«

»Das sollte das Räthsel Dir gerade erzählen.« erwiderte Allan. »Nun, im Ganzen geht meine Ansicht dahin, daß Du besser gethan haben würdest, wenn Du mich nicht unter jenem Baume im Park gestört hättest. Ich habe mir die Sache genau berechnet, und habe das Vergnügen, Dich zu unterrichten, daß ich, seit ich Dich sah, in der Meinung der ansässigen Gutsherrschaften genau um drei Stufen tiefer gesunken bin.«

»Natürlich mußt Du Deinen Scherz durchsetzen«, sagte Midwinter bitter. »Nun, wenn ich nicht lachen kann, so kann ich doch warten.«

»Mein lieber Junge, ich scherze nicht; ich meine wirklich, was ich sage. Du sollst hören, was sich ereignet hat; Du sollst einen ausführlichen Bericht über meinen ersten Besuch haben. Derselbe wird eine Probe von allen übrigen sein. Zuerst laß Dir gesagt sein, daß ich in der besten Absicht von der Welt geirrt habe. Als ich aufbrach, um diese Besuche zu machen, war ich, wie ich offen gestehe, in Wuth über jenes alte Thier von Advokaten, und hatte allerdings ein Lüstchen, mich übermüthig zu benehmen. Aber dies Gefühl verlor sich unterwegs; und bei der ersten Familie, der ich meinen Besuch machte, trat ich, wie gesagt, mit den besten Absichten von der Welt ein. O, du lieber, lieber Himmel! In diesem Hause, wie in jedem andern, in das ich später kam, immer und immer wieder dasselbe funkelnagelneue Empfangszimmer, in dem ich warten mußte; dahinter dasselbe zierliche Gewächshaus; dieselben ausgewählten Bücher zu meiner Durchsicht —— ein religiöses Buch, ein Buch über den Herzog von Wellington, ein Buch über den Sport und ein Buch über nichts Besonderes, mit prachtvollen Illustrationen geziert. Herunter kam der Papa mit seinem hübschen weißen Haar und die Mama mit ihrer hübschen Spitzenhaube; herunter kam der junge Mister mit seinem rosigen Angesichte und seinem strohfarbenen Backenbarte, und die junge Miß mit ihren runden Wangen und umfangreichen Röcken. Denke nicht, daß ich im geringsten unfreundlich war; ich machte den Anfang stets in derselben Weise mit ihnen —— ich bestand darauf, allen die Hand zu geben. Dies machte sie gleich stutzig. Wenn ich dann zu dem zarten Punkte —— dem öffentlichen Empfange —— kam, so gebe ich Dir mein Ehrenwort darauf, daß ich mir die größte Mühe von der Welt gab, mich zu entschuldigen. Aber es hatte nicht die geringste Wirkung. Sie ließen meine Entschuldigungen zum einen Ohre hinein und zum andern wieder hinausgehen. Einige Leute würde dies entmuthigt haben; ich dagegen versuchte es auf andere Weise mit ihnen. Ich wandte mich zunächst zum Herrn des Hauses und stellte ihm die Sache ganz freundschaftlich vor. »Die Wahrheit zu gestehen«, sagte ich, »wünschte ich dem Redenhalten zu entgehen —— ich hätte mich da erheben müssen, wissen Sie, und Ihnen ins Gesicht sagen, daß Sie der beste aller Menschen sind, und daß ich um Erlaubniß bitte, auf Ihr Wohlsein trinken zu dürfen; worauf dann Sie sich erheben und mir das Gleiche ins Gesicht sagen, und so weiter, Mann für Mann, indem wir rund um die Tafel herum einander loben und langweilen.« In dieser leichten, unbefangenen, überzeugenden Art und Weise stellte ich ihm die Sache vor. Meinst Du, daß ein Einziger von ihnen es in demselben freundschaftlichen Geiste aufnahm? Nicht Einer! Ich bin der festen Ueberzeugung daß sie ihre Reden für den Empfang mit den Fahnen und Blumen in Bereitschaft hatten und daß sie heimlich ärgerlich über mich sind, weil ich ihnen den Mund stopfte, als sie gerade anzufangen im Begriff waren. Wie dem immer sei, sowie wir zu dem Gegenstande der Reden kamen —— ob sie denselben zuerst berührten oder ich —— augenblicklich sank ich die erste jener drei Stufen in ihrer Achtung. Glaube nicht, daß ich mir keine Mühe gab, mich wieder zu erheben! Ich machte verzweifelte Anstrengungen. Da ich die Entdeckung machte, daß sie sich alle zu wissen sehnten, welch eine Art von Leben ich geführt, bis ich das Besitzthum Thorpe-Ambrose erbte, so that ich mein Möglichstes, um sie zufrieden zu stellen. Und was bewirkte dies wohl? Ich will gehangen sein, wenn ich ihnen nicht eine zweite Täuschung bereitete! Wenn sie entdeckten, daß ich niemals in Eton oder Harrow, Cambridge oder Oxford gewesen sei, waren sie förmlich stumm vor Erstaunen. Ich denke mir, sie hielten mich für eine Art Vagabund; kurz ich sank die zweite Stufe in ihrer Achtung Macht nichts! Ich ließ mich nicht aus dem Felde schlagen, denn ich hatte Dir versprochen, mein Möglichstes zu thun, und ich that es. Ich versuchte zunächst ein heiteres Geplauder über die Umgegend. Die Frauen sagten nichts Besonderes; die Männer fingen, zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, alle an zu condoliren. Sie sagten, ich werde innerhalb zwanzig Meilen vom Hause kein Koppel Hunde zu finden im Stande sein, und sie hielten es für nicht mehr als recht, mich davon zu unterrichten, in welcher schmachvollen Weise man zu Thorpe-Ambrose die Wildlager vernachlässigt habe. Ich ließ sie zu Ende condoliren, und was glaubst Du, that ich dann? Ich brachte mich abermals in die Patsche »O, lassen Sie sich das nicht kümmern«, sagte ich; »es liegt mir durchaus gar nichts an irgend einer Art von Jagd. Wenn ich auf meinem Spaziergange einem Vogel begegne, ist es mir unmöglich, eine Begierde zu fühlen, ihn zu tödten; es macht mir im Gegentheil Vergnügen, den Vogel umherfliegen und sich seines Daseins freuen zu sehen.« Da hättest Du ihre Gesichter sehen sollen! Hatten sie mich vorher für eine Art Vagabond gehalten, so hielten sie mich jetzt offenbar für toll. Es herrschte eine Todtenstille, und ich sank die dritte Stufe in der allgemeinen Achtung. Im nächsten Hause, und im nächsten, und wieder im nächsten ging es ebenso. Ich glaube, wir waren alle vom Teufel besessen. Es kam stets auf eine oder die andre Weise zum Vorschein, daß ich keine Reden halten könne, daß ich ohne Universitätsbildung ausgewachsen sei, und daß ich Vergnügen an einem Spazierritt finden könne, ohne einem unglückseligen, übelriechenden Fuchse oder einem armen wahnsinnigen, kleinen Hasen nachzugaloppieren. Diese drei unglücklichen Fehler in mir sind, wie es scheint, bei einem Gutsbesitzer unverzeihlich, namentlich wenn er den Anfang damit gemacht hat, daß er einem öffentlichen Empfange aus dem Wege gegangen ist. Ich denke, am besten kam ich noch mit den Gemahlinnen und Töchtern fort. Die Frauen und ich verfielen überall früher oder später auf Mrs. Blanchard und ihre Nichte. Wir wurden stets darüber einig, daß sie sehr weise gehandelt haben. indem sie nach Florenz gezogen seien; und der einzige Grund, den wir für diese Ansicht anzugeben hatten, war der, daß die Betrachtung der Meisterstücke italienischer Kunst nach dem traurigen Verluste, den die beiden Damen erlitten, einen wohlthätigen Einfluß auf ihr Gemüth haben werde. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf, daß jede einzelne der Damen in jedem Hause, das ich besuchte, früher oder später auf Mrs. und Miß Blanchards Verlust und zu den Meisterstücken italienischer Kunst zu reden kam. Was wir ohne die Hilfe dieses glänzenden Gedankens hätten anfangen sollen, weiß ich wirklich nicht. Der einzige angenehme Augenblick bei all diesen Besuchen war der, wo wir alle zusammen die Köpfe schüttelten und erklärten, daß die Meisterwerke sie trösten würden. Was den Rest betrifft, so habe ich nur noch eins zu sagen: Was ich an einem andern Orte sein könnte, weiß ich nicht; hier aber bin ich der unrechte Mann am unrechten Orte. Laß mich in Zukunft mit meinen eignen wenigen Freunden auf meine eigne Weise fertig werden; verlange Alles in der Welt von mir, nur verlange nicht, daß ich noch fernere Besuche bei meinen Nachbarn machen soll.«

Mit dieser charakteristischen Bitte schloß Allan seinen Bericht über seine Entdeckungsreise unter den ansässigen Gutsherrschaften. Midwinter schwieg einen Augenblick. Er hatte Allan bis zu Ende plaudern lassen, ohne seinerseits ein Wort zu sagen. Der unglückliche Erfolg der Besuche —— ein Erfolg, der in Verbindung mit allen übrigen, seit gestern gemachten, Erfahrungen Allan gleich beim Beginn seines Aufenthalts in der Gegend mit Ausschließung von allem gesellschaftlichen Verkehre bedrohte —— hatte Midwinter’s Kraft so vollständig gebrochen, daß er unfähig war, dem ihn allmählig beschleichenden drückenden Einflusse seines Aberglaubens noch ferneren Widerstand zu leisten. Es kostete ihn schon einige Anstrengung, jetzt zu Allan aufzublicken; noch mehr kostete es ihn Anstrengung, sich zu einer Erwiderung zu ermannen.

»Es soll geschehen, wie Du wünschest«, sagte er ruhig. »Ich bedaure das, was sich zugetragen hat, aber ich bin Dir nichtsdestoweniger dankbar dafür, Allan, daß Du gethan, was ich Dich zu thun bat.«

Sein Haupt sank auf seine Brust, und die fatalistische Resignation, die ihn schon auf dem Wrack beruhigt, beruhigte ihn auch jetzt wieder. »Was sein muß, wird sein!« dachte er abermals. »Was habe ich und was hat er mit der Zukunft zu schaffen?«

»Guten Muth!« rief Allan. »Was Deine Angelegenheiten betrifft, so befinden sich dieselben jedenfalls auf gedeihlichen: Wege. Ich machte einen angenehmen Besuch in der Stadt, von dem ich Dir noch nicht erzählt habe. Ich habe Pedgift gesehen und Pedgift’s Sohn, der ihm in der Expedition behilflich ist. Sie sind die beiden herrlichsten Advocaten, die mir je im Leben vorgekommen sind, und was noch mehr ist, sie können uns den Mann verschaffen, dessen Du bedarfst, um Dich über die Verwalterpflichten zu unterrichten.«

Midwinter sah schnell auf. Es stand bereits deutliches Mißtrauen gegen Allan’s Entdeckung in seinem Gesichte geschrieben, doch sagte er nichts.

»Ich dachte an Dich«, fuhr Allan fort, »sowie die beiden Pedgifts und ich ein Glas auf unsere freundschaftliche Verbindung getrunken hatten, den vortrefflichsten Sherry, den ich in meinem ganzen Leben gekostet habe; ich habe mir eine Quantität von derselben Sorte bestellt, doch darum handelt es sich jetzt nicht. In zwei Worten erzählte ich diesen beiden würdigen Burschen Deine Schwierigkeit, und in zwei Secunden hatte der alte Pedgift die ganze Geschichte begriffen. »Ich habe den Mann in meiner Expedition«, sagte er, »und will ihn, ehe der Zahltag herankommt, mit Vergnügen zu Ihrer Verfügung stellen.«

Bei dieser letzten Ankündigung gab Midwinter seinem Mißtrauen in Worten Ausdruck. Er fragte Allan schonungslos aus. Der Name des Mannes war, wie sich ergab, Bashwoot Er war einige Zeit —— Allan erinnerte sich nicht, wie lange in Mr. Pedgift’s Diensten gewesen. Vorher hatte er bei einem Herrn in Norfolk, dessen Namen Allan vergessen, im westlichen Districte der Grafschaft, eine Verwalterstelle innegehabt, die er aber in Folge gewisser Familienverhältnisse wieder verloren hatte. Pedgift verbürgte sich für ihn und wollte ihn zwei oder drei Tage vor dem Zahltagsdiner nach Thorpe-Ambrose senden. Früher könne er in der Expedition nicht gut entbehrt werden. Es sei unnöthig, sich ferner wegen dieses Gegenstands zu beunruhigen; Pedgift lache über die Idee, daß es irgendwelche Schwierigkeit mit den Pächtern geben könne. Zwei oder drei Tage des Studirens der Verwalterbücher würden Midwinter unter der Leitung eines Manns, der ein praktisches Verständniß der Schae besitze, vollkommen für den Zahltag vorbereiten, und die übrigen Geschäfte könnten bis später warten.

»Hast Du diesen Mr. Bashwood selbst gesehen Allan?« fragte Midwinter, noch immer auf seiner Hut.

»Nein«, erwiderte Allan, »er war auswärts mit dem Actenbeutel, wie der junge Pedgift sich ausdrückte. Sie sagten mir, er sei ein anständiger, ältlicher Mann, zwar ein wenig zerschlagen durch seine Leiden und ein wenig nervös und verwirrt im Wesen, wenn er mit Fremden zu thun hat, aber vollkommen tüchtig und vollkommen zuverlässig —— dies sind Pedgift’s eigne Worte.«

Midwinter schwieg und überlegte ein wenig, da er ein neues Interesse an dem Gegenstande fand. Der fremde Mann, den er soeben hatte beschreiben hören, und der fremde Mann, den er an der Stelle, wo die drei Wege zusammenliefen, getroffen, hatten eine seltsame Aehnlichkeit mit einander. War dies etwa ein abermaliges Glied in der immer länger werdenden Kette von Ereignissen? Midwinter war entschlossen nur um so mehr behutsam zu sein, als ihn der Zweifel, daß dies der Fall sein könne, beschlich.

»Willst Du mir erlauben, wenn Mr. Bashwood kommt, ihn zu sehen und zu sprechen, ehe irgendetwas bestimmt wird?« fragte er.

»Das versteht sich!« erwiderte Allan. Er schwieg und sah auf seine Uhr. »Und ich will Dir sagen, was ich inzwischen für Dich thun will, alter Junge«, fügte er hinzu, »ich will Dich dem hübschesten Mädchen in ganz Norfolk vorstellen! ist noch grade Zeit, vor Tische nach dem Parkhäuschen zu laufen. Komm mit und laß Dich Miß Milroy vorstellen.«

»Das wird für heute nicht möglich sein«, entgegnete Midwinter und richtete ihm dann die Entschuldigung aus, die am Nachmittage vom Major eingetroffen war. Allan war erstaunt und fühlte sich enttäuscht, doch war er nicht von seinem Entschlusse abzubringen, sich bei den Bewohnern des Parkhäuschens in Gunst zu setzen. Nachdem er ein wenig nachgesonnen, fiel ihm ein Mittel ein, von den gegenwärtigen ungünstigen Verhältnissen guten Gebrauch zu machen. »Ich will eine schickliche Besorgniß für Mrs. Milroy’s Genesung an den Tag legen«, sagte er ernst, »morgen früh werde ich ihr mit meiner besten Empfehlung einen Korb mit Erdbeeren senden.«

Der Tag ging zu Ende, ohne daß noch etwas Bemerkenswerthes vorfiel.

Das einzige bemerkenswerthe Ereigniß des folgenden Tags war eine abermalige Offenbarung von Mrs. Milroy’s krankhafter, böser Laune. Eine halbe Stunde später. nachdem Allan? Korb mit Erdbeeren im Parkhäuschen abgegeben worden, ward ihm derselbe mit einer kurzen und bissigen Bestellung, die von der Krankenwärterin der Mrs. Milroy in kurzer und bissiger Manier ausgerichtet wurde, unangerührt wieder zurückgebracht. »Mrs. Milroy’s Empfehlung und sie lasse sich bedanken. Erdbeeren bekämen ihr nie.« Falls diese merkwürdig gereizte Anerkennung einer Höflichkeit Allan hatte ärgern sollen, so erreichte dieselbe durchaus nicht ihren Zweck. Anstatt sich durch die Mutter beleidigt zu fühlen, drückte er seine Theilnahme für die Tochter aus. »Das arme kleine Wesen«, war alles, was er sagte, dachte aber dabei: »Sie muß mit einer solchen Mutter ein hartes Leben führen!«

Später am Tage machte er selbst einen Besuch im Häuschen, doch konnte er Miß Milroy nicht sehn. Sie war oben beschäftigt Der Major empfing seinen Besuch in seiner Arbeitsschürze, weit tiefer in seine wunderbare Uhr versunken und allen äußern Eindrücken weit unzugänglicher, als Allan ihn bei der ersten Zusammenkunft gefunden hatte. Sein Benehmen war ebenso herzlich wie zuvor, doch war kein Wort weiter über seine Gemahlin aus ihm herauszubringen, als daß, wie er sich ausdrückte, Mrs. Milroy’s Befinden sich seit gestern nicht gebessert habe.

Die beiden nächsten Tage vergingen ruhig und ohne alle Ereignisse Allan beharrte dabei, seine Nachfragen im Parkhäuschen fortzusetzen, doch alles, was er von der Tochter des Majors sah, beschränkte sich darauf, daß sie für einen einzigen kurzen Augenblick am Fenster der oberen Etage sichtbar ward. Man hörte nichts weiter von Mr. Pedgift, und Mr. Bashwood’s Ankunft verzögerte sich noch. Midwinter weigerte sich, irgendetwas in der Sache zu unternehmen, bis hinlängliche Zeit verstrichen sei, daß er eine Antwort auf den Brief haben konnte, den er am Abend seiner Ankunft in Thorpe-Ambrose an Mr. Brock geschrieben. Er war ungewöhnlich still und schweigsam, und brachte den größern Theil der Zeit in der Bibliothek unter den Büchern zu. Die Zeit verging langsam. Die ansässigen Gutsherrschaften erwiderten Allan’s Besuche, indem sie aufs förmlichste ihre Karten abgaben. Darauf kam Niemand mehr dem Hause nahe. Das Wetter war einen Tag so schön wie den andern. Allan wurde ein wenig unruhig und unzufrieden. Er fing an, Mrs. Milroy’s Krankheit übel zu nehmen und mit Bedauern an seine verlassene Jacht zu denken.

Der nächste Tag, der zwanzigste des Monats, brachte einiges Neue aus der Außenwelt. Mr. Pedgift ließ sagen, daß sein Schreiber Mr. Bashwood, sich am folgenden Tage in Thorpe-Ambrose einstellen werde, und Midwinter erhielt eine Antwort auf seinen Brief an Mr. Brock.

Der Brief war vom achtzehnten datiert, und der Inhalt desselben heiterte nicht nur Allan, sondern auch Midwinter auf. Mr. Brock kündigte ihnen an, daß er an dem Tage, an dem er schreibe, nach London zu reisen im Begriff sei, wohin er im Interesse eines kranken Anverwandten beschieden worden, dessen Curator er war. Nachdem er diese Geschäfte abgethan, habe er gute Hoffnung, irgendeinen seiner Freunde unter der Geistlichkeit in London bereit zu finden, sein Amt für ihn zu verrichten, und in diesem Falle hoffe er, innerhalb einer Woche oder schon früher von London nach Thorpe-Ambrose reisen zu können. Unter diesen Umständen wolle er den größern Theil der von Midwinter beregten Gegenstände aufsparen, bis sie einander sahen. Da jedoch in Bezug auf die Verwalterstelle in Thorpe-Ambrose die Zeit von Wichtigkeit sein dürfe, wolle er hiermit sogleich sagen, daß er keinen Grund sehe, weshalb Midwinter nicht versuchen sollte, sich mit den Verwalterpflichten vertraut zu machen, und warum es ihm nicht gelingen sollte, seinem Freunde in dieser Stellung unschätzbare Dienste zu leisten.

Während Midwinter zu Hause blieb, um den ermuthigenden Brief des Pfarrers immer und immer wieder mit einer Aufmerksamkeit durchzulesen, als sei ihm daran gelegen, jedes Wort desselben auswendig zu lernen, ging Allan etwas früher als gewöhnlich aus, um seine tägliche Nachfrage im Häuschen zu machen, oder, mit andern Worten, um einen vierten Versuch zu machen, seine Bekanntschaft mit Miß Milroy fortzusetzen. Der Tag hatte in ermuthigender Weise begonnen und schien bestimmt, auch in dieser Weise fortzufahren. Als Allan um die Ecke des zweiten Gebüsches bog und in das kleine Gehege eintrat, in dem er Miß Milroy zum ersten Male begegnet war, fand er dort Miß Milroy vor, welche langsam auf dem Rasenplatze auf und ab ging, dem Anscheine nach Jemanden erwartend.

Sie erschrak ein wenig, als sie Allan erblickte, kam ihm jedoch ohne Zögern entgegen. Sie erschien einigermaßen verändert, aber nicht zu ihrem Vortheil. Ihre rosige Farbe hatte durch die Einsperrung im Hause gelitten, und ein markierter Ausdruck der Verlegenheit umwölkte ihr hübsches Gesicht.

»Ich weiß kaum, wie, ich es bekennen soll, Mr. Armadale«, sagte sie hastig, ehe Allan noch ein Wort herauszubringen im Stande war, »aber ich kam allerdings heute Morgen in der Hoffnung hierher, Sie zu treffen. Ich bin sehr bekümmert gewesen; ich habe nur soeben erst, und zwar durch Zufall, etwas von der Art und Weise erfahren, in der die Mama das Geschenk von Obst aufgenommen hat, das Sie ihr zu senden die Güte hatten. Wollen Sie versuchen, sie zu entschuldigen? Sie ist seit Jahren außerordentlich leidend gewesen und kennt sich nicht immer. Nachdem Sie so sehr freundlich gegen mich und den Papa gewesen, konnte ich wirklich nicht umhin, dem Hause zu entschlüpfen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken. Bitte, vergeben und vergessen Sie, Mr. Armadale, ich bitte Sie!« Ihre Stimme bebte bei diesen letzten Worten, und in ihrem Eifer, seine Verzeihung für ihre Mutter zu erlangen, legte sie ihre Hand auf seinen Arm.

Allan war selbst ein wenig verlegen. Ihr Ernst überraschte ihn, und ihre sichtliche Ueberzeugung, daß er sich beleidigt gefühlt, verursachte ihm aufrichtiges Bedauern. Da er nicht wußte, was er thun solle, folgte er seinem Instincte und nahm ihre Hand.

»Meine liebe Miß Milroy, wenn Sie noch ein Wort darüber sagen, werden Sie mich betrüben«, erwiderte er, indem er in der Verwirrung des Augenblicks unbewußt ihre Hand immer fester und fester in der seinigen drückte. »Ich fühlte mich keinen Augenblick im mindesten beleidigt; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich es auf Mrs. Milroy’s Krankheit schob. Beleidigt!« rief Allan, mit Energie zu seiner alten Manier zurückkehrend. »Ich ließe mir gern tagtäglich meinen Obstkorb zurücksenden, wenn ich nur die Gewißheit hätte, daß dies Sie stets am nächsten Morgen ins Gehege hinaus bringen würde.«

Ein Theil der entflohenen Farbe kehrte wieder in Miß Milroy’s Wangen zurück. »O Mr. Armadale, Ihre Güte ist in der That unbegrenzt«, sagte sie; »Sie können sich keine Vorstellung machen, wie sehr Sie mir das Herz erleichtert haben!« Sie schwieg, ihre frohe Stimmung hatte sich mit einer Schnelligkeit wiedergefunden, als wäre sie ein Kind, und ihre angeborene Heiterkeit funkelte wieder in ihren Augen, wie sie schüchtern lächelnd zu Allan’s Gesicht aufschaute. »Sind Sie nicht der Ansicht«, fragte sie sittsam, »daß es fast Zeit ist, meine Hand loszulassen?«

Ihre Blicke begegneten sich. Allan folgte zum zweiten Male seinem Instincte Anstatt ihre Hand loszulassen, erhob er dieselbe zu seinen Lippen und küßte sie. In einem Augenblicke blühte wieder die ganze entschwundene Rosenfarbe in Miß Milroy’s Gesicht. Sie entriß Allan ihre Hand, wie wenn er sie verbrannt hätte.

»Ich bin überzeugt, daß das unrecht ist, Mr. Armadale«, sagte sie, und wandte schnell den Kopf ab, denn sie lächelte wider Willen.

»Ich beabsichtigte, mich dadurch dafür zu entschuldigen, daß ich Ihre Hand zu lange festgehalten«, stammelte Allan. »Eine Entschuldigung kann doch nicht unrecht sein, wie?«

Es gibt Gelegenheiten, obwohl nicht viele, wo der weibliche Geist genau die Macht der reinen Vernunft zu schätzen im Stande ist. Die gegenwärtige Gelegenheit war eine solche. Es war Miß Milroy eine abstracte Proposition vorgelegt worden, und sie war überzeugt. Wenn es als eine Entschuldigung habe gelten sollen, so sei dies etwas andres, gab sie zu. »Ich hoffe nur«, sagte die kleine Kokette, ihn schlau anblickend, »daß Sie mich nicht hintergehen. Nicht, daß dies jetzt viel zu bedeuten hätte«, fügte sie mit einem ernsten Kopfschütteln hinzu; »haben wir wirklich etwas Unpassendes gethan, Mr. Armadale, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach keine fernere Gelegenheit haben, dasselbe zu wiederholen.«

»Sie gehen doch nicht fort?« rief Allan in großer Bestürzung.

»Schlimmer als das, Mr. Armadale, meine neue Gouvernante kommt.«

»Kommt?« wiederholte Allan »Kommt bereits?«

»Es ist so gut wie gewiß. Wir erhielten heute Morgen die Antworten auf unsere Annonce. Der Papa und ich öffneten dieselben und lasen sie zusammen, und wir wählten beide denselben Brief unter allen übrigen heraus. Ich wählte denselben, weil er so hübsch geschrieben war, und der Papa wählte ihn, weil die Forderungen so mäßig waren. Er wird den Brief heute an die Großmama in London senden, und falls sie auf Erkundigung Alles befriedigend findet, soll die Gouvernante genommen werden. Sie können sich nicht denken, wie ängstlich mir bereits zu Muthe ist, eine fremde Gouvernante ist eine so schreckliche Aussicht. Aber es ist nicht ganz so schlimm wie eine Pension, und ich setze große Hoffnung in diese neue Dame, da sie einen so hübschen Brief schreibt. Derselbe söhnt mich fast, wie ich schon zum Papa sagte, mit ihrem abscheulichen unromantischen Namen aus.«

»Was ist ihr Name?« fragte Allan »Brown? Grubb? Scraggt? Irgendetwas der Art?«

»O still, still! Nicht ganz so entsetzlich Ihr Name ist Gwilt. Fürchterlich unpoetisch, nicht wahr? Die Dame, die sie empfiehlt, muß indessen eine achtbare Person sein, denn sie wohnt in demselben Theile von London, in dem die Großmama wohnt. Halt, Mr. Armadale, wir gehen den verkehrten Weg. Nein, ich kann heute Morgen nicht bleiben, um Ihre reizenden Blumen anzuschauen —— und —— danke sehr —— ich kann Ihren Arm nicht annehmen. Ich habe mich hier bereits zu lange aufgehalten. Der Papa wartet auf sein Frühstück, und ich muß den ganzen Weg zurück laufen. Ich danke Ihnen, daß Sie die Mama so gütig entschuldigt haben, danke, noch einmal und noch einmal, und jetzt adieu!«

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte Allan.

Sie reichte ihm die Hand. »Keine Entschuldigungen mehr, wenn ich bitten darf, Mr. Armadale«, sagte sie schelmisch Ihre Blicke begegneten sich abermals, und die kleine weiche Hand fand abermals den Weg zu Allan’s Lippen. »Es ist diesmal keine Entschuldigung!« rief Allan, sich eiligst vertheidigend. »Es —— es ist ein Zeichen meiner Hochachtung.«

Sie trat ein paar Schritte zurück und brach in ein helles Lachen aus. »Sie werden mich nicht wieder in Ihren Anlagen sehen, Mr. Armadale«, sagte sie fröhlich, »bis ich mich unter Miß Gwilt’s Schutze befinde!« Mit diesem Lebewohl lief sie, so schnell sie konnte, durch das Gehege zurück.

Allan stand still und beobachtete sie mit stummer Bewunderung, bis sie nicht mehr zu sehen war. Seine zweite Zusammenkunft mit Miß Milroy hatte einen erstaunlichen Eindruck auf ihn gemacht. Zum ersten Male, seit er Besitzer von Thorpe-Ambrose geworden, war er in ernstliche Betrachtungen über das, was er seiner neuen Stellung schuldig war, versunken. »Es fragt sich«, dachte Allan, »ob ich nicht am besten mit meinen Nachbarn Friede machen werde, indem ich mich verheirathe. Ich will mir diesen ganzen Tag zum Ueberlegen nehmen, und falls ich desselben Sinnes bleibe, will ich morgen früh Midwinter darüber zu Rathe ziehen.«

Als der Morgen kam und Allan ins Frühstückszimmer hinunterging, entschlossen, seinen Freund über die Verpflichtungen zu Rathe zu ziehen, die er gegen seine Nachbarn im Allgemeinen und gegen Miß Milroy im Besonderen habe, war kein Midwinter zu sehen. Als er sich nach ihm erkundigte, hieß es, daß man ihn in der Hausflur gesehen und daß er einen Brief vom Tische genommen habe, den die Morgenpost für ihn gebracht und mit welchem er augenblicklich nach seinem Zimmer zurückgekehrt sei. Allan ging sofort wieder die Treppe hinauf und klopfte an die Thür seines Freundes.

»Darf ich eintreten?« fragte er.

»Nicht eben jetzt«, war die Antwort.

»Du hast einen Brief erhalten, nicht wahr?« fuhr Allan fort. »Doch keine schlimmen Nachrichten? Es ist doch nichts passiert?«

»Nichts. Ich bin heute Morgen nicht ganz wohl. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich; ich will herunterkommen, sobald es mir möglich ist.«

Es ward von beiden Seiten nichts weiter gesprochen. Allan kehrte ein wenig enttäuscht nach dem Frühstückszimmer zurück. Er hatte sich darauf gefreut, sich über Hals und Kopf in eine Berathschlagung mit Midwinter zu stürzen, und jetzt war diese Berathschlagung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. »Welch ein seltsamer Bursch er ist!« dachte Allan. »Was in aller Welt kann er dort, allein in seinem Zimmer eingeschlossen, Vorhaben?«

Er hatte nichts vor, sondern saß am Fenster und hielt den Brief, den er am Morgen erhalten, offen in der Hand. Derselbe war von Mr. Brocks Hand und lautete wie folgt:

»Mein lieber Midwinter!

Ich habe wörtlich nur zwei Minuten Zeit, um Ihnen vor Abgang der Post mitzutheilen, daß ich soeben in den Kensington —— Gärten der Frau begegnet bin, die uns bis jetzt nur als die Frau im rothen, gewirkten Shawl bekannt ist. Ich bin ihr und ihrer Gefährtin —— einer respektablen ältlichen Dame —— bis nach ihrer Wohnung gefolgt, nachdem ich sie zweimal deutlich Allan’s Namen hatte aussprechen hören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich die Frau nicht aus den Augen verlieren werde, bis ich mich überzeugt habe, daß sie kein Unheil in Thorpe-Ambrose anzustiften im Sinne hat, und erwarten Sie, wieder von mir zu hören, sobald ich weiß, wie diese seltsame Entdeckung enden soll.

Aufrichtig der Ihre

Decimuis Brock.«

Nachdem Midwinter den Brief zum zweiten Male durchgelesen, faltete er denselben nachdenklich zusammen und legte ihn zu dem Berichte von Allan’s Traume in sein Taschenbuch.

»Ihre Entdeckung wird nicht dort bei Ihnen enden, Mr. Brock«, sagte er. »Sie mögen mit der Frau thun, was Sie wollen; wenn der Augenblick kommt, wird die Frau hier sein.«

Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, daß er sich hinlänglich wieder gefaßt habe, um Allan’s Blicken zu begegnen, und so ging er hinunter, um seinen Platz am Frühstückstische einzunehmen.


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