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Zwei Schicksalswege

Erstes Kapitel

Die Frau schreibt und schließt die Geschichte

Die Einleitung zu »den beiden Schicksalen« begann mit einer kleinen Erzählung, die dem Leser vielleicht inzwischen entfallen sein mag.

Ich selbst, ein Bürger der Vereinigten Staaten, der mit seiner Frau England bereiste, hatte sie geschrieben. Sie handelte nämlich von einer Mittagsgesellschaft, die Mr. und Mrs. Germaine zur Feier ihrer Vermählung gaben und bei der wir zugegen waren, und berichtete die Umstände, unter denen uns die Erzählung, die eben in diesen Blättern beendet worden ist, anvertraut wurde. Wie man sich wohl erinnern wird, war es uns anheim gegeben worden, ob wir nach Lesung des Manuskripts unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Mr. und Mrs. Germaine fortsetzen wollten oder nicht.

Um drei Uhr Nachmittags beendeten wir die letzte Seite der Erzählung. Fünf Minuten später siegelte ich sie in ein Kuvert ein, meine Frau setzte den Hut auf - und so waren wir eben im Begriff uns direkt nach Mr. Germaines Hause zu begeben, als der Diener einen an meine Frau adressierten Brief in das Zimmer brachte.

Sie öffnete ihn, sah nach der Unterschrift und fand, dass diese »Mary Germaine« lautete. Als wir diesen Namen erblickten, setzten wir uns sofort zusammen hin, um, bevor wir etwas Anderes unternahmen, erst ihren Brief zu lesen.

Nach reiflicher Überlegung halte ich es für geraten, dass meine Leser ein Gleiches tun. Mrs. Germaine ist ihnen sicher inzwischen ein Gegenstand des Interesses geworden und ist deshalb wohl am geeignetstem diese Geschichte zu beschließen. Ich lasse ihren Brief hier folgen: »Geehrte Frau - oder darf ich teure Freundin sagen? - Bereiten Sie sich auf eine kleine Überraschung vor. Wenn Sie diese Zeilen lesen werden, befinden wir uns auf dem Wege nach dem Kontinent.

Nachdem Sie uns gestern Abend verlassen hatten, beschloss mein Mann diese Reise und da ich sah, wie tief ihn die Beleidigung schmerzte, die mir durch die Damen, die wir zu Tische geladen hatten, widerfahren war, stimmte ich bereitwillig seinem Entschlusse zur sofortigen Abreise bei. Ich weiß aus Erfahrung, dass Mr. Germaine, wenn er fern von seinen falschen Freunden ist, seine Gemütsruhe wieder erlangen wird und das genügt mir.

Natürlich begleitet mein Töchterchen uns. I bin gleich heute früh nach der nah gelegenen Pension, in der sie erzogen wird, hinaus gefahren und habe sie mir abgeholt. Dass sie bei den Reiseaussichten glückselig war, brauche ich wohl nicht zu sagen. Sie hat die Lehrerin arg gekränkt, indem sie ihren Hut wie ein Knabe schwang und »Hurrah!« rief. Die gute Dame ließ es sich sehr angelegen sein, mir auseinander zu setzen, dass sie das » Hurrahrufen« nicht in ihrem Hause gelernt habe.

Sie werden inzwischen sicher die Erzählung gelesen haben, die ich Ihren Händen anvertraute und ich wage kaum zu fragen, welche Stellung ich nun in Ihrer Achtung einnehme. Wäre es möglich, dass Sie und Ihr gütiger Gemahl mich aufgesucht hätten, wenn wir London nicht so plötzlich verließen? Wie es nun aber gekommen ist, bleibt mir keine Wahl, als Ihnen das schriftlich zu sagen, was ich Ihnen so unendlich viel lieber mündlich ausgesprochen hätte, während Ihre Hand freundschaftlich in der meinen ruhte.

Bei Ihrer Menschenkenntnis werden Sie, ohne Zweifel, sofort die Abwesenheit der Damen an unserer Tafel irgend einem über meinen Ruf verbreiteten Gerücht zugeschrieben haben. Und Sie irren nicht. Während ich Elsie aus der Pension abholte, hat mein Mann Mr. Waring, einen der Freunde, die gestern bei uns dinierten, aufgesucht und auf einer Aufklärung über das Vorgefallene bestanden. Mr. Waring verwies ihn an die Frau, die Ihnen als Herrn van Brandts rechtmäßige Gattin bekannt ist. Sie besitzt in den Zeiten, wo sie einmal nüchtern ist, einiges musikalisches Talent; Mrs. Waring war bei einem Wohltätigkeitskonzert mit ihr zusammengetroffen und hatte an der Geschichte ihrer »Kränkungen«, wie sie es ausdrückte, einiges Interesse genommen. Dabei wurde mein Name natürlich genannt. Ich wurde als »van Brandts verstoßene Geliebte« bezeichnet, die Mr. Germaine bewogen hatte, sich durch eine Heirat mit mir zu erniedrigen und der Stiefvater ihres Kindes zu werden. Mrs. Waring teilte das Gehörte anderen Damen, mit denen sie befreundet war, mit.

Das Resultat haben Sie selbst bei der Mittagsgesellschaft in unserem Hause erlebt.

Ich teile Ihnen das Geschehene ohne Zusatz mit. Aus Mr. Germaines Erzählung haben Sie schon ersehen, dass ich die beklagenswerten Folgen voraussah, die unsere Heirat nach sich ziehen würde und dass ich deshalb wieder und immer wieder, Gott weiß es mit welchen inneren Qualen, seine Hand zurückwies. Nur in dem Augenblick, als meine arme, kleine, grüne Flagge unser gegenseitiges Erkennen veranlasse, verlor ich alle Herrschaft über mich selbst. Die alten Zeiten an den Ufern des Sees traten vor meine Seele, mein Herz sehnte sich brennend nach seinem Liebling aus glücklicheren Tagen, und so kam es, dass ich Ja sagte, wo ich, wie Sie sicher auch finden werden, beharrlich Nein sagen musste. Wollen Sie Dame Dermodys Anschauungsweise teilen, und annehmen, dass die verwandten Geister, nun sie einmal wiedervereinigt waren, nicht mehr getrennt werden konnten? Oder schließen Sie sich meiner einfacheren Auffassung an, dass ich ihn so innig liebe und er mir von Herzen zugetan ist?

Unbedingt ist unsere Abreise von England der richtigste Weg, den wir unter den obwaltenden Umständen einschlagen konnten. Wenn sich irgend eine Gelegenheit bietet, wird jene Frau, so lange sie lebt, stets wiederholen, was sie über mich gesagt hat. Wenn meine Tochter älter ist, könnten ihr die Gerüchte über ihre Mutter zu Ohren kommen und sie müsste darunter leiden. Wir beabsichtigen uns, wenigstens für einige Zeit, in der Nähe von Neapel niederzulassen. Dort, oder an einem noch entfernteren Orte, hoffen wir unbehelligt unter einem Volke zu leben, dessen gesellschaftliche Gesetze die Gesetze der Nächstenliebe sind. Was nun auch geschehen mag, ein letzter Trost, um uns aufrecht zu erhalten, bleibt uns immer in unserer Liebe.

Sie sprachen von einer beabsichtigten Reise nach dem Kontinent, als Sie bei uns speisten. Sollte Ihr Sie in unsere Nähe führen, so finden Sie bei dem englischen Konsul in Neapel, der ein Freund meines Mannes ist, unsere Adresse. Ich bin gespannt, ob wir uns je wiedersehen werden. Oft erscheint es mir sehr hart, dass meine traurigen Lebensschicksale auf mir lasten sollen, als wären es Fehler, die ich selbst begangen hätte.

Zum Schlusse dieses Briefes, da ich doch eben von meinen Schicksalen spreche, will ich Ihnen noch sagen, dass der Mann, der sie verschuldet, schwerlich meinen Weg je wieder durchkreuzen wird. Die Herren van Brandts in Amsterdam haben bestimmte Nachrichten darüber, dass er sich auf dem Wege nach Neuseeland befindet. Für den Fall, dass er zurückkehrt, beabsichtigen sie ihn zu belangen, aber er wird ihnen schwerlich die Gelegenheit dazu geben. Der Reisewagen steht vor der Tür, also muss ich Ihnen Lebewohl sagen. Mein Mann sendet Ihnen Beiden herzliche Empfehlungen und freundliche Wünsche. Im Falle Sie London verlassen, befindet sich sein Manuskript in den Händen seiner Bankiers ganz sicher, dem Sie es gütigst unter beifolgender Adresse zusenden können. Ich empfehle mich vertrauensvoll Ihrem Wohlwollen, denn ich vergesse nie, dass Sie mich küssten, als wir uns trennten. Ihre dankbare Freundin, wenn Sie sie als solche annehmen wollen

Mary Germaine«

Wir Bewohner der Vereinigten Staaten sind sehr rasch von Entschluss und begeben uns auf lange Land- oder Seereisen, ohne das geringste Aufheben davon zu machen. Wir sahen uns einander an, als wir Mrs. Germaines Brief gelesen hatten.

»London ist unbehaglich,« bemerkte ich und wartete, wie meine Äußerung wirken würde.

Meine Frau fasste meine Bemerkung gleich richtig auf.

»Wollen wir es in Neapel versuchen?« sagte sie.

Das war Alles. Gestatten Sie uns, dass wir Ihnen Lebewohl sagen. Wir reisen nach Neapel ab.


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