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Die Blinde



Zweites Kapitel - Madame Pratolungo kehrt nach Dimchurch zurück.

Ich kam in der letzten Woche vor Lucilla’s Abreise in London an und blieb dort ruhig, bis es Zeit war, sie wieder nach Dimchurch zurück zu geleiten.

Je mehr Lucilla’s Aufenthalt in London sich seinem Ende näherte und je weniger sie daher auf ein Hinkommen Oscar’s drang, desto heiterer wurden Oscar’s Briefe, der nun nicht mehr ein Zusammensein mit Lucilla vor Fremden zu befürchten brauchte und auch Lucilla war in der besten Stimmung und entzückt, mich wieder bei sich zu haben. Wir amüsirten uns während der wenigen Tage in London nach Kräften und genossen Musik in Opern und Concerten in Fülle. Ich kam mit Lucilla‘s Tante vortrefflich aus, bis ich am letzten Tage durch etwas zu einem Bekenntniß meiner politischen Ueberzeugung veranlaßt wurde. Der Schreck, der die alte Dame befiel, als sie dahinter kam, daß ich eine Ausrottung der Könige und Priester und eine allgemeine Wiedervertheilung des Eigenthums in der ganzen civilisirten Welt herbeisehne, läßt sich gar nicht in Worte fassen. Da hatte ich einmal wieder einer elenden Aristokratin Furcht und Zittern eingeflößt. Natürlich war von nun an für mich Fräulein Batchford’s Haus für alle Zukunft verschlossen. Aber Tag wird kommen, wo die Batchford’s der Menschheit keine Thür mehr zu verschließen haben; ganz Europa treibt der Erfüllung des Pratolungo’schen Programms immer näher. Seid guten Muth’s, Ihr, meine Brüder ohne Landbesitz und Ihr, meine Schwestern ohne Geld! Wir werden den Streit noch mit den infamen Reichen auskämpfen! Hoch lebe die Republik!

Anfang April verließen Lucilla und ich die Hauptstadt und kehrten nach Dimchurch zurück.

Je näher wir dem Pfarrhause kamen, je aufgeregter und unruhiger Lucilla in der ungeduldigen Erwartung ihrer Wiedervereinigung mit Oscar wurde, desto mehr bemächtigten sich meines Gemüthes die Besorgnisse, deren ich mich in Italien so leicht entschlagen hatte. Jetzt war meine Einbildungskraft unablässig thätig, sich Bilder auszumalen, entsetzliche Bilder von Oscar als einem veränderten Wesen, als einem Medusenhaupt, das zu furchtbar wäre, als daß menschliche Augen es ertragen konnten. Wo kam er uns entgegen? Am Eingang des Dorfes? Nein. An der Pforte des Pfarrhauses? Nein. In dem stilleren Theil des Gartens, welcher hinter dem Hause lag, stand er allein, unserer wartend.

Lucilla flog mit einem Aufschrei des Entzückens in seine Arme. Ich stand hinter ihnen und sah sie an. O, wie lebhaft erinnere ich mich meines Eindrucks, als ich zuerst die beiden Gesichter neben einander sah! Die Arznei hatte ihre Wirkung gethan Ich sah, wie sie ahnungslos ihre schöne Wange an seine fahle blauschwarze Wange lehnte. Himmel, wie schrecklich drängte sich mir bei dieser ersten Umarmung der Contrast seiner äußeren Erscheinung, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, mit seinem jetzigen Aussehen auf. Seine Augen wandten sich mit einem bittenden Ausdruck von ihr zu mir, während er sie in den Armen hielt; sein Blick sagte mir so beredt, was in ihm vorging, als wenn er laut gesagt hätte: »Sie lieben sie ja auch! Ich frage Sieg wäre es nicht grausam, ihr die Wahrheit zu sagen?«

Ich ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. In demselben Augenblick trat Lucilla plötzlich einige Schritte zurück, legte ihre linke Hand auf seine Schulter und fuhr ihm mit der rechten Hand über’s Gesicht. Mir war, als hörte mein Herz auf zu klopfen. Mit ihrem wunderbar feinen Tastsinn hatte sie am Tage meiner Ankunft die dunkle Farbe meines Kleides herausgefunden, sollte ihr dieser feine Tastsinn jetzt ebenso sicher wie damals dazu verhelfen, die Wahrheit an’s Licht zu bringen?

Nachdem sie einmal ihre Finger über sein Gesicht hatte gleiten lassen, hielt sie in einer athemlosen Spannung, deren ich mich von damals her noch so gut erinnerte, einen Augenblick inne; dann fuhr sie ihm ein zweites Mal mit der Hand über das Gesicht, dachte Wieder einen Augenblick nach und wandte sich dann zu mir.

»Was lesen Sie in diesem Gesicht?« fragte sie.

»Ich lese darin, daß ihn etwas druckt. Was ist es?«

Für dieses Mal waren wir gerettet. Die abscheuliche Medizin hatte die Farbe seiner Haut verändert, die Textur derselben aber völlig unberührt gelassen. Ihren Fingerspitzen erschien Oscar’s Gesicht ganz ebenso, wie vor ihrer Abreise. Noch ehe ich Lucilla antworten konnte, sagte Oscar selbst: »Mir ist nichts Schlimmes widerfahren, lieber Engel, meine Nerven sind heute ein wenig aufgeregt und die Freude, Dich wiederzusehen, hat mich einen Augenblick überwältigt, das ist Alles.«

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie, »das ist nicht Alles.« Sie legte ihm die Hand aufs Herz. »Warum schlägt es so heftig?« Sie nahm seine Hand in die ihrige: »Warum ist sie so kalt? Ich muß es wissen, komm hinein!«

In diesem fatalen Augenblick erwies sich der sonst lästigste aller Menschen plötzlich als der willkommenste; der Pfarrer erschien im Garten, um feine von der Reise zurückgekehrte Tochter zu begrüßen und brachte Lucilla durch seine väterlichen Umarmungen und seine mit gewaltiger Stimme hervorgebrachte Anrede auf das Wirksamste zum Schweigen. Natürlich wandte sich die Unterhaltung einem anderen Gegenstande zu. Oscar zog mich bei Seite, so daß man uns nicht hören konnte, während Lucilla’s Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen war.

»Ich habe es wohl gesehen«, sagte er, »wir sehr Sie mein Anblick einsetzte. Sie fühlten sich erleichtert, als Sie fanden, daß Lucilla mit ihrem Tastsinn nichts entdecken könne. Helfen Sie mir die Sache noch zwei Monate lang vor ihr geheim halten und ich will Sie für die beste Freundin erklären, die je ein Mann gehabt hat.«

»Zwei Monate?« wiederholte ich.

»Ja. Wenn sich die Zufälle in zwei Monaten nicht wieder eingestellt haben, so darf ich mich nach der Versicherung des Arztes für völlig geheilt halten und dann können Lucilla und ich uns heirathen.«

»Lieber Freund, wollen Sie Lucilla betrügen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Kommen Sie, Sie wissen recht gut, was ich meine. Ist es ehrenhaft, sie erst zur Heirath mit Ihnen zu verlocken und ihr erst nachher etwas von Ihrer Hautfarbe zu sagen?«

Er seufzte tief.

»Ich würde sie mit Abscheu gegen mich erfüllen, wenn ich ihr die Sache gestände. Sehen Sie mich nur an«, rief er aus, indem er seine gespensterhaft blauen Hände verzweiflungsvoll vor sein blaues Gesicht hielt.

Ich war entschlossen, mich auch dadurch nicht bewegen zu lassen.

»Seien Sie ein Mann«, sagte ich, »und bekennen Sie die Sache offen. Heirathen sie Sie denn nur Ihres Gesichtes willen, das sie nie wird sehen können? Nein, um Ihres Herzens willen, das eins mit dem ihrigen ist. Vertrauen Sie ihrem natürlichen gesunden Menschenverstand und noch mehr der treuen Liebe, die sie zu Ihnen hegt; sie wird ihr albernes Vorurtheil als solches erkennen, sobald sie inne wird, daß Sie Gefahr läuft, Sie durch dasselbe zu verlieren.«

»Nein, nein, nein! Denken Sie an den Brief an ihren Vater. Ich würde sie für immer verlieren, wenn ich ihr jetzt etwas von der Sache sagte.«

Ich ergriff seinen Arm und versuchte es, ihn zu Lucilla zu bringen. Sie war eben im Begriff, sich von ihrem Vater loszumachen; sie sehnte sich schon wieder darnach, Oscar’s Stimme zu hören.

Er aber hielt sich hartnäckig zurück. Ich fing an ihm zu zürnen. Im nächsten Augenblick würde ich etwas gesagt oder gethan haben, was mich nachher gereut haben würde, wenn nicht noch, bevor ich die Lippen öffnen konnte, eine neue Unterbrechung gekommen wäre. Der Diener aus Browndown trat in den Garten mit einem Brief für seinen Herrn in der Hand.

»Dieser Brief ist eben mit der Nachmittagspost angekommen, Herr Dubourg«, sagte er. »Es steht, Sofort zu besorgen, darauf, und ich dachte, es wäre besser, wenn ich ihn Ihnen gleich herbrächte.«

Oscar nahm ihm den Brief aus der Hand und sah die Adresse an: »Meines Bruders Handschrift!« rief er aus, »ein Brief von Nugent!« Er öffnete den Brief und that einen Freudenschrei, der Lucilla sofort an seine Seite brachte.

»Was giebt es?« fragte sie eifrig.

»Nugent kommt wieder; Nugent wird in einer Woche bei uns sein. O, Lucilla, mein Bruder kommt, mich in Browndown zu besuchen.«

Er umschlang sie mit seinen Armen und küßte sie in dem ersten Entzücken über den Empfang dieser frohen Nachricht. Sie entriß sich seiner Umarmung, ohne ihm ein Wort zu antworten. Sie ließ ihre armen blinden Augen nach mir suchend umherschweifen.

»Hier bin ich«, sagte ich.

Ungestüm und zornig legte sie ihren Arm in den meinigen. Ich sah, während sie mich nach dem Hause hineinzog, jammervolle Eifersucht in ihren Zügen. Noch nie, so lange sie Oscar kannte, hatte seine Stimme den Ton der Glückseligkeit angeschlagen, den sie eben vernommen hatte. Noch nie hatte sie Oscar’s Herz so auf seinen Lippen gefühlt, wie eben, als er sie in seiner ersten Freude über Nugent’s bevorstehende Rückkehr küßte.

»Kann er mich hören?« flüsterte sie mir zu, als, wir den Rasen verlassen hatten und sie den Kies unter ihren Füßen fühlte.

»Nein. Warum fragen Sie das?«

»Ich hasse seinen Bruder!«


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