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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 10

Mercys Gewissensbisse

Horace, der sich einstweilen genügend erwärmt hatte, verließ seinen Platz am Kamin und - fand sich allein mit Lady Janet.

„Kann ich Grace sehen?” fragte er.

Der leichte Ton, mit welchem er diese Frage stellte - es war, als betrachtete er Grace als ihm ausschließlich angehörend - berührte Lady Janet unangenehm. Zum ersten Male verglich sie ihn jetzt mit Julian - und Horace verlor dabei bedeutend. Er war reich, aus einer alten Familie und besaß einen unbescholtenen Charakter. Aber Julian besaß dafür einen starken Geist und ein edles Herz; er war von ihnen beiden der wahre Mann.

„Es kann niemand zu ihr”, antwortete Lady Janet, „auch Sie nicht!”

Sie sagte dies in einem scharfen Tone - mit einem Anfluge von Ironie. Allein Horace war ein echter Repräsentant der modernen männlichen Jugend, der von der Natur mit Gesundheit und einem unabhängigen Vermögen ausgestatteten Jugend, welche es sich niemals einfallen lässt, dass die Ironie sich erdreisten könnte, sie zu ihrem Stichblatt zu wählen. Er erklärte, jedoch mit vollendeter Artigkeit, mit dieser Antwort nicht ganz zufriedengestellt zu sein.

„Liegt Miss Roseberry zu Bett?” fragte er.

„Nein, sie ist auf, verlässt aber ihr Zimmer nicht, ich habe schon zweimal versucht, sie zum Herunterkommen zu bewegen, aber beidemale umsonst. - Ich glaube, was sie mir verweigert, wird sie Ihnen nicht zugestehen -”

Lady Janet hätte sicherlich noch mehrere Einwände vorgebracht; bei dem dritten Satz jedoch, den sie sprach, drang durch die halbgeöffnete Tür des Bibliothekzimmers ein Geräusch in ihr Ohr und ließ sie nicht vollenden. Horace hatte es auch gehört. Als es auf dem Teppich näher und näher kam, erkannten sie das Rauschen eines Seidenkleides.

Jeder Engländer unter dreißig Jahren hat bei einem herankommenden, aber noch nicht genau bestimmbaren Ereignis eine unwiderstehliche Neigung zum Wetten. Es drängt ihn ebenso sehr, bei einer solchen Gelegenheit zu wetten, wie beim Vorüberfliegen eines Vogels Stock oder Regenschirm, in Ermangelung eines Gewehres, in die Höhe zu heben, als wollte er ihn schießen.

„Wollen Sie wetten, Lady Janet, dass es Grace ist?” rief Horace.

Diese ignorierte den Vorschlag und richtete ihre Aufmerksamkeit nach der Tür des Bibliothekzimmers. Das Rauschen hielt einen Augenblick inne, dann wurde die Tür leicht aufgestoßen und die falsche Grace Roseberry trat herein.

Horace eilte ihr entgegen und wollte sprechen, aber er blieb plötzlich stehen - stumm vor Staunen - über die Veränderung, welche in seiner Verlobten, seitdem er sie nicht gesehen hatte, vorgegangen war. Sie sah ordentlich gebeugt aus vor Kummer, fast als wäre sie während der Zeit kleiner und schmächtiger geworden.

Ihr Gang war noch langsamer, und sie sprach noch weniger, noch leiser, als sonst. Wer sie vor dem verhängnisvollen Zusammentreffen mit der Fremden nicht schon gesehen hatte, meinte jetzt nichts anderes, als den Schatten einer einstigen Schönheit vor sich zu haben. Und doch besaß sie bei alledem noch ihren früheren Liebreiz; die edle Haltung des Kopfes, die schönen, ausdrucksvollen Augen, das zarte Ebenmaß der Gesichtszüge, die natürliche Grazie in jeder Bewegung - mit einem Worte jene unvergängliche Schönheit, welche durch keine Leiden zerstört, ja nicht einmal durch Jahre verringert werden kann.

Lady Janet trat zu ihr und ergriff mit herzlicher Freundlichkeit ihre beiden Hände.

„Seien Sie zum ersten Male wieder bei uns willkommen, liebes Kind! Sie sind mir zuliebe heruntergekommen, nicht wahr?”

Sie neigte stumm bejahend den Kopf. Lady Janet fuhr, auf Horace deutend, fort: „Da ist jemand, der sich schon sehr nach Ihnen gesehnt hat, Grace!”

Sie blickte noch nicht auf. Ihre Augen hafteten auf einem kleinen Arbeitskorb, den sie am Arme hängen hatte und in welchem allerlei färbige Wollen lagen. „Ich danke Ihnen, Lady Janet, und auch Ihnen, Horace”, sagte sie mit schwacher Stimme.

Horace legte ihren Arm in den seinen und führte sie zum Sofa hin. Sie schrak zusammen, als sie sich niederließ und im Zimmer umsah; seit jenem Tage, an welchem sie der Totgeglaubten und nun wieder Auferstandenen Aug' in Auge gegenüber gestanden, hatte sie es nicht mehr betreten.

„Warum sind Sie hier hereingekommen, liebes Herz?” fragte Lady Janet. „Im Wohnzimmer ist es wärmer; das wäre für Sie besser gewesen.”

„Ich sah einen Wagen vor dem Hause stehen und fürchtete daher, dort Besuch zu finden.”

Bei diesen Worten trat der Diener ein und meldete auch schon die Ankunft einiger Bekannten. Lady Janet seufzte gelangweilt auf. „Ich muss gehen, allein ich werde trachten, sie bald los zu werden”, sagte sie, sich in das Unvermeidliche fügend. „Was tun Sie indessen, Grace?”

„Ich bleibe hier, wenn Sie nichts dagegen haben.”

„Und ich leiste Ihnen Gesellschaft”, fügte Horace hinzu.

Lady Janet zauderte einen Augenblick. Sie hatte ihrem Neffen versprochen, hier mit ihm zusammenzutreffen, wenn er zurückkam, und zwar mit ihm allein zusammenzutreffen. Würde sie wohl auch bis dahin im Stande sein, ihren Besuch abzufertigen und Grace im Wohnzimmer unterzubringen? Julian hatte bis zu der Behausung des Torwärters ungefähr zehn Minuten zu gehen und musste diesem seine Instruktionen beibringen. Sie hatte somit genügend Zeit. Mercy freundlich zunickend, schritt sie zum Zimmer hinaus und ließ diese mit ihrem Verlobten allein.

Horace nahm den leeren Platz auf dem Sofa ein. So weit es bei seinem Charakter überhaupt möglich war, sich jemand hinzugeben, war er gegen Mercy hingebend. So sagte er: „Es tut mir wehe, zu sehen, wie schwer Sie gelitten haben.” Dabei blickte er mit aufrichtiger Bekümmernis in ihr Gesicht. „Suchen Sie den ganzen Vorfall zu vergessen”, fuhr er fort.

„Das tue ich ohnedies. Denken Sie viel daran?”

„Teure Grace, die Sache ist zu schändlich, als dass man noch weiter daran denken könnte.”

Sie stellte den Arbeitskorb auf ihren Schoß und ließ ihre müßigen Finger zerstreut die Wollen darin auseinander lesen.

„Haben Sie Mister Julian Gray gesehen?” fragte sie plötzlich.

„Ja.”

„Was sagt er dazu?” Sie blickte Horace zum ersten Male fest und forschend in das Gesicht. Dieser half sich mit einer Ausflucht.

„Ich habe ihn wirklich nicht um seine Meinung befragt”, sagte er.

Leise seufzend senkte sie ihre Augen wieder auf den Korb vor ihr, überlegte ein wenig und fuhr dann fort:

„Warum ist Mister Julian Gray die ganze Woche nicht hier gewesen? Die Dienstleute sagen, er sei verreist gewesen. Ist das wahr?”

Da es nutzlos war, dies leugnen zu wollen, so antwortete Horace bejahend.

Ihre Finger hielten in dem unruhigen Durchwühlen der Wollen plötzlich inne; ihr Atem wurde sichtbar rascher. Was konnte Julian Gray im Auslande zu tun gehabt haben? Sollte er gewisse Nachforschungen wegen dahin gegangen sein? Sollte er als der einzige von allen, welche die fürchterliche Begegnung mit angesehen hatten, auf sie Verdacht geworfen haben? Ja! Er besaß den größten Scharfsinn und als Geistlicher - als ein Londoner Geistlicher dazu - eine reiche Erfahrung in Betrügereien und Verbrechen und kannte genug solcher Unglücklichen, die sich deren schuldig gemacht hatten. Ja, es war kein Zweifel mehr, Julian hegte Verdacht gegen sie!

„Wann kehrt er zurück?” fragte sie so leise, dass Horace es kaum hörte.

„Er ist bereits gestern abend zurückgekehrt.”

Ein schwacher Anflug von Röte drang allmählich in ihr bleiches Gesicht. Sie stellte den Korb plötzlich weg und schlang die Hände ineinander, um ihr Zittern zu verbergen, ehe sie weiter sprach.

„Wo ist” - sie hielt inne und suchte ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen - „wo ist die Fremde”, begann sie von neuem, „welche mich hier so erschreckt hat?”

Horace war rasch bemüht, sie darüber zu beruhigen. „Sie kommt nicht wieder”, sagte er. „Sprechen Sie nicht von ihr! Denken Sie gar nicht an sie!”

Sie schüttelte den Kopf. „Etwas möchte ich wissen”, fuhr sie beharrlich fort. „Wie ist Mister Julian Gray mit ihr bekannt geworden?”

Darauf war die Antwort nicht schwer. Horace erwähnte des Konsuls in Mannheim und seines Empfehlungsschreibens. Sie hörte aufmerksam zu und sprach die folgenden Worte mit lauterer, festerer Stimme.

„So hat sie Mister Julian Gray - bis dahin gar nicht gekannt?”

„Nein”, erwiderte Horace. „Aber jetzt reden Sie nicht weiter von ihr! Ich verbiete Ihnen das ganze Gespräch. Kommen Sie, teuerste Grace!” sagte er, ihre Hand fassend, zärtlich auf sie herabgebeugt. „Seien Sie guten Mutes! Wir sind jung - wir lieben einander - jetzt ist nicht die Zeit zum Unglücklichsein!”

Ihre Hand wurde plötzlich eiskalt und begann in der seinen zu zittern; ihr Kopf sank müde auf die Brust herab. Horace stand erschreckt auf.

„Ihre Hand ist ganz kalt - es ist Ihnen nicht wohl”, sagte er. „Soll ich Ihnen Wein bringen und das Feuer schüren?”

Auf dem Frühstückstisch standen noch die gefüllten Flaschen und Horace drang darauf, dass Mercy etwas Wein nähme. Sie nippte nur davon, aber es genügte, um ihre gesunkenen Körper- und Geisteskräfte aufzurichten und neu zu beleben. Er beobachtete sie ängstlich, ohne jedoch damit ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und schritt dann zum Kamin am anderen Ende des Zimmers, um das verlöschende Feuer wieder anzufachen. Ihre Augen folgten ihm tränenlos mit einem Ausdrucke starrer Verzweiflung. „Seien Sie guten Mutes”, wiederholte sie für sich flüsternd. „Mein Mut! Ach Gott!” Sie blickte traurig auf all die Schönheit und Pracht, die sie rings umgab, gerade, als wollte sie von diesem gewohnten, ihr liebgewordenen Orte Abschied nehmen; dann fiel ihr Blick auf das reiche Kleid, welches sie trug - es war ein Geschenk von Lady Janet. Sie gedachte der Vergangenheit und dachte an die Zukunft. Sollte sie - die Adoptivtochter Lady Janets, die Verlobte Horace Holmcrofts - demnächst wieder eine Bewohnerin des Besserungshauses werden, oder in den Straßen herumirren? Bei dem Gedanken daran bemächtigte sich ihrer plötzlich eine stumpfe Gleichgültigkeit, das letzte Stadium der Verzweiflung. Horace hatte recht! Warum sollte sie nicht guten Mutes sein und die ihr noch gegönnte Zeit benützen? Immer näher kam die letzte Stunde, welche sie unter diesem Dach verleben durfte; warum sollte sie nicht noch alle Annehmlichkeit ihrer erstohlenen Stellung genießen, so lange es ihr möglich war? „Abenteurerin!” raunte ihr der böse Dämon in die Ohren, „bleibe, was du bist. Fort mit allen Gewissensbissen! Sie sind ein Luxus, den sich nur ehrliche Frauen gönnen dürfen.” Sie ergriff hastig, von einem neuen Einfall durchzuckt, den Korb mit den Wollen. „Ziehen Sie an der Glocke”, rief sie Horace zu, der noch an dem Kamin stand.

Er drehte sich verwundert um. Ihre Stimme klang so völlig verändert, dass er hätte glauben können, eine fremde Person habe soeben gesprochen.

„Ziehen Sie an der Glocke!” wiederholte sie. „Ich habe meine Arbeit oben vergessen und muss sie haben, wenn Sie anders haben wollen, dass ich gut aufgelegt sein soll.”

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, zog Horace mechanisch an der Glocke. Einer der Bedienten trat hinein.

„Gehen Sie hinauf und verlangen Sie von meinem Mädchen meine Arbeit”, sagte sie scharf. Der Ton, in dem sie sprach, überraschte sogar den Diener. Es war sonst ihre Gewohnheit, sämtliche Dienstleute mit Sanftmut und Rücksicht zu behandeln und sie hatte eben dadurch längst aller Herzen gewonnen. „Haben Sie gehört?” fragte sie ungeduldig. Der Diener verbeugte sich und ging, um seinen Auftrag zu besorgen. Sie wandte sich mit flammenden Augen und fieberhaft geröteten Wangen zu Horace.

„Es ist doch angenehm”, sagte sie, „wenn man zu der höheren Klasse der Gesellschaft zählt. Arme Frauen haben keine Zofe, die ihnen beim Anziehen behilflich ist, und keinen Bedienten, den sie um etwas schicken können. Unter fünftausend Pfund jährlich kann man gar nicht leben, finden Sie nicht auch, Horace?”

Der Diener kam zurück und überreichte ihr einen Streifen Wollenstickerei. Sie nahm ihn mit vornehmer Nachlässigkeit in Empfang und befahl, ihr einen Schemel zu bringen. Der Diener gehorchte. Sie warf die Arbeit unmutig auf das Sofa und sagte: „Eigentlich - ich habe es mir anders überlegt - habe ich keine Lust zu arbeiten. Nehmen Sie das Ding wieder mit hinauf.” Der wohldressierte Diener war zwar im stillen verwundert, allein er gehorchte schweigend. Horace näherte sich ihr wortlos und höchlichst erstaunt, um sie genauer ins Auge zu fassen. „Was sehen Sie denn so ernst aus!” rief sie mit leichtfertiger, erkünstelter Unbefangenheit. „Ist es Ihnen vielleicht nicht recht, wenn ich müßig bin? Ich tue, was Sie wollen! Ich brauche ja deswegen nicht auf und ab zu gehen. Ziehen Sie noch einmal an der Glocke.”

„Liebe Grace”, sagte Horace in ernstem Ton, „Sie sind ganz im Irrtum. Ich habe gar nie an Ihre Arbeit gedacht.”

„Das macht nichts; es beweist zu viel Unbeständigkeit, wenn ich zuerst meine Arbeit holen lassen, und sie dann wieder zurückschicke. Ziehen Sie an der Glocke.”

Horace stand unbeweglich und blickte sie an. „Grace!” sagte er, „was hat Sie plötzlich so verändert?”

„Wie soll ich das wissen?” warf sie nachlässig ein. „Sie sagten mir doch zuvor selbst, ich sollte guten Mutes sein? Wollen Sie nun an der Glocke ziehen? Sonst tue ich es.”

Horace willfahrte ihrem Wunsch und schritt, die Stirne runzelnd, zu der Glocke hin. Er war einer von denen, welcher von jeder neuen Erscheinung unangenehm berührt werden; dies Wesen war ihm neu an ihr. Zum ersten Male in seinem Leben empfand er ein gewisses Mitgefühl für den unverdrossenen Diener, der eben wieder hereintrat.

„Bringen Sie mir meine Arbeit wieder, ich habe es mir anders überlegt.” Bei diesem kurzen Befehl lehnte sie sich vornehm auf die Sofakissen zurück und schwang eines der Wollknäuel nachlässig tändelnd in der Luft. „Ich habe die Beobachtung gemacht, Horace”, fuhr sie fort, als sich die Tür hinter dem geduldigen Boten geschlossen hatte, „dass nur Leute unseres Ranges gute Dienstleute haben können. Haben Sie bemerkt, wie nichts diesen Menschen aus der Fassung zu bringen vermag. Ärmeren Leuten gegenüber wäre er sicherlich unverschämt geworden; ein Mädchen - für alles - hätte sich gewiss eine Bemerkung über meine Sinnesänderung erlaubt.” - Die Arbeit ward wieder zurückgebracht. Diesmal nahm sie sie dankend in Empfang und entließ den Überbringer mit einem herablassenden Lächeln. „Haben Sie Ihre Mutter lange nicht gesehen, Horace?” fragte sie, sich plötzlich aufrichtend und eifrig mit der Arbeit beschäftigt.

„Gestern war ich bei ihr”, gab er zur Antwort.

„Ich hoffe, sie begreift, dass ich in diesem leidenden Zustand sie nicht besuchen kann, und ist deshalb nicht verletzt?”

Horace gewann seine Ruhe wieder. Es schmeichelte ihm, Mercy von seiner Mutter in so ehrerbietigen Worten reden zu hören. Er nahm seinen früheren Platz auf dem Sofa wieder ein.

„Verletzt!” antwortete er lächelnd. „Nicht im geringsten, teure Grace. Im Gegenteile, sie grüßt Sie vielmals, und, was noch mehr ist, sie hat schon ein Hochzeitsgeschenk für Sie bereit.”

Mercy schien plötzlich ganz in ihre Arbeit vertieft; sie beugte ihr Gesicht darauf herab, so dass Horace es nicht sehen konnte. „Wissen Sie, worin es besteht?” fragte sie zerstreut in gedämpftem Ton.

„Nein. Ich weiß nur, dass es Sie erwartet. Soll ich es Ihnen heute noch bringen?”

Sie ließ diese Frage unbeantwortet und fuhr fort, emsiger an ihrer Stickerei zu arbeiten.

„Es ist noch Zeit genug dazu”, sagte Horace beharrlich. „Ich kann noch vor Tische gehen.”

Sie blieb gleichgültig und sah nicht auf. „Ihre Mutter ist so gütig gegen mich”, sagte sie plötzlich. „Es gab eine Zeit, wo ich ernstlich fürchtete, sie halte mich nicht für würdig, Ihre Frau zu werden.”

Horace lächelte über diese Besorgnis, fühlte sich jedoch dadurch noch mehr geschmeichelt.

„Wie kindisch Sie sind!” rief er aus. „Liebes Herz, Sie sind ja mit Lady Janet Roy verwandt, und Ihre Familie ist fast ebenso alt wie die unsere.”

„Fast ebenso?” wiederholte sie. „Nur fast ebenso?”

Der flüchtige, heitere Ausdruck in seinem Gesichte verschwand. Diese Familienfrage war ein zu ernster Gegenstand, um nur so obenhin behandelt zu werden. Sein ganzes Wesen übernahm eine feierliche Stimmung, als sei es Sonntag, und er eben im Begriffe, in die Kirche zu treten.

„Wir leiten unseren Ursprung” - sagte er - „väterlicherseits bis auf die Sachsen, mütterlicherseits bis auf die Normannen zurück. Die Familie Lady Janets ist zwar auch altadelig, aber nur auf ihrer Seite.”

Mercy ließ ihre Arbeit fallen und blickte Horace voll in das Gesicht. Ihre nächste Frage betraf einen Gegenstand, der auch für sie von hoher Bedeutung war.

„Hätten Sie jemals daran gedacht, mich zu heiraten”, begann sie, „wenn ich mit Lady Janet nicht verwandt gewesen wäre?”

„Was soll diese Frage, mein Liebling? Sie sind einmal mit ihr verwandt.”

Er sollte ihr jedoch nicht so entschlüpfen.

„Nehmen Sie an, ich wäre dies nicht, sondern nur ein einfaches Mädchen gewesen, mit keiner weiteren Empfehlung als meinen persönlichen Eigenschaften. Was hätte Ihre Mutter wohl dann dazu gesagt?”

Horace suchte noch immer ausweichend zu antworten - er wusste nur nicht recht, wie.

„Weshalb stellen Sie diese Frage?”

„Weil ich darauf eine Antwort haben will. Hätte Ihre Frau Mutter es zugegeben, dass Sie ein armes Mädchen ohne Namen, nur um ihrer selbst willen heiraten?”

Für Horace war es nunmehr unmöglich zu entrinnen; so erwiderte er:

„Wenn Sie es denn wissen wollen, so sage ich Ihnen, dass meine Mutter in einem solchen Falle ihre Zustimmung verweigert hätte.”

„Gleichviel, ob das Mädchen das vortrefflichste Geschöpf gewesen wäre?”

Es klang wie Trotz - beinahe wie eine Drohung - als sie diese Worte sprach. Horace empfand das mit Verdruss und ließ sie es merken.

„Meine Mutter würde einem solchen Mädchen die ihr gebührende Achtung gezollt, aber dabei doch nicht vergessen haben, was sie sich selbst, was sie dem Familiennamen schuldig ist.”

„Sie hätte also ,Nein' gesagt?”

„Das hätte sie getan”.

„Ah!”

Dieser Ausruf klang so erzürnt und verächtlich, dass Horace auffuhr. „Was ist Ihnen?” fragte er.

„Nichts”, antwortete sie, ihre Arbeit wieder aufnehmend.  - Da saß er neben ihr, den Blick ängstlich auf sie gerichtet, all seine Hoffnung für die Zukunft war auf die Vereinigung mit ihr gegründet! In einer Woche konnte sie, wenn sie wollte, als seine Gattin ein Glied jener alten, angesehenen Familie werden, von der er soeben mit so viel Stolz gesprochen. - „O!” dachte sie. „Liebte ich ihn nur nicht! Hätte ich bloß die Erinnerung an seine engherzige Mutter!”

Horace fühlte mit einigem Missbehagen, dass dieses Gespräch sie einander etwas entfremdet hatte. „Sind Sie nicht verletzt? - Gewiss nicht?” fragte er.

Sie wandte sich wieder zu ihm. Die Arbeit entfiel unbemerkt ihren Händen. Ihre großen Augen schmolzen in einem weichen, zärtlichen Blick; traurig lächelnd legte sie den einen Arm liebkosend auf seine Schulter und sagte mit einer Stimme, die deutlich ihre Sehnsucht nach einem Trosteswort von seinen Lippen verriet:

„Und Sie hätten mich auch geliebt, Horace, ohne Rücksicht auf meinen Namen?”

„Schon wieder von dem Namen!” Es war zu sonderbar, dass sie so hartnäckig davon sprach! Er blickte sie schweigend an und versuchte vergebens ihre Gedanken zu erraten.

Sie ergriff seine Hand und presste sie heftig - als wollte sie ihm die Antwort auf ihre Frage herauspressen.

„Hätten Sie mich trotzdem geliebt?” wiederholte sie.

Dem zweifachen Zauber ihrer Stimme und ihrer Berührung vermochte Horace nicht zu widerstehen. Er antwortete mit Wärme: „Unter allen Verhältnissen! Unter jedem beliebigen Namen!”

Sie legte ihren Arm um seinen Hals und sah ihm fest in die Augen. „Ist das auch wahr?” fragte sie.

„So wahr, als ein Himmel über unseren Häuptern ist!”

Sie schlürfte diese alltäglichen Worte mit gierigem Entzücken und zwang ihn, dieselbe Gesinnung noch in anderer Form auszusprechen.

„Gleichviel, wer ich war? Nur um meiner selbst willen?”

„Nur um Ihrer selbst willen.”

Sie umschlang ihn leidenschaftlich mit beiden Armen und lehnte ihren Kopf an seine Brust. „Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!! Ich liebe Sie!!!” Dabei wurde ihre Stimme immer lauter und steigerte sich zu krampfhafter Heftigkeit; dann sank sie plötzlich herab zu einem heiseren Schrei der Wut und Verzweiflung. Eben als sie Horace ihre Liebe gestand, trat das Bewusstsein ihrer wahren Stellung ihm gegenüber wie ein Gespenst vor ihre Augen; sie ließ ihn los und warf sich, das Gesicht mit den Händen bedeckend, auf die Sofakissen zurück. „O, verlassen Sie mich!” stöhnte sie kaum hörbar. „Gehen Sie! Gehen Sie!”

Horace versuchte, sich emporzurichten; allein sie sprang auf und schob ihn mit einer wilden Gebärde von sich zurück, als fürchte sie sich vor ihm. „Das Hochzeitsgeschenk!” rief sie, den nächstbesten Vorwand, der sich ihr darbot, ergreifend. „Sie haben sich angeboten, mir das Geschenk Ihrer Mutter zu holen. Ich halte es nicht aus, wenn ich es nicht sehe. Gehen Sie und bringen Sie es hierher!”

Horace wollte Sie beruhigen; da hätte er aber ebenso gut dem Sturm und Meer gebieten können.

„Gehen Sie”, wiederholte sie, die eine Hand auf ihre Brust gedrückt. „Mir ist nicht wohl. Das Reden greift mich an - es macht mich krank; mir wird besser werden, wenn ich allein bin. Holen Sie das Geschenk. Gehen Sie, schnell!”

„Soll ich Lady Janet rufen oder Ihre Zofe schicken?”

„Rufen Sie niemand, schicken Sie niemand. Wenn Sie mich lieb haben - verlassen Sie mich - und zwar sogleich.”

„Sehe ich Sie wieder, wenn ich zurückkomme?”

„Ja! Ja!”

Es blieb keine Wahl; er musste gehorchen. Ungern und ahnungsvoll verließ er das Zimmer.

Sie atmete erleichtert auf und fiel in den nächstgelegenen Stuhl. Wäre Horace noch einen Augenblick länger geblieben - sie fühlte und wusste es - sie hätte sich nicht mehr zurückhalten können, sondern hätte ihm die ganze fürchterliche Wahrheit bekannt. „O Gott!” dachte sie und drückte dabei die kalten Hände an ihre brennenden Augen, „könnte ich nur weinen! Jetzt würde es niemand sehen!”

Das Zimmer war leer. Sie hatte allen Grund, anzunehmen, dass sie allein sei. Dennoch lauschten zwei fremde Ohren auf jede ihrer Bewegungen und zwei fremde Augen harrten ihres Anblickes. Die dem Eingang in das Bibliothekszimmer gegenüber, Mercy im Rücken liegende Tür des Billardzimmers wurde von draußen langsam und geräuschlos geöffnet. Erst zollbreit, dann immer weiter, bis endlich eine, von einem schwarzen Handschuh umschlossene Hand und ein in Schwarz gekleideter Arm zum Vorschein kam, welcher die Tür zu bewegen schien. Nach einem kurzen Zwischenraum zeigte sich in der Türöffnung das abgezehrte, bleiche Gesicht Grace Roseberrys, wie sie verstohlen in das Speisezimmer blickte.

Ihre Augen erglänzten in rachsüchtiger Lust, als sie Mercy am oberen Ende des Zimmers allein sitzen sah. Sie öffnete die Tür allmählich immer weiter, tat einen Schritt vor und - stutzte. Von dem entfernten Ende des Wintergartens war soeben ein Laut an ihr Ohr gedrungen.

Sie horchte - es war keine Täuschung gewesen; - sie zog sich unwillig zurück und schloss leise wieder die Tür, um nicht entdeckt zu werden. Der Laut, der sie gestört hatte, rührte, wie es schien, von zwei Männerstimmen her, welche am Ausgang des Wintergartens in den Park in gedämpftem Tone miteinander sprachen.

Wer mochten wohl die zwei Männer sein? Was würden sie zunächst tun? Entweder, sie gingen in das Wohnzimmer, oder sie zogen sich nach dem Garten zurück. Grace Roseberry harrte indessen hinter der Tür kniend, das Ohr an das Schlüsselloch gelegt der kommenden Ereignisse.


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