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Armadale



Erstes Kapitel.

Es war im Jahre 1832. Die Saison zu Wildbad sollte ihren Anfang nehmen.

Die Schatten der Nacht begannen sich auf die stille kleine deutsche Stadt herabzusenken, und die Ankunft der Schnellpost ward mit jeder Minute erwartet. Vor der Hausthür des ersten Gasthofs waren die drei bedeutendsten Persönlichkeiten von Wildbad versammelt, die, von ihren Gemahlinnen begleitet, der Ankunft der ersten Badegäste des Jahres harrten: der Bürgermeister, als Repräsentant der Einwohner, der Arzt, als Repräsentant der Brunnen, der Gastwirth, als Repräsentant seines eigenen Etablissements. Außerhalb dieses kleinen Kreises von Auserwählten, die in gemüthlichen Gruppen auf dem sauberen hübschen kleinen Platze vor dem Gasthofe umher standen, befanden sich Einwohner des Städtchens, unter die sich hier und dort einige Landleute in ihrer eigenthümlichen Nationaltracht mischten; die Männer in kurzen schwarzen Zacken, eng anschließenden schwarzen Kniehosen und dreieckigen Castorhüten, die Frauen mit ihrem langen blonden Haar, das ihnen in einer einzigen Flechte auf dem Rücken herabhing, und in kurzen wollenen Kleidern, deren Taille sich bescheiden in der Region des Schulterblatts abzeichnete —— alle der Schnellpost harrend. An den äußersten Grenzen dieser Versammlung tummelten sich ohne Unterlaß fliegende Detachements von dicken weißköpfigen Kindern, während in einem abgelegenen Winkel, geheimnisvoll von den übrigen Einwohnern getrennt, die Stadtmusikanten bereit standen, um die Ankunft der ersten Gäste mit einem Ständchen zu begrüßen. Die hohen waldigen Hügel, die rechts und links über dem Städtchen Wache hielten, waren noch in dem hellen Lichte des Maiabends sichtbar, und die kühle Brise, die dem Sonnenuntergang vorangeht, strich, mit dem balsamischen Dufte der Fichten des Schwarzwaldes geschwängert, scharf daher.

»Herr Wirth«, sagte die Gattin des Bürgermeisters, den Gastwirth bei seinem Titel anredend, »erwarten Sie an diesem ersten Tage der Saison Gäste vom Ausland?«

»Frau Bürgermeisterin«, antwortete der Gastwirth, das Compliment erwidernd, »ich erwarte zwei ausländische Gäste. Sie haben geschrieben —— der eine durch die Hand seines Dieners, der andere anscheinend mit eigener Hand —— um sich Zimmer zu bestellen, und ihren Namen nach zu urtheilen sind sie beide aus England. Wenn Sie von mir verlangen, daß ich die Namen ausspreche, so zögert meine Zunge; wenn Sie sich aber damit begnügen wollen, daß ich Ihnen dieselben vorbuchstabiere, so lauten sie folgendermaßen: erstens ein hochgeborener Fremder, dessen Titel Mister, und der sich mit acht Buchstaben unterzeichnet, nämlich A——r——m——a——d——a——l——e, und, sehr krank, in seinem eigenen Wagen reist; zweitens ein hochgeborener Fremder, dessen Titel ebenfalls Mister und der sich mit vier Buchstaben unterzeichnet —— N——e——a——l —— und, gleichfalls krank, mit der Schnellpost kommt, Se. Excellenz mit acht Buchstaben schreibt mir durch seinen Diener französisch; Se. Excellenz mit vier Buchstaben schreibt mir deutsch. Die Zimmer beider Excellenzen sind in Bereitschaft Weiter weiß ich nichts.«

»Der Herr Doctor hat vielleicht von einem dieser hohen Gäste oder gar von beiden gehört?« sagte die Frau Bürgermeisterin.

»Nur von dem einen, Frau Bürgermeisterin; doch, streng genommen, nicht von dem Herrn selber. Ich habe über Se. Excellenz mit den acht Buchstaben einen ärztlichen Bericht empfangen, und er scheint ein schlimmes Leiden zu haben. Gott helfe ihm!«

»Die Schnellpost!« schrie ein Kind am äußersten Ende der Menge.

Die Musikanten ergriffen ihre Instrumente und in der Gemeinde herrschte tiefe Stille. Aus den fernen Windungen der Waldstraße kam zuerst matt und dann immer heller durch die Abendstille der Schellenklang von Pferden heran. Welcher Wagen war es, der sich nahte, die Privatequipage mit Mr. Armadale oder die Schnellpost mit Mr. Neal?

»Spielt, Freunde!« rief der Bürgermeister den Musikanten zu. »Ob sie in öffentlicher oder Privatequipage kommen, gleichviel, es sind die ersten kranken Gäste der Saison. Spielt, spielt, damit sie uns heiter sehen.«

Die Musikanten spielten einen lustigen Tanz und die Kinder auf dem Platze tanzten vergnügt nach der Musik. In demselben Augenblick traten die älteren Wartenden vor dem Gasthofe auf die Seite, und dann fiel der erste traurige Schatten auf die hübsche fröhliche Scene. Durch die offene Menschenallee kam nämlich eine kleine Procession von kräftigen Landmädchen daher, von denen jedes einen leeren Rollstuhl zog und, während es mit einem Strickzeug beschäftigt war, der armen vom Schlage Gelähmten harrte, die damals zu Hunderten, wie jetzt zu Tausenden, nach Bad Wildbad kamen, um Hilfe und Heilung zu suchen.

Während die Musikanten spielten, die Kinder tanzten, die umstehenden Schwätzer emsiger plauderten und die kräftigen jungen Wärterinnen der erwarteten Krüppel mit unerforschlicher Miene strickten, gab sich in der Gattin des Bürgermeisters die unersättliche Neugier des Weibes in Bezug auf andere Weiber zu erkennen. Sie zog die Gastwirthin auf die Seite und flüsterte ihr eine Frage ins Ohr.

»Noch ein Wort, Madame«, sagte die Gattin des Bürgermeisters »über die beiden Fremden aus England. Sind ihre Briefe ausführlich? Sind sie von Damen begleitet?«

»Der Fremde, der mit der Schnellpost kommt, nicht«, erwiderte die Frau Wirthin, »wohl aber der, welcher in seiner eigenen Equipage reist. Er bringt ein Kind, er bringt eine Kinderwärterin und«, fügte die Frau Wirthin hinzu, indem sie geschickt das Interessanteste bis zuletzt aufbewahrte, »er bringt eine Gattin mit.«

Das Gesicht der Frau Bürgermeisterin erhellte sich; das der Frau Doctorin, die an der Besprechung theilnahm, erhellte sich ebenfalls und die Frau Wirthin nickte bedeutungsvoll mit dem Kopfe. In allen dreien erwachte in demselben Augenblick derselbe Gedanke: »Wir werden die neuen Moden zu sehen bekommen!«

Eine Minute später entstand eine plötzliche Bewegung in der Menge, und ein Chor von Stimmen verkünden, daß die Reisenden sich nahten.

Das herannahende Fuhrwerk war jetzt in Sicht gekommen und aller Zweifel hatte ein Ende. Es war die Schnellpost, die die lange Straße herabkam, welche in den Platz ausmündete, die Schnellpost in einem blendenden neuen Kleide von gelbem Lack, welche die ersten Gäste der Saison vor dem Gasthofe absetzte. Von den zehn Reisenden, die der Kutschentheil des Eilwagens enthielt, und welche alle aus verschiedenen Theilen von Deutschland kamen, wurden drei hilflos aus demselben heraus und in die Rollstühle gehoben, um in denselben mach ihren Wohnungen in der Stadt gefahren zu werden. Das Coupé enthielt nur zwei Reisende, Mr. Neal und seinen ihn auf der Reise begleitenden Diener. Auf beiden Seiten von einem Arme unterstützt, gelang es dem Fremden, dessen Krankheit sich anscheinend auf eine Lahmheit des einen Fußes beschränkte, ohne große Mühe vermittelst des Trittes aus dem Wagen zu steigen. Als er, sich auf seinen Stock stützend, auf dem Pflaster stand und einen nicht allzu freundlichen Blick auf die Musikanten warf, die ihm den Walzer aus dem Freischütz vorspielten, ward die Begeisterung des freundschaftlichen kleinen Kreises, der ihn zu bewillkommnen versammelt war, durch sein äußeres Erscheinen um ein Merkliches gedämpft. Er war ein großer, hagerer, ernster Mann von mittleren Jahren, mit einem kalten grauen Auge und einer langen Oberlippe, langen struppigen Augenbrauen und hervorstehenden Backenknochen, ein Mann, der aussah wie das, was er war, nämlich vom Kopf bis zur Zehe ein Schotte.

»Wo ist der Eigenthümer dieses Gasthofs?« fragte er in deutscher Sprache, mit geläufiger Ausdrucksweise und eisig kaltem Wesen. »Holen Sie den Arzt«, sagte er, nachdem der Wirth sich ihm vorgestellt; »ich wünsche ihn augenblicklich zu sehen.«

»Ich bin bereits hier, Sir«, sagte der Doctor, aus dem Kreise der Freunde hervortretend, »und meine Dienste stehen Ihnen zur Verfügung.«

»Danke«, sagte Mr. Neal, indem er den Arzt ansah, wie andere Menschen einen Hund anzusehen pflegen, der auf ihr Pfeifen gekommen ist. »Ich wünsche Sie morgen um zehn Uhr über meine eigene Krankheit zu Rathe zu ziehen, jetzt aber will ich mich nur eines Auftrags entledigen, der mir an Sie übermacht worden. Wir fuhren auf dem Wege hierher an einem Reisewagen vorbei, in dem sich ein Herr befand —— ein Engländer, wie ich glaube —— welcher ernstlich krank zu sein schien. Eine Dame, die ihn begleitete, bat mich, Sie unmittelbar nach meiner Ankunft aufzusuchen und um Ihren ärztlichen Beistand für den Kranken zu bitten, wenn dieser aus dem Wagen geschafft würde. Ihr Kurier hat einen Unfall gehabt und deshalb unterwegs zurückbleiben müssen, und sie sind genöthigt, sehr langsam zu reisen. Falls Sie in einer Stunde hier sind, so wird dies früh genug sein, um sie zu empfangen. Dies ist mein Auftrag. Wer ist dieser Herr, der mich zu sprechen wünscht, wie es scheint? Der Bürgermeister? Falls Sie meinen Paß zu sehen wünschen, Sir, so wird mein Diener Ihnen denselben zeigen. Nicht? Sie wünschen mich in Ihrer Stadt willkommen zu heißen und mir Ihre Dienste anzutragen? Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt. Wenn Sie hinreichende Autorität besitzen, um ihren Musikanten zu gebieten, ihre Musik einzustellen, so würden Sie mir eine Freundlichkeit erzeigen, indem sie dieselbe zu diesem Zwecke anwendeten. Meine Nerven sind reizbar und ich kann die Musik nicht leiden. Wo ist der Gastwirth? Ich wünsche mein Zimmer zu sehen. Nein, ich bedarf Ihres Arms nicht, ich kann mit Hilfe meines Stocks die Treppe hinaufgehen. Herr Bürgermeister und Herr Doctor, wir brauchen einander nicht länger aufzuhalten. Ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

Der Bürgermeister und der Doctor sahen dem Schotten nach, wie dieser die Treppe hinauf hinkte, und schüttelten mit stummer Mißbilligung den Kopf. Die Damen gingen wie gewöhnlich einen Schritt weiter und drückten ihre Ansichten offen und mit den deutlichsten Worten aus. Es handelte sich hier, insoweit die Sache sie betraf, um einen Mann, der sich unterstanden, sie völlig zu übersehen. Die Frau Bürgermeisterin konnte eine solche Beleidigung nur der angeborenen Roheit eines Wilden zuschreiben. Die Frau Doctorin äußerte sich aber noch kräftiger über ihn und betrachtete sein Betragen als die ihm innewohnende Brutalität eines durch sein Grunzen bekannten Vierfüßlers.

Die Stunde, welche bis zur Ankunft des Reisewagens vergehen mußte, verstrich, und die schleichenden Schatten der Nacht sanken sanft aus die Hügel herab. Die Sterne erschienen einer nach dem andern und in den Fenstern des Gasthofs begannen Lichter zu funkeln. Als die Dunkelheit hereinbrach, verließen die letzten Müßiggänger den Platz; die Stille des Waldes senkte sich gleichsam auf das Thal herab und eine seltsame Oede herrschte plötzlich in dem einsamen kleinen Städtchen.

Der Arzt, welcher sorgenvoll auf und ab wanderte, war das einzige lebende Wesen, das noch auf dem Platze zurückblieb. Der Doctor zählte fünf, zehn, zwanzig Minuten auf seiner Uhr, ehe die ersten Klänge durch die Nachtstille drangen, die ihm das Herannahen des Wagens verkündeten. Derselbe erschien langsam auf dem Platze, die Pferde gingen im Schritt und brachten ihn, einem Leichenwagen ähnlich, bis vor die Thür des Gasthofs.

»Ist der Arzt hier?« fragte eine Frauenstimme aus der Dunkelheit im Innern des Wagens in französischer Sprache.

»Ich bin hier, Madame«, antwortete der Doctor, indem er dem Wirthe das Licht aus der Hand nahm und den Wagenschlag öffnete.

Das erste Gesicht, das die Kerze beleuchtete, war das der Dame, die so eben gesprochen hatte, einer jungen Dame von dunkler Schönheit, in deren besorgt blickenden schwarzen Augen schwere Thränen glänzten; das zweite das einer alten Negerin, die der Dame gegenüber auf dem Rücksitz saß; das dritte das eines kleinen schlafenden Kindes auf dem Schooße der Negerin. Die Dame gab der Wärterin durch eine schnelle Gebärde der Ungeduld zu verstehen, sie solle zuerst mit dem Kinde aussteigen. »Bitte, führen Sie sie fort«, sagte sie zu der Wirthin, »bitte, führen Sie sie auf ihr Zimmer.« Sobald man ihrem Wunsche Folge geleistet, stieg sie selbst aus. In diesem Augenblick fiel das Licht zum ersten Male hell in das Innere des«Wagens und zeigte den vierten Reisenden.

Er lag hilflos auf einer Matratze, die durch Holzstäbe gehalten wurde; sein Haar hing lang und unordentlich unter einem schwarzen Käppchen hervor; seine weit geöffneten Augen rollten unaufhörlich mit angstvollem Ausdruck hin und her; der übrige Theil seines Gesichts verrieth so wenig von dem Charakter und den Gedanken in ihm, als wenn er todt gewesen wäre. Wenn man ihn jetzt ansah, war es unmöglich zu errathen, was er einst gewesen sein konnte. Die bleierne Leere seines Gesichts begegnete jedem prüfenden Blicke, der sein Alter, seine gesellschaftliche Stellung, seine Gemüthsanlagen und sein ehemaliges Aussehen zu erforschen suchte, mit undurchdringlichem Schweigen. Nichts als der Schlag, der ihn zu einem lebendig Todten gemacht, verrieth jetzt irgendetwas über ihn. Des Doctors Auge befragte die unteren Glieder und der lebendige Tod erwiderte: Ich bin hier. Des Doctors Auge schweifte aufmerksam an den Händen und Armen bis zu den Muskeln um seinen Mund hinauf, und der lebendige Tod erwiderte auf seine Frage: Ich komme.

Im Angesicht eines so fürchterlichen Unglücks gab es nichts zu sagen. Stille Theilnahme war alles, was er dem Weibe zu bieten vermochte, welches weinend an der Wagenthür stand.

Als man den Kranken auf seinem Lager durch den Hausflur des Gasthofs trug, fielen seine unruhigen Blicke auf das Gesicht seiner Gattin. Dort ruhten dieselben einen Augenblick und in diesem Augenblicke sprach er:

»Das Kind?« Er sagte dies in englischer Sprache, langsam, mühsam und schwerfällig.

»Das Kind ist oben in Sicherheit«, erwiderte die Frau mit matter Stimme.

»Mein Schreibpult?«

»Ich habe es in der Hand. Sieh! ich will es Niemand anvertrauen, sondern es selbst für Dich in Gewahrsam nehmen.«

Nach dieser Antwort schloß er zum ersten Male die Augen und sagte nichts weiter. Man trug ihn vorsichtig und geschickt die Treppe hinauf, während seine Gattin auf der einen Seite ging und der Arzt in unheilverkündendem Schweigen auf der andern. Der Wirth und die Diener, welche ihnen folgten, sahen die Thür seines Zimmers sich öffnen und hinter ihm sich schließen, hörten die Dame, sobald sie sich mit dem Arzte und dem Kranken allein sah, in krampfhaftes Weinen ausbrechen, und sahen den Arzt nach einer halben Stunde mit einem etwas bleicheren Gesicht als gewöhnlich wieder herauskommen. Man drang eifrig mit Fragen in ihn, erhielt aber auf alle Erkundigungen nur die Antwort: »Wartet, bis ich ihn morgen gesehen habe, fragt mich heute nicht weiter.« Alle waren mit dem Wesen des Doctors vertraut, und es ahnte ihnen Schlimmes, als er sie mit dieser Antwort verließ.

In dieser Weise langten die beiden ersten englischen Gäste in der Saison des Jahres 1832 in Wildbad an.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Um zehn Uhr des folgenden Morgens sah Mr. Neal, des ärztlichen Besuchs harrend, den er selbst für diese Stunde angesetzt hatte, auf seine Uhr und entdeckte zu seinem Erstaunen, daß er vergebens wartete. Es war fast elf Uhr, als sich endlich die Thür öffnete und der Arzt ins Zimmer trat.

»Ich hatte zehn Uhr für Ihren Besuch angesetzt«, sagte Mr. Neal. »In meinem Lande ist ein Arzt ein pünktlicher Mann.«

»In meinem Lande«, erwiderte der Doctor ohne die geringste üble Laune, »ist ein Arzt genau dasselbe, was andere Leute sind, das heißt, dem Zufall unterworfen. Bitte, lassen Sie mir Ihre Verzeihung zu Theil werden, Sir, daß ich Sie so lange warten ließ; ich bin durch einen sehr traurigen Fall aufgehalten worden, durch Mr. Armadale, an dessen Reisewagen Sie gestern auf Ihrem Wege hierher vorbeikamen.«

Mr. Neal schaute seinen ärztlichen Rathgeber mit verdrießlicher Ueberraschung an. In dem Auge des Doctors verrieth sich eine geheime Sorge und es lag eine geheime Unruhe in seinem Wesen, die er sich nicht zu erklären vermochte. Einen Augenblick standen die beiden Männer einander schweigend in stark markiertem nationalen Contraste gegenüber, das Gesicht des Schotten lang, hager und regelmäßig, das des Deutschen voll und blühend, sanft und gemüthlich. Das eine Gesicht sah aus, als ob es nie jung gewesen, das andere, als ob es nie alt werden könne.

»Darf ich Sie daran zu erinnern wagen«, sagte Mr. Neal, »daß es sich gegenwärtig um meine Krankheit handelt und nicht um die des Mr. Armadale?«

»O gewiß«, sagte der Doctor, in Gedanken noch immer mit dem Krankheitsfall beschäftigt, von dessen Prüfung er so eben gekommen war. »Sie scheinen an einer Lahmheit zu leiden. Lassen Sie mich Ihren Fuß untersuchen.«

Mr. Neal’s Krankheit war, so ernstlich sie ihm selbst erscheinen mochte, vom ärztlichen Gesichtspunkte aus betrachtet von keiner besonderen Bedeutung. Er litt an heftigem Rheumatismus im Fußknöchel. Die nothwendigen Fragen wurden gethan und beantwortet und die erforderlichen Bäder verschrieben. In zehn Minuten war die Consultation zu Ende, und der Patient wartete in bedeutungsvollem Schweigen darauf, daß der ärztliche Rathgeber sich verabschieden werde.

»Ich kann es mir nicht verhehlen«, sagte der Doctor, indem er aufstand und ein wenig zögerte, »daß ich Ihnen aufdringlich erscheinen muß. Doch sehe ich mich gezwungen, Sie um Nachsicht zu ersuchen, wenn ich noch einmal auf Mr. Armadale zurückkomme.«

»Darf ich fragen, was Sie dazu zwingt?«

»Die Pflicht, die ich als Christ einem Sterbenden schulde«, erwiderte der Doctor.

Mr. Neal zuckte leicht zusammen. Wenn man sich auf sein religiöses Pflichtgefühl berief, berührte man den zartesten Theil seines Gemüths »Sie haben Ihre Ansprüche auf meine Aufmerksamkeit begründet«, sagte er ernst. »Meine Zeit gehört Ihnen.«

»Ich will Ihre Güte nicht mißbrauchen«, erwiderte der Arzt, sich wieder setzend, »und werde mich so kurz fassen, als ich es vermag. Mr. Armadale’s Angelegenheit verhält sich in Kürze folgendermaßen. Er hat den größeren Theil seines Lebens, eines wilden und lasterhaften Lebens, wie er selbst bekennt, in Westindien zugebracht. Bald nach seiner Vermählung, vor etwa drei Jahren, begannen die ersten Symptome eines paralytischen Leidens sich bei ihm zu zeigen und seine ärztlichen Rathgeber verordneten ihm das Klima Europas. Seitdem er Westindien verlassen, hat er hauptsächlich in Italien gelebt, ohne daß sich jedoch seine Gesundheit verbesserte Von Italien ging er, ehe er den letzten Schlaganfall erlitt, nach der Schweiz, und von der Schweiz hat man ihn hierher gesandt. Soviel ist mir aus dem Berichte seines Arztes bekannt; das Uebrige kann ich Ihnen nach meiner persönlichen Beobachtung mittheilen. Mr. Armadale ist zu spät nach Wildbad gesandt worden, er ist dem Wesen nach bereits todt. Die Lähmung zieht mit großer Schnelligkeit nach oben, und der untere Theil des Rückgrats ist schon abgestorben. Er vermag seine Hände noch ein wenig zu bewegen, aber er kann mit den Fingern nichts mehr festhalten. Er kann zwar noch artikuliert sprechen, dürfte aber vielleicht schon morgen oder übermorgen sprachlos erwachen. Falls ich ihm noch eine Woche zu leben gebe, so ist dies das Aeußerste, was ihm, offen gesagt, zugemessen ist. Auf seinen eigenen Wunsch habe ich ihm so schonend und zartfühlend wie möglich das, was ich Ihnen hier sage, mitgetheilt. Das Resultat dieser Mittheilung war ein sehr betrübendes. Ich verzweifle daran, Ihnen eine Schilderung von der Heftigkeit seiner Gemüthsbewegung zu geben. Ich nahm mir die Freiheit, ihn zu fragen, ob seine Angelegenheiten in Unordnung seien. Durchaus nicht. Sein Testament befindet sich in den Händen seines Testamentsvollstreckers in London,« und er läßt Weib und Kind wohlversorgt zurück. Mit meiner nächsten Frage traf ich es besser: »Haben Sie etwas auf dem Herzen, das Sie zu thun wünschen, ehe Sie sterben?« Er athmete einmal hoch aus, als ob er sich erleichtert fühle, und drückte dadurch deutlicher wie mit Worten aus: »Ja.« — »Kann ich Ihnen behilflich sein?« —— »Ja. Ich habe etwas zu schreiben, das ich schreiben muß. Können Sie bewirken, daß ich eine Feder halten kann?« Er hätte mich ebenso gut fragen können, ob ich Wunder zu thun im Stande sei. Ich konnte nur mit Nein antworten. »Können Sie, falls ich Ihnen die Worte dictire, dieselben niederschreiben?« Ich konnte abermals nur mit Nein antworten. Ich verstehe wohl ein wenig Englisch, kann es aber weder sprechen noch schreiben. Mr. Armadale versteht Französisch, wenn man es, wie ich dies thue, langsam zu ihm spricht, doch kann er sich nicht in dieser Sprache ausdrücken, und von der deutschen Sprache versteht er gar nichts. In dieser schwierigen Lage sagte ich, was Jeder an meiner Stelle gesagt haben würde: Warum fragen Sie mich? Mrs. Armadale ist im nächsten Zimmer und steht Ihnen gewiß zu Diensten.« Ehe ich aufstehen konnte, um sie zu holen, hielt er mich zurück, nicht etwa durch Worte, sondern durch einen solchen Blick des Entsetzens, daß ich mich gewaltsam an meinen Platz fest gebannt fühlte. »Ihre Gattin«, sagte ich, »ist doch sicherlich die passendste Person, um das für Sie zu thun, was Sie gethan zu sehen wünschen?« — »Die letzte Person unter der Sonne? entgegnete er. »Wie!« sagte ich, »Sie verlangen von mir, einem Fremden, der nicht einmal ein Landsmann von Ihnen ist, sich Worte von Ihnen dictiren zu lassen, die Sie vor Ihrer Gattin geheim halten?« Malen Sie sich mein Erstaunen, als er mir, ohne einen Augenblick zu zögern, erwiderte: »Ja!« Ich saß stumm vor Erstaunen da. »Falls Sie nicht Englisch zu schreiben im Stande sind«, »sagte er, »so suchen Sie Jemand, der es kann.« Ich versuchte ihm Vorstellungen zu machen. Er brach in ein fürchterliches Jammergestöhn aus, ein stummes Flehen, gleich dem eines Hundes. »Still, still!« sagte ich. »Ich will Jemand suchen.« —— »Heute noch«, erwiderte er, »ehe ich sprachlos bin, wie meine Hand kraftlos ist« —— »Heute. Innerhalb einer Stunde.« Er schloß die Augen und beruhigte sich augenblicklich. »Lassen Sie mich, während ich Ihre Rückkehr abwarte, meinen kleinen Knaben sehen«, sagte er. Er hatte keine Zärtlichkeit verrathen, als er von seiner Gattin gesprochen, doch als er sein Kind forderte, sah ich, daß seine Augen sich mit Thränen füllten. Mein Beruf hat mich nicht so hartherzig gemacht, wie Sie wohl glauben mögen, Sir, und als ich hinausging, um das Kind zu holen, war mir das Herz so schwer in der Brust, als ob ich gar kein Arzt gewesen wäre. Ich fürchte, Sie finden dies etwas schwach von mir?«

Der Doctor sah Mr. Neal fragend an. Er hätte ebenso gut einen Felsen im Schwarzwald ansehen mögen. Mr. Neal war nicht der Mann, sich durch irgend einen Arzt der Christenheit aus den Regionen der einfachen Thatsachen ziehen zu lassen.

»Fahren Sie fort«, sagte er. »Ich nehme an, daß Sie noch nicht alles gesagt, was Sie mir mitzutheilen haben.«

»Sie verstehen doch jetzt den Zweck, der mich hierher geführt hat?« entgegnete der Andere.

»Ihr Zweck ist mir klar genug. Sie fordern mich auf, mich blindlings mit einer Sache zu befassen, die bis jetzt im höchsten Grade verdächtig ist. Ich schlage es aus, Ihnen irgend eine Antwort zu geben, bis ich mehr weiß, als mir bis jetzt bekannt ist. Erschien es Ihnen nothwendig, die Gattin dieses Mannes von dem zu unterrichten, was sich zwischen Ihnen zugetragen, und sie um eine Erklärung zu ersuchen?«

»Natürlich erschien mir dies als nothwendig!« sagte der Arzt, entrüstet über den in dieser Frage liegenden Zweifel an seiner Humanität. »Wenn ich je ein Weib sah, das ihren Gatten liebte und um ihn trauerte, so ist es diese unglückliche Mrs. Armadale. Sobald wir mit einander allein waren, setzte ich mich zu ihr und nahm ihre Hand in die meinige. Warum nicht? Ich bin ein häßlicher alter Mann und darf mir wohl solche kleine Freiheiten erlauben!«

»Entschuldigen Sie«, sagte der undurchdringliche Schotte, »wenn ich Sie daran zu erinnern wage, daß Sie mir den Faden Ihrer Erzählung zu verlieren scheinen.«

»Nichts wahrscheinlicher«, erwiderte der Doctor in vollkommen guter Laune. »Es ist eine Gewohnheit meiner Nation, stets den Faden zu verlieren, und eine Gewohnheit der Ihrigen, Sir, denselben beständig zu finden. Welch ein herrliches Beispiel der weisen Anordnungen des Weltalls und der ewigen Uebereinstimmung der Dinge!«

»Sie werden mich verbinden«, sagte Mr. Neal mit ungeduldigem Stirnrunzeln, »wenn Sie sich ein für allemal auf die Thatsachen beschränken. Darf ich um meiner selbst willen fragen, ob Mrs. Armadale Ihnen zn sagen im Stande war, was ihr Gatte mich schreiben zu lassen wünscht, und warum er sich weigert, sie dasselbe für ihn schreiben zu lassen?«

»Da ist der Faden meiner Erzählung, und besten Dank, daß Sie denselben für mich gefunden!« sagte der Doctor. »Sie sollen das, was Mrs. Armadale mir zu erzählen hatte, in Mrs. Armadales eigenen Worten erfahren. »Die Ursache, die mich jetzt aus seinem Vertrauen ausschließt«, sagte sie »ist, wie ich fest überzeugt bin, dieselbe, die mich stets aus seinem Herzen ausgeschlossen. Ich bin das Weib, das er geheirathet, doch nicht das Weib, das er geliebt hat. Ich wußte, als er mich heirathete, daß ein anderer Mann das Weib zum Altar geführt, welches er geliebt hatte. Ich glaubte im Stande zu sein, ihn sie vergessen zu machen. Ich hoffte dies, als ich ihn heirathete, und ich hoffte es wieder, als ich ihm einen Sohn gebar. Ich brauche Ihnen das Ende meiner Hoffnungen nicht zu sagen, Sie haben dasselbe selbst gesehen.« Geduld, Sir, wenn ich bitten darf! Ich habe den Faden nicht wieder verloren, sondern folge demselben Zoll für Zoll. »Ist dies alles, was Sie wissen?» fragte ich. »Alles«, sagte sie, »was ich bis vor kurzer Zeit wußte. In der Schweiz jedoch, als seine Krankheit fast ihren Gipfel erreicht hatte, sollte ich etwas mehr, erfahren. Der Zufall brachte ihm Nachrichten von dem Weibe, das der Schatten und das Gift meines Lebens gewesen, die Nachricht, daß sie gleich mir ihrem Gatten einen Sohn geboren. Sowie er diese Entdeckung gemacht —— eine so unbedeutende Sache, wie es nur eine gab —— erfaßte ihn eine tödtliche Furcht, nicht für sich selbst, nicht für mich, sondern für sein eigenes Kind. An demselben Tage ließ er, ohne mir ein Wort zu sagen, den Arzt holen. Ich war so kleinlich oder gottlos, wie Sie es nennen wollen, an der Thür zu lauschen. Ich hörte ihn sagen: »Ich habe meinem Sohne etwas mitzutheilen, wenn derselbe alt genug ist, um mich zu verstehen. Werde ich lange genug leben, um es ihm sagen zu können?« Der Arzt wollte ihm hierüber nichts Gewisses mittheilen. In derselben Nacht schloß er sich, abermals ohne mir ein Wort zu sagen, in sein Zimmer ein. Was würde ein anderes Weib gethan haben, das man behandelt, wie man mich behandelte? Sie würde gethan haben, was ich that, sie würde abermals gelauscht haben. Ich hörte ihn zu sich selber sprechen: »Ich werde nicht lange genug leben, um es ihm zu sagen; ich muß es niederschreiben, ehe ich sterbe.« Ich hörte seine Feder auf dem Papiere kratzen, ich hörte ihn schwer stöhnen und schluchzen, während er schrieb; ich flehte ihn um Gottes willen an, mich einzulassen. Die grausame Feder war die einzige Antwort, die mir wurde. Ich wartete vor der Thür —— stundenlang —— ich weiß nicht, wie lange. Plötzlich hörte die Feder zu kratzen auf und ich vernahm nichts mehr. Ich flüsterte leise durch das Schlüsselloch; ich sagte, es friere mich und ich sei müde vom langen Warten; ich sagte: Liebes Herz, laß mich ein! doch selbst die grausame Feder antwortete mir jetzt nicht mehr, es herrschte Todtenstille Ich schlug mit der ganzen Kraft meiner schwachen Hände an die Thür Die Diener kamen und. erbrachen dieselbe. Wir kamen zu spät, das Unglück war geschehen. Bei jenem unglückseligen Briefe hatte der Schlag ihn getroffen, bei jenem unglückseligen Briefe fanden wir ihn gelähmt, wie Sie ihn jetzt sehen. Die Worte, die er Ihnen jetzt zu dictiren wünscht, sind jene Worte, die er selbst würde geschrieben haben, falls der Schlag ihn bis zum Morgen verschont hätte. In jenem Augenblicke ist eine Stelle in dem Briefe leer geblieben, und diese leere Stelle bittet er Sie für ihn auszufüllen.« Dies waren Mrs. Armadale’s eigene Worte und in diesen Worten haben Sie die ganze Erklärung und Auskunft, die ich Ihnen zu geben vermag. Sagen Sie mir, Sie, wenn Sie die Güte haben wollen, ob ich diesmal dem Faden meiner Erzählung gefolgt bin? Habe ich Ihnen die Nothwendigkeit gezeigt, die mich von dem Sterbelager Ihres Landsmannes zu Ihnen führte?«

»Bis hierher«, sagte Mr. Neal, »zeigen Sie mir blos, daß Sie sich der Aufregung hingeben. Es ist dies eine zu ernste Sache, als daß man dieselbe behandeln dürfte, wie Sie sie in diesem Augenblicke behandeln. Sie haben mich in die Sache hineingezogen und ich bestehe darauf, meinen Weg klar vor mir zu sehen. Erheben Sie nicht die Hände; Ihre Hände gehören nicht zur Sache. Falls ich mich an der Beendigung dieses geheimnißvollen Briefes betheiligen soll, so ist es nicht mehr als eine gerechtfertigte Vorsicht, wenn ich frage, warum es sich in dem Briefe handelt. Mrs. Armadale scheint Sie, vermuthlich in Erwiderung der höflichen Aufmerksamkeit, mit der Sie ihre Hand in die Ihrige nahmen, mit einer Menge häuslicher Einzelheiten bekannt gemacht zu haben. Darf ich fragen, was sie Ihnen über den Brief ihres Gatten, soweit dieser denselben geschrieben, mitzutheilen wußte?«

»Mrs. Armadale konnte mir darüber nichts mittheilen«, erwiderte der Arzt mit einer plötzlichen Förmlichkeit, welche verrieth, daß ihm die Geduld zu reißen anfange. »Ehe sie sich hinlänglich zu fassen vermochte, um an den Brief zu denken, hatte ihr Gatte denselben gefordert und in sein Schreibpult einschließen lassen. Sie weiß, daß er seitdem einmal über das andere denselben zu beenden versucht hat, daß ihm aber jedes mal seine Finger den Dienst versagten. Sie weiß, daß seine ärztlichen Rathgeber, als jede andere Hoffnung auf Heilung entschwunden, ihm auf die Wirkung des vortrefflichen Brunnens von Wildbad zu hoffen empfahlen Und schließlich weiß sie, welches Ende diese Hoffnung genommen hat, denn sie weiß, was ich heute Morgen ihrem Gatten angekündigt habe«

Das düstere Stirnrunzeln, das sich allmälig auf Mr. Neal’s Gesicht gelagert, war immer finsterer geworden. Er sah den Doctor an, als hätte dieser ihm eine persönliche Beleidigung angethan.

»Je mehr ich mir das, was Sie von mir fordern, überlege, je weniger gefällt mir dasselbe«, sagte er. »Können Sie mit Bestimmtheit erklären, daß Mr. Armadale völlig bei Verstand ist?«

»Ja, so bestimmt, wie ich dies mit Worten zu thun vermag.«

»Billigt seine Gattin es, daß Sie mich um meinen Beistand ersuchen?«

»Seine Gattin sendet mich zu Ihnen, dem einzigen Engländer in Wildbad, damit Sie für Ihren sterbenden Landsmann die Worte niederschreiben, die er selbst nicht zu schreiben im Stande ist und die außer Ihnen Niemand in diesem Orte zu schreiben fähig ist.«

Diese Antwort trieb Mr. Neal aus den letzten Zoll Terrains zurück, den er noch behaupten konnte; doch selbst auf diesem Zoll bot der Schotte noch immer Widerstand.

»Warten Sie einen Augenblick!« sagte er. »Sie drücken sich stark aus; lassen Sie uns untersuchen, ob Sie sich auch richtig ausdrücken. Lassen Sie uns ganz sicher sein, daß außer mir Niemand zur Hand ist, der die Verantwortlichkeit statt meiner zu übernehmen geeignet wäre. Es befindet sich erstens ein Bürgermeister in Wildbad, ein Mann, der eine officielle Stellung einnimmt, die eine solche Einmischung rechtfertigen würde.«

»Ein Mann, wie man ihn unter tausenden kaum findet«, sagte der Doctor, »der nur einen Fehler besitzt —— er kennt keine Sprache, außer seiner Muttersprache.«

»Es befindet sich eine englische Legation in Stuttgart«, sagte Mr. NeaL.

»Und es liegen viele Meilen dichten Waldes zwischen hier und Stuttgart«, entgegnete der Doctor. »Falls wir diesen Augenblick einen Boten nach Stuttgart abschickten, so könnten wir vor morgen keine Hilfe von der Legation erhalten, und es ist, der Art und Weise nach, in der der Sterbende gegenwärtig artikuliert, höchst wahrscheinlich, daß er morgen sprachlos ist. Ich weiß nicht, ob seine letzten Wünsche für sein Kind und Andere harmlos oder schädlich sind, aber ich weiß sehr wohl, daß dieselben entweder sofort oder nie werden erfüllt werden, und daß Sie der einzige Mensch sind, der ihm helfen kann.«

Diese offene Erklärung machte der Erörterung ein Ende. Dieselbe stellte Mr. Neal zwischen die beiden Alternativem entweder Ja zu sagen und eine Unvorsichtigkeit zu begehen, oder Nein und sich einer Unmenschlichkeit schuldig zu machen. Es erfolgte ein Schweigen von einigen Minuten. Der Schotte überlegte ruhig, und der Deutsche beobachtete ihn ebenso ruhig.

Die Verantwortlichkeit der Entscheidung ruhte jetzt aus Mr. Neal, und nach einer Weile übernahm er dieselbe. Er erhob sich von seinem Sessel, indem ein verdrießlicher Ausdruck des Beleidigtseins zwischen seinen struppigen Augenbrauen lag und sich scharf in den Linien um seinen Mund abzeichnete.

»Meine Stellung wird mir aufgedrungen«, sagte er. »Es bleibt mir keine Wahl, als dieselbe anzunehmen.«

Die empfängliche Natur des Doctors empörte sich gegen die unbarmherzige Kürze und Unfreundlichkeit dieser Erwiderung »Wollte Gott«, rief er mit Wärme aus, »ich verstünde Englisch genug, um Ihre Stelle an Mr. Armadale’s Bett einnehmen zu können!«

Ausgenommen, daß Sie den Namen des Allmächtigen unnützlich führen«, entgegnete der Schotte, »theile ich ganz Ihre Ansicht. Ich wollte, es wäre, wie Sie wünschen.«

Dann verließen sie, ohne ein Wort weiter zu verlieren, das Zimmer.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Als der Doctor mit seinem Begleiter vor der Thür des Vorzimmers zu Mr. Armadales Gemächern anlangte, blieb ihr Klopfen unbeantwortet Sie traten deshalb unangemeldet ein, und als sie in das Wohnzimmer hineinschauten, sahen sie, daß dasselbe leer sei.

»Ich muß mit Mrs. Armadale sprechen«, sagte Mr. Neal. »Ich werde in dieser Sache nicht eher handeln, als bis Mrs. Armadale selbst mich zu der Einmischung autorisirt.«

»Mrs. Armadale ist wahrscheinlich bei ihrem Gatten«, entgegnete der Doctor. Bei diesen Worten näherte er sich einer Thür am entgegengesetzten Ende des Zimmers, zögerte und sah, indem er sich wieder umwandte, ängstlich seinen verdrießlichen Begleiter an. »Ich fürchte, ich redete ein wenig barsch, Sir, als wir Ihr Zimmer verließen«, sagte er. »Ich bitte Sie deshalb von ganzem Herzen um Vergebung. Wollen Sie mich, ehe diese arme, schwer heimgesuchte Dame hereinkommt, entschuldigen, wenn ich Sie um die größte Sanftmuth und Rücksicht für sie ersuche?«

»Nein, Sir«, erwiderte der Andere Verdrießlich, »ich will Sie nicht entschuldigen. Welches Recht habe ich Ihnen gegeben, mich der Sanftmuth und Rücksicht für Andere unfähig zu halten?«

Der Doctor sah, daß alles nutzlos sei. »Ich bitte nochmals um Vergebung«, sagte er mit Resignation und ließ den unzugänglichen Fremden allein.

Mr. Neal trat ans Fenster und sah durch die Scheiben, die Augen mechanisch auf die Landschaft gerichtet und innerlich auf die bevorstehende Zusammenkunft sich vorbereitend.

Es war Mittag; die Sonne schien hell und warm und die ganze kleine Welt von Wildbad war lustig und froh in dieser schönen Frühlingszeit Hin und wieder rollten schwere Wagen, unter der Obhut von rußigen Kärrnern, mit ihrer kostbaren Last von Holzkohlen aus dem Schwarzwalde unter dem Fenster vorbei. Von Zeit zu Zeit zogen lange, lose an einander gereihte Holzstämme auf ihrer Reise nach dem fernen Rhein, kopfüber den Strom hinabstürzend, der durch das Städtchen eilt, und von dem hochbestiefelten Floßführer, der mit der Stange in der Hand an dem Ende stand, scharf beobachtet, schnell und schlangenartig an den Häusern vorüber. Hoch und steil erhoben sich hinter den hochgiebeligen hölzernen Häusern am Flußufer die gewaltigen Hügel mit ihren schwarzen Fichtenkronen und funkelten grün an dem hellen Wolkenhimmel. Auf den Waldpfaden und über die grünen Wiesen schwebten die bunten Kleider von Frauen und Kindern dahin, welche Wiesenblumen suchten und erschienen in weiterer Ferne wie bunte Flecken beweglichen Lichts. Unten auf der Uferpromenade zeigten die Buden und der Bazar, die pünktlich mit Beginn der Saison geöffnet werden, ihre glitzernden Kleinodien, und ihre vielfarbigen Banner flatterten prachtvoll in der balsamischen Luft. Die Kinder warfen sehnsüchtige Blicke auf die Schätze; die sonnverbrannten Mädchen strickten geduldig, indem sie auf der Promenade hin und her spazierten; die Bürger und Einwohner der Stadt, die einander auf der Promenade begegneten, grüßten höflich, und die Hilflosen und Verkrüppelten kamen, in ihren Rollstühlen sitzend, langsam zu den Uebrigen in den heitern Mittag hinaus, um sich ihren Antheil an dem gesegneten Lichte und an der lieben Sonne zu holen, die für alle scheint.

Der Schotte schaute auf die Scene mit Augen herab, welche für die Pracht derselben blind waren, und mit einem Gemüthe das der Lehre, welche dieselbe enthielt, fern gerückt war. Er überlegte Wort für Wort, was er sagen wollte, wenn die Gattin des Kranken hereinkäme Wort für Wort formulierte er sich die Bedingungen, die er stellen wollte, ehe er am Bette des Gatten die Feder ansetzte.

»Mrs. Armadale ist hier«, sagte plötzlich die Stimme des Arztes, ihn in seinem Sinnen unterbrechend.

Er wandte sich augenblicklich um und erblickte vor sich in dem hellen Mittagslichte ein Weib von gemischter europäischer und afrikanischer Rasse, deren Züge die nordische Zartheit der Bildung mit südlicher Wärme der Färbung verbanden, ein Weib, in der Blüte ihrer Schönheit, das sich mit angeborener Anmuth bewegte, mit angeborenem Zauber aufschaute, deren große, schmachtende schwarze Augen dankbar auf ihm ruhten, deren bräunliche kleine Hand sich als stummer Dankesausdruck ihm entgegenstreckte. Vielleicht zum ersten Male in seinem Leben fühlte der Schotte sich von Ueberraschung ergriffen. Jedes zu seinem eigenen Schutze ersonnene Wort, das ihn vor einer Secunde beschäftigt, entfiel seinem Gedächtnisse. Seine dreimal undurchdringliche Rüstung von gewohntem Argwohn, gewohnter Selbstbeherrschung und gewohnter Zurückhaltung, die ihn noch nie zuvor in Gegenwart eines Weibes verlassen, entfiel ihm diesem Weibe gegenüber und warf ihn, einen Ueberwundenen, auf seine Kniee. Er nahm die Hand, die sie ihm darbot, und beugte sich zum Zeichen seiner ersten aufrichtigen Huldigung, die er dem weiblichen Geschlecht darbrachte, schweigend über dieselbe.

Sie zögerte ihrerseits. Der schnelle Wahrnehmungssinn der Frauen, der unter glücklicheren Verhältnissen augenblicklich das Geheimniß seiner Verlegenheit entdeckt haben würde, versagte ihr jetzt den Dienst. Sie schrieb diese seltsame Art und Weise seines Verhaltens dem Stolze, dem Widerstreben, ehe jeder andern Ursache zu, als dem unerwarteten Anblick ihrer Schönheit. »Ich finde keine Worte, um Ihnen zu danken«, sagte sie mit matter Stimme, indem sie ihn zu gewinnen versuchte. »Ich würde Sie nur betrüben, falls ich zu sprechen versuchte.« Ihre Lippen singen an zu zittern, sie trat ein wenig zurück und wandte schweigend das Haupt ab.

Der Doctor, welcher still beobachtend auf die Seite getreten war, nahte sich Mrs. Armadale, ehe Mr. Neal etwas sagen konnte, und führte sie zu einem Sessel. »Fürchten Sie sich nicht vor ihm«, flüsterte der gutmüthige Mann, indem er ihr sanft auf die Schulter klopfte. »Er war in meinen Händen hart wie Eisen, aber seinem Aussehen nach denke ich mir, daß er in den Ihrigen weich wie Wachs werden wird. Sagen Sie, was ich Ihnen zu sagen gerathen habe, und lassen Sie uns ihn dann in das Zimmer Ihres Gemahls führen, ehe sein scharfer Verstand Zeit gehabt hat, sich wieder zu erholen.«

Mrs. Armadale raffte all ihren Muth zusammen und ging halbwegs nach dem Fenster zu an Mr. Neal heran. »Mein gütiger Freund, der Doctor, hat mir gesagt, Sir, daß Sie einzig und allein meinetwegen zu kommen gezaudert«, sagte sie, und während sie sprach, sank ihr Kopf ein wenig und die Farbe schwand aus ihrem Gesicht. »Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, aber ich bitte Sie, nicht an mich zu denken. Das, was mein Gatte —— « ihre Stimme bebte; sie wartete einen Augenblick und erholte sich wieder. »Das, was mein Gatte in seinen letzten Augenblicken wünscht, wünsche auch ich.«

Diesmal war Mr. Neal hinlänglich gefaßt, um zu antworten. Er bat sie mit leiser, ernster Stimme, kein Wort weiter darüber zu sagen. »Es lag mir nur vor allem daran, Ihnen jede Rücksicht zu zeigen«, sagte er, »und es liegt mir jetzt nur daran, Ihnen jeden Schmerz zu ersparen.« Während er sprach, stieg langsam ein Anflug von Farbe in sein gelbes Gesicht. Ihre Augen sahen mit sanfter Aufmerksamkeit zu ihm auf, und er gedachte mit einem Gefühle der Schuld seiner Gedanken am Fenster, ehe sie ins Zimmer gekommen war.

Der Doctor benutzte die Gelegenheit. Er öffnete die Thür, die in Mr. Armadale’s Zimmer führte, und blieb stumm wartend an derselben stehen Mrs. Armadale ging zuerst hinein. Eine Minute später schloß die Thür sich wieder, und Mr. Neal stand mit der Verantwortlichkeit, die man ihm aufgedrungen hatte,« unwiderruflich beladen auf der andern Seite derselben.

Das Zimmer war nach der prunkhaften Mode des Festlandes decorirt, und der warme Sonnenschein strömte wohlthuend durch die Fenster herein. Die Zimmerdecke war mit Blumen und Liebesgöttern bemalt; die weißen Fenstervorhänge wurden von bunten Bändern zurückgehalten; eine säubere vergoldete Stutzuhr tickte auf dem sammetüberzogenen Kaminsimse; die Wände waren mit glänzenden Spiegeln bedeckt und in dem Teppiche funkelten Blumen in allen Farben des Regenbogens. Inmitten all dieses Schmucks und Flitterstaats und Sonnenscheins lag der Gelähmte mit seinen unstäten Augen und seinem leblosen unteren Gesicht, den Kopf vermittelst vieler Kissen emporgerichtet; die hilflosen Hände waren gleich denen eines Leichnams auf der Bettdecke ausgestreckt. Am Kopfende des Bettes stand grimmig ausschauend und schweigend die runzlige alte schwarze Kinderwärterin, und auf dem Bette, zwischen den ausgestreckten Händen des Vaters, saß das Kind in seinem kleinen weißen Kleidchen, in seine Freude an einem neuen Spielzeug versunken. Als die Thür sich öffnete und Mrs. Armadale ihre Begleiter hereinführte, war der Kleine eben damit beschäftigt, sein Spielzeug —— einen Soldaten zu Pferde —— über die hilflosen Hände seines Vaters hin und her zu fahren, und die unstäten Augen des Vaters folgten dem Spielzeuge mit einer verstohlenen unausgesetzten Wachsamkeit hin und her, einer Wachsamkeit, gleich der eines wilden Thieres, welche fürchterlich anzusehen war.

Sowie Mr. Neal in der Thür erschien, hielten jene rastlosen Augen in ihrem wilden Hin- und her schweifen inne, sahen empor und hefteten sich mit begierig forschendem Blick auf den Fremden. Die regungslosen Lippen rangen langsam nach Bewegung. Mit zögernder schwerfälliger, Artikulation formten sie die stumme Frage der Augen in Worte.

»Sind Sie der Mann?«

Mr. Neal trat an das Bett, während Mrs. Armadale, indem er sich näherte, zurücktrat und mit dem Doctor am andern Ende des Zimmers wartete. Das Kind blickte, mit dem Spielzeug in der Hand, auf, als der Fremde näher trat; es öffnete weit in momentanem Erstaunen die klaren braunen Augen und setzte dann sein Spiel fort.

»Ich bin von Ihrer traurigen Lage unterrichtet worden, Sir«, sagte Mr. Neal. »Und ich komme, um meine Dienste zu Ihrer Verfügung zu stellen, Dienste, die, wie Ihr Arzt mir sagt, Niemand anders in diesem fremden Orte Ihnen zu leisten im Stande ist. Mein Name ist Neal, ich schreibe für das Signet-Journal in Edinburg und darf wohl sagen, daß ich das Zutrauen, welches Sie in mich zusetzen wünschen, zu mißbrauchen unfähig bin.«

Die Augen der schönen Gattin verwirrten ihn jetzt nicht. Er sprach ernst und ruhig und ohne seine gewohnte Barschheit zu dem Gatten, und dazu mit einem ernsten Mitleid in seinem Wesen, das ihn in seinem vortheilhaftesten Lichte erscheinen ließ. Der Anblick des Sterbelagers hatte seinen Eindruck nicht verfehlt.

»Sie wünschen, daß ich etwas für Sie schreibe?« fuhr er fort, nachdem er vergebens auf eine Erwiderung gewartet hatte.

»Ja!« sagte der Sterbende, indem die überwältigende Ungeduld, die seine Zunge auszusprechen machtlos war, sich zornig in seinen Augen ausdrückte. »Meine Hand versagt mir den Dienst, und meine Zunge wird bald sprachlos sein. Schreiben Sie!«

Ehe er noch etwas erwidern konnte, hörte Mr. Neal das Rauschen eines Frauenkleides und ein rollendes Geräusch hinter sich auf dem Teppiche Mrs. Armadale schob den Schreibtisch vom entgegengesetzten Ende des Zimmers an das Fußende des Bettes. Falls er von den Maßregeln Gebrauch machen wollte, die er ersonnen, um sich gegen Tadel zu sichern, wenn sein Verfahren mißliche Folgen haben sollte, so mußte er dies jetzt thun oder nie. Er blieb, Mrs. Armadale den Rücken zugewendet, ruhig stehen und stellte seine Frage in den deutlichsten Worten.

»Darf ich, ehe ich die Feder ergreife, fragen, Sir, was ich für Sie schreiben soll?«

Die Zornigen Augen des gelähmten Mannes blitzten ihn wild an. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wieder. Er gab keine Antwort.

Mr. Neal versuchte eine andere Frage in einer neuen Richtung.

»Was«, fragte er, »soll mit dem Geschriebenen geschehen, wenn ich es beendet haben werde?«

Diesmal ließ sich die Antwort vernehmen:

»Sie werden es in meiner Gegenwart versiegeln und an meinen Testamentsvoll ——«

Die Zunge versagte ihm hier den Dienst und er sah dem Fragenden mit jammervoller Miene ins Gesicht.

»Meinen Sie, es soll an Ihren Testamentsvollstrecker abgesandt werden?«

Ja.

»Es ist also vermuthlich ein Brief, den ich auf die Post geben soll?«

Keine Antwort.

»Darf ich fragen, ob es ein Brief ist, der eine Aenderung in Ihrem Testamente trifft?«

»Ganz gewiß nicht.«

—— Mr. Neal überlegte ein wenig. Das Geheimniß fing immer undurchdringlicher zu werden an. Das einzige Licht, das sich über dasselbe verbreitete, war dasjenige, welches durch die seltsame Geschichte von dem unbeendeten Briefe schimmerte, die der Doctor ihm in Mrs. Armadales Worten mitgetheilt hatte. Je näher diese unbekannte Verantwortlichkeit ihm rückte, desto drohender erschien ihm dieselbe in ihren Folgen. Sollte er, bevor er sich unwiderruflich verbindlich machte, noch eine Frage wagen? Als er mit diesem Zweifel beschäftigt war, fühlte er, wie Mrs. Armadales Kleid ihn an derjenigen Seite berührte, die am fernsten von ihrem Gatten war. Ihre zarte Hand ruhte sanft auf seinem Arm, und ihre dunklen afrikanischen Augen schauten ihn mit unterwürfigem Flehen an. »Mein Mann brennt vor Verlangen, daß Sie anfangen, Sir; wollen Sie ihn beruhigen, indem Sie sich an den Schreibtisch setzen?«

Die Bitte kam von ihren Lippen, von den Lippen derjenigen Person, die das größte Recht hatte zu zögern, der Gattin, die aus dem Geheimniß ausgeschlossen ward! Die meisten Leute an Mr. Neal’s Stelle würden sofort alle Vorsichtsmaßregeln aufgegeben haben. Der Schotte gab alle außer einer einzigen auf.

»Ich will schreiben, was Sie mir zu diktieren wünschen, Sir«, sagte er zu Mr. Armadale. »Ich will es in Ihrer Gegenwart versiegeln und selbst an Ihre Testamentsvollstrecker aus die Post geben. Doch indem ich dies thue, muß ich Sie daran zu erinnern mir erlauben, daß ich völlig im Dunkeln handle, und Sie um Entschuldigung bitten, wenn ich mir, nachdem ich Ihre Wünsche in Bezug auf das Schreiben und Absenden Ihres Briefes erfüllt, volle Freiheit in Bezug auf meine eigene Handlungsweise Vorbehalte.«

»Geben Sie mir Ihr Versprechen?«

»Falls Sie mein Versprechen verlangen, Sir, so bin ich Ihnen dasselbe zu geben bereit, unter der Bedingung, die ich Ihnen so eben genannt habe.«

»Stellen Sie Ihre Bedingung und halten Sie Ihr Versprechen. Mein Schreibpult«, fügte er hinzu, indem er zum ersten Male seine Gattin ansah.

Diese beeilte sich, das Schreibpult von einem in einem Winkel des Zimmers stehenden Stuhle zu holen. Als sie mit demselben zurückkehrte, machte sie im Vorübergehen der Negerin, die noch immer grimmig und stumm an derselben Stelle stand, ein Zeichen Das Weib that, dem Winke gehorsam, einen Schritt vorwärts, um das Kind vom Bette zu nehmen. Sowie sie dasselbe berührte, wandten sich die Augen des Vaters, welche auf das Schreibpult geheftet gewesen, mit der heimlichen Schnelligkeit einer Katze ihr zu. »Nein!« sagte er. »Nein!« wiederholte die helle Stimme des Knaben, der sich noch immer an seinem Spielzeuge erfreute und dem sein Platz auf dem Bette gefiel. Die Negerin verließ das Zimmer, und das Kind ließ sein Pferd triumphierend über die Bettdecke nahen, deren Falten die Brust seines Vaters bedecken. Das liebliche Gesicht seiner Mutter verzog sich vor Eifersucht, als sie ihn ansah.

»Soll ich Dein Schreibpult öffnen?« fragte sie, indem sie das Spielzeug des Kindes ungeduldig beiseite schob.

Ein antwortender Blick ihres Gatten führte ihre Hand an die Stelle unter seinem Kopfkissen, wo der Schlüssel versteckt war. Sie öffnete das Pult und sah in demselben einige kleine, mit einer Nadel zusammengesteckte, beschriebene Briefbogen. »Diese?« fragte sie, dieselben herausnehmend.

»Ja«, erwiderte er. »Du magst jetzt gehen.«

Der Schotte an dem Schreibtisch und der Arzt, der in einem Winkel des Zimmers eine stärkende Mixtur schüttelte, sahen einander mit einer Besorgniß an, deren Ausdruck in ihrem Gesicht sie beide nicht zu unterdrücken vermochten. Die. Worte, welche die Gattin aus dem Zimmer verbannten, waren gesprochen. Der entscheidende Augenblick war gekommen.

»Du magst jetzt geben«, sagte Ihr. Armadale zum zweiten Male.

Sie sah das Kind an, welches ungestört auf dem Bette saß, und eine tödtliche Blässe überzog ihr Gesicht. Sie blickte auf den unglückseligen Brief, der ihr ein strenges Geheimniß war, und die Qual eifersüchtigen Verdachts, des Verdachts auf jenes andere Weib, das der Schatten und das Gift ihres Lebens gewesen, marterte ihr Herz. Nachdem sie sich ein paar Schritte vom Bette entfernt, stand sie still und kehrte wieder zurück. Mit dem doppelten Muthe der Liebe und der Verzweiflung bewaffnet, drückte sie ihre Lippen auf die Wange ihres sterbenden Gatten und flehte ihn zum letzten Male an. Ihre heißen Thränen fielen auf sein Gesicht, als sie zu ihm flüsterte »O Allan, bedenke, wie ich Dich geliebt habe; bedenke, wie sehr ich mich bemüht habe, Dich glücklich zu machen; bedenke, wie bald ich Dich verlieren soll! O mein theures Leben, schicke mich nicht fort von Dir!«

Die Worte flehten für sie; der Kuß flehte für sie; die Erinnerung an die Liebe, die sie ihm geschenkt und die er nie erwidert, rührte das Herz des sterbenden Mannes aus eine Weise, wie dasselbe seit dem Tage seiner Vermählung sich durch nichts hatte rühren lassen. Ein schwerer Seufzer hob seine Brust. Er sah sie an und zögerte.

»Laß mich dableiben«, flüsterte sie, indem sie ihr Gesicht fester an das seinige drückte.

»Es wird Dich nur betrüben«, erwiderte er ebenfalls flüsternd.

»Es betrübt mich nichts so sehr, als von Dir fortgeschickt zu werden.« Er schwieg. Sie sah, daß er überlegte, und schwieg ebenfalls.

»Wenn ich Dich noch ein wenig bleiben lasse ——«

»Ja! ja!«

»Willst Du gehen, wenn ich es Dir sage?«

»Ja!«

»Schwörst Du es mir?«

Die Bande, die seine Zunge fesselten, schienen durch die heftige Erregung, die diese Frage seinen Lippen entriß, auf einen Augenblick gelöst zu werden. Er sprach jene Worte so fließend, wie er bisher noch nicht gesprochen hatte.

»Ich schwöre es Dir!« sagte sie, indem sie an seinem Bette auf die Kniee sank und seine Hand mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Die beiden Fremden im Zimmer wandten in schweigender Uebereinstimmung die Köpfe ab. Während der Ruhe, welche folgte, war kein Laut vernehmbar, außer dem leichten Geräusch, welches das Kind mit seinem Spielzeug machte, indem es dasselbe auf der Bettdecke hin und her rollte.

Der Doctor war der erste, der den Zauber des Schweigens brach, der alle Anwesenden gefangen zu halten schien. Er näherte sich dem Kranken und betrachtete ihn mit großer Besorgniß. Mrs. Armadale erhob sich von den Knieen und trug dann, nachdem sie die Erlaubniß ihres Gatten abgewartet, die beschriebenen Briefbogen, die sie aus dem Pulte genommen, nach dem Schreibtisch, an welchem Mr. Neal wartete. Mit begierigem und glühendem Antlitz, in der heftigen Gemüthsbewegung welche die letzten Augenblicke hervorgerufen, schöner als je, wählte sie, mit frauenhafter Sorglosigkeit ihrem Impulse folgend, das geeignetste Mittel, um ihren Zweck zu erreichen, und flüsterte ihm zu: »Lesen Sie es von Anfang an laut vor. Ich will und muß es hören!« Ihre Augen warfen die Strahlen ihrer Glut in die seinigen, ihr Athem strich an seiner Wange hin. Ehe er zu antworten, ehe er zu überlegen vermochte, war sie an die Seite ihres Gatten zurückgekehrt. Sie hatte nur einen Augenblick gesprochen und in diesem Augenblicke hatte ihre Schönheit den Schotten ihrem Willen unterwürfig gemacht. In widerstrebender Anerkennung seiner Unfähigkeit, ihr zu widerstehen, schlug er, die Stirn runzelnd, die Blätter des Briefes um, blickte die leere Stelle an, wo der Hand des Schreibenden die Feder entfallen und einen Tintenfleck verursacht hatte, blätterte zum Anfang zurück und sprach im Interesse der Gattin die Worte, welche diese selbst ihm in den Mund gelegt hatte.

»Sie wünschen vielleicht einige Verbesserungen zu machen, Sir«, begann er, indem er seine Aufmerksamkeit anscheinend auf die Papiere heftete und dabei sehr das Ansehen hatte, als ob er sich wieder seinem mürrischen Temperament hinzugeben im Begriff sei. »Soll ich Ihnen vorlesen, was Sie bereits geschrieben haben?P«

Mrs. Armadale auf der einen Seite am Kopfende des Bettes und der Doctor auf der andern Seite, die Finger auf den Puls des kranken drückend, erwarteten mit verschiedenartiger Besorgniß die Antwort auf Mr. Neals Frage. Mr. Armadales Blicke wandten sich prüfend von seinem Kinde auf seine Gattin.

»Du bestehst darauf, es zu hören?« sagte er. Sie athmete schnell; ihre Hand suchte die seinige, dann neigte sie schweigend das Haupt. Ihr Gatte schwieg; er ging, die Blicke auf sein Weib heftend, heimlich mit sich zu Rathe. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt und gab zur Antwort: »Lesen Sie und hören Sie auf, wenn ich es Ihnen sage.«

Es war fast ein Uhr, und die Hotelglocke rief die Gäste zum Mittagsmahl. Die schnellen Fußtritte und das zunehmende Stimmengesumme drangen bis ins Zimmer, als Mr. Neal das Manuscript vor sich auf den Tisch legte und folgendermaßen zu lesen begann:

»Dieser Brief ist an meinen Sohn gerichtet, der denselben lesen soll, sobald er alt genug ist, um ihn zu verstehen. Da mir alle Hoffnung genommen ist, daß ich lange genug leben werde, um meinen Sohn erwachsen zu sehen, bleibt mir nichts weiter übrig, als das, was ich ihm einst gern mit meinen eigenen Lippen mitgetheilt haben würde, jetzt für ihn niederzuschreiben.

Ich bin durch drei verschiedene Gründe zum Schreiben veranlaßt. Ich wünsche erstens die Umstände bekannt zu machen, unter welchen die Vermählung einer englischen Dame meiner Bekanntschaft auf der Insel Madeira stattfand; zweitens das wahre Licht auf den kurz darauf erfolgten Tod ihres Gatten auf dem französischen Schiffe La Gráce de Dieu zu werfen und drittens meinen Sohn vor einer Gefahr zu Warnen, die seiner harrt, einer Gefahr, die sich aus dem Grabe seines Vaters erheben wird, wenn die Erde dessen Asche bedeckt.

Die Geschichte der Heirath jener englischen Dame beginnt mit meiner Erlangung des großen Armadaleschen Vermögens und meiner Annahme des unglückseligen Namens Armadale.

Ich bin der einzige lebende Sohn des verstorbenen Matthew Wrentmore auf der Insel Barbadoes. Ich ward auf unserer Besitzung auf jener Insel geboren und verlor meinen Vater, als ich noch ein kleines Kind war. Meine Mutter hegte eine blinde Zärtlichkeit für mich; sie versagte mir nie etwas und ließ mich thun, was mir beliebte. Meine Kindheit und meine Jünglingsjahre vergingen in Müßiggang und ungehinderter Befriedigung meiner Wünsche, unter Leuten, meistens Sklaven und Mischlingen, denen mein Wille Gesetz war. Ich bezweifle, ob in ganz England ein Mann meiner Herkunft und meines Standes zu finden, der so unwissend ist, wie ich es noch in diesem Augenblicke bin. Ich bezweifle, ob es in der ganzen Welt einen jungen Menschen gibt, der sich so vollkommen ungezügelt seinen Leidenschaften hingeben darf, wie dies zu jener Zeit mir gestattet war.

Meine Mutter hatte einen romantischen, frauenhaften Widerwillen gegen den einfachen Taufnamen meines Vaters. Ich ward daher nach einem wohlhabenden Vetter meines Vaters, dem verstorbenen Allan Armadale, welcher in unserer Nachbarschaft die größten und ergiebigsten Ländereien besaß und durch Stellvertretung mein Pathe zu sein einwilligte, Allan getauft. Mr. Armadale hatte seine Besitzungen in Westindien nie gesehen. Er lebte in England und bekümmerte sich, nachdem er das übliche Pathengeschenk für mich geschickt, jahrelang gar nicht um mich. Ich war gerade einundzwanzig Jahre alt, als wir zum ersten Male wieder von Mr. Armadale hörten. Meine Mutter erhielt einen Brief von ihm, in welchem er anfragte, ob ich noch am Leben sei, und mich für diesen Fall zum Erben seiner westindischen Besitzungen einsetzte.

Dieses Glück ward mir einzig und allein durch die schlechte Ausführung von Mr. Armadale’s einzigem Sohne zu Theil. Der junge Mann hatte sich rettungslos entehrt, hatte die Heimat verlassen und war sofort auf immer von seinem Vater verstoßen worden. Da er keinen andern männlichen Erben besaß, erinnerte Mr. Armadale sich des Sohnes seines Vetters und seines eigenen Pathen und bot mir und meinen Erben seine westindischen Besitzungen an, doch unter der Bedingung, daß ich und meine Erben seinen Namen annähmen. Der Vorschlag ward mit Dank angenommen, und es wurden sofort alle gesetzlichen Maßregeln zur Aenderung meines Namens in der Colonie und im Mutterlande getroffen. Die nächste Post brachte Mr. Armadale die Nachricht, daß wir seine Bedingung eingegangen, und mit umgehender Post erhielten wir Nachricht von den Rechtsanwälten. Das Testament war zu meinen Gunsten geändert worden und der Tod meines Wohlthäters der eine Woche darauf erfolgte, machte mich zu dem größten Grundeigenthümer und reichsten Manne in Barbadoes.

Dies war das erste Glied in der Kette von Ereignissen Das zweite folgte sechs Wochen später.

Es war zu. jener Zeit unter den Comptoiristen auf der Besitzung eine Stelle vacant, und ein junger Mann meines Alters, der vor kurzem auf der Insel angelangt war, bewarb sich um dieselbe.

Er meldete sich unter dem Namen Fergus Ingleby. Ich ließ mich überall durch meine Impulse leiten und kannte kein anderes Gesetz, als das meiner Laune; ich faßte, sowie ich ihn zum ersten Male sah, eine Vorliebe für den Fremden. Er hatte die Manieren eines Gentleman und besaß die einnehmendsten gesellschaftlichen Eigenschaften denen ich in meinem an Erfahrungen nicht eben reichen Leben je begegnet war. Als ich erfuhr, daß die geschriebenen Empfehlungen, die er mitbrachte, für unzureichend erklärt worden, legte ich mich ins Mittel und bestand darauf, daß die Stelle ihm gegeben würde. Mein Wille war Gesetz, und er erhielt dieselbe.

Meine Mutter hegte von Anfang an Abneigung und Mißtrauen gegen Ingleby. Als sie entdeckte, daß unsere Bekanntschaft schnell zu vertrauter Freundschaft reifte, daß ich diesem Untergebenen —— ich war mein Leben lang fast nur mit Untergebenen umgegangen und fand Gefallen daran —— mein vollstes Zutrauen schenkte, machte sie eine Anstrengung nach der andern, um uns zu trennen, doch schlugen dieselben alle fehl. Aufs Aeußerste getrieben, wollte sie ihre letzte Chance versuchen und schlug mir deshalb eine Reise vor, an die ich selbst schon oft gedacht hatte, eine Reise nach England.

Ehe sie den Gegenstand zur Sprache brachte, beschloß sie, für diesen Besuch in England ein Interesse in mir zu erwecken, wie ich es bisher noch nie gefühlt hatte. Sie schrieb an einen alten Freund und ehemaligen Verehrer, den verstorbenen Stephen Blanchard zu Thorpe-Ambrose in Norfolk, einen Grundeigenthümer und Wittwer mit einer zahlreichen erwachsenen Familie. Aus späteren Entdeckungen entnahm ich, daß sie ihn an ihre alte Zuneigung zu einander erinnerte, welche, wie ich glaube, durch die beiderseitigen Aeltern gestört wurde, und daß sie, als sie Mr. Blanchard bat, ihren Sohn willkommen zu heißen, wenn dieser nach England käme, nach seiner Tochter fragte und so auf eine Heirath anspielte, welche die beiden Familien vereinigen würde, falls die junge Dame und ich einander gefielen. Wir waren nach der Ansicht meiner Mutter in jeder Beziehung ein passendes Paar, und die Erinnerung, die sie von ihrer Mädchenliebe zu Mr. Blanchard bewahrte, ließ ihr die Aussicht einer Verbindung zwischen mir und der Tochter ihres alten Verehrers als die schönste und glücklichste erscheinen, die sich ihrem Auge bieten könnte. Von alledem wußte ich nichts, bis Mr. Blanchard’s Antwort in Barbadoes anlangte. Meine Mutter zeigte mir diesen Brief und legte mir die Versuchung, die mich von Fergus Ingleby trennen sollte, offen in den Weg.

Mr. Blanchard’s Brief war von der Insel Madeira datiert. Er war leidend und des Klimas wegen von seinen Aerzten dorthin gesandt worden. Seine Tochter begleitete ihn. Nachdem er seine herzliche Erwiderung aller Hoffnungen und Wünsche meiner Mutter ausgedrückt, schlug er vor, daß ich, falls ich Barbadoes bald zu verlassen beabsichtigte, ihm auf meiner Reise nach England auf der Insel Madeira einen Besuch abstatten sollte. Falls dies jedoch nicht ausführbar sei, nannte er die Zeit, um die er nach England zurückgekehrt zu sein erwartete, wo ich mich dann eines herzlichen Willkommens in seinem Hause zu Thorpe-Ambrose versichert halten solle. Zum Schlusse entschuldigte er sich deswegen, daß er nicht ausführlicher schriebe, indem er erklärte, daß er sehr an den Augen leide und bereits den ärztlichen Verordnungen ungehorsam gewesen, indem er der Versuchung nachgegeben, mit eigener Hand an seine alte Freundin zu schreiben.

Der Brief allein hätte, ungeachtet des gütigen und freundschaftlichen Tons, in dem derselbe gehalten war, wahrscheinlich wenig Eindruck auf mich gemacht. Doch es kam noch etwas mit dem Brief, es war ein Miniaturportrait von Miß Blanchard demselben beigelegt. Auf die Rückseite des Bildes hatte der Vater halb scherzend, halb aus Zärtlichkeit folgende Worte geschrieben: —— Ich kann nicht, wie gewöhnlich, meine Tochter bitten, meine Augen zu schonen und für mich zu schreiben, ohne sie von Ihren Fragen zu unterrichten und in ihrer Bescheidenheit erröthen zu machen. Deshalb sende ich sie ohne ihr Vorwissen in effigie, damit sie für sich selbst spricht. Es ist ein gutes Portrait von einem guten Mädchen. Falls Ihr Sohn ihr gefällt, und falls er mir gefällt, wovon ich im voraus überzeugt bin, so dürfen wir es noch erleben, meine gute Freundin, unsere Kinder als das zusehen, was wir einst selbst zu sein hofften, als Mann und Frau.« Meine Mutter gab mir Bild und Brief. Das Bild frappierte mich augenblicklich, ich weiß nicht wie und ich weiß nicht warum, wie nichts der Art mich je zuvor frappiert hatte.

Ein schärferer Verstand als der meinige hätte den außerordentlichen Eindruck, den dasselbe auf mich machte, vielleicht meinem damaligen zerrütteten Gemüthszustande zugeschrieben, oder dem Ueberdrusse an den gemeinen Vergnügungen, der sich seit einigen Monaten meiner zu bemächtigen angefangen, oder dem sich aus diesem Ueberdrusse ergebenden unbestimmten Verlangen nach neuen Interessen und frischeren Hoffnungen, als noch bisher meinen Geist erfüllt Ich versuchte keine solche verständige Selbstprüfung; ich glaubte damals an eine Bestimmung; ich glaube noch jetzt an eine solche. Es genügte mir, zu wissen —— und ich wußte es —— daß die erste Regung von etwas Besserem als meiner thierischen Natur durch jenes Mädchenantlitz in mir erweckt wurde, das mich aus jenem Bilde anschaute, wie mich bisher noch kein Weib angeschaut hatte. In jenen zärtlichen Augen und in der Hoffnung, jenes sanfte Wesen zu meiner Gattin zu machen, sah ich meine Bestimmung geschrieben. Das Bild, welches auf so seltsame und so unerwartete Weise in meine Hände gelangt, war der stumme Glücksbote, der mich zu Warnen, zu ermuthigen und emporzurichten gesandt worden, ehe es zu spät sein würde. Ich legte das Bild abends unter mein Kissen, um es am nächsten Morgen immer und immer wieder zu betrachten. Meine am Tage zuvor gefaßte Ueberzeugung blieb dieselbe; mein Aberglaube, wenn man es so nennen will, zeigte mir unwiderstehlich den Weg, den ich wandeln sollte. Es lag ein Schiff im Hafen, das in vierzehn Tagen nach England absegeln und bei Madeira anlegen sollte. Auf diesem Schiffe nahm ich einen Platz für die Ueberfahrt.«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Bis hierher hatte der Schotte gelesen, ohne ein einziges Mal unterbrochen zu werden. Bei diesen letzten Worten jedoch mischten sich die leisen, gebrochenen Töne einer andern Stimme in die seinige.

»War sie blond«, fragte die Stimme, »oder dunkel wie ich?«

Mr. Neal hielt inne und sah auf. Der Doctor saß noch immer am Kopfende des Bettes und seine Finger befühlten mechanisch den Puls des Kranken. Das Kind, welches seinen Nachmittagsschlaf vermißte, begann sein Spielzeug zu vernachlässigen. Die Augen des Vaters beobachteten den Knaben mit verzückter und unausgesetzter Aufmerksamkeit. Nur eine große Veränderung hatte unter den Zuhörern stattgefunden, seit die Vorlesung ihren Anfang genommen. Mrs. Armadale hatte die Hand ihres Gatten sinken lassen und saß mit Von ihm abgewandtem Gesichte da. Das heiße afrikanische Blut glühte roth in ihren dunklen Wangen, als sie hartnäckig die Frage wiederholte; »War sie blond oder dunkel wie ich?«

»Blond«, sagte ihr Gatte, ohne die Fragende anzusehen.

Ein krampfhaftes Zusammenpressen ihrer Hände, die gefaltet auf ihrem Schoße lagen, ——— dies war ihre einzige Antwort. Mr. Neal’s buschige Augenbrauen zogen sich finster zusammen, als er sich der Erzählung wieder zuwandte: Er war höchst unzufrieden mit sich selbst, denn er hatte sich eben darüber ertappt, wie er die Dame im Stillen bemitleidete.

»Ich habe gesagt«, hieß es in dem Briefe weiter, »daß Ingleby mein innigstes Zutrauen gewonnen hatte. Es that mir weh, daß ich ihn verlassen mußte, und der Ausbruch seiner Bestürzung und seines ungeheuchelten Schmerzes, womit er die Mittheilung über meine bevorstehende Abreise aufnahm, machte mich vollends unglücklich. Um mich vor ihm zu rechtfertigen, zeigte ich ihm den Brief nebst dem Bilde und erzählte ihm den ganzen Hergang. Mit der Theilnahme eines wahren Freundes erkundigte er sich bei mir nach Miß Blanchards Familie und Vermögensverhältnissen, ja meine Achtung für ihn und mein Glaube an seine Aufrichtigkeit ward noch dadurch erhöht, daß er mit der größten Selbstverleugnung seine eigne Person in den Hintergrund stellte und mich hochherzig aufmunterte, auf der Ausführung meines jetzigen Vorhabens zu bestehen. Als wir uns trennten, war ich kerngesund und gutes Muths, allein bevor wir uns am nächsten Tage wieder treffen konnten, hatte mich plötzlich eine Krankheit befallen, die meinen Verstand wie mein Leben gleichermaßen bedrohte.

Ich habe keinen Beweis gegen Ingleby. Gab es ja doch mehr als eine Frau auf der Insel, gegen die ich mich in unverzeihlicher Weise vergangen hatte und deren Rache mich in jenem Augenblicke recht wohl erreicht haben mochte. Kurz, ich kann Niemanden anschuldigen Nur das kann ich sagen, daß mein Leben durch meine alte Amme, eine Schwarze, gerettet ward, welche, wie sie mir später bekannte, das gewöhnliche Gegengift der Neger gegen ein dort selbst wohlbekanntes Negergift angewandt hatte. Als ich mich in den ersten Tagen meiner Genesung befand, war das Schiff, auf dem ich meinen Platz zur Ueberfahrt gelöst, längst abgesegelt. Als ich nach Ingleby fragte, erfuhr ich, daß er fort sei. Man legte mir Beweise seines unverzeihlichen Mißverhaltens in seiner neuen Stelle vor, die selbst meine Vorliebe für ihn als vollgültige anerkennen mußte. Er war in den ersten Tagen meiner Krankheit aus dem Comptoir entlassen worden, und man hatte nichts weiter über ihn in Erfahrung gebracht, als daß er die Insel verlassen.

Das Portrait hatte meine ganze Krankheit hindurch beständig unter meinem Kissen gelegen. Während meiner Genesung gewährte dasselbe mir den einzigen Trost, wenn ich meiner Vergangenheit gedachte, und die einzige Ermuthigung für die Zukunft. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie gewaltig der Eindruck war, den dasselbe, unterstützt von der Zeit, der Einsamkeit und dem Leiden, auf mich machte. Meine Mutter war, bei all ihrem Interesse an der Verbindung, erstaunt über den unerwarteten Erfolg ihres Projectes Sie hatte geschrieben, um Mr. Blanchard von meiner Krankheit in Kenntniß zu setzen, jedoch keine Antwort erhalten. Sie erbot sich jetzt, noch einmal zu schreiben, falls ich versprechen wollte, sie nicht eher zu verlassen, als bis ich vollständig genesen sei. Meine Ungeduld wollte sich keinem Zwange unterwerfen. Es lag abermals ein Schiff im Hafen, das mir Gelegenheit, nach Madeira zu kommen, bot, und Mr. Blanchards Brief gab mir die Versicherung, daß ich, falls ich sofort die Gelegenheit benützte, ihn noch auf der Insel antreffen würde. Ungeachtet der Bitten meiner Mutter bestand ich darauf, auf diesem zweiten Schiffe meinen Platz für die Ueberfahrt zu nehmen, und als dasselbe absegelte, befand ich mich an Bord.

Die Abwechselung that mir wohl; die Seeluft machte wieder einen Mann aus mir. Nach einer ungewöhnlich schnellen Fahrt befand ich mich am Ziele meiner Reise. An einem schönen stillen Abende, den ich nie vergessen werde, stand ich allein, mit ihrem Bilde auf dem Herzen, am Strande und sah die weißen Mauern des Hauses, das sie, wie ich wußte, bewohnte.

Ich ging langsam um den Garten herum, um mich zu sammeln, ehe ich denselben betrat. Dann wagte ich mich durch ein Pförtchen in ein kleines Gebüsch und sah eine Dame auf dem Rasen umherwandeln. Sie wandte das Gesicht in meine Richtung und ich erblickte das Original des Portraits, die Verwirklichung meines Traums! Es ist nutzlos, schlimmer als nutzlos, jetzt hierüber zu schreiben. Ich will nur sagen, daß jedes schöne Versprechen, das das Bild meiner Einbildungskraft gegeben, meinem Auge jetzt von dem lebenden Weibe erfüllt ward. Dies will ich sagen —— und nichts weiter.

Zu heftig bewegt, um noch in ihre Gegenwart zu wagen, zog ich mich unbemerkt zurück, ging zur Vorderthür des Hauses herum und fragte zuerst, ob ich den Vater sehen könne. Mr. Blanchard hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und konnte Niemand empfangen. Darauf faßte ich Muth und fragte nach Miß Blanchard. Der Diener lächelte. »Meine junge Dame«, sagte er, »ist nicht mehr Miß Blanchard, Sir; sie ist verheirathet« Diese Worte würden manche Männer in meiner Lage zu Boden geschmettert haben. Sie entflammten mein heißes Blut und ich packte den Diener in meiner Wuth am Halse. »Das ist eine Lüge!« schrie ich ihn an, als ob er einer der Sklaven auf meiner eignen Besitzung gewesen wäre.

»Es ist die Wahrheit, sagte der Mann, mit mir ringend, »ihr Gemahl ist in diesem Augenblicke im Hause.«

»Wer ist es?«

Der Diener antwortete mir, indem er meinen eigenen Namen nannte.

Du wirst jetzt die Wahrheit errathen. Fergus Ingleby war der verstoßene Sohn, dessen Namen und Erbe ich angenommen. Und Fergus Ingleby hatte sich an mir dafür gerächt, daß ich ihm sein Geburtsrecht genommen.

Es ist nöthig, die Art und Weise zu erzählen, in der dieser Betrug verübt worden, um den Antheil, den ich an den auf meine Ankunft in Madeira folgenden Ereignissen nahm, ich will nicht sagen, zu rechtfertigen, doch zu erklären.

Ingleby’s eigenem Bekenntnisse zufolge war er, von dem Tode seines Vaters und meinem Antritt des Vermögens» unterrichtet, in der festen Absicht, mich auszuplündern und mir zu schaden, nach Barbadoes gekommen. Meine unvorsichtige Vertraulichkeit lieferte ihm eine Gelegenheit in die Hände, wie er sie zu finden nie hoffen durfte. Er hatte gewartet, um sich in den Besitz des Briefes zu setzen, den meine Mutter zu Anfang meiner Krankheit an Mr. Blanchard geschrieben, hatte dann selbst seine Entlassung aus dem Comptoir herbeigeführt und war in demselben Schiffe, auf dem ich meinen Platz genommen, nach Madeira abgesegelt. Auf der Insel angelangt, hatte er abermals gewartet, bis das Schiff wieder abgesegelt war, und sich darauf, nicht unter dem angenommenen Namen, den ich ihm hier zu geben fortfahren werde, sondern unter dem Namen, der ebenso wohl der seinige als der meine war, unter dem Namen Allan Armadale, bei Mr. Blanchard eingeführt. Es stellten sich dem Betruge anfänglich wenig Schwierigkeiten in den Weg. Er hatte es nur mit einem kränklichen alten Manne, der meine Mutter seit einem halben Menschenalter nicht gesehen, und einem unschuldigen, arglosen Mädchen zu thun, das dieselbe nie gesehen; in meinem Dienste aber hatte er genug erfahren, um die wenigen Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ebenso leicht beantworten zu können, wie ich dies selber zu thun im Stande gewesen wäre. Sein Aussehen und seine Manieren, sein einnehmendes Wesen gegen Frauen, seine List und Schlauheit thaten das Uebrige. Während ich noch auf dem Krankenbette lag, hatte er Miß Blanchards Zuneigung gewonnen, und während ich in den ersten Tagen meiner Genesung über dem Bilde träumte, hatte er Mr. Blanchard’s Einwilligung zu seiner Vermählung mit der Tochter erlangt, ehe sie und ihr Vater die Insel verließen.

Bis hierher hatte Mr. Blanchard’s getrübte Sehkraft den Betrug unterstützt Er hatte sich damit begnügt, seinen Schwiegersohn mit dem zu beauftragen was er meiner Mutter zu sagen wünschte, und hatte von jenem die erdichteten Erwiderungen erhalten. Doch als der Bewerber angenommen und der Hochzeitstag angesetzt war, hatte er es für seine Schuldigkeit gehalten, selbst an seine alte Freundin zu schreiben, um sie um ihre förmliche Einwilligung zu bitten und zur Hochzeit zu laden. Er konnte selbst nur einen Theil dieses Briefes schreiben; das Uebrige war er seiner Tochter zu dictiren genöthigt. Da diesmal keine Aussicht war, der Post vorzugreifen, lauerte Ingleby, der Herrschaft über sein Opfer gewiß, Miß Blanchard ab, als sie ihres Vaters Zimmer mit dem Briefe in der Hand verließ, und sagte ihr im Vertrauen die Wahrheit. Sie war noch unmündig und die Lage eine bedenkliche Falls der Brief abgesandt wurde, blieb ihnen keine Aussicht, als zu warten und dann auf immer von einander geschieden zu werden, oder unter Verhältnissen, welche Entdeckung zur Gewißheit machten, mit einander zu fliehen. Die Bestimmung jedes Schiffes, mit dem sie abreisen konnten, war im voraus bekannt, und die schnell segelnde Jacht, in der Mr. Blanchard nach Madeira gekommen, wartete im Hafen, um ihn nach England zurückzubringen. Das Einzige, was ihnen so nach übrig blieb, war, daß sie den Betrug fortsetzten, indem sie den Brief zurückbehielten und, sobald sie einmal vermählt waren, die Wahrheit bekannten. Welcher Ueberredungskünste Ingleby sich bediente, oder in welcher schändlichen Weise er ihre Liebe und ihr Zutrauen zu ihm bereits mißbraucht hatte, um Miß Blanchard bis zu seiner eigenen Schlechtigkeit herabzuziehen, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls hatte er sie so weit gebracht. Der Brief ward nie an seine Bestimmung abgesandt, und mit Vorwissen und Billigung der Tochter gelang es ihm, das Zutrauen des Vaters bis zuletzt zu hintergehen.

Die einzige Vorsichtsmaßregel, die sie noch treffen mußten, war die, daß sie die Antwort fabrizierten, welche Mr. Blanchard von meiner Mutter erwartete und welche rechtzeitig mit der Post noch vor dem Tage eintreffen mußte, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Ingleby hatte den gestohlenen Brief meiner Mutter bei sich, doch besaß er nicht die Geschicklichkeit der Nachahmung, die ihn in Stand gesetzt hätte, denselben zu einer Fälschung zu benutzen Miß Blanchard, welche ihre passive Einwilligung zu der Täuschung gegeben, lehnte es ab, sich thätlich bei dem an ihrem Vater verübten Betruge zu betheiligen. In dieser Verlegenheit fand Ingleby ein bereitwilliges Werkzeug in einer Waise, die, kaum zwölf Jahre alt, ein Wunder von frühreifer Geschicklichkeit war und für die Miß Blanchard ein so romantisches Interesse hegte, daß sie sie aus England mit sich nach Madeira genommen hatte, um sie zu ihrer einstigen Kammerjungfer auszubilden. Die schändliche Geschicklichkeit dieses Mädchens räumte das einzige ernstliche Hinderniß aus dem Wege, das den Erfolg des Betrugs bedrohte. Ich sah die Nachahmung der Handschrift meiner Mutter, die sie, unter Ingleby’s Anweisung und —— wenn ich die schändliche Wahrheit bekennen soll —— unter Vorwissen ihrer jungen Herrin, angefertigt hatte, und ich glaube, daß ich selbst durch dieselbe hätte getäuscht werden können. Ich sah das Mädchen später, und bei ihrem Anblicke erstarrte mir das Blut in den Adern. Wehe denjenigen, die ihr vertrauen, falls sie noch am Leben ist! Ein falscheres und herzloseres Geschöpf als sie hat kaum die Erde getragen.

Der gefälschte Brief ebnete den Weg zur Vollziehung der Heirath, und als ich im Hause anlangte, waren sie, wie mir der Diener sagte, Mann und Weib. Meine Ankunft auf dem Schauplatze führte das Bekenntniß, welches sie beide abzulegen beschlossen hatten, nur etwas früher herbei. Ingleby gestand die schmachvolle Wahrheit mit seinen eigenen Lippen. Er hatte dabei nichts zu verlieren, da er verheirathet war und das Vermögen seiner Gattin sich außer der Macht ihres Vaters befand. Ich übergehe, was darauf folgte, meine Zusammenkunft mit der Tochter, sowie meine Unterredung mit dem Vater, um zu den Folgen zu kommen. Zwei Tage gelang es den Bemühungen der Gattin und denen des Geistlichem der sie getraut hatte, mich und Ingleby von einander fern zu halten. Am dritten hatte ich meine Schlinge glücklicher gelegt, und ich trat dem Mann, der mir ein so tödtliches Unrecht angethan, unter vier Augen gegenüber.

Bedenke, wie mein Vertrauen hintergangen, bedenke, wie der eine gute Zweck meines Lebens vernichtet worden war; bedenke die heftigen Leidenschaften, welche tief in meiner Natur wurzelten und nie bekämpft worden waren, und dann mache Dir eine Vorstellung von dem, was sich zwischen uns beiden zutrug. Das Einzige, was ich hier zu erzählen brauche, ist das Ende. Er war ein größerer und stärkerer Mensch als ich und benutzte mit viehischer Roheit diesen Vortheil. Er schlug mich.

Erinnere Dich des Unrechts, das jener Mensch mir angethan, und daß er danach mein Gesicht durch einen Faustschlag brandmarkte!

Ich ging zu einem englischen Offizier, der auf der Ueberfahrt von Barbadoes mein Reisegefährte gewesen, und er stimmte mit mir überein, daß ein Duell unvermeidlich sei. Das Duellieren hatte seine bestimmten Gesetze und Formalitäten, und er machte mich auf dieselben aufmerksam. Ich unterbrach ihn. »Ich will eine Pistole in die rechte Hand nehmen, und er soll dasselbe thun«, sagte ich; »dann will ich mit der linken ein Taschentuch an dem einen Zipfel anfassen, während er mit seiner linken den andern nimmt, und über diesem Taschentuch soll das Duell stattfinden.« Der Offizier stand auf und sah mich an, als ob ich ihm eine persönliche Beleidigung zugefügt hätte. »Sie fordern meine Gegenwart bei einem Morde und einem Selbstmorde«, sagte er; »ich schlage es aus, Ihnen zu dienen.« Er verließ das Zimmer. Sowie er fort war, schrieb ich die Worte, die ich zu ihm gesprochen, auf ein Blatt Papier und sandte dasselbe durch einen Boten an Ingleby. Während ich auf die Antwort wartete, setzte ich mich vor einen Spiegel und betrachtete die Stelle in meinem Gesichte, wo mich sein Schlag getroffen. »Mancher Mensch«, dachte ich, »hat für Geringeres Blut an seinen Händen und auf seinem Gewissen.«

Der Bote kehrte mit Ingleby’s Antwort zurück. Dieselbe setzte das Zusammentreffen auf Nachmittags drei Uhr des folgenden Tages an einer einsamen Stelle im Innern der Insel fest. Ich hatte, falls er sich geweigert hätte, meinen Entschluß gefaßt; sein Brief ersparte mir die Ausführung einer Gräuelthat. Ich war ihm dankbar, ja, geradezu dankbar dafür, daß er denselben geschrieben.

Am folgenden Tage begab ich mich nach der bestimmten Stelle. Er war nicht dort. Ich wartete zwei Stunden; er kam nicht. Endlich ahnte ich die Wahrheit. »Einmal feig, immer feig«, dachte ich. Ich kehrte nach Mr. Blanchard’s Wohnung zurück. Ehe ich dort anlangte, kam mir plötzlich ein Gedanke und ich wandte mich nach dem Hafen. Ich hatte Recht. Der Hafen war der Ort, nach dem ich meine Schritte lenken mußte. Ein Schiff, das an jenem Nachmittage nach Lissabon absegelte, hatte ihm die Gelegenheit geboten, für sich und seine Gattin Plätze auf demselben zu nehmen und mir zu entwischen. Seine Antwort auf meine Herausforderung hatte den Zweck gehabt, mich aus dem Wege zu bringen. Ich hatte Fergus Ingleby nochmals geglaubt und war abermals durch seine Schlauheit überlistet worden.

Ich fragte den Mann, der mich hiervon in Kenntniß setzte, ob Mr. Blanchard von der Abreise seiner Tochter unterrichtet sei. Er hatte dieselbe erfahren, doch erst nachdem das Schiff bereits abgesegelt war. Diesmal nahm ich mir Ingleby’s Schlauheit zur Lehre. Anstatt mich in Mr. Blanchards Hause zu zeigen, ging ich nach dem Hafen hinunter und nahm Mr. Blanchard’s Jacht in Augenschein.

Das Schiff sagte mir, daß der Besitzer desselben wohl die Wahrheit verschwiegen haben mochte. Ich fand dasselbe in der Verwirrung eines unerwarteten plötzlichen in See Stechens vor. Die Mannschaft befand sich an Bord, mit Ausnahme von ein paar Leuten, die auf Urlaub landeinwärts gegangen waren, Niemand wußte wohin. Sowie ich entdeckte, daß der Kapitän diese durch die ersten besten Leute zu ersetzen beabsichtigte, deren er in der Eile habhaft werden konnte, hatte ich augenblicklich meinen Entschluß gefaßt. Ich war sehr wohl mit dem Dienste an Bord einer Jacht bekannt, da ich selbst eine solche besessen und commandirt hatte. Ich eilte in die Stadt, rauschte meinen Rock und Hut gegen die Jacke und den Hut eines Matrosen um, kehrte nach dem Hafen zurück und erbot mich, unter den Freiwilligen zu dienen. Ich weiß nicht, was der Kapitän in meinem Gesichte sah; meine Antworten auf seine Fragen stellten ihn zufrieden und dennoch saher mich scharf an und zögerte. Doch es fehlte an Leuten und ich ward endlich angenommen. Eine Stunde später langte Mr. Blanchard, an Geist und Körper leidend, auf dem Schiffe an und ward in seine Kajüte geschafft. Abermals eine Stunde später befanden wir uns unter einem sternlosen Wolkenhimmel und vor einer straffen Brise auf offener See.

Wie ich vermuthet hatte, galt es der Verfolgung des Schiffes, in welchem Ingleby und seine Gattin an jenem Nachmittage die Insel verlassen hatten. Das Schiff war ein französisches und zum Holzhandel bestimmt, sein Name La Gráce de Dieu. Es war nichts weiter über dasselbe bekannt, als daß es, nach Lissabon bestimmt, aus seinem Curs getrieben worden sei und aus Mangel an Leuten und Proviant vor Madeira angelegt hatte. Dem letzteren Mangel war abgeholfen worden, doch nicht dem erstem. Die Matrosen mißtrauten dem Fahrzeuge in Bezug auf seine Seetüchtigkeit und es mißfiel ihnen das Aussehen der vagabondenartigen Mannschaft. Als man Mr. Blanchard diese beiden ernsten Thatsachen mittheilte, hatte er sich bereits über die harten Worte, die er im ersten Augenblicke nach der Entdeckung, daß sein Kind ihn zu hintergehen behilflich gewesen, zu diesem gesprochen, bittere Vorwürfe gemacht Er beschloß augenblicklich, seiner Tochter auf seinem eigenen Schiffe eine Zufluchtsstätte zu bieten und sie zu beruhigen, indem er ihren Gatten vor allem Unheil, das ihm von meinen Händen drohen konnte, schützte. Die Jacht segelte dreimal so schnell als das andere Schiff. Es unterlag keinem Zweifel, daß wir dasselbe einholen würden; die einzige Befürchtung war die, daß wir des Nachts an dem Schiffe vorbei segeln könnten.

Nachdem wir eine kleine Weile auf dem Wasser gewesen, legte sich plötzlich der Wind, und an seine Stelle trat eine drückende Stille. Als der Befehl ertheilt ward, die Topmasten aufs Verdeck zu schaffen und die großen Segel umzulegen, wußten wir alle, was wir zu erwarten hatten. In wenig mehr als einer Stunde hatte der Sturm uns ereilt, der Donner rollte über unsern Häuptern und das Schiff flog vor dem Winde dahin. Es war ein kräftiges, wie ein Schooner getakeltes Fahrzeug von dreihundert Tonnen, so stark, wie Holz und Eisen es nur zu machen im Stande sind, es ward von einem Kapitän befehligt, der sein Handwerk gründlich verstand, und es gehorchte ihm vortrefflich. Als der Morgen anbrach, ließ die Wuth des Windes, der noch immer aus Südwesten kam, etwas nach und die See ging weniger hoch. Kurz vor Tagesanbruch hörten wir durch das Geheul des Sturms hindurch den Knall einer Kanone. Die Leute, welche besorgnißvoll auf dem Verdeck versammelt standen, schauten einander an und sagten: »Das ist das Schiff!«

Als der Tag angebrochen war, sahen wir das Schiff. Es war in der That das Holzschiff. Dasselbe wurde von den Wellen hin und her geworfen, Fockmast und Hauptmast waren verschwunden und das Fahrzeug ein hilfloses Wrack. Die Jacht führte drei Boote bei sich, von denen das eine sich auf dem Verdeck befand, die beiden andern aber an den Schiffsseiten aufgehangen waren. Da der Kapitän aus gewissen Zeichen des Wetters entnahm, daß der Sturm bald wieder losbrechen werde, beschloß er, solange die Stille noch währte, die beiden Seitenboote auszusetzen. Mochten sich auch nur wenig Leute an Bord des Wracks befinden, so waren es doch zu viel, um alle in einem einzigen Boote gerettet zu werden, und es ward für minder gefahrvoll erachtet, beide Boote zugleich abzusenden, als in diesem kritischen Zustande des Wetters zwei Hin- und Herfahrten zwischen der Jacht und dem Holzschiffe zu wagen.

Die Boote wurden mit Freiwilligen bemannt und ich befand mich in dem zweiten. Als das erste Boot an der Schiffsseite des Wracks anlangte, was nur mit unsäglichen Schwierigkeiten und großer Gefahr bewerkstelligt ward, stürzten die Leute an Bord des letzteren alle zugleich herbei, um alle auf einmal das Wrack zu verlassen. Wäre das Boot nicht abgestoßen, ehe sie alle hineinspringen konnten, so würde dasselbe mit seinen Insassen unfehlbar zu Grunde gegangen sein. Wie unser Boot sich daraus dem Wrack näherte, kamen wir überein, daß vier von uns an Bord gehen sollten, nämlich ich und ein Andern, um Mr. Blanchard’s Tochter in Sicherheit zu bringen, während zwei Andere die noch übrigen feigen Gesellen abzuwehren hatten, falls sie sich zuerst in das Boot zu drängen versuchten. Der Bootführer aber und zwei Ruderer sollten im Boote zurückbleiben, um dafür zu sorgen, daß dasselbe nicht von dem sich umherwälzenden Wrack zermalmt werde. Was die Andern sahen, als sie aufs Verdeck der Grace de Dieu sprangen, weiß ich nicht; ich sah nur das Weib, welches ich verloren, das Weib, das mir schändlich gestohlen worden, in tiefer Ohnmacht auf dem Verdeck liegen. Wir ließen sie, bewußtlos wie sie war, in das Boot hinab. Dann erst durfte die übrige Mannschaft, fünf an der Zahl, folgen, und zwar Einer nach dem Andern und in minutenlangen Zwischenräumen, wie die Sicherheit des Bootes es erforderte. Ich war der Letzte, der das Wrack verließ; und wie das Schiff das nächste Mal zu uns herüber rollte, sagte das leere Verdeck, auf dem vom Spiegel bis zum Bugspriet kein lebendes Wesen mehr zu sehen war, unsern Leuten, daß ihr Werk vollendet sei. Das immer lauter werdende Heulen des sich erhebenden Sturmes mahnte sie, ums Leben zu rudern, wenn sie die Jacht erreichen wollten.

Eine Reihe heftiger Windstöße hatte den Curs des im Anzuge begriffenen Sturmes von Süden nach Norden umgelegt, und der Kapitän hatte die Jacht vom Winde abfallen lassen, um auf den Sturm gefaßt zu sein, der denn auch, noch ehe der Letzte unserer Leute wieder an Bord war, mit der Wuth eines Orkans über uns losbrach. Unser Boot ward vom Wasser verschlungen, doch kein einziges Menschenleben ging dabei verloren. Und abermals flogen wir, der Gewalt des Windes preisgegeben, in südlicher Richtung vor diesem dahin. Ich stand mit den Uebrigen auf dem Verdeck und beobachtete den einzigen Fetzen von Segel, den wir auszuspannen wagen durften, bereit, dasselbe durch ein frisches zu ersetzen, falls der Wind es aus den Segelsäumen riß. Da trat der Steuermann hart an mich heran und durch das Sturmgetöse brüllte er mir ins Ohr: »Sie ist in der Kajüte wieder zu sich gekommen und fragt nach ihrem Gatten; wo ist er?« Kein Mensch an Bord wußte dies. Man durchsuchte die Jacht von einem Ende zum andern, ohne ihn zu finden. Die Leute wurden, trotz des Unwetters, gemustert; er befand sich nicht unter ihnen. Die Mannschaften der beiden Boote wurden befragt. Aber alles, was die Mannschaft des ersten Bootes zu sagen vermochte, war, daß sie, als die Leute vom Wrack auf das Boot losgestürzt, fort gerudert sei und nicht wisse, wen sie aufgenommen und wen zurückgelassen habe. Die Mannschaft des zweiten Bootes konnte nur berichten, daß sie jede lebende Seele, die das erste Boot auf dem Verdeck des Schiffes zurückgelassen, nach der Jacht zurückgebracht hatte. Niemand traf ein Tadel; aber gleichwohl blieb es eine Thatsache, daß der Mann fehlte.

Der Sturm, welcher den ganzen Tag nicht zu toben aufhörte, schnitt uns jede Möglichkeit ab, zu dem Wrack zurückzukehren und dasselbe zu durchsuchen. War doch unsre eigne Jacht gezwungen, sich einfach vom Winde treiben zu lassen. Erst gegen Abend ließ der Sturm, der uns südlich von Madeira hinab gejagt, ein wenig nach, und da der Wind jetzt umsprang, konnten wir der Insel zusteuern. Am folgenden Morgen früh langten wir wieder im Hafen an. Mr. Blanchard und seine Tochter wurden ans Land gesetzt, und der Kapitän begleitete sie, nachdem er uns angekündigt, daß er bei seiner Rückkehr uns etwas zu sagen habe, das die ganze Mannschaft nahe angehe.

Nach der Rückkehr des Kapitäns wurden wir auf dem Verdeck gemustert und von ihm angeredet. Er habe Befehl von Mr. Blanchard, unverzüglich nach der Grace de Dieu zurückzukehren und den Fehlenden aufzusuchen. Dies seien wir Mr. Blanchard und namentlich seiner Tochter schuldig, welche, wie die Aerzte befürchteten, den Verstand verlieren würde, falls nichts geschehe, sie zu beruhigen. Wir dürften fast überzeugt sein, das Schiff noch über Wasser zu finden, denn die Holzladung desselben müsse es, solange der Rumpf nicht geborsten sei, schwimmend erhalten. Der Mann müsse aufgesucht und, falls er sich an Bord befinde, todt oder lebendig, zurückgebracht werden. Wenn der Sturm nachzulassen fortfahre, so sei kein Grund vorhanden, weshalb die Leute, mit angemessenem Beistande, nicht das Schiff ebenfalls mit zurückbringen und, da er, der Kapitäm hierzu völlig bereit sei, den Bergelohn mit den Offizieren der Jacht theilen sollten.

Diese Rede ward von den Leuten mit einem dreimaligen Hurrah beantwortet, und sie machten sich augenblicklich ans Werk, um wieder mit dem Schooner in See zu stechen. Ich war der Einzige unter ihnen, der sich von dem Unternehmen zurückzog, indem ich erklärte, daß ich in Folge des Sturmes krank sei und der Ruhe bedürfe. Wie ich die Jacht verließ, schauten sie mir Mann für Mann ins Gesicht und kein Einziger von ihnen sprach ein Wort mit mir.

Während jenes ganzen Tages wartete ich in einem Wirthshause am Hafen auf Nachricht von dem Wrack, bis endlich gegen Abend ein Lootsenboot, das an der Rettung des verlassenen Schiffes theilgenommen, mit der Meldung anlangte, La Gráce de Dieu sei noch über Wasser und Ingleby’s Leichnam in der Kajüte gefunden worden, wo er ertrunken sein müsse. Am folgenden Morgen ward der Todte bei Tagesanbruch auf die Jacht gebracht und noch an demselben Tage am dem protestantischen Friedhofe beerdigt.«

»Halt!« rief die Stimme vom Bette her, ehe der Leser umwenden und einen neuen Absatz beginnen konnte.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Seit Mr. Neal das letzte Mal von seiner Lectüre aufgeblickt, hatten in dem Zimmer und unter seinen Zuhörern einige Veränderungen stattgefunden. Ein Sonnenstrahl fiel aus das Sterbelager, und das Kind, von Müdigkeit überwältigt, lag friedlich schlummernd in dem goldenen Licht. Das Gesicht des Vaters hatte sich merklich verändert; durch den gequälten Geist zur Thätigkeit gezwungen, hatten die bisher bewegungslosen unteren Gesichtsmuskeln jetzt sich zu verzerren angefangen. Der dichte Schweiß aus der Stirn des Sterbenden hatte den Arzt veranlaßt, sich zu erheben, um diesem ein Stärkungsmittel zu geben. Auf der andern Seite des Bettes stand der leere Sessel der Gattin, welche in dem Augenblick wo Mr. Armadale den Leser unterbrochen, hinter das Kopfende des Bettes zurückgetreten war, um seinen Blicken zu eingehen. Dort stand sie, sich versteckend, an die Wand gelehnt und heftete die Augen in gieriger Erwartung auf das Manuscript in Mr. Neal’s Händen.

Eine Minute später ward die Stille abermals durch Mr. Armadale unterbrochen.

»Wo ist sie?« frug er, indem er zornig auf den leeren Sessel blickte. Der Doctor deutete auf die Stelle, wo sie stand, und so blieb ihr nichts weiter übrig, als vorzutreten. Sie kam langsam und stellte sich vor ihn hin.

»Du versprachst zu gehen, wenn ich es Dir heißen würde«, sagte er. »Geh’ jetzt!«

Mr. Neal gab sich alle Mühe, seine Hand zu beherrschen, die zwischen den Blättern des Manuscripts die Stelle anmerkte; gleichwohl konnte er ein Zittern derselben nicht unterdrücken. Ein Verdacht, der inzwischen langsam in seinem Geiste aufgestiegen war, ward ihm zur Gewißheit, als er jene Worte hörte. Der Brief war von einer Enthüllung zur andern fortgeschritten, bis derselbe jetzt endlich bei einer letzten Offenbarung angelangt war, welche der Sohn erst in späteren Jahren, das Weib aber nie erfahren sollte. Deshalb hatte der Sterbende, noch bevor er seiner Gattin erlaubt hatte, die Erzählung mit anzuhören, bei sich beschlossen, der Stimme des Vorlesers Schweigen zu gebieten, wenn er zu dieser Stelle käme; und daß ihn in diesem Entschlusse die zärtlichsten Bitten seiner Gattin um keinen Zoll wanken gemacht hatten, dies erfuhr sie jetzt von seinen eigenen Lippen.

Ohne ein Wort zu erwidern stand sie da und blickte ihn an; mit ihren Blicken sprach sie ihr letztes Flehen aus —— vielleicht ihr letztes Lebewohl. Seine Augen hatten keinen Blick der Erwiderung für sie, sondern wanderten erbarmungslos von ihr fort nach dem schlafenden Knaben. Sprachlos wandte sie sich vom Bette ab, und ohne einen Blick auf das Kind, ohne ein Wort zu den beiden Fremden, die sie athemlos beobachteten, verließ sie, ihrem gegebenen Versprechen getreu, in tiefem Schweigen das Zimmer.

Es lag etwas in der Art und Weise ihres Fortgehens, das die Selbstbeherrschung der beiden Männer erschütterte, welche Zeugen desselben waren. Als die Thür sich hinter ihr schloß, fühlten sie ein instinctmäßiges Widerstreben, sich noch ferner mit einer Sache zu befassen, deren Tragweite sie nicht im mindesten ermessen konnten. Der Doctor war der Erste, der diesem Gefühle Ausdruck gab, indem er von dem Patienten Erlaubniß zu erhalten versuchte, sich zurückziehen zu dürfen, bis der Brief beendet sei. Der Patient verweigerte ihm diese Erlaubniß.

Dann erhob Mr. Neal mit etwas ernsterem Nachdruck seine Stimme.

»Der Doctor«, begann er, »ist gleich mir in seinem Berufe daran gewöhnt, daß ihm von Andern Geheimnisse anvertraut werden. Doch ist es, ehe ich in der Sache weiter gehe, meine Pflicht, Sie zu fragen, ob Sie wirklich die außerordentliche Stellung begreifen, die wir Ihnen gegenüber einnehmen. Sie haben Mrs. Armadale soeben vor unsern Augen von Ihrem Vertrauen ausgeschlossen, welches Sie doch jetzt zwei Männern anbieten, die Ihnen völlig fremd sind.«

»Ja«, erwiderte Mr. Armadale, »eben weil sie mir fremd sind.« Diese wenigen Worte ließen einen Schluß zu, der nicht eben geeignet war, den Argwohn der beiden Männer zu beschwichtigen. Mr. Neal sprach denselben deutlich in folgenden Worten aus:

»Sie benöthigen dringend meiner und des Doctors Hilfe«, sagte er. »Habe ich Ihre Worte so aufzufassen, daß es Ihnen, solange Sie unseres Beistandes gewiß sind, völlig gleichgültig ist, welchen Eindruck der Schluß Ihrer Mittheilungen auf uns macht?«

»Ja. Ich schone Sie nicht. Ich schone mich selber nicht. Mein Weib aber schone ich.«

»Sie zwingen mich zu einer Schlußfolgerung Sir, die mir als eine sehr bedenkliche erscheint«, entgegnete Mr. Neal. »Falls Sie mir diesen Brief zu Ende zu dictiren verlangen, werden Sie mir, nachdem ich den größeren Theil desselben bereits vorgelesen, auch erlauben, den Rest noch in Gegenwart dieses Herrn als Zeugen vorzulesen.«

»Lesen Sie!«

Voll ernsten Zweifels ließ der Arzt sich wieder auf seinen Sessel nieder; voll ernster Zweifel schlug Mr. Neal das Blatt um und las weiter:

»Ehe ich den Todten ruhen zu lassen vermag, habe ich noch etwas zu berichten. Ich habe erwähnt, wie man seinen Leichnam fand, ohne jedoch der Umstände zu gedenken, unter denen er seinen Tod fand.

Es war bekannt, daß er sich auf dem Verdeck befunden hatte, als man die Mannschaft der Jacht in den beiden Booten dem Wrack zu rudern gesehen; aber in der Verwirrung, die durch die Angst der Mannschaft herbeigeführt ward, hatte man ihn später nicht beachtet. Zu jener Zeit stand das Wasser fünf Fuß hoch in der Kajüte und stieg mit großer Schnelligkeit. Es unterlag wenig Zweifel, daß er freiwillig in jenen vom Wasser erfüllten Raum hinuntergestiegen sei. Denn sowohl die Entdeckung des Schmuckkästchens seiner Gattin, das unter ihm auf dem Fußboden gefunden ward, als auch der Umstand, daß er das Herannahen unserer Rettungsboote bemerkt hatte, machten es vollkommen wahrscheinlich, daß er in die Kajüte hinabgestiegen sei, um einen Versuch zu machen, das Schmuckkästchen zu retten. Weniger wahrscheinlich war es, obgleich immer wohl anzunehmen, daß sein Tod durch irgendeinen Unfall beim Untertauchen herbeigeführt worden sei, der ihm für den Augenblick die Besinnung geraubt. Doch eine Entdeckung, welche von der Mannschaft der Jacht gemacht wurde, wies auf eine deutliche Lösung des Geheimnisses hin und erfüllte die Leute alle mit Entsetzen. Als sie im Verlauf ihrer Nachsuchung an die Kajüte kamen, fanden sie die Springluke verriegelt und die Thür von außen verschlossen. Hatte man die Kajüte zugeschlossen, ohne zu wissen, daß sich Ingleby dort befinde? Allein von dem angsterfüllten Zustande der Mannschaft gänzlich abgesehen, war durchaus kein Grund vorhanden, weshalb irgend Jemand, ehe er das Wrack verließ, die Kajüte hätte verschließen sollen. Deshalb blieb nur noch ein Schluß übrig. Hatte irgendeine mörderische Hand absichtlich den Mann eingeschlossen, damit er in dem schnell steigenden Wasser ertränke?

Ja. Eine mörderische Hand hatte ihn eingeschlossen, um ihn ertrinken zu lassen. Diese Hand war die meinige.«

Der Schotte sprang von seinem Sitze am Tische empor; der Doctor fuhr von dem Bette zurück. Von dem gleichen Abscheu erfüllt, durch dasselbe Grausen erstarrt, blickten beide auf den sterbenden Bösewicht. Dort lag er, mit dem Haupte seines Kindes an seiner Brust; von der Theilnahme der Menschen verlassen, von Gottes Gerechtigkeit verflucht —— dort lag er, in der Vereinsamung eines Kain, und gab ihren Blick zurück.

In demselben Augenblicke, wo die beiden Männer aufstanden, ward die Thür, die in das anstoßende Zimmer führte, heftig von der Außenseite erschüttert, und ein Geräusch, wie das eines schweren Falles, machte sie beide schweigen. Der Doctor, welcher der Thüre zunächst stand, öffnete dieselbe, ging hinaus und schloß sie augenblicklich wieder hinter sich. Mr. Neal wandte dem Bette den Rücken zu und wartete schweigend ab, was sich ereignet hatte. Das Geräusch, welches das Kind nicht aus dem Schlummer geweckt, hatte auch nicht die Aufmerksamkeit des Vaters erregt. Seine eigenen Worte hatten ihn weit von dem hinweg versetzt, was sich an seinem Sterbebette zutrug. Sein hilfloser Körper befand sich wieder aus dem Wrack, und das Gespenst seiner leblosen Hand drehte wieder den Schlüssel in der Kajütenthür um.

Im nächsten Zimmer wurde heftig geschellt —— eifrige Stimmen redeten durch einander, eilige Schritte gingen hin und her —— es vergingen einige Augenblicke, und dann kam der Doctor zurück »Hatte sie gelauscht?« flüsterte Mr. Neal auf Deutsch. »Die Frauen sind beschäftigt, sie zum Bewußtsein zurückzurufen«, erwiderte der Arzt ebenfalls leise. »Sie hat alles gehört. Sagen Sie mir um Gottes willen, was wir zunächst thun sollen?« Ehe es dem Schotten möglich war, zu antworten, erhob Mr. Armadale abermals seine Stimme. Die Rückkehr des Doctors hatte ihn zur Gegenwart zurückgerufen.

»Fahren Sie fort«, sagte er, als wäre nichts vorgefallen.

»Ich mag mich ferner nicht mit Ihrem schändlichen Geheimnisse befassen«, versetzte Mr. Neal »Sie sind Ihrem eigenen Bekenntnisse zufolge ein Mörder. Falls jener Brief beendet werden soll, verlangen Sie wenigstens nicht von mir, daß ich dazu die Feder ansetze!«

»Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben«, war die Antwort, die mit derselben unbeweglichen Gelassenheit gesprochen wurde. »Sie müssen entweder für mich schreiben oder Ihr Wort brechen.«

Für den Augenblick war Mr. Neal zum Schweigen gebracht. Dort lag der Mann, durch den Schatten des Todes gegen den Abscheu seiner Mitmenschen geschützt, außer dem Bereiche aller menschlichen Verdammung, außer dem Bereiche aller irdischen Gesetze; nur eines einzigen letzten Entschlusses sich bewußt, des Entschlusses, den Brief an seinen Sohn zu beenden.

Mr. Neal zog den Arzt auf die Seite »Ein Wort«, sagte er auf Deutsch. »Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, daß er die Sprache verlieren kann, bis wir nach Stuttgart zu senden im Stande sind?«

»Sehen Sie seine Lippen an«, erwiderte der Arzt, »und urtheilen Sie dann selbst.«

Die Lippen des Sterbenden beantworteten die Frage; denn eine Verzerrung der Mundwinkel, die kaum bemerkbar gewesen war, als Mr. Neal zuerst ins Zimmer getreten, war jetzt deutlich sichtbar, und seine langsame Articulation ward mit jedem Worte, das er sprach, immer schwerer und mühsamer. Die Lage war eine fürchterliche. Nach einem Augenblicke des Zögerns machte Mr. Neal einen letzten Versuch, sich aus derselben herauszuziehen.

»Können Sie es wagen, mich jetzt, da mir die Augen geöffnet sind, an ein Versprechen zu binden, das ich in Unwissenheit gab?«

»Nein«, erwiderte Mr. Armadale, »ich lasse Ihnen die Freiheit, Ihr Wort zu brechen.«

Der Blick, welcher diese Antwort begleitete, versetzte dem Stolze des Schotten einen empfindlichen Stich. Als er das nächste Mal sprach, geschah dies von seinem Platze am Schreibtische aus.

»Es hat noch kein Mensch von mir sagen können, daß ich je mein Wort gebrochen«, entgegnete er aufgebracht, »und selbst Sie sollen dies jetzt nicht von mir sagen dürfen. Doch vergessen Sie nicht! Wenn Sie mich an mein Versprechen binden, so binde ich Sie an meine Bedingung. Ich habe mir unbedingte Freiheit in meinem Verhalten vorbehalten, und erinnere Sie hiermit daran, daß ich, sobald ich mich von Ihrem Anblicke befreit sehe, nach eigenem Gutdünken Gebrauch von derselben zu machen beabsichtige.«

»Bedenken Sie, daß er im Sterben liegt«, bat der Doktor sanft.

»Kehren Sie auf Ihren Platz zurück, Sir«, sagte Mr. Neal, auf den leeren Sessel deutend. »Ich will das, was mir noch zu lesen bleibt, nur in Ihrer Gegenwart lesen, und was noch zu schreiben ist, nur in Ihrer Gegenwart schreiben Sie haben mich hierher gebracht. Ich habe das Recht, daraus zu bestehen —— und ich bestehe darauf —— daß Sie bis zuletzt als Zeuge dableiben.«

Der Doktor fügte sich, ohne eine Einwendung zu machen, in seine Lage Mr. Neal nahm sein Manuscript wieder auf und las den Rest desselben ohne weitere Unterbrechung bis zu Ende.

»Ich habe, ohne ein Wort zu meiner Entschuldigung vorzubringen, meine Schuld bekannt. Ohne ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen, will ich jetzt berichten, in welcher Weise das Verbrechen verübt ward.

Kein Gedanke an ihn beschäftigte mich, als ich seine Gattin bewußtlos auf dem Verdeck des Schiffes liegen sah. Ich that das Meinige, um sie sicher in das Boot zu schaffen. Erst nachdem dies geschehen, kam er mir wieder in den Sinn. In der Verwirrung, welche herrschte, während unsre Mannschaft die Leute des Schiffes zwang, ordentlich und der Reihe nach ins Boot zu steigen, fand ich Gelegenheit, unbeachtet nach ihm zu suchen. Nicht wissend, ob er sich mit im ersten Boote befunden oder noch an Bord des Wracks sei, näherte ich mich der Mitte des Verdecks und sah ihn mit leeren Händen und von Wasser triefend die Kajütentreppe herauskommen. Nachdem er, ohne mich zu bemerken, einen schnellen begierigen Blick aus das Boot geworfen, überzeugte er sich, daß ihm noch Zeit bliebe, ehe die Mannschaft abstoßen könne. »Noch einmal!« sprach er zu sich selber und verschwand wieder, um einen letzten Versuch zur Rettung des Schmuckkästchens zu machen. Der Teufel flüsterte mir ins Ohr: »Erschieße ihn nicht, wie einen Mann; ersäufe ihn, wie einen Hund!« Er befand sich unter Wasser, als ich die Springluke verriegelte. Aber sein Kopf tauchte aus der Wasserfläche empor, ehe ich die Kajütenthür verschließen konnte. Er blickte mich an, und ich ihn —— und ich schloß die Thür vor seinen Augen. Im nächsten Augenblick stand ich wieder unter den Wenigen, die noch auf dem Verdeck harrten, und eine Minute später war es zu spät, um zu bereuen; der Sturm drohte uns mit Vernichtung und die Mannschaft ruderte mit aller Gewalt vom Schiffe fort.

Mein Sohn! Ich verfolge Dich aus meinem Grabe mit einem Bekenntnisse, womit meine Liebe Dich gern verschont hätte. Lies weiter, dann wirst Du erfahren warum.

Ich will nichts von meinen Leiden sagen, will Dich nicht um Mitleid für mein Andenken bitten. Während ich dies schreibe, fühle ich eine seltsame Mattigkeit des Herzschlags, ein seltsames Zittern der Hand, welches mich mahnt, zum Schlusse zu eilen. Ich verließ die Insel, ohne zu wagen, das Weib, welches ich in so jammervoller Weise verloren und dem ich ein so schmachvolles Unrecht zugefügt, noch einmal zu sehen. Als ich mich entfernte, lastete der ganze Verdacht, den Ingleby’s Todesart erweckt hatte, auf der Mannschaft des französischen Schiffes. Es konnte keinem derselben ein Beweggrund für diesen Mord untergeschoben werden; aber da sie meistens als geächtete und jedes Verbrechens fähige Missethäter bekannt waren, so fiel der Verdacht auf sie und man unterwarf sie einer gerichtlichen Untersuchung. Erst später hörte ich durch Zufall, daß sich der Verdacht auf mich gelenkt habe. Die Wittwe allein erkannte aus der undeutlichen Beschreibung, die man ihr von dem Fremden machte, welcher sich unter der Mannschaft der Jacht befunden hatte und am Tage nach der That verschwunden war, wer der Mörder gewesen; sie allein wußte auch, warum ihr Gatte gemordet worden sei. Als sie diese Entdeckung machte, hatte sich ein falsches Gerücht von meinem Tode auf der Insel verbreitet, und diesem Gerüchte verdankte ich vielleicht, daß ich von jeder gerichtlichen Verfolgung verschont blieb. Auch war es wohl möglich, da außer Ingleby kein menschliches Auge mich die Kajütenthür hatte verschließen sehen, daß es an hinreichenden Beweismitteln gebrach, um eine Untersuchung zu rechtfertigen; —— vielleicht aber bebte die Wittwe selbst vor Enthüllungen zurück, welche die unvermeidliche Folge einer einzig und allein auf ihren Verdacht begründeten öffentlichen Anklage gegen mich gewesen wären. Doch, wie dem immer sein mochte, das Verbrechen, welches ich ungesehen verübt, ist bis auf diesen Tag unbestraft geblieben.

Ich verließ Madeira in einer Verkleidung und kehrte nach Westindien zurück. Die erste Nachricht, die mich traf, als das Schiff in den Hafen von Barbadoes einlief, war die von dem Tode meiner Mutter. Ich hatte nicht das Herz, zu der alten Heimath zurückzukehren. Die Aussicht, Tag und Nacht von meinem eigenen Schuldbewußtsein gemartert in Einsamkeit zu Hause zu leben, war mehr, als ich den Muth hatte zu ertragen. Ohne zu landen oder mich irgend Jemandem zu erkennen zu geben, reiste ich weiter, so weit, wie ich mit dem Schiffe gehen konnte —— bis nach der Insel Trinidad.

Dort sah ich Deine Mutter zum ersten Male. Es war meine Pflicht, ihr die Wahrheit zu sagen —— und ich bewahrte hinterlistiger Weise mein Geheimniß; es war meine Pflicht, ihr das hoffnungslose Opfer ihrer Freiheit und ihres Glücks für ein Dasein, wie das meinige, zu ersparen —— und ich fügte ihr das Unrecht zu, sie zu heirathen. Sollte sie, wenn Du dies liest, noch am Leben sein, so habe Erbarmen mit ihr und verhehle ihr die Wahrheit. Der einzige Ersatz, den ich ihr zu geben im Stande bin, ist der, daß ich sie bis zuletzt nicht ahnen lasse, welch einen Mann sie geheirathet hat. Habe Mitleid mit ihr, wie ich es ihr bewiesen habe! Laß diesen Brief ein geheiligtes Geheimniß zwischen Vater und Sohn bleiben!

Zu derselben Zeit, da Du geboren wurdest, fing meine Gesundheit zu wanken an. Einige Monate später, in den ersten Tagen meiner Genesung, brachte man Dich zu mir und unterrichtete mich, daß Du während meiner Krankheit getauft worden seist. Deine Mutter hatte gethan, was die meisten liebenden Mütter thun; sie hatte ihrem Erstgeborenen den Namen seines Vaters gegeben. Auch Du hießest Allan Armadale. Selbst damals schon, als ich noch in glücklicher Unwissenheit über das lebte, was ich seitdem erfahren habe, fühlte ich mich von trüben Ahnungen erfüllt, indem ich Dich anblickte und an jenen unglückseligen Namen dachte.

Sobald ich mich hinlänglich erholt hatte, um die Reise zu wagen, ward meine Anwesenheit auf meinen Besitzungen in Barbadoes aufs dringendste verlangt. Es kam mir der Gedanke —— wie unsinnig Dir derselbe auch erscheinen mag —— die Bedingung zu brechen, die mich und meinen Sohn zwang, den Namen Armadale zu führen oder dem Armadale’schen Erbe zu entsagen. Schon damals verbreitete sich das Gerücht von einer beabsichtigten Emancipation der Sklaven —— der Emancipation, die jetzt nahe bevorsteht. Es konnte Niemand sagen, in wie weit der Werth der westindischen Besitzungen von dieser drohenden Veränderung, falls sie in Wirklichkeit stattfände, berührt werden würde. Niemand konnte sagen —— falls ich Dir wieder meinen eigenen väterlichen Namen gäbe und Dich für die Zukunft ohne jegliche andere Versorgung als die meiner eigenen väterlichen Besitzungen ließe —— wie sehr Du etwa eines Tages die reichen Armadale’schen Besitzungen vermissen könntest oder zu welcher künftigen Armuth ich dadurch Dich und Deine Mutter verdammen würde. Bemerke wie ein Verhängniß dem andern folgte; wie Du zu Deinem Taufnamen kamst, und wie Dein Zuname, wider meinen Willen, Dir anhaftete!

Meine Gesundheit hatte sich in meiner Heimath gebessert; doch nur für kurze Zeit. Ich ward wieder krank, und die Aerzte verordneten mir das Klima von Europa. Indem ich England mied —— Du wirst errathen, warum —— reiste ich mit Dir und Deiner Mutter nach Frankreich und von da nach Italien. Dort nahmen wir unsern Aufenthalt; doch es war nutzlos! Der Tod hatte mich einmal gepackt und verfolgte mich, wohin ich auch gehen mochte. Ich ertrug es, denn ich besaß einen Trost, den ich nicht verdiente. Du magst jetzt voll Grausen vor meinem bloßen Andenken zurück beben; in jenen Tagen warst Du mein Trost, das einzige Labsal meines Herzens. Die letzten Lichtschimmer des Glücks, die mir in dieser Welt beschieden waren, waren die, welche mir aus meinem kleinen Sohne entgegen strahlten.

Wir verließen Italien und gingen nach Lausanne, von welchem Orte aus ich jetzt an Dich schreibe. Die heutige Post hat mir über die Wittwe des Gemordeten spätere und ausführlichere Nachrichten gebracht, als ich noch bisher erhalten. Der Brief liegt vor mir, während ich schreibe; er kommt von einem Jugendfreunde, der mit ihr gesprochen und sie zuerst davon unterrichtet hat, daß das Gerücht von meinem Tode in Madeira ein falsches gewesen. Er vermag sich nicht zu erklären, warum die Nachricht, daß ich noch am Leben, verheirathet und Vater eines Sohnes sei, sie in eine heftige Gemüthsbewegung versetzte, und fragt mich daher, ob ich dies zu erklären im Stande bin. Er drückt sich mit großer Theilnahme über sie aus: Ein junges schönes Weib, das sich in der Zurückgezogenheit eines entlegenen Fischerdorfes auf der Küste von Devonshire begräbt, deren Vater todt und deren Familie in unbarmherziger Unzufriedenheit über ihre Heirath ihr entfremdet ist. Seine Worte würden mir das Herz zerrissen haben, wenn nicht der Schluß seines Briefes, sowie ich denselben gelesen, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und mir die Erzählung entrissen hätte, die in diesen Blättern enthalten ist.

Ich weiß jetzt etwas, wovon ich nie die leiseste Ahnung hatte, bis ich seinen Brief erhielt; ich weiß jetzt, daß die Wittwe des Mannes, dessen Tod auf meinem Gewissen lastet, ein nachgeborenes Kind zur Welt gebracht hat. Dieses Kind ist ein Knabe, ein Jahr älter als mein Sohn. In dem sichern Glauben, daß ich todt sei, hat sie dasselbe gethan, was die Mutter meines Sohnes that: Sie hat ihrem Sohne den Namen des Vaters gegeben. Es giebt in der zweiten Generation wie in der ersten zwei Allan Armadale. Nachdem die unglückselige Namensgleichheit so tödtliches Unheil zwischen den Vätern gestiftet, wird sie dasselbe zwischen den Söhnen herbeiführen.

Ein argloses Gemüth sieht in diesem allen vielleicht bis hierher nichts als die Folgen einer Reihe von Ereignissen, die eben zu nichts Anderem führen konnten. Ich aber, der für das Leben jenes Mannes Rede stehen soll; ich, der ich ins Grab hinabsinke, ohne die Strafe meines Verbrechens erlitten oder dasselbe gesühnt zu haben, ich sehe das, was einem schuldlosen Gemüth nicht erkennbar ist. Ich sehe Gefahr für die Zukunft, die in der Gefahr der Vergangenheit wurzelt; Trug, der seinem Trug entsprossen; Verbrechen, welches das Kind meines Verbrechens ist. Ist die Angst, die mich jetzt bis in die Seele erschüttert, ein Gespenst, das sich aus dem Aberglauben eines sterbenden Mannes erhebt? Ich blicke in das Buch, das die ganze Christenheit verehrt, und das Buch sagt mir, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht werden soll. Ich schaue hinaus in die Welt, und erblicke rund um mich her die lebenden Zeugen jener fürchterlichen Wahrheit. Ich sehe, wie die Laster, die den Vater befleckten, auf das Kind vererbt werden und dasselbe ebenso beflecken; ich sehe die Schande, die den Namen des Vaters entehrte, auf das Kind fallen und dasselbe ebenfalls entehren. Ich werfe einen Blick in mein Inneres, und sehe wie mein Verbrechen unter denselben Umständen, unter denen der Same desselben in der Vergangenheit gesäet ward, für die Zukunft reift und in erblicher Befleckung von mir auf meinen Sohn übergeht.«

Mit diesen Zeilen endete das Geschriebene. Hier hatte der Schlag ihn getroffen und die Feder war seiner Hand entsunken.

Er kannte die Stelle; er erinnerte sich der Worte. In dem Augenblicke, wo die Stimme des Lesers schwieg, warf er einen verlangenden Blick auf den Arzt. »Ich habe das, was zunächst folgen soll, in meinem Geiste geordnet«, sagte er mit immer langsamer werdender Articulation »Helfen Sie mir, damit ich es aussprechen kann.«

Der Doctor gab ihm ein Stärkungsmittel ein und deutete Mr. Neal durch ein Zeichen an, er möge ihm Zeit lassen. Nach einer kleinen Weile flackerte die ersterbende Flamme seines Geistes nochmals in seinen Augen auf. Entschlossen mit seiner ihm versagenden Sprache kämpfend, forderte er den Schotten auf, die Feder zu ergreifen, und dictirte dann den Schluß seiner Erzählung, wie ihm sein Gedächtniß denselben darbot, in folgenden Worten:

»Verachte die Ueberzeugung eines Sterbendem wenn Du willst; aber gewähre mir, ich beschwöre Dich auf das feierlichste, eine letzte Bitte! Mein Sohn! Die einzige Hoffnung, die mir noch für Dich bleibt, hängt an einem großen Zweifel, an dem Zweifel, ob wir Herr über unser eigenes Schicksal sind oder nicht. Es ist möglich, daß der freie Wille des Menschen sein Geschick zu bezwingen vermag; es mag sein, daß wir, indem wir alle unfehlbar dem Tode entgegengehen, ebenso unfehlbar nur dem entgegengehen, was dem Tode nicht vorausgeht. Falls dem so ist, so achte, wenn Dir sonst nichts heilig sein sollte, auf die Warnung, die ich Dir aus meinem Grabe zurufe. Laß Dir bis zu Deinem Sterbetage nie eine lebende Seele nahe kommen, die je mittelbar oder unmittelbar mit dem Verbrechen in Verbindung gestanden hat, das Dein Vater beging. Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen Dir und ihm ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen, nie, nie, nie!

Dies ist der Weg, aus dem Du entkommen magst, wenn es überhaupt einen solchen giebt. Wenn Dir Deine Unschuld und Dein Glück werth ist, so schlage diesen Weg fürs ganze Leben ein!

Ich bin zu Ende. Hätte ich von einem gelinderen Mittel als dem dieses Bekenntnisses erwarten können, daß dasselbe Dich bestimmen würde, meinem Willen gemäß zu handeln, so würde ich Dir die Enthüllung erspart haben, welche diese Blätter enthalten. In diesem Augenblicke liegst Du in dem unschuldigen Schlummer eines Kindes an meiner Brust, während die Hand eines Fremden diese Worte für Dich niederschreibt, wie sie meinen Lippen entfahren. Bedenke, wie mächtig meine Ueberzeugung sein muß, wenn ich hier auf meinem Sterbebette den Muth habe, Dein ganzes Leben schon bei seinem Beginne durch den Schatten meines Verbrechens zu trüben. Bedenke dies —— und laß Dich warnen! Bedenke es —— und vergieb mir, wenn Du kannst!«

Dies waren die letzten Worte des Vaters an den Sohn.

Seiner ihm aufgedrungenen Pflicht unerbittlich getreu, legte Mr. Neal die Feder nieder und las die Zeilen, die er soeben geschrieben, laut vor. »Soll noch sonst etwas hinzugefügt werden?« frug er mit seiner mitleidslosen festen Stimme. Es sollte nichts mehr hinzugefügt werden.

Mr. Neal legte das Manuskript zusammen und schloß es in ein Couvert ein, das er mit Mr. Armadale’s Petschaft versiegelte. »Die Adresse?« sagte er mit unbarmherziger Geschäftsförmlichkeit »An Allan Armadale junior«, schrieb er, wie die Worte ihm vom Bette aus dictirt wurden. »Durch Güte des Herrn Godfrey Hammick, in Firma Hammick & Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London.« Nachdem er die Adresse geschrieben, wartete er und überlegte einen Augenblick. »Soll Ihr Testamentsvollstrecker dies öffnen?« frug er.

»Nein! Er soll es meinem Sohne übergeben, wenn dieser alt genug ist, um es zu verstehen.«

»In dem Falle«, fuhr Mr. Neal mit der trockensten Geschäftsmäßigkeit fort, »will ich ein datiertes Schreiben beifügen, in welchem ich die Worte wiederhole, die Sie soeben gesprochen haben, und die Umstände auseinandersetze, unter denen meine Handschrift in dem Documente erscheint.« Er that dies in den kürzesten und deutlichsten Ausdrücken, las, was er geschrieben, wie das Vorhergehende laut vor, unterschrieb seinen Namen und seine Adresse, und ließ dann den Doctor als Zeugen des ganzen Verfahrens und als ärztliche Autorität in Bezug auf Mr. Armadales derzeitigen Zustand, ebenfalls unterzeichnen. Sobald dies geschehen, legte er alles in ein zweites Couvert, versiegelte dasselbe wie zuvor und adressierte es an Mr. Hammick, indem er »Zu eignen Händen« hinzufügte.

»Bestehen Sie darauf, daß ich dies auf die Post gebe?« frug er, indem er mit dem Briefe in der Hand aufstand.

»Geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen«, sagte der Doctor. »Um des Kindes willen, geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen! Eine Minute mag ihn anders stimmen.«

»Ich will ihm fünf Minuten geben«, erwiderte Mr. Neal, indem er, bis zuletzt unerbittlich gerecht, seine Uhr vor sich auf den Tisch legte.

Sie warteten, indem sie beide aufmerksam Mr. Armadale beobachteten. Die Anzeichen einer mit ihm vorgehenden Veränderung vermehrten sich schnell. Die Bewegung, welche die unausgesetzte geistige Aufregung seinen Gesichtsmuskeln mitgetheilt hatte, fing unter demselben gefährlichen Einflusse sich nach unten zu erstrecken an. Seine bisher regungslosen Hände lagen nicht länger still; sie bewegten sich in jammervollem Ringen auf der Bettdecke. Beim Anblicke dieses warnenden Zeichens wandte der Doctor sich mit einer Gebärde der Unruhe um und winkte Mr. Neal, näher zu kommen» »Legen Sie ihm sofort Ihre Frage vor«, sagte er; »falls Sie fünf Minuten verstreichen lassen, mag es zu spät sein.«

Mr. Neal trat ans Bett. Auch er hatte die Bewegung der Hände wahrgenommen. »Ist das ein schlimmes Zeichen?« frug er.

Der Doktor neigte ernst den Kopf. »Legen Sie ihm ohne Verzug Ihre Frage vor«, wiederholte er, »oder es dürfte zu spät sein.«

Mr. Neal hielt den Brief vor die Augen des Sterbenden. »Wissen Sie, was dies ist?«

»Mein Brief.«

»Bestehen Sie darauf, daß ich denselben auf die Post gebe?«

»Ja!«

Mr. Neal ging mit dem Briefe in der Hand der Thür zu. Der Deutsche folgte ihm ein paar Schritte und öffnete die Lippen, um ihn um ein längeres Verziehen zu bitten, begegnete jedoch dem unerbittlichen Auge des Schotten und trat schweigend wieder zurück. Die Thür schloß sich und schied sie von einander, ohne daß der Eine wie der Andere ein Wort gesprochen.

Der Doctor kehrte an das Bett zurück und flüsterte dem sterbenden Manne zu: »Lassen Sie mich ihn zurückrufen, es ist noch Zeit, ihn zurückzuhalten!« Es war nutzlos Es kam keine Antwort; nichts verrieth ihm, daß er verstanden oder nur gehört worden sei. Die Augen des Sterbenden schweiften von dem Kinde ab, ruhten einen Augenblick auf seinen eigenen zuckenden Händen und blickten dann flehend in das mitleidsvolle Antlitz, das sich über ihn hinbeugte. Der Doctor hob seine Hand auf, wartete einen Augenblick, folgte dem auf das Kind gerichteten sehnsüchtigen Blicke des Vaters und lenkte, den letzten Wunsch desselben verstehend, die Hand sanft nach dem Haupte des Kindes. Die Hand berührte dasselbe und zitterte heftig. Im nächsten Augenblicke ward der Arm von dem Zittern ergriffen, das sich dann dem ganzen Oberkörper mittheilte. Das bleiche Gesicht wurde roth, dann blau, dann wieder bleich. Endlich lagen die zuckenden Hände still und die Farbe wechselte nicht mehr.

Als der Doctor mit dem Kinde im Arm aus dem Sterbezimmer in das nächste Zimmer trat, stand das Fenster dort offen. Er schaute im Vorübergehen hinaus und sah Mr. Neal langsam nach dem Gasthofe zurückkehren.

»Wo ist der Brief?« frug er.

Drei Worte genügten dem Schotten als Antwort: »Auf der Post.«



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

An einem warmen Maiabende im Jahre achtzehnhundert einundfünfzig zog Se. Ehrwürden Mr. Decimus Brock, zur Zeit ein Gast in Castletown auf der Insel Man, sich auf sein Schlafzimmer zurück, von einer ernstlichen persönlichen Verantwortlichkeit verfolgt und ohne eine klare Vorstellung von der Art und Weise, wie er sich aus seiner gegenwärtigen Verlegenheit zu ziehen im Stande sein werde.

Der Geistliche hatte dasjenige Stadium des menschlichen Lebens erreicht, wo ein vernünftiger Mann gelernt hat, allen unnützen Kampf gegen tyrannische Sorgen aufzugeben. Er ließ jeden ferneren Versuch, in seiner augenblicklichen Bedrängniß zu einer Entscheidung zu kommen, fahren und setzte sich mit vollkommener Gelassenheit in bloßen Hemdärmeln auf sein Bett nieder, wo er sich zunächst der Betrachtung hingab, ob diese Sorge in der That so ernster Natur sei, wie dieselbe sich ihm bisher dargestellt hatte. Indem Mr. Brock diesen neuen Ausweg aus seinen Verlegenheiten einschlug, sah er sich unerwarteter Weise bald auf einer Wanderung, welche die am wenigsten erheiternde im ganzen menschlichen Leben zu sein pflegt —— auf einer Wanderung durch die Jahre seiner Vergangenheit.

Die Ereignisse dieser Jahre, die alle mit derselben kleinen Gruppe von Charakteren in Verbindung standen und alle mehr oder weniger die Verlegenheit herbeigeführt hatten, die sich jetzt zwischen den Geistlichen und seine Nachtruhe drängte, stiegen eines nach dem andern in regelmäßiger Reihenfolge in Mr. Brocks Erinnerung auf. Das erste derselben führte ihn durch einen Zeitraum von vierzehn Jahren zu seiner Pfarre an der Sommersetshire-Küste des Kanals von Bristol zurück zu einer Privatunterredung mit einer fremden Dame, die ihm einen Besuch machte.

Die Gesichtsfarbe der Dame war zart und ihre Gestalt wohl conservirt; sie war allerdings noch jung, aber ihr Aussehen war jugendlicher, als ihre Jahre hätten erwarten lassen. Es lag ein Schatten von Trauer in ihrem Gesichtsausdrücke und ein leidender Ton in ihrer Stimme, welche bekundeten, daß sie gelitten hatte —— doch nicht genug, um ihren Kummer der Welt aufzubringen. Sie brachte einen hübschen achtjährigen blonden Knaben mit, den sie als ihren Sohn vorstellte und der zu Anfang ihrer Unterredung hinausgeschickt wurde, um sich im Pfarrgarten zu unterhalten. Vor ihrem Eintritt in das Arbeitszimmer des Geistlichen hatte sie ihre Karte abgegeben, und diese Karte meldete sie unter dem Namen »Mrs. Armadale« an. Noch ehe sie die Lippen geöffnet, begann Mr. Brock ein Interesse für sie zu fühlen; und sobald der Sohn entlassen worden, wartete er mit einiger Spannung auf das, was die Mutter ihm mitzutheilen hatte.

Mrs. Armadale machte den Anfang damit, daß sie ihn unterrichtete, sie sei eine Wittwe. Ihr Gatte sei kurz nach ihrer Vermählung auf der Fahrt von Madeira nach Lissabon bei einem Schiffbruche ums Leben gekommen. Nach diesem Verluste sei sie unter dem Schutze ihres Vaters nach England zurückgebracht worden, und ihr Sohn, ein nachgebornes Kind, sei auf dem Familiengut in Norfolk zur Welt gekommen. Der bald darauf erfolgte Tod ihres Vaters habe sie elternlos gemacht und sie der Vernachlässigung und den Mißdeutungen ihrer übrigen Angehörigen, zweier Brüder, ausgesetzt, ja sie fürchte, für den Rest ihres Lebens denselben entfremdet zu sein. Seit einiger Zeit habe sie daher in der benachbarten Grafschaft Devonshire gelebt und sich ganz der Erziehung ihres Knaben gewidmet, der indessen jetzt ein Alter erreicht habe, wo er einer andern Erziehung bedürfe, als die, welche seine Mutter ihm zu geben im Stande sei. Abgesehen von ihrer Abneigung, sich in ihrer jetzigen Vereinsamung von ihm zu trennen, sei ihr ganz besonders daran gelegen, daß er nicht auf eine öffentliche Schule geschickt werde, indem sie Gründe habe zu wünschen, daß er nicht mit Fremden in Berührung komme. Ihr Lieblingsplan gehe dahin, ihn zu Hause zu erziehen und ihn in späteren Jahren vor allen Versuchungen und Gefahren der Welt zu bewahren. Unter diesen Umständen müsse ihr Aufenthalt in ihrem gegenwärtigen Wohnorte, wo ihr die Dienste des Geistlichen als Lehrer für ihren Knaben nicht zu Gebote standen, ein Ende haben. Sie habe Erkundigungen angestellt und von einem Hause in Mr. Brock’s Nachbarschaft gehört, welches ihren Zwecken entsprechen würde; außerdem habe sie erfahren, daß Mr. Brock früher Kostgänger und Schüler bei sich aufzunehmen gepflegt. Im Besitze dieser Auskunft habe sie es gewagt, mit Beweisen ihrer Achtbarkeit versehen, doch ohne ein förmliches Empfehlungsschreiben, sich ihm vorzustellen; sie wünsche Mr. Brock jetzt zu fragen, ob er, falls sie sich in seiner Gegend niederließe, auf irgendeine Weise zu bewegen sein würde, sein Haus abermals einem Zöglinge zu öffnen.

Wäre Mrs. Armadale eine Dame ohne persönliche Reize gewesen oder hätte Mr. Brock die Schutzwehr einer Gattin besessen, so würde die Wittwe ihre Reise wahrscheinlich vergebens unterenommen haben. Doch, wie die Sachen sich jetzt verhielten, prüfte der Pfarrer die Papiere, welche ihre Achtbarkeit verbürgten, und bat sich Bedenkzeit aus. Als dieselbe verstrichen war, that er, was Mrs. Armadale gehofft hatte; er war bereit, seine Schultern mit der Verantwortlichkeit für ihren Sohn zu beladen.

Dies war das erste in der Reihe der Ereignisse, welche mit seiner gegenwärtigen Verlegenheit in Beziehung standen. Dasselbe hatte sich im Jahre achtzehnhundert siebenunddreißig zugetragen. Mr. Brocks Gedächtniß führte ihn dann zu einem Erlebniß, das der Gegenwart näher lag, zu einem Erlebniß aus dem Jahre achtzehnhundert fünfundvierzig.

Der Schauplatz war wieder in dem Fischerdorfe an der Küste von Sommersetshire und die Personen abermals Mrs. Armadale und ihr Sohn. Während der verflossenen acht Jahre war Mr. Brock’s Verantwortlichkeit eine ziemlich leichte gewesen, denn der Knabe hatte seiner Mutter und seinem Lehrer nur wenig Sorge verursacht. Er lernte allerdings langsam, doch lag die Ursache hiervon mehr in einer angeborenen Unfähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf seine Arbeit zu ruhten, als in einem Mangel an Fassungsgabe. Sein Temperament —— dies ließ sich nicht leugnen —— war ein im höchsten Grade leichtsinniges; er handelte ganz unbekümmert nach seinen ersten Impulsen und überließ sich blindlings seinen Einfällen. Auf der andern Seite mußte man zu seinen Gunsten zugeben, daß er offen war wie der Tag; es wäre schwer gewesen, irgendwo einen großmüthigeren, liebevolleren, gutherzigeren Knaben zu finden. Eine gewisse Originalität des Charakters und eine natürliche Gesundheit in allen seinen Gefühlen und Neigungen ließ ihn aus den meisten Gefahren, denen das Erziehungssystem seiner Mutter ihn unvermeidlicher Weise aussetzte, unverletzt hervorgehen. Er hatte eine echt englische Vorliebe für das Meer und alles was mit demselben in Beziehung steht; und wie er heranwuchs, ward es fast unmöglich, ihn vom Strande fortzulocken und von den Schiffszimmerhöfen fern zu halten. Im Verlaufe der Zeit ertappte seine Mutter ihn zu ihrem großen Erstaunen und Verdrusse sogar dabei, daß er als Freiwilliger in einem der letzteren arbeitete. Er gestand, daß sein ganzer Ehrgeiz für die Zukunft darin bestehen einst selbst einen solchen Hof zu besitzen, und daß sein gegenwärtiger Zweck dahin gehe, sich selbst ein Boot bauen zu lernen. In der weisen Voraussicht, daß eine solche Beschäftigung während seiner Mußestunden gerade am meisten geeignet sei, den Knaben für den Mangel an Gefährten seines Standes und Alters zu entschädigen, überredete Mr. Brock Mrs. Armadale mit großer Mühe, ihren Sohn hierin gewähren zu lassen. Zur Zeit jenes zweiten Ereignisses im Leben des Geistlichen mit seinem Zöglinge, welches uns jetzt zu erzählen bevorsteht, hatte der junge Armadale lange genug im Hofe des Schiffszimmermanns gelernt, um das Ziel seiner Wünsche erreicht und mit eigener Hand den Kiel seines Bootes gelegt zu haben.

Spät an einem Sommerabende, bald nachdem Allan sein sechszehntes Jahr vollendet, verließ Mr. Brock seinen Zögling bei der Arbeit im Bauhofe und ging, die »Times« in der Hand, um den Abend bei Mrs. Armadale zuzubringen.

Die Jahre, die seit ihrem ersten Begegnen verflossen waren, hatten die Beziehungen zwischen dem Geistlichen und seiner Nachbarin längst geordnet. Die ersten Bewerbungen, zu denen Mr. Brocks Bewunderung für die Wittwe ihn schon in der ersten Zeit ihres Umganges hingerissen hatten, waren von dieser mit einer Bitte um seine Nachsicht aufgenommen worden, welche für die Zukunft seine Lippen geschlossen hatte. Sie hatte ihn ein für allemal überzeugt, daß die einzige Stelle, die er je in ihrem Herzen einzunehmen hoffen dürfe, die eines Freundes sei, und er hatte sie lieb genug, um sich mit dem zu begnügen, was sie ihm zu bieten hatte. So wurden sie Freunde, und blieben Freunde. Das friedliche Verhältniß des Geistlichen zu dem Weibe, das er liebte, ward durch keine eifersüchtige Furcht vor dem Erfolge eines Andern in dem, was ihm selbst mißglückt war, verbittert. Von den wenigen Gentleman, die in der Umgegend wohnhaft waren, ward keiner anders als wie ein bloßer Bekannter von Mrs. Armadale empfangen. Mit der ländlichen Zurückgezogenheit, in die sie sich freiwillig verbannte, vollkommen zufrieden, hatte die Gesellschaft für sie nicht den Reiz, welcher andere Frauen in ihrer Lage und ihrem Alter verlockt haben würde. Mr. Brock und seine Zeitung, die mit einförmiger Regelmäßigkeit dreimal in der Woche an ihrem Theetische erschienen, theilten ihr alles dasjenige mit, was sie von der großen äußeren Welt, welche die Grenzen ihres wechsellosen Lebens umkreiste, zu wissen begehrte.

An dem in Frage stehenden Abende ließ Mr. Brock sich in dem Lehnsessel nieder, in dem er stets dort saß, nahm die eine Tasse Thee an, die er dort jedes Mal trank, und entfaltete die Zeitung, die er Abs. Armadale regelmäßig vorlas, während diese ihm von dem Sofa aus zuhörte. »Gerechter Himmel!« rief der Pfarrer in einer ganz neuen Tonart, als seine Augen auf die erste Seite der Zeitung fielen.

Eine solche Introduction zu der Abendlectüre hatte, soviel Mrs. Armadale sich zu erinnern vermochte, noch niemals stattgefunden. Vor Neugier zitternd blickte sie von ihrem Sofa zu ihm hin und bat ihren ehrwürdigen Freund, ihr eine Erklärung geben zu wollen.

»Kaum kann ich meinen Augen trauen«, sagte Mr. Brock »Hier steht eine Aufforderung an Ihren Sohn, Mrs. Armadale.«

Und er las ohne weitere Vorrede wie folgt: »Falls diese Zeilen Allan Armadale in die Augen fallen, wird er ersucht, sich entweder persönlich oder brieflich mit den Herren Hammick & Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London, wegen wichtigen Angelegenheiten, die ihn persönlich betreffen, in Verbindung zu setzen. Wenn Jemand die Herrn Hammick & Ridge zu unterrichten im Stande ist, wo die obengenannte Person zu finden, so würden jene Herrn ihm sehr verpflichtet sein. Um jedem Mißverständnisse vorzubeugen, sei bemerkt, daß der vermißte Allan Armadale ein junger Mensch von fünfzehn Jahren ist und daß dieser Aufruf von seiner Familie und seinen Angehörigen erlassen worden ist.«

»Eine andere Familie und andere Angehörige sind gemeint«, sagte Mrs. Armadale »Die in jenem Aufruf beschriebene Person ist nicht mein Sohn.«

Der Ton, in dem sie sprach, überraschte Mr. Brock. Die Veränderung, die er in ihrem Gesichte bemerkte, beunruhigte ihn. Ihre zarte Gesichtsfarbe war einer fahlen Blässe gewichen; ihre Augen wandten sich in einer seltsamen Mischung von Verwirrung und Bestürzung von ihrem Gaste ab; sie sah wenigstens um zehn Jahre älter aus als sie war.

»Es ist ein so ungewöhnlicher Name«, entgegnete Mr. Brock, indem er sich zu entschuldigen suchte, denn er befürchtete, er habe sie beleidigt. »Es schien mir wirklich unmöglich, daß es zwei solche ——«

»Es giebt ihrer in der That zwei«, unterbrach ihn Mrs. Armadale. »Allan ist, wie Sie wissen, sechszehn Jahre alt. Wenn Sie den Ausruf noch ein- mal ansehen wollen, werden Sie finden, daß der darin Beschriebene nur fünfzehn Jahre alt ist. Obgleich er denselben Tauf und Familiennamen führt, ist er doch, Gott sei’s gedankt, in keiner Weise mit meinem Sohne verwandt. So lange ich lebe, wird es der Gegenstand all meiner Hoffnungen und Gebete sein, daß Allan ihn niemals sehen, nie von ihm hören möge. Mein gütiger Freund, ich sehe, daß ich Sie in Erstaunen setze; wollen Sie Nachsicht mit mir haben, wenn ich diese Verhältnisse unerklärt lasse? Mein vergangenes Leben birgt so viel Elend und Kummer, daß es mich schmerzt, davon zu reden, selbst Ihnen gegenüber. Wollen Sie mir, indem Sie nie wieder von dem Gegenstande sprechen, behilflich sein, die Erinnerung an denselben zu ertragen? Wollen Sie noch mehr thun —— wollen Sie mir versprechen, desselben nicht gegen Allan zu erwähnen und ihm jene Zeitung nicht in die Hände fallen zu lassen?«

Mr. Brock gab das von ihm geforderte Versprechen und ließ sie auf das rücksichtsvollste allein.

Der Pfarrer hegte eine zu bewährte und aufrichtige Zuneigung für Mrs. Armadale, um eines unwürdigen Argwohns gegen sie fähig zu sein. Doch würde es überflüssig sein zu leugnen, daß er ihren Mangel an Zutrauen zu ihm tief empfand und daß er die Annonce auf seinem Heimwege wieder und wieder prüfend durchlas. Es war jetzt klar genug, daß der Zweck, den Mrs. Armadale bei ihrer Zurückgezogenheit in einem entlegenen Dorfe im Auge hatte, nicht so sehr darin bestand, ihren Sohn mit eigenen Augen zu überwachen, als vielmehr, ihn davor zu bewahren, daß sein Namensbruder ihn entdecke. Warum fürchtete sie den Gedanken, daß sie einander einst begegnen könnten? Galt die Furcht ihrer eigenen oder der Person ihres Sohnes? Mr. Brock’s aufrichtige Ueberzeugung von der Reinheit seiner Freundin verwarf jede Lösung des Geheimnisses die auf ein früheres Mißverhalten ihrerseits hindeutete und dasselbe mit jenen schmerzlichen Erinnerungen, deren sie erwähnt hatte, oder mit jener Entfremdung von ihren Brüdern in Verbindung brachte, wodurch sie seit Jahren von ihren Verwandten und ihrer Heimath fern gehalten worden war. An jenem Abende vernichtete er mit eigener Hand die Annonce und faßte den Entschluß, den Gegenstand nie wieder in seinem Geiste aufkommen zu lassen. Es gab noch einen Allan Armadale in der Welt, der mit seinem Zöglinge keine Verwandtschaft hatte und ein Umherstreicher war; dieser war es, der in öffentlichen Blättern aufgerufen wurde. » So viel hatte der Zufall ihm verrathen. Mehr verlangte er, um Mrs. Armadale’s willen, nicht zu entdecken —— und mehr wollte er nie zu erfahren suchen.

Dies war das zweite in der Reihe von Ereignissen, die sich aus des Pfarrers Bekanntschaft mit Mrs. Armadale und deren Sohne datierten.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Mr. Brock’s Gedächtniß wandte sich immer mehr und mehr der Gegenwart zu, und auf der dritten Station seiner Reise durch die Vergangenheit angelangt, hielt es zunächst beim Jahre achtzehnhunderts fünfzig an.

Die fünf Jahre, welche inzwischen verflossen waren, hatten in Allan’s Charakter wenig oder gar keine Veränderung hervorgebracht. Er war eben ganz einfach, um uns des Ausdrucks seines Lehrers zu bedienen, aus einem Knaben von sechzehn ein Knabe von einundzwanzig Jahren geworden, der noch immer so offen und unbefangen und noch immer ebenso gutherzig war und sich unbekümmert seinen Einfällen überließ, wohin dieselben ihn immer führen mochten. Seine Vorliebe für das Meer hatte mit den Jahren zugenommen. Vom Bauen eines Boots war er jetzt so weit vorgeschritten, daß er mit Hilfe zweier Schiffszimmergesellen ein verdecktes Schiff von fünfunddreißig —— Tonnen zu bauen angefangen hatte. Mr. Brock hatte sich auf das gewissenhafteste bemüht, ihn zu höheren Bestrebungen zu leiten; er war mit ihm nach Oxford gegangen, um ihm das Universitätsleben zu zeigen; er war mit ihm nach London gereist, um durch den Anblick der gewaltigen Hauptstadt seinen Gesichtskreis zu erweiteren. Die Abwechselung hatte Allan Unterhaltung gewährt, ihn jedoch nicht im mindesten verändert. Er war so hoch über allen weltlichen Ehrgeiz erhaben wie Diogenes selbst. »Was ist besser«, frug dieser unbewußte Philosoph, »daß man für sich selber entdeckt, wie man am glücklichsten ist, oder daß man Andere versuchen läßt, dies für uns zu entdecken?« Von diesem Augenblicke an unterließ Mr. Brock jeden weiteren Versuch, auf den Charakter seines Zöglings einzuwirken, und Allan widmete sich ununterbrochen dem Bau seiner Jacht.

Die Zeit, welche an dem Sohne so wenig Veränderung hervorgebracht, war an der Mutter nicht so spurlos vorübergegangen. Mrs. Armadales Gesundheit hatte bedeutend zu wanken angefangen, und in dem Grade, wie ihre Kräfte wichen, verschlimmerte sich ihre Laune; sie wurde immer reizbarer, gab sich immer mehr ihren krankhaften Ideen und Befürchtungen hin und war immer schwerer zu bewegen, ihr Schlafzimmer zu verlassen. Seit jene Annonce vor fünf Jahren in der Zeitung erschienen war, hatte sich nichts weiter ereignet, um ihrem Gedächtnisse jene schmerzlichen Umstände wieder aufzudringen, die mit ihrem Jugendleben in Verbindung standen. Es war zwischen ihr und dem Geistlichen kein Wort über den verpönten Gegenstand wieder erwähnt worden. Allan hatte noch immer keine Ahnung von dem Dasein eines Namensbruders; und obgleich sonach Mrs. Armadale nicht den geringsten Grund zu besonderer Besorgniß hatte, so war sie dennoch in den letzteren Jahren unaufhörlich von einer aufreibenden Angst um ihren Sohn erfüllt. Einmal beglückwünschte sie sich über die Vorliebe zum Schiffbau und Segeln, die ihn vor ihren eignen Augen in glücklicher und zufriedener Beschäftigung festhielt, und dann sprach sie wieder mit Grausen von seiner tief eingewurzelten Vorliebe für den falschen Ocean, in dem ihr Gatte den Tod, gefunden. Sie stellte die Langmuth ihres Sohnes bald auf diese, bald auf jene Weise auf die Probe, sodaß Mr. Brock mehr als einmal befürchtete, daß es zu einer ernstlichen Veruneinigung zwischen ihnen kommen werde; doch Allan’s natürliche Sanftmuth, gepaart mit inniger Liebe zu seiner Mutter, trug ihn siegreich durch alle diese Prüfungen hindurch. Kein einziges unfreundliches, hartes Wort entschlüpfte ihm je in ihrer Gegenwart, kein unfreundlicher Blick kränkte sie je; er war bis zuletzt unveränderlich liebevoll und nachsichtig gegen sie.

In diesen Verhältnissen nun standen Sohn, Mutter und Freund zu einander, als sich das nächste bemerkenswerthe Ereigniß in dem Leben dieser Drei zutrug.

An einem düsteren Nachmittage zu Anfange des Monats November ward Mr. Brock durch den Besuch des Gastwirthes aus dem Dorfe in der Abfassung seiner Predigt gestört.

Nachdem der Wirth zunächst seine Entschuldigungen vorgebracht, erzählte er mit ziemlicher Kürze und Klarheit die dringende Angelegenheit, die ihn nach dem Pfarrhause geführt. Vor einigen Stunden hätten ein paar Feldarbeiter einen jungen Mann nach seinem Wirthshause gebracht, der in einem Zustande augenscheinlicher Geisteszerrüttung auf einem der Felder ihres Herrn umhergewandert war. Er, der Wirth, habe dem armen Geschöpfe Obdach gewährt und inzwischen nach ärztlichen Beistande ausgesandt; der Arzt aber habe, sobald er ihn gesehen, erklärt, daß er an einer Gehirnentzündung leide und daß seine Fortschaffung nach der nächsten Stadt, wo es ein Hospital oder Arbeitshaus zu seiner Aufnahme gebe, nicht räthlich erscheine. Nachdem er diesen Ausspruch vernommen und sich überzeugt habe, daß das einzige Gepäck des Fremden in einer Handtasche bestehe, die neben ihm auf dem Felde gefunden worden, habe er sich sofort aus den Weg gemacht, um den Pfarrer um seinen Rath zu ersuchen und ihn zu fragen, welches Verfahren er zunächst in dieser ernstlichen Verlegenheit einschlagen solle.

Mr. Brock war nicht nur der Geistliche, sondern auch zugleich der Magistratsherr des Bezirks, und das zunächst einzuschlagende Verfahren schien ihm klar genug. Er setzte seinen Hut auf und kehrte mit dem Wirthe nach dessen Hause zurück. An der Thür des Wirthshauses trafen sie Allan, der die Nachricht aus anderem Wege erfahren hatte und jetzt Mr. Brocks Ankunft abwartete, um dem Magistratsherrn zu folgen und sich den Fremden anzusehen. In demselben Augenblicke gesellte sich auch der Dorfarzt zu ihnen und die Vier gingen zusammen hinein.

Bei ihrem Eintreten erblickten sie den Sohn des Wirths an der einen, und den Stallknecht an der andern Seite des Mannes, den sie in seinem Sessel festzuhalten bemüht waren. Obgleich jung, schmächtig und unter mittlerer Größe, war er doch in diesem Augenblick stark genug, um den Beiden einige Mühe zu machen, ihn zu halten. Seine gelbliche Gesichtsfarbe, seine großen glänzenden braunen Augen und sein schwarzer Schnurr- und Backenbart gaben ihm ein fremdländisches Aussehen. Seine Kleidung war ein wenig abgetragen, aber seine Wäsche sauber. Seine bräunlichen Hände waren dünn und nervig und trugen an verschiedenen Stellen die gelblichen Narben alter Verletzungen. Die Zehen seines rechten Fußes, von dem er den Schuh abgeschleudert, klammerten sich um das Querholz des Stuhles, und zwar mit einer Kraft, wie man sie nur bei Leuten wahrnimmt, welche barfuß zu gehen gewohnt gewesen. Bei der Wuth, die sich seiner jetzt bemächtigt hatte, war es unmöglich, mehr als dies an ihm zu beobachten. Nach einer leise geführten Berathung mit Mr. Brock ließ der Arzt unter seiner persönlichen Aufsicht den Kranken nach einem ruhigen Schlafzimmer auf der Hinterseite des Hauses bringen. Bald darauf wurden seine Kleider und seine Handtasche hinunter gesandt und in Gegenwart des Magistratsherrn untersucht, um dadurch wo möglich einigen Aufschluß über seine Person und Verhältnisse zu erlangen und seine Angehörigen benachrichtigen zu können.

In der Handtasche befand sich nichts als ein einziger Anzug und zwei Bücher, Sophocles’ Tragödien in griechischen und Goethe’s Faust in deutscher Sprache. Beide Bücher waren durch häufiges Lesen stark mitgenommen, und auf dem ersten weißen Blatte derselben standen die Anfangsbuchstaben O. M. geschrieben. Dies war alles, was die Handtasche verrieth.

Sodann durchsuchte man die Kleider, die der Mann getragen, als er auf dem Felde gesunden worden war. Eine Börse, die einen Sovereign und ein paar Schillinge enthielt, eine Pfeife, ein Tabaksbeutel, ein Taschentuch und ein kleiner Trinkbecher von Horn wurden der Reihe nach zum Vorschein gebracht. Der letzte Gegenstand aber fand sich nachlässig zusammengedrückt in der Brusttasche des Rockes; es war ein geschriebenes Zeugnis datiert und unterzeichnet, doch fehlte die Adresse des Ausstellers. Die Geschichte des Fremden war, soweit dieses Document dieselbe erzählte, in der That eine traurige. Er war, wie es schien, eine kurze Zeit als Unterlehrer an einer Schule angestellt gewesen; da sich aber Spuren einer Krankheit bei ihm gezeigt hatten, von der man befürchtet, daß sie ansteckend sein und somit der Schule Schaden bringen könne, war er in die Welt hinausgestoßen worden. Es wurde ihm in seiner Amtsverwaltung nicht das geringste Mißverhalten zur Last gelegt; im Gegentheil, der Inhaber der Schule bezeugte dem Unterlehrer mit Vergnügen seine Fähigkeit und seine gute Aufführung und drückte seine aufrichtige Hoffnung aus, daß er mit Hilfe der Vorsehung bald in einem andern Hause seine Gesundheit wiederfinden möge.

Das geschriebene Zeugniß, welches ihnen diesen flüchtigen Blick in die Geschichte des Mannes gestattete, leistete zugleich noch einen andern Dienst. Aus diesem Zeugniß nämlich, in Verbindung mit den Anfangsbuchstaben in den Büchern, ersahen der Magistratsherr und der Gastwirth wenigstens so viel, daß der Mann den eigenthümlich häßlichen Namen Ozias Midwinter führe.

Mr. Brock legte das Zeugniß bei Seite; er vermuthete, daß der Schulinhaber absichtlich seine Adresse hinzuzufügen unterlassen, um im Falle des Todes seines Unterlehrers aller Verantwortlichkeit zu entgehen. Jedenfalls war es unter den obwaltenden Umständen offenbar nutzlos, die Angehörigen des unglücklichen Kranken ermitteln zu wollen, falls er deren überhaupt besaß. Er war einmal nach dem Wirthshause gebracht worden, und die Menschlichkeit forderte, daß er vor der Hand dort gelassen werde. Die Kosten konnten, falls das Schlimmste zum Schlimmen kam, vielleicht durch mitdthätige Beiträge der Nachbarn oder durch eine Kirchencollecte nach der Predigt aufgebracht werden. Indem er dem Gastwirthe die Versicherung gab, daß er diesen Theil der Frage in Erwägung ziehen und ihn dann von dem Erfolge unterrichten wolle, verließ Mr. Brock das Wirthshaus, ohne sich in dem Augenblicke daran zu erinnern, daß er seinen Zögling dort zurückgelassen.

Noch ehe er fünfzig Schritte vom Hause entfernt war, holte Allan ihn ein. Dieser war während der ganzen Untersuchung im Wirthshause ungewöhnlich ernst und schweigsam gewesen, doch hatte er jetzt seine ganze natürliche Lebhaftigkeit wiedergefunden. Ein Fremder würde ihn vielleicht eines Mangels an Mitgefühl beschuldigt haben.

»Dies ist eine traurige Geschichte«, begann der Pfarrer. »Ich weiß wirklich nicht, was ich eigentlich für jenen unglücklichen Menschen thun soll«

»Sie dürfen sich darüber vollkommen beruhigen, Sir«, entgegnete der junge Armadale in seiner unbekümmerten Weise. »Ich habe vor einer Minute alles mit dem Wirthe abgemacht.«

»Du!« rief Mr. Brock im höchsten Erstaunen.

»Ich habe ihm bloß einige einfache Instructionen gegeben«, fuhr Allan fort. »Unser Freund, der Unterlehrer, soll mit allem versehen werden, dessen er bedarf, und dazu wie ein Prinz behandelt werden; und wenn der Arzt und der Wirth ihr Geld verlangen, so sollen sie zu mir kommen«

»Mein lieber Allan!« sagte Mr. Brock in sanft vorstellendem Tone. »Wann wirst Du nur lernen zu überlegen, ehe Du Deinen großmüthigen Eingebungen folgst? Du giebst bereits für Deinen Schiffbau mehr Geld aus, als Dir ——«

»Ja, denken Sie nur! Wir haben vorgestern die ersten Planken des Verdecks gelegt«, sagte Allan, in seiner gewohnten leichtfüßigen Manier zu dem neue Gegenstande übergehend. »Es sind gerade genug Planken gelegt, daß man darauf gehen kann, wenn man nicht zum Schwindel geneigt ist. Ich will Ihnen die Leiter hinauf helfen, Mr. Brock, wenn Sie nur mitkommen und es versuchen wollen.«

»Höre mich an«, versetzte der Pfarrer. »Ich rede jetzt nicht von der Jacht. Das heißt, ich erwähne der Jacht bloß als einer Illustration ——«

»Und zwar eine sehr hübsche Illustration«,« bemerkte der unverbesserliche Allan. »Wenn Sie mir in ganz England ein hübscheres kleines Fahrzeug von ihrer Größe finden können, so will ich morgen den Schiffbau für immer aufgeben. Aber, wo waren wir in unserer Unterhaltung, Sir? Ich fürchte fast, wir haben den Faden verloren.«

»Ich fürchte fast, daß einer von uns beiden die Gewohnheit hat, jedes mal den Faden zu verlieren, sobald er die Lippen öffnet«, entgegnete Mr. Brock. »Komm, komm, Allan, dies ist eine ernste Sache. Du hast Dich für Kosten verantwortlich gemacht, die Du vielleicht nicht zu bestreiten im Stande sein magst. Ich bin weit entfernt, das laß Dir gesagt sein, Dich wegen Deines freundlichen Mitgefühls für diesen armen freundlosen Menschen zu tadeln ——«

»Machen Sie sich keine Gedanken um ihn, Sir; er wird schon durchkommen —— in einer Woche oder zweien wird er schon wieder auf den Beinen sein. Ein vortrefflicher Bursche, das bezweifle ich keinen Augenblick. Gesetzt, Sie lüden ihn zu Tische ein, Mr. Brock, sobald er wieder genesen ist? Ich möchte wohl, wenn wir alle Drei gemüthlich und freundschaftlich beim Weine sitzen, wissen Sie, aus ihm herausbekommen, wie er zu seinem unerhörten Namen kam. Ozias Midwinter! Beim Himmel, sein Vater sollte sich schämen!«

»Willst Du mir eine Frage beantworten, ehe ich hineingehe?« sagte der Pfarrer, verzweiflungsvoll vor seinem Gartenpförtchen stillstehend »Die Rechnung dieses Mannes für Logis und ärztliche Behandlung mag sich, ehe er wieder gesund ist —— falls er überhaupt wieder genesen sollte —— auf zwanzig bis dreißig Pfund Sterling belaufen. Wie willst Du dies bezahlen?«

»Wie sagt doch gleich der Großkanzler der Schatzkammer, wenn er mit seinen Rechnungen in eine Klemme gerathen ist, aus der er keinen Ausweg sieht?« frug Allan. »Er unterrichtet seinen ehrenwerthen Freund stets, daß er völlig bereit ist, einen —— wie heißt es gleich ——«

»Einen Rand?« ergänzte Mr. Brock.

»Ganz recht! Ich habe große Aehnlichkeit mit dem Großkanzler der Schatzkammer. Ich bin voll kommen bereit, »einen Rand zu lassen.« Die Jacht, Gott segne sie, verschlingt nicht alles. Falls ich um ein paar Pfund zu kurz komme, so machen Sie sich keine Sorgen, Sir! Ich bin nicht stolz; ich will das Fehlende mit dem Hute in der Hand in der Nachbarschaft sammeln. Der Henker hole die Pfunde, Schillinge und Pence! Ich wollte, sie könnten sich alle drei, gleich den Beduinenbrüdern in der Schaubude, gegenseitig aufessen! Erinnern Sie sich nicht der Beduinenbrüder, Mr. Brock? »Ali wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Muli hinunterspringen, Muli wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Hassan hinunterspringen, Hassan aber wird die dritte brennende Fackel nehmen und zum Schlusse der Vorstellung in seinen eignen Hals hinunterspringen und die Zuschauer in totaler finsterenis; zurücklassen!« Vortrefflich das —— das nenne ich echten Witz! Warten Sie einen Augenblick! Wo waren wir gleich? Wir haben abermals den Faden verloren. O, ich erinnere mich —— Geld! Eine Sache«, schloß Allan, der gar nicht daran dachte, daß er einem Geistlichen socialistische Lehren predigte, »eine Sache, die ich mir nicht in meinen dicken Kopf hineinzutrommeln vermag, ist das Aufheben, das stets gemacht wird, wenn Jemand Geld weggiebt. Warum können nicht die Leute, die Geld übrig haben, dasselbe denjenigen geben, die keines übrig haben, und es dadurch in der ganzen Welt hübsch und gemüthlich machen? Sie empfehlen mir stets, Ideen zu kultivieren, Mr. Brock. Da haben Sie eine Idee, und beim Himmel, es scheint mir keine schlechte zu sein«

Mr. Brock stieß seinen Zögling gutmüthig mit seinem Stocke in die Rippen. »Geh zu Deiner Jacht zurück«, sagte er. »Das ganze Bißchen Klugheit, das Du in Deinem leichtsinnigen Kopfe besitzest, ist in Deinem Geschirrkasten an Bord geblieben. —— Wie dies enden soll«, sprach der Pfarrer bei sich, sobald er allein war, »ist mir unbegreiflich. Ich wollte fast, ich hätte nie die Verantwortlichkeit für ihn auf mich genommen.«

Es vergingen drei Wochen, ehe der Fremde mit dem häßlichen Namen sich auf dem Wege der Genesung befand. Während dieses Zeitraumes hatte Allan sich regelmäßig in dem Wirthshause nach seinem Befinden erkundigt, und sobald es dem Kranken gestattet war, Besuche anzunehmen, war Allan der Erste, der an seinem Bette erschien. Bis dahin hatte Mr. Brock’s Zögling ein nicht mehr als natürliches Interesse an einem der wenigen romantischen Ereignisse seines einförmigen Landlebens gezeigt; er hatte keine Unvorsichtigkeit begangen und sich keinerlei Tadel zugezogen. Doch wie die Tage vergingen, wurden die Besuche des jungen Armadale in dem Wirthshause immer länger, und der Arzt, ein vorsichtiger ältlicher Mann, gab dem Pfarrer heimlich einen Wink, daß er sich ins Mittel lege. Mr. Brock folgte diesem Winke augenblicklich und machte die Entdeckung, daß Allan auf seine gewohnte unbekümmerte Weise seinen Eingebungen gefolgt war. Er hatte eine heftige Zuneigung zu dem von der Welt verlassenen Unterlehrer gefaßt und Ozias Midwinter den Vorschlag gemacht, sich unter dem neuen und interessanten Titel seines Busenfreundes für immer in der Nachbarschaft niederzulassen.

Ehe Mr. Brock in dieser Verlegenheit zu einem Entschlusse kommen konnte, erhielt er ein Billet von Allan’s Mutter, in welchem diese ihn bat, von seinem Privilegium als alter Freund Gebrauch zu machen und sie auf ihrem Krankenzimmer zu besuchen. Er fand Mrs. Armadale in einer heftigen nervösen Gemüthsbewegung, die ihr einzig und allein eine kürzlich gehabte Unterredung mit ihrem Sohne verursacht hatte. Allan hatte den ganzen Morgen bei ihr gesessen und von nichts Anderem als seinem neuen Freunde gesprochen. Der Mann mit dem entsetzlichen Namen, wie die arme Mrs. Armadale ihn nannte, hatte Allan auf eine merkwürdig neugierige Weise über ihn selbst und seine Familie ausgefragt, seine eigne Geschichte dagegen vollkommen in Dunkel gehüllt. In seinen früheren Lebensjahren war er ans Meer und ans Umher segeln gewöhnt gewesen. Dies hatte Allan unglücklicherweise entdeckt, und somit hatte sich alsbald ein Anknüpfungspunkt zu seiner Freundschaft gefunden. Mit einem unbarmherzigen Argwohne gegen den Fremden, der Mr. Brock als ziemlich unverständig erschien, flehte Mrs. Armadale den Pfarrer an, ohne einen Augenblick zu verlieren nach dem Wirthshause zu gehen und nicht eher zu ruhen, als bis er den Mann zu einer befriedigenden Auskunft über sich gebracht habe. »Lassen Sie sich alles über seine Eltern mittheilen!« rief sie in ihrer ungestümen Frauenweise »Vergewissern Sie sich, ehe Sie ihn verlassen, daß er kein Vagabond ist, der unter einem angenommenen Namen im Lande umherstreicht.«

»Meine liebe Lady«, erwiderte der Pfarrer, indem er gehorsam seinen Hut aufnahm, »wie sehr wir auch sonst in Ungewißheit über ihn sein mögen, so glaube ich doch wirklich, daß wir uns über den Namen des Mannes keine Zweifel zu machen brauchen. Denn derselbe ist in der That so außerordentlich häßlich, daß er echt sein muß. Kein Mensch würde bei gesundem Verstande einen solchen Namen wie Ozias Midwinter annehmen.«

»Sie haben vielleicht Recht und ich Unrecht; aber ich bitte Sie, gehen Sie zu ihm und schonen Sie ihn nicht, Mr. Brock! Wie können wir wissen, ob er sich nicht zu irgendeinem Zwecke bloß krank gestellt hat?«

Es war unnütz, ihr Vorstellungen zu machen. Der ganze Sanitätsrath hätte die Krankheit des Mannes bezeugen können und doch würde Mrs. Armadale in ihrem gegenwärtigen Gemüthszustande keinem einzigen seiner Mitglieder Glauben geschenkt haben. Mr. Brock schlug daher den verständigsten Weg ein, indem er nichts erwiderte, sondern sofort nach dem Wirthshause ging. Jedermann, der Ozias Midwinter zum ersten Mal sah, wie er sich jetzt von seiner Gehirnentzündung erholte, mußte bei seinem Anblicke zurückschrecken. Sein rasierter Kopf, um den er nachlässig ein altes gelbseidenes Taschentuch geschlungen, seine gelben, eingesunkenen Wangen; seine glänzenden, braunen Augen, die unnatürlich groß und wild erschienen; sein unordentlicher schwarzer Bart; seine langen, sehnigen, gelenkigen Finger, die durch die Krankheit so abgemagert waren, daß sie wie Krallen aussahen —— alles dies zusammen war geeignet, den Pfarrer gleich zu Anfang seines Besuches außer Fassung zu bringen. Als er das erste Gefühl des Erstaunens überwunden hatte, war der zunächst folgende Eindruck kein angenehmer. Mr. Brock konnte sich nicht verhehlen, daß das Wesen dieses Mannes gegen ihn spreche. Man pflegt allgemein anzunehmen, ein ehrlicher Mann gebe sich als solcher dadurch zu erkennen, daß er, wenn er mit seinen Mitmenschen redet, ihnen gerade ins Gesicht blickt. Wenn dieser Mann wirklich ehrlich war, so zeigten seine Augen allerdings einen merkwürdigen Eigensinn, indem sie sich beständig abwandten und ihm dadurch jene Eigenschaft absprachen. Es mochte sein, daß dieselben unter einer nervösen Unruhe litten, die in seiner Organisation lag und sich bis in jede Fiber seines hageren, geschmeidigen Körpers erstreckte. Jede zufällige Bewegung der gelenkigen braunen Finger des Schullehrers und jede flüchtige Verzerrung seines abgezehrten gelben Gesichts verursachte dem Pfarrer in seiner gesunden angelsächsischen Haut einen Schauder. »Gott verzeih mir!« dachte Mr. Brock, im Geiste mit Allan und Allan’s Mutter beschäftigt, »ich wollte, ich sähe ein Mittel, um Mr. Ozias Midwinter wieder in die Welt hinaus zusenden!«

Die Unterhaltung, die zwischen den beiden Männern stattfand, ward mit großer Behutsamkeit geführt. Mr. Brock ging sehr zartfühlend zu Werke, doch sah er sich, er mochte es anfangen wie er wollte, immer auf die höflichste Weise im Dunkeln gelassen. Der Mann wich von Anfang an mit einer wilden Scheu jeder Berührung des Geistlichen aus. Er machte den Anfang mit einer Angabe, der man bei seinem Anblicke unmöglich Glauben schenken konnte —— er behauptete, er sei erst zwanzig Jahre alt. Alles, was in Bezug auf die Schule aus ihm herauszubringen war, beschränkte sich daraus, daß die bloße Erinnerung an dieselbe ihm ein Gräuel sei. Er habe die Stelle eines Unterlehrers nur zehn Tage innegehabt, als die ersten Anzeichen seiner Krankheit ihm seine Entlassung zuzogen. In welcher Weise er in das Feld gelangt sei, wo man ihn gefunden, vermöge er nicht zu sagen. Er erinnere sich, daß er in einer gewissen Absicht, auf die er sich jetzt nicht mehr besinnen könne, eine lange Reise auf der Eisenbahn zurückgelegt habe, und dann —— er wisse nicht, ob den ganzen Tag oder die ganze Nacht der Küste zugewandert sei. Das Meer habe ihm im Sinne gelegen, als sein Verstand zu wanken angefangen. Schon als Knabe sei er auf dem Meere beschäftigt gewesen, habe aber später eine Stelle bei einem Buchhändler in einer Provinzialstadt angenommen. Nachdem er den Buchhändler wieder verlassen, habe er es in einer Schule versucht, und jetzt, da die Schule ihn verstoßen, müsse er etwas Anderes versuchen. Es sei einerlei, sagte er, was er versuche —— es müsse stets früher oder später ein unglückliches Ende nehmen, wofür indessen Niemand zu tadeln sei als er selbst. Freunde, die ihm zu Hilfe kommen könnten, besitze er nicht, und er bitte, ihn zu entschuldigen, wenn er von seinen Verwandten nicht sprechen möge. Er wisse so wenig von ihnen, daß sie immerhin gestorben sein möchten, und ebenso sei er für sie todt. Es lasse sich nicht leugnen, daß dies für einen Menschen in seinem Alter ein trauriges Bekenntniß sei. Dasselbe könne ihm in der Meinung Anderer schaden —— und nehme ohne Zweifel den Herrn, mit dem er sich in diesem Augenblicke zu unterhalten die Ehre habe, gegen ihn ein.

Diese seltsamen Antworten gab er in einem Tone und in einer Manier, die ebenso weit von aller Bitterkeit als von Gleichgültigkeit entfernt waren. Ozias Midwinter sprach in seinem zwanzigsten Jahre von seinem Leben, wie er etwa im siebzigsten hätte sprechen dürfen.

Zwei Umstände sprachen entschieden gegen das blinde Mißtrauen, das Mr. Brock in seiner Unschlüssigkeit gegen ihn hegte. Er hatte nämlich an eine Sparkasse in einem entlegenen Theile von England um sein Geld geschrieben und sodann mit demselben den Arzt und den Gastwirth bezahlt. Ein Mann von niedriger Sinnesart würde, nachdem er in dieser Weise gehandelt und seine Rechnungen bezahlt, seine Verpflichtungen gegen Andere leicht genommen haben. Ozias Midwinter aber sprach von seinen Verpflichtungen —— und namentlich von seinen Verpflichtungen gegen Allan —— mit einer Gluth der Dankbarkeit, die nicht allein überraschend, sondern förmlich peinlich anzuhören war. Er war förmlich erstaunt darüber, daß er in einem christlichen Lande mit der gewöhnlichsten christlichen Barmherzigkeit behandelt worden war, und sprach von der Art und Weise, in der Allan alle Verantwortlichkeit für die Kosten seines Obdachs, seiner Pflege und Wiederherstellung auf sich genommen, mit einem wilden Entzücken von Dankbarkeit und Erstaunen, das wie ein wahrer Blitz aus ihm hervorleuchtete »Gott sei mir gnädig!« rief der von der Welt verstoßene Unterlehrer, »seinesgleichen ist mir niemals vorgekommen; ich habe nie von seinesgleichen gehört!« Im nächsten Augenblicke aber war dieser eine Lichtstrahl, den er auf seine leidenschaftliche Natur hatte fallen lassen, wieder völlig erloschen. Seine unstäten Augen kehrten zu ihrem alten widerwärtigen Spiele zurück und wandten sich unruhig wieder von Mr. Brock ab; auch seine Stimme versank wieder in ihre unnatürliche Sicherheit und Ruhe des Tones. »Ich bitte Sie um Vergebung, Sir«, sagte er, »ich bin gewohnt gewesen, gehetzt und betrogen und ausgehungert zu werden. Alles Andere erscheint mir seltsam.« Halb angezogen, halb abgestoßen von dem Manne, bot Mr. Brock ihm zum Abschied die Hand; allein von einem plötzlichen Zweifel überfallen, zog er sie verlegen wieder zurück »Das war freundlich gemeint«, sagte Ozias Midwinter, seine eigenen Hände schnell entschlossen hinterrücks verschränkend. »Ich beklage mich nicht darüber, daß Sie sich eines Besseren besannen. Ein Mann, der keine befriedigende Auskunft über sich zu geben im Stande ist, ist nicht der Mann, dem ein Herr in Ihrer Stellung die Hand bieten kann.«

Mr. Brock verließ in gründlicher Verwirrung das Wirthshaus. Ehe er zu Mrs. Armadale zurückkehrte, ließ er ihren Sohn zu sich kommen. Es war ja Aussicht vorhanden, daß der Fremde seine Zunge in der Unterhaltung mit Allan nicht so strenge bewacht hatte; und bei Allan’s Offenheit stand es nicht zu befürchten, daß er dem Pfarrer irgendetwas verhehlen werde, das sich zwischen ihm und dem Fremden zugetragen.

Doch auch hier erzielte Mr. Brock’s Diplomatie keine großen Resultate. Sowie die Rede einmal auf Ozias Midwinter gekommen war, schwatzte Allan in seiner gewohnten leichten, unbekümmerten Weise von seinem neuen Freunde in einem Zuge. Doch hatte er wirklich nichts von Wichtigkeit mitzutheilen, denn er selbst hatte nichts Wichtiges erfahren. Sie hatten sich stundenlang vom Schiffbau und vom Segeln unterhalten, und Allan hatte manche nützliche Winke aufgefangen; insbesondere hatten sie sich mit einander über das ernste Ereigniß des bevorstehenden Von-Stapel-laufens der Jacht berathen. Bei andern Gelegenheiten waren sie auf andere Gegenstände abgeschweift, deren Allan sich im Augenblicke nicht zu erinnern vermochte. Aber hatte Midwinter im Flusse dieser freundschaftlichen Unterhaltungen nichts über seine Familie fallen lassen? Nichts, außer daß dieselbe nicht gut gegen ihn gehandelt —— zum Henker mit seiner Familie! War er in Bezug auf seinen eigenthümlichen Namen irgendwie empfindlich? Nicht im geringsten; er war, als ein vernünftiger Bursche, seinem Freunde mit einem guten Beispiele vorangegangen, indem er selbst darüber lachte —— zum Henker mit seinem Namen; derselbe war gut genug, sobald man sich einmal an ihn gewöhnt! Was hatte Allan an ihm gefunden, um eine so große Zuneigung zu ihm zu fassen? Allan hatte das an ihm gefunden, was er an andern Leuten zu finden nicht gewohnt war. Er glich den übrigen jungen Leuten in der Nachbarschaft nicht im mindesten. Alle diese Bursche waren nach demselben Muster zugeschnitten. Jeder Einzelne von ihnen war so gesund, muskulös, geräuschvoll, hartköpfig, reingewaschen und roh wie der Andere; sie tranken alle, Einer wie der Andere, dieselbe Quantität Bier, rauchten den ganzen Tag dieselben kurzen Thonpfeifen, ritten die besten Pferde, nahmen den besten Hund auf die Hühnerjagd und stellten Abends die beste Flasche Wein auf ihren Tisch; jeder Einzelne von ihnen nahm jeden Morgen sein kaltes Bad und rühmte sich dessen an frostigen Wintertagen; jeder von ihnen sah einen herrlichen Scherz im Schuldenmachen und hielt das Wetten bei Pferderennen für eine der verdienstvollsten Handlungen, deren ein menschliches Wesen fähig ist. Sie waren ohne Zweifel auf ihre Weise vortreffliche Leute; aber leider einander alle völlig gleich. Es sei ein wahres Glück, meinte Allan, einen Mann wie Midwinter zu finden, einen Mann, der nicht nach dem einförmigen Muster dieser Gegend zugeschnitten sei und dessen Art und Weise den einen großen Vorzug besaß, seine ihm eigenthümliche zu sein.

Der Pfarrer verschob alle ferneren Vorstellungen bis zu einer passenderen Gelegenheit und kehrte zu Mrs. Armadale zurück. Er konnte sich nicht verhehlen, daß eigentlich Allan’s Mutter diejenige« Person sei, die für Allan’s unkluges Benehmen gegen den Fremden verantwortlich war. Denn hätte der junge Bursche etwas weniger von den kleinen Gutsherrschaften der Umgegend und dafür etwas mehr von der großen Außenwelt in der Heimath und im Auslande gesehen, so würde das Vergnügen, das er in Ozias Midwinters Gesellschaft fand, vielleicht ein geringeres gewesen sein.

In dem Bewußtsein des unbefriedigenden Resultats seines Besuches im Wirthshause war Mr. Brock, als er sich abermals mit Mrs. Armadale allein befand, ein wenig besorgt über die Aufnahme, die sein Bericht finden würde. Seine Ahnungen bestätigten sich bald. Wie er die Sache immer zu beschönigen versuchte, Mrs. Armadale hielt sich an das eine verdächtige Factum, daß der Unterlehrer ein so entschlossenes Schweigen über sich selbst bewahrte —— ein Factum, das sie ihrer Ansicht nach zu den strengsten Maßregeln berechtigte, um ihren Sohn von ihm zu trennen. Für den Fall, daß der Pfarrer sich weigere, sich ferner in die Sache zu mischen, erklärte sie, selbst an Ozias Midwinter schreiben zu wollen. Mr. Brock’s Gegenvorstellungen reizten sie in dem Grade, daß sie ihn durch die Erwähnung jenes verbotenen Gegenstandes überraschte, indem sie ihn an die Unterhaltung erinnerte, die vor fünf Jahren zwischen ihnen stattgefunden hatte, als er jene Annonce in der Zeitung entdeckt gehabt. Sie erklärte mit großer Heftigkeit, daß, was immer dagegen zusprechen scheine, der in der Annonce aufgerufene Landstreicher Armadale vielleicht derselbe Landstreicher sei, der sich jetzt unter dem Namen Ozias Midwinter in der Dorfschenke aufhalte. Der Pfarrer wiederholte vergebens seine Ueberzeugung, daß dieser Name der aller unwahrscheinlichste sei, den ein Mensch, und zumal ein junger Mensch, annehmen würde. Nichts vermochte Mrs. Armadale zu beruhigen, als absolute Ergebung in ihren Willen. Da er die Folgen befürchtete, wenn er sich ihr bei ihrem gegenwärtigen schwachen Gesundheitszustande noch ferner widersetzte und außerdem eine ernstliche Veruneinigung zwischen Mutter und Sohn besorgte, falls Erstere sich persönlich in die Sache mischte, so unterzog Mr. Brock sich der Aufgabe, Midwinter nochmals auszusuchen und ihm ganz offen zu erklären, daß er entweder eine befriedigende Auskunft über sich geben oder seinen vertrauten Umgang mit Allan abbrechen müsse. Die einzigen Gegenbedingungen, die Mr. Brock dafür Mrs. Armadale auferlegte, waren erstens, daß sie geduldig warten solle, bis der Arzt erklärt haben werde, daß der Mann so weit wiederhergestellt sei, um seine Reise fortzusetzen, und zweitens, daß sie den Gegenstand inzwischen in keiner Weise gegen ihren Sohn erwähne.

Nach Verlauf einer Woche war Midwinter wohl genug, um sich von Allan in dem Ponywagen des Wirthshauses ausfahren lassen zu können; und nach zehn Tagen erklärte der Arzt gegen Mr. Brock, daß Midwinter’s Zustand ihm erlaube, weiter zu reisen. An jenem zehnten Tage begegnete Mr. Brock Allan mit seinem neuen Freunde in einer der landeinwärts führenden Allem, wo sie die letzten Strahlen der Wintersonne genossen. Er wartete, bis die Beiden von einander geschieden waren, und folgte dann dem Unterlehrer auf seinem Heimwege nach dem Wirthshause.

Des Pfarrers Entschluß, gerade heraus und ohne Mitleid zu sprechen, war in Gefahr, wankend zu werden, als er dem freundlosen Manne näher kam und sah, wie schwach noch immer sein Gang war, wie lose sein Rock an ihm herabhing und wie schwer er sich auf seinen Stock stützte. In seinem humanen Widerstreben, die entscheidenden Worte zu früh zu sprechen, versuchte Mr. Brock zuerst ein kleines Kompliment über seine ausgedehnten Kenntnisse auf die sich aus den beiden Büchern, dem Bande von Sophocles und dem von Goethe, schließen lasse, welche man in seiner Handtasche gefunden, und frug ihn, wie lange er schon mit der deutschen und der griechischen Sprache vertraut sei. Midwinters feines Ohr entdeckte etwas ungewöhnliches in Mr. Brocks Stimme. Er wandte sich in dem sinkenden Abendlichte um und schaute dem Pfarrer plötzlich mißtrauisch ins Gesicht.

»Sie wünschen mir etwas zu sagen«, erwiderte er, »und es ist etwas Anderes als das, wovon Sie jetzt reden.«

Es blieb Mr. Brock nichts weiter übrig, als auf die Herausforderung einzugehen. Sehr zartfühlend und mit vielen einleitenden Worten, die der Andere mit ununterbrochenem Schweigen anhörte, näherte Mr. Brock sich dem Gegenstande. Doch lange, ehe er denselben erreicht, lange bevor ein Mann von gewöhnlichem Ernpfindungsvermögen etwas von dem Kommenden geahnt haben würde, stand Ozias Midwinter in der Allee still und sagte dem Pfarrer, er brauche nicht weiterzureden.

»Ich verstehe Sie, Sir«, sagte der Schullehrer. Mrs. Armadale hat eine bestimmte Stellung in der Welt; Mr. Armadale hat nichts zu verheimlichen, nichts, dessen er sich zu schämen braucht. Ich stimme mit Ihnen überein, daß ich kein passender Gefährte für ihn bin. Die beste Art und Weise, in der ich ihm für seine Güte gegen mich danken kann, besteht darin, daß ich dieselbe nicht mißbrauche. Sie dürfen sich darauf verlassen, daß ich diesen Ort morgen früh verlassen werde.«

Er sprach kein Wort weiter und wollte kein Wort weiter hören. Mit einer Selbstbeherrschung, die bei seinem Alter und seinem Temperament ans Wunderbare grenzte, nahm er höflich den Hut ab, verbeugte sich und kehrte allein nachdem Wirthshause zurück.

Mr. Brock schlief diese Nacht nur schlecht. Der Erfolg der Unterredung in der Allee hatte das Problem über Ozias Midwinter unlösbarer als je gemacht.

Früh am nächsten Morgen ward dem Pfarrer ein Brief aus dem Wirthshause gebracht und der Bote meldete, daß der fremde Herr abgereist sei. Der Brief enthielt eine unversiegelte Einlage an Allan und ersuchte Allan’s Erzieher, dieselbe, nachdem er selbst sie gelesen, nach seinem eignen Gutdünken entweder an den Adressaten abzugeben oder zu vernichten. Die Einlage war von einer überraschenden Kürze; sie ent hielt nicht mehr als ein Dutzend Worte: »Tadeln Sie Mr. Brock nicht; Mr. Brock hat Recht. Ich danke Ihnen; leben Sie wohl! —— O. M.«

Der Pfarrer beförderte das Billet selbstverständlich an seine Bestimmung und schrieb zugleich ein paar Zeilen an Mrs. Armadale, um sie durch die Nachricht von der Abreise des Schullehrers zu beruhigen. Dann wartete er, nicht eben in besonderer Gemüthsruhe, den Besuch seines Zöglings ab, den dieser ihm nach dem Empfange des Billets höchst wahrscheinlich machen würde. Dem Benehmen Midwinter’s mochte vielleicht ein tieferes Motiv zu Grunde liegen —— vielleicht auch nicht; doch war es unmöglich zu leugnen, daß sein bisheriges Verhalten der Art gewesen sei, um den Argwohn des Pfarrers als unbegründet erscheinen zu lassen und Allan’s gute Meinung von ihm zu rechtfertigen.

Der Morgen verstrich und der junge Armadale ließ sich nicht sehen. Nachdem Mr. Brock ihn vergebens in dem Hofe gesucht, wo der Bau der Jacht vor sich ging, begab er sich nach Mrs. Armadale’s Hause und erfuhr dort von dem Stubenmädchen Dinge, die seine Schritte sofort nach dem Wirthshause lenken. Der Wirth bekannte augenblicklich die Wahrheit; der junge Mr. Armadale sei mit einem offenen Briefe in der Hand zu ihm gekommen und habe darauf bestanden, daß man ihn von dem Wege unterrichte, den sein Freund eingeschlagen. Der junge Herr sei sehr aufgebracht gewesen, und das Stubenmädchen, welches die Gäste bediente, habe einfältiger weise noch eines Umstandes erwähnt, welcher Oel in die Flamme gegossen. Sie habe nämlich erklärt, daß sie gehört, wie Mr. Midwinter nach seiner Heimkehr sich in sein Zimmer eingeschlossen habe und in ein heftiges Weinen ausgebrochen sei. Dieser unbedeutende Umstand habe dem jungen Mr. Armadale die Gluth ins Gesicht getrieben; er habe getobt und geflucht, sei nach dem Stalle gestürzt, habe den Stallknecht gezwungen, ihm ein Pferd zu satteln, und sei im vollen Galopp auf dem Wege davon geritten, den Ozias Midwinter eingeschlagen hatte.

Nachdem Mr. Brock dem Wirth ans Herz gelegt, Allan’s Benehmen geheim zu halten, falls von Mrs. Armadales Dienerschaft Jemand nach dem Wirthshause käme, begab er sich wieder nach Hause und erwartete voll ängstlicher Besorgniß, was der Tag mit sich bringen werde.

Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung erschien sein Zögling spät am Nachmittage auf der Pfarrei. Allan verrieth in seinem Gesicht und seiner Stimme eine trotzige Entschlossenheit, die sein alter Freund bisher nie an ihm bemerkt hatte. Ohne Mr. Brocks Frage abzuwarten, erzählte er seine Geschichte in seiner gewohnten offenen Weise. Er hatte Midwinter auf der Landstraße eingeholt und, nachdem er vergebens versucht, zuerst ihn zum Umkehren zu bewegen, und dann, zu erfahren, wohin er gehe, hatte er gedroht, ihn den ganzen Tag begleiten zu wollen, und ihm dadurch das Bekenntniß abgezwungen, daß er sein Glück zunächst in London zu versuchen beabsichtige. Nachdem er einmal soviel erreicht, hatte Allan darauf bestanden, daß sein Freund ihm seine Londoner Adresse mittheile. Dieser hatte ihn angefleht, nicht weiter in ihn zu dringen; allein Allan hatte sich dessen ungeachtet nicht abweisen lassen und endlich seinem Freunde die Adresse dadurch abgetrotzt; daß er an dessen Dankbarkeit appelliert hatte, wofür er ihn später um Verzeihung gebeten, da er sich seines Benehmens sogleich geschämt »Ich habe den armen Burschen lieb und will ihn daher nicht aufgeben«, sagte Allan zum Schlusse, indem er mit geballter Faust auf den Tisch des Pfarrers schlug. »Fürchten Sie nicht, daß ich meiner Mutter Verdruß machen werde; ich überlasse es Ihnen, Mr. Brock, mit ihr darüber zu reden, wann und wie Sie wollen, für jetzt will ich nur noch Eins hinzufügen und der Sache damit ein Ende machen: Die Adresse befindet sich hier in mein Taschenbuch eingetragen, und hier stehe ich, für diesmal fest in einem Entschlusse. Ich will Ihnen und meiner Mutter Zeit geben, sich die Sache zu überlegen; nach Ablauf dieser Frist aber will ich, falls mein Freund Midwinter nicht zu mir kommt, zu meinem Freunde Midwinter gehen!«

Und dabei blieb es für den Augenblick. Dies also war die Folge davon, daß man den unglücklichen Unterlehrer abermals in die Welt hinausgestoßen hatte.



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Mr. Brock machte nun in seiner Erinnerung mit schwerem Herzen bei dem nächsten Ereignisse Halt, das für ihn das traurigste- und denkwürdigste in der ganzen Reihe war —— Mrs. Armadales Tod, der im Jahre 1851 erfolgte.

Die nächste Veranlassung zu diesem Unglück glaubte der Pfarrer in folgendem Vorfalle suchen zu müssen, der noch aus dem December des Jahres 1850 datierte und welcher sich von der Zeit an auf das schmerzlichste dem Gedächtnisse des Pfarrers eingeprägt hatte.

Drei Tage nach Midwinter’s Abreise im December ward Mr. Brock im Dorfe von einer ihm völlig fremden, wohl gekleideten Frau angeredet; sie trug ein Kleid und einen Hut von schwarzer Seide und einen gewirkten Shawl. Ohne den dichten Schleier aufzuheben, der über ihr Gesicht herabfiel, frug sie Mr. Brock nach dem Wege zu Mrs. Armadale’s Wohnung. Während er sie berichtete, machte er die Bemerkung, daß sie eine außerordentlich elegante und anmuthige Frau sei, und wie sie sich verbeugte und ihn verließ, schaute er ihr verwundert nach und erging sich in Muthmaßungen darüber, wer wohl diese Besucherin Mrs. Armadale’s sein möge.

Eine Viertelstunde später ging diese Dame, noch immer dicht verschleiert, ganz nahe beim Wirthshause abermals an Mr. Brock vorbei. Sie trat ein und sprach mit der Wirthin. Da Mr. Brock bald darauf den Wirth nach den Ställen eilen sah, frug er ihn, ob die Dame wieder abreise. Ja; sie sei mit dem Omnibus von der Eisenbahnstation gekommen, wolle aber eine anständigere Gelegenheit zur Rückreise benützen und habe daher vom Wirthe einen Wagen gemiethet.

Der Pfarrer setzte seinen Spaziergang fort und war einigermaßen überrascht, daß seine Gedanken sich so neugierig mit einer Frau beschäftigten, die ihm doch völlig fremd war. Als er wieder nach Hause zurück kehrte, fand er dort den Dorfarzt vor, welcher mit einer dringenden Botschaft von Allan’s Mutter auf ihn wartete. Dieser berichtete, vor etwa einer Stunde sei er eiligst zu Mrs. Armadale beschieden worden und habe diese Dame an einem beunruhigenden Nervenanfalle leidend vorgefunden, welcher nach der Vermuthung der Dienerschaft durch einen unerwarteten und vielleicht unwillkommenen Besuch am Vormittage veranlaßt worden sei. Er habe alle nothwendigen Mittel angewandt und befürchte keinerlei gefährliche Folgen. Da seine Patientin, sowie sie sich erholt, den dringenden Wunsch ausgesprochen habe, unverzüglich Mr. Brock zu sehen, so habe er es für angemessen erachtet, diesem Verlangen zu willfahren, und es deshalb übernommen, zu diesem Zwecke auf der Pfarrei vorzusprechen.

Mr. Brock, der ein weit tieferes Interesse für Mrs. Armadale fühlte als der Arzt, las sofort bei seinem Eintreten in ihrem Gesichte deutlich genug, daß ihr Zustand ein solcher sei, um seine augenblickliche ernstliche Besorgniß zu rechtfertigen. Sie gestattete ihm keine Zeit, sie zu besänftigen, noch beachtete sie eine seiner Fragen. Alles was sie verlangte und bei ihm durchzusetzen entschlossen war, war die Beantwortung gewisser Fragen, die sie an ihn richtete: Ob Mr. Brock die Frau gesehen, die sich heute Morgen herausgekommen, sie zu besuchen? Ja! Hatte Allan sie gesehen? Nein; Allan sei seit dem Frühstück bei der Arbeit im Bauhofe gewesen und befinde sich noch immer dort. Diese letztere Antwort schien Mrs. Armadale für den Augenblick zu beruhigen; sie that ihre nächste Frage —— die merkwürdigste von allen dreien —— mit mehr Fassung. Ob der Pfarrer glaube, daß Allan etwas dagegen einzuwenden haben werde, sein Schiff für jetzt zu verlassen und seine Mutter auf einer Reise zu begleiten, um in einem andern Theile von England eine Wohnung zu suchen? Mr. Brock frug im äußersten Erstaunen, welchen Grund sie wohl haben könne, um ihren gegenwärtigen Aufenthalt zu verlassen? Der Grund, den Mrs. Armadale angab, vermehrte nur noch sein Erstaunen. Der Besuch jener Frau könne wiederholt werden, und ehe sie es riskiere, dieselbe noch einmal zu sehen, oder Allan sie sehen zu lassen, wolle sie lieber England verlassen und ihr Leben in einem fremden Lande beschließen. Indem Mr. Brock die Erfahrungen zu Rathe zog, die er in seiner Eigenschaft als Magistratsperson gesammelt, frug er, ob jene Frau gekommen sei, sie um Geld zu bitten. Ja; ungeachtet ihres anständigen Aeußern habe sie erklärt, sie befinde sich in Noth; sie habe um Geld gebeten und dasselbe erhalten; doch das Geld sei Nebensache; die Hauptsache sei, Von hier fortzuziehen, ehe die Frau ihren Besuch wiederholen könne. Immer mehr in Erstaunen gesetzt, wagte Mr. Brock noch eine Frage; ob es nämlich lange her sei, seit Mrs. Armadale und ihr Besuch einander nicht gesehen? Ja, seit Allan’s Geburt; es sei einundzwanzig Jahre her.

Nach dieser Antwort wechselte der Pfarrer seinen Standpunkt, indem er jetzt seine Erfahrungen als Freund zu Rathe zog.

»Steht diese Person etwa mit den schmerzlichen Erinnerungen Ihres Jugendlebens in Verbindung?«

»Ja, mit den schmerzlichen Erinnerungen an die Zeit, wo ich mich verheirathete«, war Mrs. Armadale’s Antwort. »Sie war, fast noch ein Kind, bei einem Vorgange betheiligt, an den ich bis zu meinem Ende nur mit Beschämung und Kummer zu denken vermag.«

Mr. Brock bemerkte den veränderten Ton, in dem seine alte Freundin sprach, und mit welchem Widerstreben sie diese Antwort gab.

»Können Sie mir mehr über sie mittheilen, ohne deshalb Ihrer selbst dabei zu erwähnen?« frug er.

»Ich bin überzeugt, daß ich Sie zu beschützen im Stande bin, wenn Sie mir nur ein wenig behilflich sein wollen. Ihr Name, zum Beispiel —— Sie können mir doch ihren Namen sagen?« Mrs. Armadale schüttelte den Kopf. »Der Name, unter dem sie mir bekannt war, würde Ihnen nichts nützen. Sie war seitdem verheirathet —— dies hat sie mir selbst gesagt.«

»Und ohne Ihnen ihren jetzigen Namen zu sagen?«

»Sie weigerte sich, mir denselben zu nennen.«

»Wissen Sie irgendetwas über ihre Angehörigen?«

»Nur von ihren Angehörigen, die sie als Kind hatte, ihrem Onkel und ihrer Tante Sie waren rohe Leute und ließen sie in der Schule auf dem Gute meines Vaters im Stiche. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.«

»Blieb sie unter der Obhut Ihres Vaters?«

»Sie blieb unter meiner Obhut —— das heißt, sie reiste mit uns. Wir verließen eben zu jener Zeit England, um uns nach Madeira einzuschiffen Ich hatte die Erlaubniß meines Vaters, sie mit mir zu nehmen und die elende Person zu meiner Kammerjungfer auszubilden ——«

Bei diesen Worten ward Mrs. Armadale verlegen und hielt inne. Mr. Brock versuchte sanft, sie zum Weiterreden zu bewegen; aber vergebens. Sie erhob sich in heftiger Gemüthsbewegung und ging aufgeregt im Zimmer auf und ab.

»Fragen Sie mich nicht weiter!« rief sie mit lauter, zorniger Stimme aus. »Ich entließ sie, als sie ein Mädchen von zwölf Jahren war, und bis zu diesem Tage habe ich sie nie wieder gesehen, nie wieder von ihr gehört. Ich weiß nicht, auf welche Weise sie mich nach so vielen Jahren entdeckt hat; ich weiß bloß, daß sie mich entdeckt hat. Sie wird sich nun zunächst Allan zu nähern suchen; sie wird das Herz meines Knaben gegen mich einnehmen. Helfen Sie mir, mich ihr zu entziehen! Helfen Sie mir, Allan von hier fortzuführen, ehe sie zurückkehrt!«

Der Pfarrer that keine Fragen weiter, denn es würde grausam gewesen sein, noch ferner in sie zu dringen. Vor allem erschien ihm unerläßlich, daß er sie durch das Versprechen beruhigte, ihr in allem willfahren zu wollen; dann aber, daß er sie bewog, einen andern Arzt zu Rathe zu ziehen. In diesem letzteren Punkte erreichte Mr. Brock ganz harmlos seinen Zweck, indem er sie daran erinnerte, daß sie der Kräfte zum Reisen ermangele, und daß ihr bisheriger Arzt ihr um so schneller zur Genesung werde verhelfen können, wenn ihm der Rath eines andern bewährten Arztes zur Seite stehe. Nachdem er so ihr gewohntes Widerstreben gegen Fremde überwunden, ging der Pfarrer unverzüglich zu Allan, und indem er zartfühlend alles verschwieg was Mrs. Armadale während ihrer Unterredung mit ihm gesagt, unterrichtete er ihn so schonend als möglich, daß seine Mutter ernstlich krank sei. Allan wollte nichts davon hören, daß ein Bote nach dem Arzt abgeschickt werde, sondern fuhr auf der Stelle selbst nach der Eisenbahnstation und sandte eine telegraphische Depesche an einen Arzt in Bristol ab.

Derselbe langte am folgenden Morgen an, und Mr. Brock sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Dorfarzt hatte die Krankheit von Anfang an falsch aufgefaßt, und es war jetzt zu spät, um seine Irrthümer in der Behandlung wieder gut zu machen Die Erschwerung, der sie am Tage vorher ausgesetzt gewesen, hatte das Unheil vollständig gemacht. Mrs. Armadale’s Tage waren gezählt.

Der Sohn, der sie so innig liebte, der alte Freund, dem ihr Leben so kostbar war, gaben sich bis zuletzt vergeblichen Hoffnungen hin. Nach Verlauf eines Monats war alle Hoffnung zu Ende, und Allan vergoß die ersten bitteren Tränen an dem Grabe seiner Mutter.

Ihr Ende war ein friedlicheres gewesen, als Mr. Brock zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte ihr ganzes kleines Vermögen ihrem Sohne hinterlassen und diesen der Obhut ihres einzigen Freundes aufs Erden empfohlen. Der Pfarrer hatte sie gebeten, ihn an ihre Brüder schreiben zu lassen, um diese zu einer Versöhnung mit ihr zu bewegen, ehe es zu spät sein werde; aber sie hatte ihm hierauf bloß traurig erwidert, es sei schon jetzt zu spät. Nur einmal ließ sie sich in ihrer letzten Krankheit eine Anspielung auf jene frühen Leiden entschlüpfen, die ihr ganzes späteres Leben getrübt und sich bereits dreimal, gleich Schatten des Unglücks, zwischen ihr und dem Pfarrer erhoben hatten. Selbst auf ihrem Sterbelager war sie davor zurückgeschaudert, ein klares Licht auf die Geschichte der Vergangenheit fallen zu lassen. Mit einem Blick auf Allan, der an ihrem Bette kniete, hatte sie Mr. Brock zugeflüstert: »Sorgen Sie, daß ihm sein Namensbruder niemals nahe kommt. Sorgen Sie, daß jene Frau ihn nie entdecke!« Kein Wort weiter entfiel ihr, das mit den Leiden ihrer Vergangenheit in Beziehung stand oder auf die Gefahren hindeutete, die sie für die Zukunft fürchtete. Das Geheimniß, das sie vor ihrem Sohne und ihrem Freunde bewahrt, nahm sie auch mit sich ins Grab.

Sobald ihr die letzten Dienste der Liebe und der Achtung erwiesen waren, fühlte Mr. Brock, daß es seine Pflicht sei, an ihre Brüder zu schreiben und sie von ihrem Tode in Kenntniß zu setzen. Da er mit zwei Männern zu thun zu haben glaubte, die seine Beweggründe zu mißdeuten im Stande seien, falls er Allan’s Lage unerklärt ließe, so trug er Sorge, sie zu erinnern, daß Mrs. Armadale’s Sohn wohlversorgt sei, und daß der einzige Zweck seines Schreibens darin bestehe, sie von dem Ableben ihrer Schwester zu unterrichten. Die beiden Briefe wurden um die Mitte des Monats Januar abgesandt, und die Antworten trafen mit umgehender Post ein. Der erste Brief, den der Pfarrer öffnete, war nicht von dem ältesten Bruder selbst, sondern von dessen einzigem Sohne geschrieben, Der junge Mann hatte vor kurzem bei dem Ableben seines Vaters die Besitzungen in Norfolk angetreten. Er schrieb in einem offenen und freundschaftlichen Tone und versicherte Mr. Brock, daß, wie sehr auch sein Vater gegen Mrs. Armadale eingenommen gewesen, dieses feindselige Gefühl sich doch nie bis auf ihren Sohn erstreckt habe. Was ihn selbst betreffe, so wolle er nur hinzufügen, daß er sich aufrichtig freuen werde, seinen Vetter in Thorpe-Ambrose zu begrüßen, falls derselbe einmal in jene Gegend komme.

Der zweite Brief war ein weit weniger angenehmer als der erste. Der jüngere Bruder war noch am Leben und noch immer entschlossen, weder zu vergessen noch zu vergeben. Er unterrichtete Mr. Brock in Bezug auf seine Schwester, daß die Wahl ihres Gatten und ihr Betragen gegen ihren Vater zur Zeit ihrer Vermählung der Art gewesen sei, daß alle brüderliche Liebe und Achtung für sie von jenem Augenblicke an seinerseits habe aufhören müssen. Bei seinen Ansichten über die Sache würde persönlicher Umgang zwischen ihm und seinem Neffen für beide gleich peinlich sein. »Er habe in möglichst allgemeinen Ausdrücken dieser Veruneinigung zwischen ihm und seiner Schwester Erwähnung gethan, um Mr. Brock zu überzeugen, daß seine persönliche Bekanntschaft mit dem jungen Armadale ein zu zarter Gegenstand sei, um ausführlicher darüber zu sprechen, und somit bitte er um Erlaubniß, dem Briefwechsel seinerseits ein Ende machen zu dürfen.

Wohlweislich vernichtete Mr. Brock diesen zweiten Brief auf der Stelle und zeigte AlIan nur die Einladung seines Vetters vor, wobei er ihm den Vorschlag machte, nach Thorpe-Ambrose zu reisen, sobald er sich in der Stimmung fühle, Fremde zu sehen. Allan hörte den Rath geduldig genug an; doch schlug er es aus, nach demselben zu handeln. »Ich will meinem Vetter, falls ich je mit ihm zusammenkomme, gern die Hand reichen«, sagte er; »doch mag ich keine Familie besuchen und in keinem Hause ein Gast sein, in dem meine Mutter schlecht behandelt worden ist.« Mr. Brock machte ihm sanfte Vorstellungen und versuchte es, ihm die Sache im rechten Lichte zu zeigen. Selbst jetzt, wo er sich noch in Unwissenheit über Ereignisse befand, welche nahe bevorstanden, war Allan’s eigenthümlich verlassene Lage in der Welt ein Gegenstand ernstlicher Sorge für seinen alten Freund und Lehrer. Ein Besuch in Thorpe-Ambrose eröffnete ihm die Aussicht auf Bekanntschaften, die seiner Stellung und seinem Alter angemessen waren und die Mr. Brock deshalb so sehr für ihn wünschte; doch Allan war nicht zu überreden; er war hartnäckig und unvernünftig, und es blieb dem Pfarrer nichts weiter übrig, als den Gegenstand fallen zu lassen.

Es verging eine Woche nach der andern in derselben Einförmigkeit, und Allan zeigte in der Art und Weise, wie er den Verlust seiner Mutter ertrug, nur wenig von der Elasticität seines Alters und Charakters. Er beendete zwar seine Jacht und ließ sie von Stapel laufen; aber seine Arbeiter bemerkten, daß er sein Interesse an dem Werke verloren zu haben schien. Es lag etwas Unnatürliches darin, daß der junge Mann so über seine Verlassenheit und seinen Kummer brütete, wie er es that. Je weiter der Frühling vorschritt, desto unruhiger wurde Mr. Brock über Allan’s Zukunft, wenn derselbe nicht sofort durch eine durchgreifende Veränderung aus seinen gegenwärtigen Verhältnissen herausgerissen würde. Nach langem, reiflichen Ueberlegen beschloß der Pfarrer endlich, eine Reise nach Paris zu versuchen und dieselbe, falls sein Zögling Interesse für das Reisen auf dem Festlande an den Tag legte, nach dem Süden fortzusetzen. Die Art und Weise, in der Allan diesen Vorschlag aufnahm, machte die Hartnäckigkeit, mit der er sich geweigert hatte, die Bekanntschaft seines Vetters zu machen, wieder gut; er war bereit, Mr. Brock zu begleiten, wohin er wolle. Der Pfarrer nahm ihn beim Worte, und um die Mitte des Monats März reisten diese seltsam für einander passenden Gefährten nach London ab.

In London angelangt, sah Mr. Brock sich ganz unerwartet einer neuen Sorge preisgegeben. Jener unwillkommene Gegenstand, welcher seit Anfang December ruhig begraben gelegen, kam wieder ans Tageslicht und stellte sich dem Pfarrer gleich beim Beginn der Reise drohender als je entgegen —— Allan brachte das Gespräch auf Ozias Midwinter.

War Brock’s Stellung in dieser Angelegenheit von vornherein schwierig genug gewesen, so hatte er jetzt alles Terrain verloren. Die Ereignisse hatten sich so gestaltet, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Allan und seiner Mutter in Betreff des Schullehrers in keiner Weise mit der Gemüthsbewegung in Verbindung gebracht werden konnte, welche Mrs. Armadale’s Tod beschleunigt hatte. Allan’s Entschluß, sich kein aufregendes Wort entschlüpfen zu lassen, und Mr. Brocks Widerstreben, einen unangenehmen Gegenstand zur Sprache zu bringen, hatte sie beide während der drei Tage, die zwischen Midwinters Abreise aus dem Dorfe und dem Erscheinen der fremden Frau gelegen, in Gegenwart von Mrs. Armadale völliges Schweigen über jenen Unglücklichen beobachten lassen. Während der zunächst folgenden Zeit der Spannung und des Kummers war jede Erwähnung des Gegenstandes unmöglich gewesen. Von aller Unruhe über diesen Gegenstand frei, hatte Allan sein eigensinniges Interesse für seinen neuen Freund fest bewahrt. Er hatte an Midwinter geschrieben, um ihn von seinem Verluste in Kenntniß zu setzen, und beschloß jetzt, falls sich der Pfarrer dem nicht förmlich entgegenstellte, seinem Freunde einen Besuch zu machen, ehe er am folgenden Morgen nach Paris abreiste. Was sollte Mr. Brock anfangen? Es ließ sich nicht leugnen, daß Midwinter’s Betragen den unbegründeten Argwohn der armen Mrs. Armadale entschieden widerlegt hatte. Wenn also der Pfarrer ohne überzeugende Gründe und ohne ein anderes Recht als dasjenige, welches Allan’s Höflichkeit ihm zugestand, sich diesem Besuche widersetzte, so durfte er dem alten geselligen Verkehr und Vertrauen zwischen Lehrer und Zögling für die Dauer der bevorstehenden Reise nur Lebewohl sagen. Von Schwierigkeiten umringt, die ein weniger gerechter und gutherziger Mann vielleicht hätte überwinden können, willigte Mr. Brock in Allan’s Begehr, indem er sich begnügte, ihm beim Scheiben ein paar warnende Worte zu sagen, und überließ somit Allan der Discretion und Selbstverleugnung Midwinters, von der er doch für seine Person nicht hinlänglich überzeugt war.

Nachdem er während der Abwesenheit seines Zöglings eine Stunde lang in den Straßen umhergegangen war, kehrte der Pfarrer in das Hotel zurück, und da er im Gastzimmer die Zeitung auf dem Tische liegen sah, nahm er dieselbe auf, um sie nachlässig durchzusehen. Sein Auge, welches auf der ersten Seite ruhte, ward augenblicklich durch die allererste Annonce an der Spitze der Spalte gefesselt. Abermals figurirte dort in großen Buchstaben Allan’s geheimnißvoller Namensbruder —— diesmal als Todtgeglaubter und in Verbindung mit einer Belohnung! Die Annonce lautete folgendermaßen:

»An Küster, Kirchendiener, Todtengräber und Andere. Eine Belohnung von zwanzig Pfund Sterling soll demjenigen gezahlt werden, welcher Beweise von dem Tode Allan Armadales beibringen kann, dem einzigen Sohne weiland Allan Armadales aus Barbadoes und im Jahre 1830 aus jener Insel geboren. Alles Weitere ist zu erfahren bei den Herren Hammick und Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London.«

Obgleich Mr. Brock im Grunde nichts weniger als abergläubisch war, zog doch eine bange Ahnung durch sein Gemüth, als er die Zeitung wieder aus der Hand legte; ein unbestimmter Argwohn bemächtigte sich seiner allmählig, daß alle jene Ereignisse seit dem ersten Erscheinen von Allan’s Namensbruder in der Zeitung auf irgendeine geheimnißvolle Weise mit einander in Verbindung ständen und unaufhaltsam einem unbegreiflichen Ende entgegengingen. Ohne zu wissen warum, fühlte er sich durch Allan’s Abwesenheit beunruhigt, ohne zu wissen warum, wünschte er seinen Zögling aus England fort, ehe sich noch zwischen Nacht und Morgen etwas Verhängnißvolles ereigne.

Indessen eine Stunde später sah sich der Pfarrer durch Allan’s Rückkehr von allen diesen Sorgen befreit. Der junge Mann war ärgerlich und mißmuthig, denn er hatte wohl Midwinter’s Wohnung, aber nicht Midwinter selbst gefunden. Die einzige Auskunft, welche seine Wirthin ihm zu geben vermocht, war die, daß er zu seiner gewohnten Stunde ausgegangen sei, um in der nächsten Restauration zu Mittag zu speisen, ohne indeß zu seiner gewohnten Stunde wieder zurückzukehren. Allan war deshalb nach der Restauration gegangen und hatte sich überzeugt, daß Midwinter dort wohl bekannt sei. Er erfuhr, daß es seine Gewohnheit sei, ein einfaches Mittagessen einzunehmen und dann eine halbe Stunde die Zeitung zu lesen. Auch heute hatte er wie gewöhnlich nach dem Essen die Zeitung zur Hand genommen, dieselbe aber plötzlich wieder niedergeworfen und war von dannen geeilt, Niemand wußte wohin. Da er weiter nichts in Erfahrung zu bringen vermocht, hatte Allan ein Billet in Midwinter’s Wohnung zurückgelassen, in dem er ihm die Adresse des Hotels angegeben und seinen Freund gebeten hatte, ihm vor seiner Abreise nach Paris Lebewohl zu sagen.

Allein der Abend verging und Allan’s Freund blieb unsichtbar, der Morgen kam, und Mr. Brock und sein Zöglings verließen London. So weit hatte das Glück sich für den Pfarrer erklärt. Ozias Midwinter war, nachdem er so aufdringlich zur Oberfläche emporgestiegen, zu gelegener Zeit wieder verschwunden. Was sollte sich wohl zunächst ereignen?



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Indem Mr. Brock die Bilder vergangener Tage an seiner Seele vorüberziehen ließ, langte er endlich bei einem Ereigniß an, welches vom siebenten April datierte und also von dem zuletzt erzählten nur durch einen Zeitraum von drei Wochen geschieden war. Jenes legte, Ereigniß war allem Anscheine nach das letzte Glied in der Kette gewesen, denn das neue Ereigniß hatte weder für ihn noch für Allan irgendwelche wahrnehmbare Beziehung zu den Personen oder Ereignissen der Vergangenheit.

Die Reisenden waren noch nicht weiter als bis Paris gelangt. Mit dem Wechsel der Scene hatte sich Allan’s Stimmung gebessert und er war um so bereitwilliger darauf eingegangen, die neue Welt zu genießen, von der er sich umgeben sah, als er von Midwinter einen Brief mit einer Nachricht erhalten hatte, die selbst Mr. Brock als eine hoffnungsvolle anzuerkennen genöthigt war. Der ehemalige Unterlehrer war in Geschäften abwesend gewesen, als Allan ihn in seiner Wohnung ausgesucht hatte, indem er gerade an demselben Tage durch einen Zufall mit seinen Verwandten in Berührung gebracht worden war. Der Erfolg dieser Zusammenkunft hatte ihn außerordentlich überrascht, denn derselbe hatte ihm für den Rest seines Lebens ein unabhängiges kleines Einkommen gesichert. Seine Pläne für die Zukunft, sagte er, seien jetzt, da ihm dieses unerwartete Glück zugefallen, noch ganz unbestimmt. Wenn aber Allan zu hören wünsche, wofür er sich schließlich entschieden habe, so werde sein Agent in London, dessen Adresse er beischloß, alle Mittheilungen für ihn in Empfang nehmen und Mr. Armadale für die Zukunft stets mit seiner Adresse bekannt machen.

Beim Empfange dieses Briefes hatte Allan sofort in seiner gewohnten hastigen Manier die Feder ergriffen und darauf bestanden, daß Midwinter sich sofort ihm und Mr. Brock auf ihren Reisen anschlösse. Indeß, die letzten drei Tage des Monat März vergingen und es kam keine Antwort auf diesen Vorschlag. Die ersten Apriltage kamen und am siebenten lag endlich ein Brief für Allan auf dem Frühstückstische. Er ergriff denselben, betrachtete die Aufschrift und warf ihn ärgerlich wieder weg. Es war nicht Midwinter’s Handschrift. Allan beendete sein Frühstück, ehe ihm daran gelegen war zu lesen, was sein Correspondent zu sagen habe.

Als das Mahl vorüber war, öffnete der junge Armadale mit träger Hand den Brief und begann ihn mit einer Miene der äußersten Gleichgültigkeit zu lesen; am Ende angelangt, sprang er jedoch mit einem lauten Ausrufe des Erstaunens plötzlich von seinem Stuhle auf. Ueber dieses merkwürdige Benehmen im höchsten Grade verwundert, griff Mr. Brock zu dem Briefe, welchen Allan ihm über den Tisch zugeschoben hatte. Ehe er denselben noch zu Ende gelesen, sanken seine Hände aus seine Knie herab und die verblüffte Miene seines Zöglings spiegelte sich auf das genaueste in seinem eigenen Gesichte wieder.

Wenn je zwei Männer guten Grund hatten, alle Fassung zu verlieren, so waren es Allan und der Pfarrer. Der Brief, der sie beide in das gleiche Erstaunen versetzte, enthielt unbestreitbar eine Nachricht, die auf den ersten Blick unglaublich schien. Sie kam von Norfolk und war folgenden Inhalts. In einem Zeitraume von wenig mehr als einer Woche hatte der Tod nicht weniger als drei Menschenleben in Thorpe-Ambrose dahingerafft —— und Allan Armadale war in diesem Augenblicke der Erbe eines Besitzthums von achttausend Pfund jährlicher Renten!

Ein zweites Durchlesen des Briefes klärte den Pfarrer und seinen Gefährten über die Einzelheiten auf, die ihnen in der ersten Aufregung entgangen waren. Der Schreiber des Briefes war der Familienanwalt zu Thorpe-Ambrose. Nachdem er Allan davon unterrichtet, daß sein Vetter Arthur im fünfundzwanzigsten, sein Onkel Henry im achtundvierzigsten und sein Vetter John im einundzwanzigsten Lebensjahre gestorben seien, gab der Advokat ihm einen kurzen Auszug aus dem Testament des älteren Mr. Blanchard. Die männlichen Erben waren, wie gewöhnlich unter solchen Verhältnissen, den weiblichen vorgezogen. In erster Linie waren Arthur und dessen männliche Nachkommenschaft, eventuell aber Henry und dessen männliche Nachkommen, beziehentlich die männliche Nachkommenschaft von Henry’s Schwester als Erben eingesetzt, und in Ermangelung solcher Erben sollte die Besitzung an den nächsten männlichen Erben übergehen. Allein das Schicksal hatte es gewollt, daß die beiden jungen Leute, Arthur und John, unvermählt, und Henry Blanchard mit Hinterlassung einer einzigen Tochter gestorben war. Unter diesen Umständen war Allan der in dem Testamente bezeichnete nächste männliche Erbe und somit jetzt der rechtmäßige Eigenthümer der Besitzungen von Thorpe-Ambrose. Nachdem der Rechtsanwalt diese erstaunliche Nachricht gemeldet, bat er, daß Mr. Armadale ihn mit seinen Instructionen beehren wolle, und fügte zum Schlusse hinzu, daß es ihm Vergnügen machen werde, jede fernere Auskunft zu geben, die man etwa noch wünsche.

Es war unnütz, die Zeit mit Verwunderung über ein Ereigniß zu verlieren, das weder Allan noch seine Mutter je im geringsten für möglich gehalten hatten. Das Einzige, was sofort geschehen mußte, war, nach England zurückzukehren. Am folgenden Tage befanden unsere Reisenden sich abermals in ihrem Hotel in London, und am Tage darauf war die Sache zuverlässigen juristischen Händen übergeben. Es erfolgte das bei solchen Gelegenheiten unvermeidliche Hin- und Herschreiben und Berathschlagen, bis endlich alle einschlagenden Thatsachen festgestellt waren.

Die seltsame Geschichte der drei Todesfälle war folgende:

Zur Zeit, wo Mr. Brock an Mrs. Armadale’s Verwandte geschrieben, um ihnen den Tod ihrer Schwester zu melden, also in der Mitte des Januar, bestand die Familie zu Thorpe-Ambrose aus fünf Personen: Arthur Blanchard, dem Besitzer der Güter, welcher mit seiner Mutter in dem großen Hause lebte, und Henry Blanchard, dem Onkel, der als Wittwer mit zwei Kindern, einem Sohne und einer Tochter, sich in der Nachbarschaft aufhielt. Um die Familienbande noch fester zu knüpfen, hatte sich Arthur Blanchard mit seiner Cousine verlobt. Die Hochzeit hatte im nächsten Sommer, wo die junge Dame ihr zwanzigstes Jahr zurücklegte, mit großen öffentlichen Festlichkeiten gefeiert werden sollen.

Der Monat Februar aber hatte Veränderungen in der Familie herbeigeführt. Mr. Henry Blanchard hatte bemerkt, daß die Gesundheit seines Sohnes zu wanken beginne, weshalb er Norfolk verlassen und ärztlichem Rathe zufolge den jungen Mann mit sich genommen hatte, um das Klima von Italien zu versuchen.

Anfangs März hatte Arthur Blanchard ebenfalls, doch nur auf ein paar Tage, Thorpe-Ambrose verlassen, da seine Geschäfte seine Anwesenheit in London erforderten. Diese Geschäfte führten ihn nach der City. Da die ewigen Hindernisse in den Straßen auf dem Wege dorthin ihn aber langweilten, kehrte er in einem der Flußdampfboote nach dem Westende zurück; allein unterwegs trug sich Etwas zu, das seinen Tod zur Folge hatte.

Als nämlich das Dampfboot von der Brücke abstieß, bemerkte er neben sich eine Frau, die beim Besteigen des Schiffes sich durch ein merkwürdiges Zögern bemerklich gemacht hatte und die letzte Person gewesen war, die ihren Platz auf dem Schiffe eingenommen. Sie war sauber in schwarze Seide gekleidet, trug einen gewirkten Shawl und verbarg ihr Gesicht hinter einem dichten Schleier. Arthur Blanchard war von der seltenen Eleganz und Anmuth ihrer Gestalt frappiert und fühlte die flüchtige Neugier eines jungen Mannes, ihr Gesicht zu sehen. Doch sie hob weder ihren Schleier auf, noch wandte sie den Kopf nach seiner Seite um. Nachdem sie ein paarmal zögernd auf dem Verdeck hin und her gegangen war, begab sie sich plötzlich nach dem Hintertheile des Schiffes. Eine Minute später erscholl ein Schreckensruf von dem Mann am Steuer, und die Dampfmaschinen wurden augenblicklich zum Stehen gebracht. Jene Frau war über Bord gesprungen.

Die Passagiere stürzten alle an den Schiffsrand, um ins Wasser zu schauen; Arthur Blanchard allein sprang, ohne eine Sekunde zu zögern, in den Fluß. Er war ein vortrefflicher Schwimmer und erreichte die Frau, als sie nach dem ersten Sinken wieder an die Oberfläche kam. Hilfe war zur Hand und sie wurden beide sicher ans Ufer geschafft. Die Frau ward nach der nächsten Polizeistation gebracht und erlangte bald ihr Bewußtsein wieder; ihr Retter aber gab, wie dies bei solchen Fällen üblich ist, dem Wache habenden Inspector seinen Namen und seine Adresse an, und dieser empfahl ihm, sofort ein warmes Bad zu nehmen und sich trockene Kleider aus seiner Wohnung holen zu lassen. Arthur Blanchard, der seit seiner Kindheit nie eine Stunde krank gewesen, lachte über den Rath und kehrte in einem Fiaker zurück. Allein am folgenden Tage war er bereits zu krank, um der Untersuchung vor Gericht beizuwohnen, und vierzehn Tage darauf war er todt.

Die Nachricht von diesem Unglücke erreichte Henry Blanchard und seinen Sohn in Mailand; binnen einer Stunde nach Empfang derselben befanden sie sich auf dem Heimwege nach England. Der Schnee auf den Alpen war in diesem Jahre früher als gewöhnlich von der Sonne erweicht worden, und es war bekannt, daß die Pässe im höchsten Grade gefährlich seien. Vater und Sohn, die in ihrer eignen Equipage reisten, begegneten auf dem Gebirge der umkehrenden Post, welche die Briefe durch Fußboten weiter gesandt hatte. Warnungen, die unter gewöhnlichen Umständen ihre Wirkung geübt haben würden, wurden jetzt von den beiden Engländern unbeachtet gelassen. Ihre Ungeduld, nach dem Unglücke, das ihre Familie getroffen, wieder zu Hause zu sein, wollte sich keinem Verzuge fügen, und die reichen Belohnungen, die sie den Postillons versprachen, verlockten diese, die Reise fortzusetzen. Der Wagen fuhr weiter und war bald im Nebel verschwunden. Derselbe ward erst wiedergesehen, als er aus der Tiefe eines Abgrundes hervor gegraben wurde, wo eine Lavine ihn ereilt hatte; Menschen, Pferde, Equipage lagen in einer entsetzlichen Masse da.

In dieser Weise waren die drei Menschenleben vom Tode dahingerafft worden. Und so hatte der selbstmörderische Sprung, den eine Frau in den Fluß gethan, Allan Armadale zu dem Besitze der Güter von Thorpe-Ambrose verholfen.

Wer war jene Frau? Der Mann, der ihr das Leben rettete, erfuhr es nie. Der Richter, der sie zurückschickte, der Kaplan, der sie ermahnte, der Zeitungsberichterstatter, der ihr Bild in der Zeitung brachte —— sie alle erfuhren es nie. Es ward mit Verwunderung von ihr gemeldet, daß sie, obgleich wohlgekleidet, sich in Noth zu befinden vorgegeben. Obgleich sie die tiefste Zerknirschung gezeigt, hatte sie doch einen Namen als den ihrigen angegeben, der augenscheinlich ein falscher war; sie hatte ferner eine alltägliche Geschichte über sich erzählt, die ebenso offenbar eine Erfindung war, und endlich hatte sie jeden Aufschluß über ihre Angehörigen verweigert. Eine Dame, die zu einer Mildthätigkeitsanstalt gehörte, hatte, durch ihre außerordentliche Eleganz und Schönheit für sie eingenommen, sich erboten, sie unter ihren Schutz zu nehmen und zu einer besseren Sinnesart zu bringen. Allein die Erfahrung, die man am ersten Tage mit der reuigen Sünderin gemacht hatte, war nichts weniger als ermuthigend, und die des zweiten entscheidend gewesen. Sie hatte die Anstalt heimlich verlassen, und obgleich der Geistliche derselben, der ein besonderes Interesse an dem Falle genommen, alles Mögliche aufbot, um sie wieder aufzufinden, so waren seine Bemühungen doch völlig erfolglos geblieben.

Während diese nutzlose Untersuchung, die auf Allan’s ausdrückliches Verlangen angestellt ward, vor sich ging, hatten die Rechtsanwälte die vorläufigen Formalitäten in Bezug auf den Antritt der Erbschaft zum Abschluß gebracht. Es blieb jetzt nichts weiter zu thun übrig, als daß der neue Herr von Thorpe-Ambrose bestimmte, wann er sich persönlich auf dem Gute niederlassen wolle, dessen rechtmäßiger Besitzer er jetzt geworden war.

Da er in dieser Angelegenheit nothwendigerweise seiner eigenen Führung überlassen war, entschied Allan nach seiner gewohnten übereilten, großmüthigen Weise über dieselbe. Er weigerte sich entschieden, Besitz zu nehmen, ehe Mrs. Blanchard und ihre Nichte, denen es bisher aus Höflichkeitsrücksichten gestattet gewesen war, in ihrem alten Hause zu verweilen, sich von dem Schlage erholt haben würden, der sie getroffen, und sich wieder in der Stimmung befanden, ihre Pläne für die Zukunft festzustellen. Dieser Erklärung Allan’s folgte eine Privatcorrespondenz in der er unumschränkte Anerbietungen über alles machte, was er zu geben hatte, während die Damen unter Ausdrücken bescheidenen Widerstrebens ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gaben, von der Großmuth des jungen Herrn in Bezug auf die ihnen gestattete Frist Gebrauch zu machen. Zum Erstaunen seiner Rechtsanwälte trat Allan eines Morgens mit Mr. Brock in ihr Geschäftszimmer und verkündete ihnen mit vollkommener Gelassenheit, daß die Damen die Güte gehabt, ihm seine eigenen Angelegenheiten aus den Händen zu nehmen und daß er um ihrer Bequemlichkeit willen seine Besitznahme von Thorpe-Ambrose auf zwei Monate zu verschieben beabsichtige. Die Advokaten starrten Allan an —— und Allan in Erwiderung ihres Compliments die Advokaten.

»Was in aller Welt versetzt Sie so in Erstaunen, meine Herren?« frug Allan mit kindlicher Verwunderung in seinen gutmüthigen blauen Augen. »Warum sollte ich den Damen nicht die zwei Monate gestatten, wenn sie derselben bedürfen? Lassen Sie doch den armen Wesen Zeit! Meine Rechte? Und meine Stellung? O, bah, bah! Ich habe keine so große Eile, den Gutsherrn zu spielen —— dies ist gar nicht nach meinem Geschmack. Was ich während der zwei Monate zu thun beabsichtige? Was ich in jedem Falle gethan haben würde —— ob nun die Damen geblieben wären oder nicht: Ich beabsichtige, auf dem Wasser umherzusegeln. Das ist mein Vergnügen! Ich habe eine neue Jacht zu Hause in Sommersetshire. Und ich will Ihnen Etwas sagen, Sir,« fuhr Allan fort, indem er in der Wärme seiner freundschaftlichen Gesinnungen das Haupt der Firma beim Arme faßte, »Sie sehen mir aus, als ob Sie etwas frische Seeluft recht gut gebrauchen könnten, und sollen mich deshalb auf meiner ersten Fahrt in meiner neuen Jacht begleiten. Und Ihre Compagnons ebenfalls. Und der Oberclerk, der der beste Bursch ist, den ich je in meinem ganzen Leben kennen gelernt, soll auch mitkommen. Ich habe Raum genug —— wir wollen alle auf dem Kajütenboden schlafen und Mr. Brock soll eine wollene Decke auf dem Tische haben. Thorpe-Ambrose mag der Henker holen! Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie, wenn Sie sich selbst ein Schiff gebaut hätten, wie ich es gethan habe, irgendein Landgut in den drei Königreichen beziehen würden, während Ihr eigenes Kleinod wie eine Ente daheim auf dem Wasser schwimmt und wartet, bis Sie zu ihm kommen und eine Probe mit ihm machen. Ihr Herren Rechtsgelehrten seid groß im Argumentiren. Wie gefällt Ihnen dies Argument? Mir scheint es unwiderlegbar —— und morgen reife ich nach Sommersetshire.«

Mit diesen Worten stürzte der neue Besitzer von achttausend Pfund jährlichen Renten in das Zimmer des Oberclerk und lud denselben zu einer Fahrt auf hoher See ein, und zwar indem er ihm einen Schlag auf die Schulter versetzte, welcher von den Prinzipalen im nächsten Zimmer deutlich gehört ward. Die Herren von der Firma schauten Mr. Brock mit fragender Verwunderung an. Ein Client, der eine Stellung unter den vornehmen Gutsbesitzern von England seiner harren sah und durchaus keine Eile hatte, dieselbe bei der allerersten Gelegenheit anzutreten, war ein Client, wie er ihnen bisher noch nicht vorgekommen war.

»Er muß eine sehr sonderbare Erziehung genossen haben,« sagten die Rechtsgelehrten zu dem Pfarrer.

»Eine sehr sonderbare«, bestätigte der Pfarrer.

Ein letzter Sprung von einem Monate brachte Mr. Brock zu dem gegenwärtigen Augenblicke —— nach dem Schlafzimmer in Castletown, in dem er dasaß und überlegte, und zu der Sorge, die sich so hartnäckig zwischen ihn und seine Nachtruhe drängte. Diese Sorge war nicht erst seit gestern ein Feind der Gemüthsruhe des Pfarrers, vielmehr hatte sie ihn schon vor sechs Monaten in Sommersetshire das erste Mal heimgesucht und war ihm jetzt nach der Insel Man gefolgt, und zwar in der hartnäckig aufdringlichen Gestalt von Ozias Midwinter.

Die Veränderung in Allan’s Aussichten hatte seiner eigensinnigen Zuneigung zu dem Ausgestoßenen in der Dorfschenke keinen Abbruch gethan. Inmitten der Consultationen mit seinen Advokaten hatte er Zeit gesunden, Midwinter zu besuchen; und auf der Rückreise nach Sommersetshire, siehe, da saß auch Allan’s Freund im Wagen, ihn und den Pfarrer auf Allan’s Einladung zu begleiten. Auf dem rasierten Schädel des ehemaligen Schullehrers war wieder frisches Haar gewachsen und seine Kleider zeigten den verschönernden Einfluß vermehrter Mittel; doch in jeder andern Beziehung war der Mann unverändert. Er begegnete Mr. Brocks Mißtrauen mit der alten geduldigen Ergebung in dasselbe; er bewahrte noch immer dasselbe verdächtige Schweigen in Bezug auf seine Familie und sein früheres Leben; er sprach von Allan’s Güte gegen ihn mit derselben unbändigen Gluth der Dankbarkeit und des Erstaunens. Ich habe gethan, was ich konnte, Sir«, sagte er zu Mr. Brock, während Allan im Waggon eingeschlafen war. »Ich bin Mr. Armadale aus dem Wege gegangen und habe sogar seine beiden letzten Briefe an mich unbeantwortet gelassen. Mehr als das zu thun bin ich außer Stande. Ich verlange nicht, daß Sie aus meine eignen Gefühle gegen das einzige menschliche Wesen Rücksicht nehmen, welches mich nie beargwöhnt und niemals mißhandelt hat. Meinen eignen Gefühlen kann ich widerstehen; doch nicht dem jungen Herrn selber. Es giebt in der ganzen Welt keinen Menschen, der ihm gleich wäre. Wenn wir wieder von einander geschieden werden sollen, so muß dies von ihm selbst ausgehen, oder von Ihnen —— nicht von mir. —— Der Herr des Hundes hat gepfiffen«, sagte dieser seltsame Mensch in einem momentanen Ausbruche der in ihm schlummernden Leidenschaftlichkeit, und indem ihm plötzlich die zornigen Thränen in die wilden braunen Augen stiegen, »und es ist hart, Sir, den Hund dafür zu tadeln, wenn er kommt.«

Mr. Brocks Humanität trug abermals den Sieg über Mr. Brocks Vorsicht davon.

Er beschloß zu warten und zu sehen, was die bevorstehenden Tage geselligen Umganges mit sich bringen würden.

Die Tage vergingen; die Jacht war getakelt und seetüchtig gemacht; eine Fahrt nach der Küste von Wales ward arrangiert, und Midwinter, der Geheimnißvolle, war noch immer derselbe Midwinter. Einsperrung in einem kleinen Schiffe von fünfunddreißig Tonnen hatte für einen Mann in Mr. Brock’s Jahren keinen großen Reiz. Dessen ungeachtet segelte er auf dieser Probefahrt der Jacht lieber mit, als daß er Allan mit seinem neuen Freunde allein ließ.

Verlockte der enge Verkehr der drei Gefährten auf dieser Fahrt den Mann zu einer größeren Offenheit über seine eignen Angelegenheiten? Nein. Ueber andere Gegenstände sprach er bereitwillig genug, besonders wenn Allan ihn dazu veranlaßte; doch über sich selbst ließ er sich kein Wort entschlüpfen. Mr. Brock versuchte es mit Fragen über das ihm kürzlich zugefallene Vermächtniß, erhielt aber dieselbe Art von Antwort, die er bereits im Wirthshause in Sommersetshire erhalten hatte. Midwinter gab zu, es sei allerdings ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß sowohl Mr. Armadale’s Aussichten als die seinigen auf so unerwartete Weise und um dieselbe Zeit eine so günstige Wendung genommen hätten. Doch damit ende die Aehnlichkeit Es sei kein großes Vermögen, das ihm in den Schoß gefallen, obwohl es für seine Bedürfnisse ausreiche. Das Ereigniß habe ihn nicht mit seiner Familie ausgesöhnt, denn das Erbe sei ihm nicht durch irgendwelche Güte von ihrer Seite, sondern von Rechtswegen zugefallen. Was die Umstände betreffe, die ihn mit seiner Familie in Berührung gebracht, so seien diese nicht des Erwähnens werth, da der dadurch herbeigeführte kurze Verkehr keine freundschaftlichen Resultate gehabt habe. Es sei ihm nichts weiter daraus erwachsen als das Geld, und mit dem Gelde eine Sorge, die ihn oft in schlaflosen Morgens stunden quäle.

Bei diesen letzten Worten schwieg er plötzlich, wie wenn seine von ihm sonst so scharf bewachte Zunge ihn diesmal verrathen hätte. Mr. Brock ergriff die Gelegenheit und frug ihn geradezu, welcher Art diese Sorge sei. Ob dieselbe mit Geld zu thun habe? Nein, sie habe mit einem Briefe zu thun, der seit vielen Jahren seiner geharrt. Ob er diesen Brief erhalten habe? Noch nicht; derselbe befinde sich in dem Gewahrsam eines der Compagnons der Advokatenfirma, die seine Erbschaftsangelegenheiten für ihn geordnet habe; dieser Compagnon sei von England abwesend, und er könne daher den Brief, der mit den Privatpapieren des Advokaten zusammen sich unter Verschluß befinde, nicht eher erhalten, als bis dieser wieder nach England zurückkehre. Er werde gegen Ende des gegenwärtigen Monats Mai zurückerwartet, und wenn er, Midwinter, mit Sicherheit zu bestimmen im Stande sei, wohin ihre Fahrt sie um diese Zeit geführt haben werde, so gedenke er zu schreiben und sich den Brief dorthin zusenden zu lassen. Ob irgendwelche Familienverhältnisse ihm Grund zu Besorgnissen wegen jenes Briefes gaben? Nicht, soviel er wisse; er sei neugierig, das zu erfahren, was seit so vielen Jahren seiner geharrt, das sei alles. In dieser Weise beantwortete er die Fragen des Pfarrers, indem er sein gelbbraunes Gesicht von ihm abwandte und über die niedrige Schiffsseite der Jacht hinaus blickte, während seine geschmeidigen braunen Hände die Fischleine nachzogen.

Von Wind und Wetter begünstigt hatte das kleine Fahrzeug auf dieser Probefahrt Wunder gethan. Ehe noch die Hälfte der für die Fahrt angesetzten Zeit verstrichen war, befand sich die Jacht schon auf der Höhe von Holyhead vor der Küste von Wales, und Allen, der auf Abenteuer in unbekannten Regionen erpicht war, hatte kühn seinen Entschluß erklärt, die Reise nordwärts nach der Insel Man fortzusetzen Nachdem er von zuverlässigen Gewährsmännern in Erfahrung gebracht hatte, daß das Wetter einer Fahrt in jenen Gewässern wirklich günstig sei und daß, wenn irgendein unvorhergesehener Fall ihre schleunige Heimkehr nöthig mache, sie das Dampfboot von Douglas nach Liverpool benützen und von letzterem Orte mit der Eisenbahn weiterreisen könnten, ging Mr. Brock auf den Vorschlag seines Zöglings ein. An demselben Abende schrieb er noch an Allan’s Rechtsanwälte und nach seiner Pfarrei, und gab Douglas auf der Insel Man als den Ort an, wohin man die Briefe für sie nachzusenden habe. Vor dem Posthause traf er Midwinter, der soeben einen Brief auf die Post gegeben hatte. Mr. Brock erinnerte sich seiner Unterhaltung mit ihm an Bord der Jacht und vermuthete, daß sie beide dieselbe Vorsichtsmaßregel getroffen und ihre Briefe an denselben Ort nachbestellt hätten.

Am folgenden Tage spät segelten sie nach der Insel Man ab. Einige Stunden lang ging Alles gut; aber mit Sonnenuntergang stellten sich die Vorboten einer baldigen Veränderung ein und mit einbrechender Dunkelheit stieg der Wind bis zu einem förmlichen Sturme. Die Frage, ob Allan und seine Arbeiter ein starkes Seeschiff gebaut, ward somit zum ersten Male einer ernstlichen Probe unterworfen. Während der ganzen Nacht blieb das kleine Schiff, nachdem es vergebens Holyhead zu erreichen versucht, in offener See, und bestand seine Probe vortrefflich. Am folgenden Morgen war die Insel Man in Sicht, und die Jacht lag bald sicher im Hafen von Castletown. Als Rumpf und Takelwerk bei Tage untersucht wurden, ergab es sich, daß der ganze Schaden in einer Woche wieder gut gemacht werden könne. Die Reisegefährten waren deshalb in Castletown geblieben; Allan war mit Beaufsichtigung der Ausbesserungen beschäftigt, Mr. Brock mit Ausflügen in die Nachbarschaft, und Midwinter mit täglichen Wallfahrten nach Douglas und zurück, um sich nach Briefen zu erkundigen.

Der Erste von der Gesellschaft, der einen Brief erhielt, war Man. »Noch mehr Quälerei von jenen nimmer rastenden Advokaten!« war alles, was er sagte, nachdem er den Brief gelesen und zusammengeknüllt in die Tasche gesteckt hatte. Dann kam der Pfarrer an die Reihe, welcher am fünften Tage des Aufenthalts in Castletown einen Brief aus Sommersetshire im Hotel vorfand. Derselbe war durch Midwinter von Douglas herübergebracht worden und enthielt Nachrichten, die alle seine Ferienpläne über den Haufen warfen. Der Geistliche, der während seiner Abwesenheit seine Amtspflichten übernommen, war unerwarteterweise heimgerufen worden, und es blieb Mr. Brock nichts weiter übrig, als am folgenden Tage von Douglas nach Liverpool überzusetzen und am Sonnabend Abend per Eisenbahn nach Sommersetshire zu reisen, um am Sonntag zu rechter Zeit zum Morgengottesdienste dort zu sein.

Nachdem er diesen Brief gelesen und sich so geduldig wie möglich in seine veränderten Umstände gefügt, drang sich ihm zunächst eine Frage auf, welche allerdings ernstlicher Erwägung bedurfte. Bei der schweren Verantwortlichkeit, die in Betreff Allan’s auf ihm lastete, und bei seinem unverminderten Mißtrauen gegen Allan’s neuen Freund mußte er sich fragen, wie er unter den obwaltenden Schwierigkeiten gegen die beiden jungen Männer handeln solle, die seine Gefährten auf der Fahrt gewesen waren.

Mr. Brock hatte sich diese ungeschickte Frage zuerst am Freitag Nachmittag vorgelegt; und um ein Uhr am Sonnabend Morgen saß er noch immer in seinem Schlafzimmer, ohne zu einer befriedigenden Lösung derselben gelangt zu sein. Es war jetzt erst gegen Ende des Monat Mai, und die Damen in Thorpe-Ambrose sollten ihren dermaligen Aufenthalt, falls sie sich nicht von selbst dazu erboten, nicht früher als um die Mitte des Monat Juni verlassen. Selbst wenn die Ausbesserungen der Jacht bereits beendet gewesen wären, was doch nicht der Fall war, hatte Mr. Brock keinen vernünftigen Vorwand, um Allan nach Sommersetshire zurückzutreiben. Es blieb ihm nur eine Wahl —— ihn dort zu lassen, wo er war. Mit andern Worten, es blieb ihm nichts weiter übrig, als ihn auf diesem Wendepunkte seines Lebens ganz und gar dem Einflusse eines Mannes preiszugeben, den er zuerst als einen Ausgestoßenen in einer Dorfschenke kennen gelernt hatte und der, aus einem practischen Gesichtspunkte genommen, ihm noch immer völlig fremd war.

In seiner Verzweiflung glaubte Mr. Brock, daß er noch am sichersten gehe, wenn er sich den Eindruck vergegenwärtige, den Midwinter in dem vertrauteren Verkehr während ihrer Seefahrt auf ihn gemacht; hiervon wollte er seine Entscheidung abhängig machen.

Ungeachtet seiner Jugend hatte der ehemalige Schullehrer offenbar ein wildes und bunt bewegtes Leben geführt. Er hatte mehr gesehen und beobachtet als die meisten Leute, die noch einmal so alt waren als er; in seiner Unterhaltung verrieth sich eine sonderbare Mischung von Verstand und Ungereimtheit, ein Schwanken zwischen ernster Begeisterung und phantastischen Humor. Er konnte von Büchern reden wie ein Mann, der Wahrhaften Genuß an denselben gefunden hat; er konnte seine Stelle am Steuerrad einnehmen wie ein Seemann, der sein Handwerk verstand; er konnte singen und Geschichten erzählen und kochen und im Takelwerk umher klettern und die Tafel decken —— alles mit einer komischen satirischen Freude an der Zurschaustellung seiner Geschicklichkeit. Diese und andere ähnliche Eigenschaften, die sich bei der Fröhlichkeit der Fahrt an ihm herausgestellt hatten, erklärten das Geheimniß seiner Anziehungskraft für Allan zur Genüge. Doch hatten alle Entdeckungen über ihn damit ein Ende gehabt? Hatte der Mann in Gegenwart des Pfarrers nie ein zufälliges Licht auf seinen Charakter fallen lassen? Nur sehr spärlich, und dieses Wenige hatte ihm keine besonderen moralischen Reize verliehen. Sein Pfad durch die Welt hatte offenbar durch zweifelhafte Gegenden geführt; er verrieth hin und wieder eine Bekanntschaft mit geringeren Schurkereien und Vagabonden; es entschlüpften seiner Zunge oft Worte, die einen unangenehm herben Beigeschmack hatten; und, was ein noch bedeutungsvollerer Umstand war, er schlief jenen leisen, argwöhnischen Schlaf eines Mannes, welcher den Leuten nicht traut, die sich mit ihm unter demselben Dache befinden. Bis zu diesem letzten Augenblicke —— diesem Freitag Abend —— war sein Benehmen dasselbe geblieben, bis zuletzt versteckt und unbegreiflich. Nachdem er Mr. Brocks Brief im Hotel abgegeben, war er, ohne eine Bestellung an seine Gefährten zurückzulassen und ohne irgend Jemandem zu sagen, ob er selbst einen Brief erhalten habe oder nicht, spurlos verschwunden, um erst spät am Abend in der Dunkelheit wieder ins Haus zurückzuschleichen. Er hatte Allan auf der Treppe getroffen, der ihm eifrig die Veränderung in den Plänen des Pfarrers mittheilte; aber ohne irgendeine Bemerkung zu machen, hatte er die Nachricht angehört und sich schließlich verdrießlich in seinem Zimmer eingeschlossen. Was ließ sich wohl gegen solche Offenbarungen seines Charakters wie diese —— gegen sein unstätes Auge, seine hartnäckige Zurückhaltung gegen den Pfarrer, sein ominöses Schweigen in Bezug auf seine Familie und seine Angehörigen —— zu seinen Gunsten anführen?

Wenig oder gar nichts: Sein ganzes Verdienst begann und endete mit seiner Dankbarkeit gegen Allen.

Mr. Brock verließ seinen Sitz auf dem Bette, putzte sein Licht und schaute, noch immer in Gedanken versunken, zerstreut in die Nacht hinaus; allein diese Veränderung brachte ihm keinen neuen Gedanken. Sein Rückblick auf die Vergangenheit hatte ihn vollkommen überzeugt, daß sein gegenwärtiges Gefühl der Verantwortlichkeit kein übertriebenes oder unbegründetes sei; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Rathlos stand er dort am Fenster, wo er nichts zu sehen vermochte, als seine eigene totale geistige finstereniß, ein treues Spiegelbild der totalen finstereniß der Nacht.

»Wenn ich nur einen Freund besäße, an den ich mich wenden könnte!« dachte der Pfarrer. »Wenn ich in diesem elenden Orte nur eine Seele zu finden im Stande wäre, die mir beistehen könnte!«

In dem Augenblicke, wo dieser Wunsch in ihm auftauchte, schien sich derselbe zu erfüllen, denn ein leises Klopfen an seiner Thür ließ sich vernehmen und eine leise Stimme draußen im Gange flüsterte: »Lassen Sie mich ein!«

Eine halbe Minute wartete Mr. Brock, um sich zu beruhigen, dann öffnete er die Thür und auf der Schwelle seines Schlafzimmers erschien um ein Uhr Morgens —— Ozias Midwinter.

»Sind Sie krank?« fragte der Pfarrer, sobald sein Erstaunen ihm zu sprechen gestattete.

»Ich komme zu Ihnen, um mir das Herz zu erleichtern«, war die seltsame Antwort.»Darf ich eintreten?«

Mit diesen Worten schritt er ins Zimmer —— die Augen auf den Boden geheftet, mit blassen Lippen und hinter sich etwas in der Hand haltend.

»Ich sah das Licht durch eine Spalte Ihrer Thür«, fuhr er fort, ohne aufzublicken oder seine Hand zu bewegen, »und ich weiß, welche Sorge Ihnen Ihre Nachtruhe raubt. Sie reisen morgen ab und lassen Mr. Armadale nicht gern allein mit einem Fremden, wie ich bin, zurück.«

Ungeachtet seiner Ueberraschung sah Mr. Brock doch die Nothwendigkeit ein, deutlich zu einem Manne zu reden, der zu einer solchen Zeit zu ihm gekommen war und solche Worte gesprochen hatte.

»Sie haben richtig gerathen «, erwiderte er. »Ich vertrete Vaterstelle bei Allan Armadale und fühle ein natürliches Widerstreben, ihn mit einem Manne allein zu lassen, den ich nicht kenne.«

Ozias Midwinter that einen Schritt näher an den Tisch. Seine unstäten Blicke fielen auf das Neue Testament, welches unter andern Gegenständen auf dem Tische des Pfarrers lag.

»Sie haben jenes Buch während eines langen Lebens vielen verschiedenen Gemeinden ausgelegt«, sagte er. »Hat dasselbe Sie Barmherzigkeit für Ihre elenden Mitgeschöpfe gelehrt?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schaute er Mr. Brock zum ersten Male gerade ins Gesicht und ließ seine verborgene Hand langsam sichtbar werden.

»Lesen Sie dies«, sagte er, »und, um Jesu Christi willen, haben Sie Mitleid mit mir, wenn Sie erfahren, wer ich bin.«

Er legte einen aus vielen Seiten bestehenden Brief auf den Tisch. Es war der Brief, den Mr. Neal vor neunzehn Jahren in Wildbad auf die Post gegeben hatte.



Kapiteltrenner

Zehntes Kapitel.

Die ersten frischen Lüfte des anbrechenden Tages zogen durch das offene Fenster herein, als Mr. Brock die letzten Zeilen des Bekenntnisses las. Schweigend und ohne aufzublicken legte er dasselbe fort. Die erste Erschwerung, welche die Entdeckung seinem Gemüthe verursacht hatte, war jetzt Vorüber. In seinem Alter und bei seiner Gewohnheit zu denken war sein Geist nicht stark genug, um die Enthüllung sofort in ihrem ganzen Umfange zu erfassen. Wie er das Manuscript beenden, war sein ganzes Herz mit der Erinnerung an das Weib beschäftigt, welches die geliebte Freundin seiner späteren und glücklicheren Lebensjahre gewesen war; alle seine Gedanken richteten sich auf den unseligen Betrug, den sie gegen ihren Vater gespielt und welchen der Brief ihm jetzt enthüllt hatte.

Das Erzittern des Tisches unter einer schwer auf denselben herabsinkenden Hand entriß ihn dem Sinnen über seinen eigenen kleinen Kummer. Ein lebhaftes unwillkürliches Widerstreben war in ihm rege, doch überwand er dasselbe und blickte empor. Dort, in dem Zwielicht der gelben Kerzenlampe und der matten, grauen Dämmerung des anbrechenden Tages, stand schweigend der Ausgestoßene aus der Dorfschenke vor ihm —— der Erbe des unglückseligen Namens Armadale.

Mr. Brock schauderte, wie der Anblick des Mannes ihm plötzlich die Angst vor der Gegenwart und die noch größere Angst vor der Zukunft wieder vor die Seele führte. Der Mann bemerkte dies und ergriff zuerst das Wort.

»Blickt das Verbrechen meines Vaters Ihnen etwa aus meinen Augen entgegen?« frug er. »Ist das Gespenst des Ertrunkenen mir bis in dies Zimmer nachgefolgt?«

Der Schmerz und die Leidenschaft, die er zu unterdrücken strebte, machten die Hand zittern, die noch immer auf dem Tische lag, und erstickten fast die Stimme, die bis zum Flüstern herabsank.

»Ich wünsche nicht, Sie anders als gerecht und rücksichtsvoll zu behandeln «, erwiderte Mr. Brock. »Lassen Sie mir Ihrerseits Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie mir nicht die Grausamkeit zuschreiben, die darin liegen würde, wenn ich Sie für das Verbrechen Ihres Vaters verantwortlich hielte.«

Diese Antwort schien ihn zu beruhigen. Er neigte schweigend das Haupt und nahm das Bekenntniß vom Tische auf.

»Haben Sie dies durchgelesen?« fragte er ruhig.

»Von Anfang bis zu Ende.«

»Habe ich bis hierher offen gegen Sie gehandelt? Hat Ozias Midwinter ——«

»Geben Sie sich noch immer diesen Namen«, unterbrach ihn Mr. Brock, »jetzt, da Ihr wahrer Name mir bekannt ist?«

»Seitdem ich das Bekenntniß meines Vaters gelesen«, war die Antwort, »gefällt mir mein häßliches Alias besser denn je. Erlauben Sie mir, die Frage zu wiederholen, die ich soeben an Sie zu richten im Begriff war: Hat Ozias Midwinter bis hierher sein Möglichstes gethan, um Mr. Brock über ihn aufzuklären?«

Der Pfarrer wich einer directen Antwort aus. »Wenige Männer in Ihrer Lage würden den Muth gehabt haben«, sagte er, »mir jenen Brief zu zeigen.«

»Bilden Sie sich keine zu gute Meinung über den Vagabonden, den Sie in einer Dorfschenke gefunden haben, Sir, bis Sie etwas mehr über ihn wissen als Ihnen bis jetzt von ihm bekannt ist. Sie sind mit dem Geheimnisse meiner Geburt, nicht aber mit der Geschichte meines Lebens vertraut. Diese müssen und sollen Sie kennen lernen, ehe Sie mich mit Mr. Armadale allein lassen. Wollen Sie warten und ein wenig ausruhen, oder soll ich Ihnen dieselbe jetzt erzählen?«

»Jetzt«, erwiderte Mr. Brock, noch ebenso weit entfernt wie je, den Charakter des Mannes begriffen zu haben.

Alles, was Ozias Midwinter sagte, alles, was er that, sprach gegen ihn. Er hatte mit einer erzwungenen Gleichgültigkeit, ja fast mit einer Frechheit gesprochen, die jeden abgestoßen haben würde, der ihn hörte. Und jetzt hatte er, anstatt sich an dem Tische niederzulassen und seine Erzählung direct an den Pfarrer zu richten, schweigend und mißmuthig sich nach dem Fenstersitze zurückgezogen. Dort saß er, mit abgewandtem Gesichte; seine Hände schlugen mechanisch die Blätter des Briefes von seinem Vater um, bis er zu der letzten Seite desselben kam. Die Augen auf die Schlußzeilen des Manuscripts heftend und mit einer seltsamen Mischung von Gleichgültigkeit und Trauer in seiner Stimme begann er dann folgendermaßen die versprochene Erzählung:

»Das Erste, was Ihnen über mich bekannt ist«, sagte er, »ist das, was meines Vaters Bekenntniß Ihnen bereits mitgetheilt hat. Er sagt hier, daß ich ein kleines Kind war und schlummernd an seiner Brust ruhte, als er seine letzten Worte in dieser Welt sprach und die Hand eines Fremden dieselben an seinem Sterbebette niederschrieb. Der Name dieses Fremden steht, wie Sie vielleicht bemerkt haben, auf dem Couverte geschrieben: »Alexander Neal, am Signet-Journal in Edinburg angestellt.« Meine erste Erinnerung aus meiner Kindheit ist die an meinen Stiefvater Alexander Neal, wie er mich einst auspeitschte —— was ich wahrscheinlich verdient hatte.«

»Haben Sie aus derselben Zeit keine Erinnerung an Ihre Mutter?« frug Mr. Brock.

»Ja; ich erinnere mich, wie sie mir alte abgetragene Kleider gab, den beiden Kindern aus ihrer zweiten Ehe aber schöne neue Kleider kaufte. Auch erinnere ich mich, wie ich von der Dienerschaft wegen meiner schädigen alten Kleider verlacht und dann wieder gezüchtigt wurde, weil ich wüthend geworden und meine alten Kleider zerrissen hatte. Meine nächsten Erinnerungen datieren sich ein paar Jahre später. Ich erinnere mich, wie ich bei Brod und Wasser in der Rumpelkammer eingesperrt war und darüber nachsann, warum nur meiner Mutter und meinem Stiefvater schon mein bloßer Anblick zuwider zu sein schien. Diese Frage war ich bis gestern nie zu beantworten im Stande; doch nachdem ich meines Vaters Brief gelesen habe, ist das Geheimniß gelöst. Meine Mutter wußte, was sich in Wirklichkeit auf dem französischen Holzschiffe zugetragen hatte, und ebenso mein Stiefvater; sie wußten außerdem beide, daß das schmachvolle Geheimniß, das sie so gern jedem lebenden Geschöpfe verborgen hätten, eines Tages zu meiner Kenntniß gelangen müsse. Dies konnte nicht verhindert werden —— das Bekenntniß befand sich in den Händen des Testamentsvollstreckers und dort war ich, ein ungezogener Junge, der das Negerblut seiner Mutter im Gesichte und die Leidenschaftlichkeit seines mörderischen Vaters im Herzen trug and ihnen zum Trotz Erbe ihres Geheimnisses war! Ich verwundere mich jetzt nicht mehr über die Peitsche, oder die abgetragenen alten Kleider, oder die Einsperrung bei Brod und Wasser in der Rumpelkammer. Dies alles waren natürliche Strafen, die das Kind für die Sünde des Vaters trafen.«

Mr. Brock warf einen Blick auf das dunkle, verschlossene Gesicht, welches noch immer hartnäckig von ihm abgewendet war. »Ist dies die starre Gefühllosigkeit eines Vagabonden«, frug er sich, »oder die verstellte Verzweiflung eines unglücklichen Menschen?«

»Meine nächste Erinnerung betrifft die Schule«, fuhr der Andere fort. »Eine wohlfeile Anstalt in einem entlegenen Winkel von Schottland. Dorthin steckte man mich, und ein ungünstiger Bericht Seiten meiner Pfleger war die einzige Mitgift, die mir beim Beginne meines Lebenslaufes von ihnen zu Theil wurde. Ich verschone Sie mit der Geschichte der Schläge, die ich von dem Lehrer in der Schulstube, und der Fußstöße, die ich von den Knaben auf dem Spielhofe zu erdulden hatte. Die Undankbarkeit lag vermuthlich in meiner Natur; jedenfalls lief ich davon. Die erste Person, die mir begegnete, fragte mich nach meinem Namen. Ich war zu jung und zu dumm, um denselben zu verhehlen, und ward natürlich noch an demselben Abende nach der Schule zurückgebracht. Der Erfolg brachte eine Lehre für mich mit sich, die ich seitdem nicht vergessen habe. Vagabond, wie ich war, lief ich ein paar Tage später abermals fort. Allein der Hofhund der Schule hatte vermuthlich seine Instructionen erhalten; er hielt mich fest, ehe ich bis ans Thor gelangt war. Hier auf der Rückseite meiner Hand befindet sich unter andern Zeichen auch das seiner Zähne. Die Zeichen, die sein Herr auf mir zurückgelassen, kann ich Ihnen nicht zeigen; dieselben befinden sich alle auf meinem Rücken. Können Sie sich eine Vorstellung von meinem Eigensinne machen? Es lebte ein Teufel in mir, den kein Hund aus mir herauszuschütteln im Stande war; denn sowie ich wieder mein Lager verlassen konnte, rannte ich nochmals fort, und diesmal entkam ich. Gegen Abend befand ich mich, mit einer Tasche voll Hafergrütze die ich im Schulhause entwendet, auf einer Haide und legte mich unter dem Schutze eines großen, grauen Felsens in dem weichen Haidekraut nieder. Glauben Sie etwa, daß ich mich einsam fühlte? Wahrlich, nein! Ich war den Stockschlägen meines Lehrers, den Fußstößen meiner Schulkameradem meiner Mutter und meinem Stiefvater entwischt, und ich legte mich an diesem Abend als der glücklichste Knabe in ganz Schottland am Fuße meines Freundes, des Felsens, nieder!«

Durch den Einblick in die jammervolle Kindheit, den dieser einzige bedeutungsvolle Umstand zuließ, ward Mr. Brock Manches klar, was ihm bisher an dem Charakter des Mannes, der jetzt zu ihm sprach, unerklärlich gewesen war.

»Ich schlief fest am Fuße meines Freundes, des Felsens«, fuhr Midwinter fort, »und als ich am Morgen erwachte, sah ich an meiner Seite einen derben alten Mann mit einer Geige sitzen, der zwei tanzende Hunde in scharlachrothen Jacken mit sich führte, Die Erfahrung hatte mich zu schlau gemacht, um die ersten Fragen des Mannes der Wahrheit gemäß zu beantworten. Er drang auch nicht weiter in mich, gab mir ein gutes Frühstück aus seinem Ranzen und ließ mich mit den Hunden spielen. Nachdem er hierdurch mein Vertrauen gewonnen, redete er mich von neuem also an. »Ich will Dir etwas sagen. Du bedarfst dreier Dinge, mein kleiner Mann; eines neuen Vaters, neuer Geschwister und eines neuen Namens. Ich will Dein Vater sein; die Hunde will ich Dir zu Brüdern geben, und wenn Du mir versprechen willst, dieselben wohl in Acht zu nehmen, so sollst Du auch meinen Namen haben. Ozias Midwinter junior, Du hast ein gutes Frühstück genossen; verlangt es Dich nach einem guten Mittagessen, so komme mit mir!« Er stand auf, die Hunde trabten ihm nach, und ich folgte den Hunden. Wer war mein neuer Vater? werden Sie fragen. Ein halber Zigeuner, Sir, ein Trunkenbold, ein Raufbold und ein Dieb —— und der beste Freund, den ich je besessen! Ist nicht der Mann, der uns unsre Nahrung, unser Obdach und unsre Erziehung giebt, unser Freund? Ozias Midwinter lehrte mich den Highland-Fling tanzen, Purzelbäume schlagen, auf Stelzen gehen und Lieder zu seiner Geige singen. Zuweilen strichen wir im Lande umher und ließen uns auf den Jahrmärkten hören und sehen; zuweilen versuchten wir es in großen Städten und unterhielten schlechte Gesellschaften bei ihren Trinkgelagen. Ich war ein hübscher, lustiger, kleiner Knabe von elf Jahren, und die schlechte Gesellschaft —— namentlich die Weiber —— fand Gefallen an meinen gewandten Füßen. Ich war Vagabond genug, um Behagen an dieser Lebensweise zu finden. Die Hunde und ich lebten zusammen —— wir aßen und tranken und schliefen zusammen. Ich kann jener armen, kleinen, vierfüßigen Brüder selbst jetzt nicht ohne ein Gefühl der Wehmuth gedenken. Wir haben manche Tracht Schläge erhalten, haben manchen Tag mühseligen Tanzens mit einander verlebt, manche Nacht mit einander auf dem kalten Erdboden geschlafen und gewinselt. Ich wünsche nicht, Sie zu betrüben, Sir; ich erzähle Ihnen bloß die Wahrheit. Trotz allem Mühsale war dies ein Leben, das mir zusagte, und der Raufbold und halbe Zigeuner, der mir seinen Namen gab, war ein Mensch, den ich lieb hatte.«

»Ein Mensch, der Sie schlug!« rief Mr. Brock erstaunt.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sir, daß ich mit den Hunden zusammen lebte? und haben Sie je von einem Hunde gehört, der seinen Herrn weniger liebte, weil dieser ihn schlug? Hunderte und Tausende von Männern, Weibern und Andern würden jenen Menschen geliebt haben, wie ich ihn liebte, wenn er ihnen gegeben, was er mir gab —— das heißt, genug zu essen. Es war meistens gestohlenes Gut, und mein neuer Zigeunervater war freigebig mit demselben. Wenn er nüchtern war, traktierte er uns selten mit dem Stocke; doch in der Trunkenheit belustigte es ihn, uns schreien zu hören. Er starb im Rausche und genoß seine Lieblingsunterhaltung noch, wie er seinen letzten Athemzug that. Eines Tages —— ich war etwa zwei Jahre in seinem Dienste gewesen —— setzte er sich, nachdem er uns auf der Haide ein gutes Mittagessen gegeben, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt, nieder, und rief uns zu sich, um sich mit seinem Stocke seine gewohnte Unterhaltung zu verschaffen. Zuerst machte er die Hunde heulen und dann rief er mich zu sich. Ich ging nicht sehr bereitwillig, denn er hatte mehr als gewöhnlich getrunken, und je mehr er trank, desto größeren Genuß gewährte ihm diese Unterhaltung. Er war an diesem Tage in vortrefflicher Laune, und er traf mich so kräftig, daß er, in seinem Zustande der Trunkenheit, durch die Gewalt seines Schlages niedergeworfen ward. Er fiel mit dem Gesichte in eine Pfütze und blieb dort regungslos liegen. Ich und die Hunde standen in einiger Entfernung und sahen nach ihm hin; wir glaubten, er verstelle sich, damit wir herangingen und er uns nochmals prügeln konnte. Allein er verstellte sich so lange, daß wir uns endlich zu ihm heran wagten Es währte einige Zeit, ehe ich ihn herum legen konnte, denn er war ein schwerer Mann. Als es mir endlich gelang, war er bereits todt. Wir erhoben ein so lautes Geschrei wie möglich; doch die Hunde waren klein, und ich war klein, und es war ein entlegener, einsamer Ort; kurz es kam keine Hilfe. Ich nahm seine Geige und seinen Stock und sagte zu meinen beiden Brüdern: »Kommt, wir müssen uns jetzt unsern Lebensunterhalt verdienen.« Schweren Herzens gingen wir von dannen und ließen ihn auf der Haide liegen. Es mag Ihnen unnatürlich erscheinen —— aber ich trauerte um ihn. Ich behielt seinen häßlichen Namen auf allen meinen späteren Wanderschaften bei und habe noch genug von dem alten Geist in mir, um an dem Klang desselben noch immer Gefallen zu finden. Midwinter oder Armadale —— das ist jetzt alles einerlei —— wir wollen davon später sprechen; vorher müssen Sie noch das Schlimmste von mir erfahren.«

»Warum nicht das Beste von Ihnen?« sagte Mr. Brock sanft.

»Ich danke Ihnen, Sie, aber ich bin hier, um die Wahrheit zu reden. Wir wollen jetzt, wenn es Ihnen gefällt, zu dem nächsten Kapitel in meiner Geschichte übergehen. Die Hunde und ich machten nach dem Tode unseres Herrn schlechte Geschäfte —— das Glück war gegen uns. Ich verlor einen meiner kleinen Brüder, den besten Tänzer der beiden; er wurde mir gestohlen, und ich fand ihn niemals wieder. Dann nahm mir ein Landstreicher, der kräftiger war als ich, mit Gewalt meine Geige und meine Stelzen ab. Diese Unglücksschläge knüpften Tommy und mich —— ich bitte um Vergebung, Sir, ich meine den Hund —— immer fester an einander. Ich denke mir, wir hatten beide eine unbestimmte Ahnung, daß unser Unglück noch nicht aus sei; jedenfalls währte es nicht lange, bis wir auf immer von einander getrennt wurden. Wir waren zwar keine Diebe, denn unser Herr hatte sich damit begnügt, uns tanzen zu lehren; dessen ungeachtet machten wir uns beide einer Eigenthumverletzung schuldig. Junge Geschöpfe, selbst wenn sie halb verhungert sind, können zuweilen nicht der Versuchung widerstehen, eines schönen Morgens einen Wettlauf zu halten. Tommy und ich rannten in die Baumanlagen eines vornehmen Herrn; der Herr gab viel auf sein Wild, und der Jäger des Herrn kannte seine Pflicht. Ich hörte den Knall einer Flinte —— dass Uebrige können Sie errathen. Gott verhüte, daß ich je wieder solchen Jammer fühle, wie in dem Augenblicke, da ich neben Tommy, lag und ihn todt und blutend in meinen Armen hielt! Der Jäger versuchte, uns zu trennen —— ich biß ihn, wie ein wildes Thier, wofür er zunächst seinen Stock an mir probierte —— er hätte ihn ebenso gut an einem Baume versuchen können. Der Lärm drang bis zu den Ohren zweier jungen Damen, die in der Nähe ritten —— die Töchter des Herrn, in dessen Eigenthum ich eingedrungen war. Sie waren zu wohlerzogen, um ihre Stimmen gegen das heilige Recht des Wildschutzes zu erheben; aber sie waren gutherzige Mädchen; sie bemitleideten mich und nahmen mich mit sich nach Hause. Ich erinnere mich, wie die Herren des Hauses, die alle leidenschaftliche Jäger waren, ein helles Gelächter aufschlugen, als ich, meinen kleinen todten Hund in den Armen, weinend an dem Fenster vorüberging. Denken Sie nicht, daß ich mich über ihr Gelächter beklage; dasselbe leistete mir gute Dienste —— es erweckte die Entrüstung der beiden Damen. Die eine derselben führte mich in ihren eignen Garten und zeigte mir eine Stelle, wo ich meinen Hund unter den Blumen begraben könne, ohne befürchten zu müssen, daß er je von andern Händen gestört werde Die andere ging zu ihrem Vater und überredete ihn, dem verlassenen kleinen Vagabonden unter einem der oberen Diener im Hause eine Gelegenheit zur Verbesserung seiner Lage zu geben.

Ja! Sie sind in der Gesellschaft eines Mannes umhergesegelt, der einst ein Bedienter war! Ich sah, wie Sie mich anblickten, als ich Mr. Armadale an Bord der Jacht durch mein Tischdecken belustigte; jetzt begreifen Sie, wie es kam, daß ich dies so ordentlich zu thun im Stande war und nichts dabei vergaß. Ich habe das Glück gehabt, einiges von der Gesellschaft zu sehen; ich habe geholfen, derselben den Magen zu füllen und die Stiefel zu putzen Meine Erfahrungen in der Bedientenstube waren jedoch nicht von langer Dauer. Ehe ich noch meine erste Livree abgetragen hatte, Ward ein Diebstahl im Hause begangen. Es war die alte Geschichte, und es ist unnöthig, dieselbe zum tausendsten Male zu erzählen. Es hatte Jemand Geld auf einem Tische liegen lassen und dasselbe dort nicht wiedergefunden; die ganze Dienerschaft konnte sich aus Zeugnisse ihrer Ehrlichkeit berufen, der Bedientenjunge ausgenommen, der unvorsichtigerweise zur Probe angenommen worden war. Nun, nun, ich hatte in diesem Hause bis zuletzt Glück, ich wurde nicht verklagt, etwas gestohlen zu haben, das ich nicht nur niemals angerührt, sondern sogar nicht einmal gesehen hatte —— ich wurde bloß fortgejagt. Eines Morgens ging ich in meinen alten Kleidern nach der Stelle, wo ich Tommy begraben hatte, küßte das Grab und nahm von meinem kleinen todten Hunde Abschied; dann stand ich wieder in der weiten Welt da. Ich war jetzt bereits dreizehn Jahre alt!«

»Kam Ihnen in dieser Verlassenheit und bei so zartem Alter nie der Gedanke, wieder zur Heimath zurückzukehren?« frug Mr. Brock.

»Ich kehrte noch an demselben Abende nach meiner Heimath zurück, Sir —— ich schlief auf dem blanken Erdboden. Welche andere Heimath gab es wohl für mich? In ein paar Tagen sah ich mich wieder in die großen Städte und in die schlechte Gesellschaft zurückgetrieben —— die großen öden Gefilde waren mir jetzt so einsam, da ich meine Hunde verloren hatte! Zunächst ward ich von zwei Matrosen aufgegriffen, ich war ein gewandter Bube und erhielt eine Stelle als Kajütenjunge an Bord eines Küstenfahrers, Eine Stelle als Kajütenjunge haben heißt soviel als im Schmutze leben, Unrath essen, die Arbeit eines Mannes auf Knabenschultern tragen und in regelmäßigen Zeiträumen das Tauende auf dem Rücken fühlen. Das Schiff legte in einem Hafen der Hebriden an. Ich war so undankbar wie gewöhnlich gegen meine Wohlthäter —— ich lief abermals davon. Einige Frauen fanden mich halb verhungert in den nördlichen Wildnissen der Insel Skye. Es war unsern der Meeresküste, und ich versuchte es zunächst unter den Fischersleuten. Bei meinem neuen Herrn ward ich zwar weniger mit dem Tauende tractirt, allein ich war jedem Wind und Wetter ausgesetzt und hatte Arbeit, die einen Knaben, der nicht wie ich durch ein Vagabondenleben abgehärtet war, getödtet haben würde. Ich kämpfte mich indessen durch alles hindurch, bis der Winter kam, und dann sandten die Fischer mich wieder in die Welt hinaus. Ich tadele sie nicht dafür —— es gab wenig Lebensmittel auf der Insel und viele hungrige Mägen. Warum sollten sie, Hungersnoth vor Augen, einen Knaben bei sich behalten, der nicht zu ihnen gehörte? Eine große Stadt war im Winter meine einzige Chance; deshalb ging ich nach Glasgow, und wäre, dort angelangt, fast dem Löwen in den Rachen gefallen. Ich hatte die Aufsicht über einen leeren Karren auf dem Broomielaw übernommen, als ich plötzlich auf der Trottoirseite von dem Pferde, das ich hielt, die Stimme meines Stiefvaters hörte. Er war einem Bekannten begegnet, und zu meinen! Erstaunen und Schrecken unterhielten sie sich von mir. Hinter dem Pferde versteckt, hörte ich genug von ihrem Gespräche, um zu erfahren, daß ich, ehe ich an Bord des Küstenfahrers gegangen, mit genauer Noth der Entdeckung entgangen war. Zu jener Zeit war ich mit einem Vagabonden meines Alters zusammengetroffen, da wir aber Streit mit einander bekommen, hatten wir uns wieder getrennt. Den Tag darauf stellte mein Stiefvater in demselben Districte seine Nachforschungen nach mir an, und da er keine genaue Personenbeschreibung zu erlangen vermochte, war er mit sich uneinig, welchem der beiden Knaben er folgen solle. Der eine, hörte er, sei unter dem Namen Brown, und der andere unter dem Namen Midwinter bekannt. Brown war gerade der gewöhnliche Name, den ein schlauer fortgelaufener Knabe annehmen, Midwinter dagegen ein auffallender Name, den er wahrscheinlich meiden würde. Man hatte deshalb Brown verfolgt und mir dadurch Gelegenheit zum Entkommen gegeben. Ich überlasse es Ihnen, sich zu denken, ob ich danach nicht doppelt und dreifach entschlossen war, den Namen meines Zigeunerherrn beizubehalten. Mein Entschluß ging jedoch noch weiter; ich beschloß, das Land ganz zu verlassen. Nachdem ich ein paar Tage im Hafen umher gelauert, entdeckte ich, welches der fremden Schiffe zuerst absegeln werde, und versteckte mich an Bord desselben. Der Hunger hätte mich fast aus meinem Versteck hervorgetrieben, ehe der Lootse das Schiff verlassen hatte, aber der Hunger war nichts Neues für mich, und ich blieb, wo ich war. Als ich auf dem Verdeck erschien, war der Lootse fort, und es blieb dem Capitän nichts weiter übrig, als mich entweder zu behalten oder über Bord zu werfen. Er sagte. —— und ich bezweifle nicht, daß er die Wahrheit sprach —— er würde mich lieber über Bord geworfen haben; doch die Majestät des Gesetzes ist zuweilen selbst die Freundin eines Vagabonden wie ich. Aus diese Weise kehrte ich zum Seeleben zurück und lernte genug, um mich auf, Mr. Armadales Jacht nützlich zu machen. Ich machte mehr als eine Reise, in mehr als einem Schiffe, nach mehr als einem Theile der Welt, und ich hätte dieses Leben vielleicht fortsetzen können, wenn es mir möglich gewesen wäre, mir alles und jedes ruhig gefallen zu lassen und mein Temperament zu beherrschen. Ich hatte viel gelernt; doch da ich dies Eine nicht gelernt hatte, mußte ich den letzten Theil meiner letzten Heimfahrt nach Bristol in Eisen zurücklegen; und dort sah ich, der Meuterei gegen einen meiner Vorgesetzten angeklagt, zum ersten Male das Innere eines Gefängnisses Sie haben mich mit außerordentlicher Geduld angehört, Sir, und ich freue mich, Ihnen dafür sagen zu können, daß wir nicht mehr weit von dem Ende meiner Geschichte entfernt sind. Wenn ich nicht irre, so fanden Sie einige Bücher, als Sie in dem Wirthshause in Sommersetshire mein Gepäck durchsuchten?«

Mr. Brock bejahte die Frage.

»Jene Bücher bezeichnen den nächsten Wechsel in meinem Leben, und zwar den letzten bis zu der Zeit, wo ich die Stelle eines Unterlehrers an jener Schule annahm. Meine Gefangenschaft war nicht von langer Dauer. Meine Jugend sprach vielleicht für mich, oder die Magistratsherrn von Bristol zogen möglicherweise den Umstand in Betracht, daß ich schon so lange an Bord des Schiffes in Fesseln gelegen hatte. Wie dem immer sein mochte, als ich wieder in die Welt hinaustrat, war ich eben siebzehn Jahre alt. Ich hatte keine Angehörigen, von denen ich aufgenommen zu werden hoffen durfte; ich hatte keine Heimath. Das Seeleben war nach dem, was ich dabei erfahren, ein Leben, vor dem ich mit Abscheu zurück bebte. So stand ich unter der Menschenmenge auf der Brücke zu Bristol und dachte, was ich nur mit meiner Freiheit anfangen solle, da ich dieselbe jetzt zurückerhalten. Ob in dem Gefängnisse eine Veränderung mit mir vorgegangen war, oder ob ich den Charakterwechsel fühlte, der das herannahende Mannesalter begleitet —— ich weiß es nicht; aber das alte leichtsinnige Vergnügen an dem früheren Vagabondenleben schien gänzlich aus meiner Natur gewichen. In einem fürchterlichen Gefühl der Einsamkeit wanderte ich, da mir vor dem freien Felde graute, bis nach Einbruch der Nacht in den Straßen von Bristol umher. Mit jämmerlichem Neide gegen die, welche in den Häusern wohnten, sah ich, wie in den Erdgeschossen derselben die Kerzen angezündet wurden. Ein Wort des Rathes würde in jenem Augenblicke viel für mich werth gewesen sein. Nun, dasselbe ward mir vergönnt: Ein Constabler befahl mir, weiter zu gehen. Er hatte vollkommen Recht —— was konnte ich wohl anders thun? Ich schaute zum Nachthimmel empor, und dort sah ich meinen alten Freund von mancher Nachtwache auf dem Wasser her —— den Polarstern. »Die Punkte des Compasses sind mir alle einerlei«, dachte ich bei mir; »ich will deiner Richtung nachgehen.« Doch selbst der Stern wollte mir an diesem Abend nicht Gesellschaft leisten. Er verbarg sich hinter einer Wolke und ließ mich im Regen und in der finsterenis; allein. Tastend fand ich den Weg nach einem Karrenschuppen, schlief dort ein und träumte von den alten Zeiten, als ich noch meinem Zigeunerherrn diente und mit den Hunden zusammenlebte. O Gott, was würde ich nicht darum gegeben haben, wenn ich beim Erwachen Tommy’s kleine feuchte Schnauze in meiner Hand gefühlt hätte! Doch warum Verweile ich bei diesen Dingen? Warum eile ich nicht lieber dem Ende zu? Sie sollten mich nicht durch so geduldiges Zuhören dazu ermuthigen, Sir.«

Nachdem ich wieder eine Woche lang, ohne Aussicht auf Hilfe, umhergewandert war, befand ich mich eines Tages in den Straßen von Shrewsbury und stierte in die Fenster eines Buchhändlerladens. Es kam ein alter Mann an die Ladenthür; er schaute um sich und erblickte mich. »Sucht Ihr Arbeit?« frug er mich, »und haltet Ihr Euch nicht zu gut, um es billig zu thun?« Die Aussicht auf Beschäftigung und auf die Gelegenheit, ein Wort mit einem menschlichen Wesen reden zu können, verlockte mich und ich übernahm ein schmutziges Tagewerk in einer Buchhändlerniederlage für einen Schilling. Ich erhielt noch mehr Arbeit dieses Schlages. Nach einer Woche ward ich dazu befördert, den Laden auszukehren und die Fensterläden zu schließen; bald darauf wurden mir die Bücher zum Austragen anvertraut, und als das Vierteljahr zu Ende war und der Ladendiener seine Stelle verließ, erhielt ich dieselbe. »Erstaunliches Glück!« werden Sie sagen; denn hier hatte ich endlich den Weg zu einem Freunde gefunden. Ich hatte den Weg zu einem der unbarmherzigsten Geizhälse in ganz England gefunden und mich durch ein ganz einfaches commercielles Verfahren in der kleinen Welt von Shrewsbury emporgearbeitet, indem ich meine Dienste wohlfeiler gab, als alle meine Mitbewerber. Die Arbeit in der Niederlage war von allen Leuten der Stadt, die gerade beschäftigungslos waren, ausgeschlagen worden —— und ich übernahm dieselbe. Der regelmäßig angestellte Markthelfer nahm seinen armseligen Wochenlohn unter allwöchentlichem Protest in Empfang; ich dagegen begnügte mich mit zwei Schillingen weniger und erhob keine Klage. Der Ladendiener sagte seinem Herrn den Dienst auf, weil er nicht allein zu schlecht besoldet, sondern auch zu schlecht beköstigt wurde. Ich erhielt die Hälfte seines Gehalts und ernährte mich von den spärlichen Brocken, die mir mein Herr zukommen ließ. Noch nie paßten zwei Menschen besser für einander, als jener Buchhändler und ich! Sein einziger großer Lebenszweck ging dahin, Jemand zu finden, der bereit war, seine Arbeit für Hungerlohn zu thun; mein einziger Lebenszweck, Jemanden zu finden, der mir ein Obdach geben wollte. Ohne ein einziges Gefühl mit einander gemein zu haben; ohne daß überhaupt irgendein Gefühl, ob der Feindschaft oder Freundschaft, zwischen uns erwuchs; ohne einander abends an der Haustreppe Gute Nacht, oder morgens am Ladentische Guten Morgen zu wünschen —— lebten wir, von Anfang bis zu Ende einander fremd, zwei Jahre lang zusammen in jenem Hause. Dies war eine traurige Existenz für einen Burschen in meinem Alter, wie? Sie sind ein Geistlicher und Gelehrter und können deshalb gewiß errathen, was mir jenes Leben erträglich machte.«

Mr. Brock erinnerte sich der zerlesenen Bände, die in der Handtasche des Unterlehrers gefunden worden waren. »Die Bücher machten Ihnen dasselbe erträglich«, sagte er.

Die Augen des Armen funkelten in einem neuen Lichte.

»Ja«, sagte er, »die Bücher —— die großmüthigen Freunde, die mir ohne Argwohn entgegenkamen —— die barmherzigen Lehrer, die mich nie mißhandelten! Die einzigen Jahre meines Lebens, auf die ich mit einer Art von Stolz zurückzublicken im Stande bin, waren die, welche ich im Hause des Geizhalses zubrachte. Das einzige unverdorbene Vergnügen, das ich je genossen, ist das, welches ich auf den Bücherbrettern des Geizhalses fand. Früh nnd spät, an den langen Winterabenden und den stillen Sommertagen, trank ich an der Quelle des Wissens, ohne des Trunkes überdrüssig zu werden. Wir hatten wenig Kunden zu bedienen, denn die Bücher waren meistens von der soliden, wissenschaftlichen Sorte. Es ruhten keine Verantwortlichkeiten auf mir, denn die Rechnungsbücher wurden von meinem Herrn geführt und es gingen nur geringe Geldsummen durch meine Hände. Er lernte mich bald hinreichend kennen, um zu wissen, daß er meiner Ehrlichkeit vertrauen und sich auf meine Geduld verlassen dürfe, wie er mich immer behandeln mochte. Der einzige Einblick, den ich in seinen Charakter that, entfernte mich noch mehr von ihm. Er war im Geheimen ein leidenschaftlicher Opiumesser —— in Laudanum förmlich verschwenderisch, obgleich in allem Uebrigen ein Geizhals. Er gestand mir diese Schwäche niemals ein, und ich sagte ihm nie, daß ich dieselbe entdeckt habe. Er genoß sein Vergnügen allein, und ich genoß das meinige ebenso. Eine Woche nach der andern, einen Monat nach dem andern saßen wir da, ohne je ein freundschaftliches Wort mit einander auszutauschen; ich allein mit meinem Buche an dem Ladentische, er allein mit seinem Rechnungsbuche in seinem Privatzimmer, wo er mir durch das schmutzige Fenster der Glasthür undeutlich sichtbar war, wie er zuweilen stundenlang über seinen Zahlen brütete oder regungslos in der Verzückung des Opiumrausches dasaß. Die Zeit verging und brachte keine Veränderungen für uns mit sich; die Jahreszeiten zweier Jahre wechselten und ließen uns unverändert. Eines Morgens, zu Anfange des dritten Jahres, erschien mein Herr nicht wie gewöhnlich, um mir mein Frühstück zuzumessen. Ich ging auf sein Zimmer und fand ihn hilflos im Bette. Er weigerte sich, mir die Schlüssel zum Vorrathschranke anzuvertrauen oder mich einen Doctor holen zu lassen. Ich kaufte mir ein Stückchen Brod und kehrte zu meinen Büchern zurück, und zwar ohne mehr für ihn zu fühlen —— dies gestehe ich offen —— als er unter ähnlichen Umständen für mich gefühlt haben würde. Ein paar Stunden später ward ich von einem gelegentlichen Kunden, einem Arzte, der seine Praxis aufgegeben, in meiner Lectüre gestört. Er ging in das Zimmer meines Herrn hinauf, und ich war froh, seiner los zu werden, um zu meinen Büchern zurückzukehren. Er kam wieder herunter und unterbrach mich nochmals. »Ihr gefallt mir nicht besonders, mein Bursche«, sagte er zu mir; »aber ich halte es für meine Pflicht, Euch zu sagen, daß Ihr bald für Euch selber zu sorgen genöthigt sein werdet. Ihr seid nicht sehr beliebt im Orte und werdet deshalb vielleicht einige Mühe haben, eine neue Stelle zu finden. Laßt Euch daher ein schriftliches Zeugniß von Eurem Herrn geben, ehe es zu spät ist.« Er sprach mit Kälte. Ich dankte ihm meinerseits ebenfalls kalt und verschaffte mir noch an demselben Tage das Zeugnis. Glauben Sie etwa, mein Herr habe mir dasselbe umsonst gegeben? Er dachte nicht daran! Noch auf dem Sterbebette handelte er mit mir. Er war mir den Gehalt für einen Monat schuldig und wollte keine Zeile von dem Zeugnisse schreiben, bis ich ihm verspräche, jene Schuld nicht von ihm zu fordern. Drei Tage später starb er, nachdem er bis zuletzt die Seligkeit genossen, seinen Ladendiener zu übervortheilen. »Aha!« flüsterte er, als der Arzt mich zu ihm gebracht hatte, damit ich Abschied von ihm nähme; »ich hab’ Euch wohlfeil gehabt!« War wohl Ozias Midwinters Stock so grausam wie dies? Mir scheint es nicht!

Nun, da stand ich wieder draußen in der Welt, doch diesmal sicherlich mit besseren Aussichten. Ich hatte auf eigene Hand Lateinisch, Griechisch und Deutsch gelernt und hatte ein schriftliches Zeugniß aufzuweisen, das zu meinen Gunsten sprach. Es nützte alles nichts! Der Arzt hatte vollkommen Recht —— ich war nicht beliebt im Orte. Die niederen Klassen verachteten mich, weil ich dem Geizhalse für seinen schmalen Lohn gedient hatte. Was die besseren Klassen betrifft, so ging es mir mit ihnen —— Gott mag wissen, wie es kam wie es mir, Mr. Armadale ausgenommen, stets mit allen Leuten ergangen ist —— ich machte im ersten Augenblicke einen unangenehmen Eindruck, und dies konnte ich später nicht wieder gut machen. Es ist höchst wahrscheinlich, daß ich alle meine Ersparnisse, mein armseliges kleines goldenes Erzeugniß zweier kümmerlicher Jahre ausgegeben hätte, wenn ich nicht in einem Localblatte eine Schullehrerstelle angezeigt gefunden hätte. Die herzlosen Bedingungen derselben ermuthigten mich, mich um die Stelle zu bewerben, und ich erhielt dieselbe. Wie es mir in der Schule erging und was dann ferner aus mir wurde, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Der Faden meiner Erzählung ist völlig abgewunden; mein Vagabondenleben liegt, alles Geheimnisses entkleidet, vor Ihnen, und Sie wissen endlich das Schlimmste von mir.«



Kapiteltrenner

Elftes Kapitel.

Den letzten Worten der Erzählung Midwinter’s die wir im vorigen Kapitel berichtet haben, folgte ein kurzes Schweigen. Dann verließ Midwinter den Fenstersitz und kam mit dem Briefe aus Wildbad in der Hand an den Tisch zurück.

»Das Bekenntniß meines Vaters hat Ihnen gesagt, wer ich bin, und das meinige, welch ein Leben ich geführt habe«, sagte er zu Mr. Brock, ohne den Sitz anzunehmen, den der Pfarrer ihm mit der Hand andeutete. »Als ich um Erlaubniß bat, in dies Zimmer kommen zu dürfen, versprach ich, mir durch ein offenes Geständniß die Brust zu erleichtern. Habe ich Wort gehalten?«

»Es unterliegt dies keinem Zweifel«, erwiderte Mr. Brock »Sie haben Ihr Anrecht an mein Zutrauen und meine Theilnahme dargethan, und ich würde in der That ein gefühlloser Mensch sein, wenn ich, nachdem ich die Geschichte Ihrer Jugend gehört, für Allan’s Freund nicht etwas von Allan’s Freundschaft fühlte.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Midwinter einfach und ernst. Dann setzte er sich zum ersten Male Mr. Brock gegenüber an den Tisch.

»In wenigen Stunden werden Sie diesen Ort verlassen haben«, fuhr er fort. »Falls ich dazu beitragen kann, daß Sie denselben mit beruhigtem Gemüthe verlassen, so will ich dies thun. Wir haben noch mehr mit einander zu sprechen; meine zukünftigen Beziehungen zu Mr. Armadale sind noch nicht festgestellt worden, und die ernste Frage, die in dem Briefe meines Vaters: aufgeworfen wird, ist noch nicht von uns in Erwägung gezogen worden.«

Er schwieg und blickte mit einer momentanen Ungeduld auf die im Morgengrauen noch immer auf dem Tische brennende Kerze. Der Kampf, mit vollkommener Fassung zu sprechen und seine eigenen Gefühle in stoischem Gleichmuth außer Betracht zu lassen, wurde ihm offenbar immer schwerer und schwerer.

»Sie werden vielleicht schneller zu einer Entscheidung kommen«, fuhr er fort, »wenn ich Ihnen erzähle, in welcher Weise ich, nachdem ich diesen Brief gelesen und mich hinreichend gesammelt hatte, um überhaupt wieder denken zu können, in Bezug auf die Namensgemeinschaft zwischen mir und Mr. Armadale gegen Letzteren zu handeln beschloß.« Er hielt inne und warf abermals einen ungeduldigen Blick auf die Kerze. »Wollen Sie die seltsame Grille eines seltsamen Menschen entschuldigen?« frug er mit einem matten Lächeln. »Ich möchte das Licht auslöschen —— ich möchte von dem neuen Gegenstande bei neuem Lichte redete.«

Bei diesen Worten löschte er die Kerze aus und ließ das erste zarte Morgenlicht ins Zimmer strömen.

»Ich muß Sie nochmals um Ihre Geduld bitten«, fuhr er fort, »indem ich wieder auf einen Augenblick zu mir selbst und meinen Verhältnissen zurückkehre. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß mein Stiefvater, einige Jahre nachdem ich die Schule in Schottland verlassen, Versuche machte, mich wiederzufinden. Er that diesen Schritt nicht etwa aus persönlicher Besorgniß oder Theilnahme für mich, sondern ganz einfach als Agent der Administratoren des Vermögens meines Vaters. Diese hatten, zur Zeit der Emancipation der Sklaven und des Ruins aller westindischen Besitzungen nach ihrem besten Dafürhalten die Güter auf der Insel Barbadoes um den Preis verkauft, den sie eben für dieselben erhalten konnten. Nachdem sie den Erlös angelegt, waren sie verpflichtet, eine jährliche Summe für meine Erziehung auszusetzen, und diese Verantwortlichkeit nöthigte sie zu dem Versuche, meine Spur zu entdecken —— der, wie Sie bereits wissen, ein fruchtloser war. Ein wenig später wurde ich, wie ich seitdem erfahren habe, durch eine Zeitungsannonce die mir niemals zu Gesicht gekommen ist, aufgerufen, und noch später, als ich einundzwanzig Jahre alt war, erschien eine zweite Annonce in der Zeitung, welche ich selbst gelesen habe und die eine Belohnung für den Nachweis meines Todes bot. Falls ich am Leben war, hatte ich, sobald ich mündig geworden, Ansprüche an die Hälfte des Erlöses aus den verkauften Gütern; war ich aber todt, so fiel das Ganze meiner Mutter zu. Ich ging zu den Advokaten und erfuhr von diesen, was ich Ihnen soeben mitgetheilt habe. Nach einigen Schwierigkeiten, meine Identität zu beweisen, und nach einer Zusammenkunft mit meinem Stiefvater und einem Gruße von meiner Mutter, der uns hoffnungsloser denn je von einander getrennt hat —— wurden meine Rechte anerkannt, und das Geld ist jetzt für mich unter dem Namen, der wirklich der meinige ist, in Staatspapieren angelegt.«

Mr. Brock rückte begierig näher an den Tisch. Er sah, daß der Sprechende sich jetzt dem Ende näherte.

»Zweimal des Jahres «, fuhr Midwinter fort, »bin ich genöthigt, meinen eignen Namen zu unterzeichnen, um mein Einkommen zu erhalten. Zu allen andern Zeiten und unter allen andern Umständen darf ich unter jedem mir beliebigen Namen meine Identität verbergen. Mr. Armadale machte meine Bekanntschaft als Ozias Midwinter und als Ozias Midwinter soll er mich bis zum letzten Tage meines Lebens kennen. Welcher Art der Erfolg dieser Unterredung immer sei —— ob ich Ihr Vertrauen gewinne oder verliere —— so dürfen Sie sich wenigstens einer Sache versichert halten: Ihr Zögling soll nie das gräßliche Geheimniß erfahren, welches ich Ihnen anvertraut habe. Dies ist kein außerordentlicher Entschluß, denn es kostet mich, wie Sie bereits wissen, keine besondere Ueberwindung, meinen angenommenen Namen beizubehalten. Andrerseits liegt in diesem Verfahren durchaus nichts Ruhm würdiges; dasselbe ist die ganz natürliche Folge der Dankbarkeit eines erkenntlichen Mannes. Ueberlegen Sie sich die Verhältnisse, Sir, und lassen Sie mein persönliches Grauen vor einer Offenbarung derselben gegen Mr. Armadale außer Frage. Falls die Geschichte der Namen je erzählt wird, so kann dieselbe nicht auf die Enthüllung des Verbrechens meines Vaters beschränkt bleiben; es würde die Mittheilung der Geschichte von Mrs. Armadales Heirath bedingen. Ich habe ihren Sohn von ihr reden hören; ich weiß, wie sehr er ihr Andenken liebt. So wahr Gott mein Zeuge ist, dasselbe soll ihm durch mich nie minder theuer gemacht werden!«

Ungeachtet der Einfachheit, mit der diese Worte gesprochen wurden, berührten dieselben doch die zartesten Saiten in der Natur des Pfarrers; sie führten seine Gedanken an Mrs. Armadale’s Sterbelager zurück. Dort saß der Mann, vor dem sie ihn im Interesse ihres Sohnes gewarnt hatte, ohne ihn zu kennen —— und dieser Mann hatte aus freien Stücken die Verpflichtung auf sich genommen, um ihres Sohnes willen ihr Geheimniß zu achten! Die Erinnerung an seine eigenen früheren Bemühungen der Freundschaft ein Ende zu machen, aus der dieser Entschluß entsprang, erhob sich vor seinem Geiste und machte Mr. Brock bittere Vorwürfe. Er reichte Midwinter zum ersten Male die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er mit Wärme, »in ihrem Namen und im Namen ihres Sohnes.«

Midwinter legte, ohne etwas zu erwidern, das Bekenntniß offen auf den Tisch.

»Ich glaube alles gesagt zu haben, was zu sagen meine Pflicht war, ehe ich zu den Betrachtungen in Bezug auf diesen Brief überging«, fuhr er fort. »Was Ihnen in meinem Benehmen gegen Sie und Mr. Armadale seltsam erschienen ist, wird sich jetzt leicht von selbst erklären. Sie werden leicht begreifen, daß ich mich der Enthüllung unserer Namensgleichheit nur deshalb enthielt, weil ich meiner Stellung nicht schaden mochte —— wenigstens in Ihrer Meinung, wenn auch nicht in der seinigen —— indem ich bekannte, daß ich mich unter einem angenommenen Namen bei Ihnen eingeführt. Und nach allem, was Sie soeben über mein Vagabondenleben und meinen niedrigen Umgang erfahren haben, werden Sie sich kaum über das hartnäckige Schweigen verwundern, das ich zu einer Zeit über mich selber bewahrte, wo ich noch nicht die Verantwortlichkeit fühlte, die meines Vaters Bekenntniß mir auferlegt hat. Wir können, falls Sie es wünschen, ein andermal zu diesen unbedeutenden persönlichen Angelegenheiten zurückkehren; dieselben dürfen uns nicht von den wichtigeren Dingen abhalten, über die wir entscheiden müssen, ehe Sie diesen Ort verlassen. Wir müssen jetzt ——« seine Stimme bebte, und er wandte plötzlich das Gesicht dem Fenster zu, sodaß der Pfarrer dasselbe nicht sehen konnte. »Wir müssen jetzt«, wiederholte er, und seine Hand, die den Brief hielt, zitterte sichtlich, »zu dem Morde an Bord des Holzschiffes und der Warnung kommen, die mir aus dem Grabe meines Vaters gefolgt ist.«

Leise, wie wenn er fürchtete, daß dieselben bis zu Allan dringen könnten, der im anstoßenden Zimmer schlief —— las er die letzten fürchterlichen Worte, welche die Feder des Schotten zu Wildbad niedergeschrieben hatte, wie dieselben von den Lippen seines Vaters gekommen waren.

«Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen ihm und Dir ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem falschen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen; nie, nie, nie!«

Nachdem er diese Zeilen gelesen, schob er, ohne aufzublicken, das Manuskript von sich. Die unglückselige Zurückhaltung, die er vor wenigen Minuten so glücklich zu überwinden angefangen, bemächtigte sich seiner wieder. Seine Augen wurden abermals unstät und seine Stimme sank. Ein Fremder, der seine Geschichte gehört und ihn jetzt gesehen hätte, würde gesagt haben, sein Blick sei falsch, sein Wesen schlecht; er sei Zoll für Zoll der echte Sohn seines Vaters.

»Ich wünsche eine Frage an Sie zu richten«, sagte Mr. Brock, seinerseits das Schweigen brechend. »Warum haben Sie soeben jene Stelle in dem Briefe Ihres Vaters gelesen?«

»Um mich zu zwingen, die Wahrheit zu reden«, war die Antwort. »Ehe Sie mir gestatten, Mr. Armadale’s Freund zu sein, müssen Sie wissen, wie viel mir von meinem Vater anhaftet. Ich erhielt meinen Brief gestern früh, und von einer geheimen Ahnung ergriffen, ging ich allein nach dem Meeresstrand hinunter, ehe ich das Siegel erbrach. Glauben Sie, daß die Todten in die Welt zurückkehren können, in der sie einst gelebt haben? Ich glaube, daß mein Vater in diesem hellen Morgenlichte, beim Glanze jenes funkelnden Sonnenscheins und dem Gebrüll der freudig rauschenden Meereswogen zu mir kam und mich beobachtete, während ich las. Als ich zu den Worten kam, die ich Ihnen soeben vorlas, und als ich wußte, daß das Ende, welches er in seiner Sterbestunde befürchtet hatte, wirklich gekommen war —— da fühlte ich, wie mich dasselbe Grausen beschlich, das auch ihn in seinen letzten Augenblicken ergriffen hatte. Ich kämpfte gegen mich selber, wie er es von mir verlangte, und versuchte alles zu sein, was meiner besseren Natur am meisten zuwider war; ich versuchte, ohne dem Mitleid Raum zu geben, darüber nachzudenken, auf welchem Wege ich es dahin bringen könnte, daß Meere und Berge mich von dem Manne trennten, der meinen Namen führt. Es vergingen viele Stunden, ehe ich es über mich vermochte, zurückzukehren und mich der Gefahr eines Begegnens mit Allan Armadale in diesem Hause auszusetzen. Als ich endlich zurückkam und er mir auf der Treppe begegnete, war mirs, als blickte ich ihm ins Gesicht, wie mein Vater dem seinigen ins Gesicht geblickt, als die Kajütenthür sich zwischen ihnen geschlossen hatte. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse, Sir«, sagen Sie, wenn Sie wollen, daß ich meines Vaters heidnischen Aberglauben an ein Schicksal geerbt habe. Ich will dies nicht bestreiten; ich will es nicht leugnen, daß während des ganzen gestrigen Tages sein Aberglaube auch der meinige war. Die Nacht war hereingebrochen, ehe ich den Weg zu ruhigeren und besseren Gedanken finden konnte. Aber ich fand denselben endlich. Sie dürfen es mir als etwas anrechnen, daß ich mich endlich von dem Einflusse dieses fürchterlichen Briefes freimachte. Wissen Sie, was mir dazu behilflich war?«

»Vernunftgründe?«

»Mit Vernunftgründen vermag ich nichts wider meine Gefühle auszurichten.«

»Beruhigten Sie Ihr Gemüth durch Gebet?«

»Ich war nicht in einem Zustande, um zu beten.«

»Und dennoch führte Sie etwas zu dem besseren Gefühle und der richtigeren Ansicht?«

»Ja —— etwas.«

»Was war es?«

»Meine Liebe zu Allan Armadale.«

Indem er diese Antwort gab, warf er einen zweifelhaften, fast furchtsamen Blick auf Mr. Brock und kehrte, plötzlich vom Tische aufstehend, an den Fenstersitz zurück.

»Habe ich nicht das Recht, in dieser Weise von ihm zu reden«, frug er, dem Pfarrer sein Gesicht verbergend. »Kenne ich ihn noch nicht lange genug? Habe ich noch nicht genug für ihn gethan? Erinnern Sie sich, welcher Art meine Erinnerungen von andern Leuten waren, als er mir zuerst seine Hand entgegenstreckte, als ich zum ersten Male in meinem Krankenzimmer seine Stimme hörte? Welcher Art waren von meiner Kindheit an meine Erfahrungen in Bezug auf Fremde gewesen? Ich hatte dieselben nur als Menschen kennen gelernt, die ihre Hände erhoben, um mir zu drohen oder mich zu schlagen. Aber seine Hand glättete das Kissen unter meinem Haupte und klopfte mich sanft auf die Schulter und reichte mir Speise und Trank. Was waren meine Erfahrungen von anderer Leute Stimmen, als ich selbst zum Manne herangewachsen war? Ich hatte nur Stimmen gekannt, welche meiner spotteten, die mir fluchten, Stimmen, die schmachvolles Mißtrauen gegen mich ausstreuten. Seine Stimme dagegen sprach zu mir: »Frohen Muth, Midwinter! Wir wollen Sie bald wieder auf die Beine bringen. In einer Woche werden Sie kräftig genug sein, um in unsern hübschen Alleen von Sommersetshire mit mir spazieren zu fahren.«

Erinnern Sie sich des Zigeunerprügels; erinnern Sie sich jener Teufel, die über mich lachten, als ich, meinen kleinen todten Hund im Arme tragend, an ihrem Fenster vorüberging; erinnern Sie sich des Herrn, der mich auf seinem Sterbebette um meinen Monatslohn betrog —— und dann fragen Sie ihr eigenes Herz, ob der elende Wicht, den Allan Armadale als seinen Freund und Seinesgleichen behandelt, zu viel gesagt hat, wenn er sagt, daß er ihn liebt? Ich liebe ihn! Es muß heraus; ich kann es nicht unterdrücken. Ich liebe den Boden, den sein Fuß berührt; ich würde mein Leben hingeben —— ja, dieses Leben, das mir jetzt kostbar ist, seitdem seine Güte dasselbe glücklich gemacht hat —— ich sage Ihnen, ich würde mein Leben ——«

Die letzten Worte erstarben auf seinen Lippen; eine heftige krampfhafte Leidenschaft überwältigte ihn. Er streckte seine Hand mit einer wilden, flehenden Gebärde gegen Mr. Brock aus; sein Haupt sank auf das Fensterbrett und er brach in Thränen aus.

Doch die harte Disciplin seines Lebens machte sich selbst hier geltend. Er erwartete keine Theilnahme; er rechnete auf keine mitleidsvolle menschliche Achtung für seine menschliche Schwachheit Die grausame Nothwendigkeit der Selbstbeherrschung war seinem Geiste gegenwärtig, während ihm die Thränen über die Wangen strömten. »Gestatten Sie mir eine Minute«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ich werde es in einer Minute überwunden haben und will Sie nicht wieder in dieser Weise betrüben.«

Seinem Entschlusse getreu, hatte er es in der That in einer Minute überwunden; und dann vermochte er mit Fassung weiter zu reden.

»Wir wollen zu jenen besseren Gedanken zurückkehren, Sir, die mich gestern Abend nach Ihrem Zimmer führten«, fuhr er fort. »Ich kann nur wiederholen, daß ich die Gewalt, mit welcher dieser Brief mich gepackt hatte, nimmer abzuschütteln im Stande gewesen wäre, wenn ich nicht Allan Armadale mit der ganzen Bruderliebe geliebt hätte, deren meine Natur fähig ist. Ich sprach zu mir: »Wenn der Gedanke, ihn zu verlassen, mir das Herz bricht, so ist dieser Gedanke ein unrechter!« Dies war vor einigen Stunden, und ich bin noch immer derselben Ansicht Ich kann und will nicht glauben, daß eine Freundschaft, die lediglich der Güte auf der einen Seite und der Dankbarkeit auf der andern ihren Ursprung verdankt, zu einem bösen Ende zu führen bestimmt ist. Ich unterschätze die seltsamen Umstände, die uns zu Namensbrüdern gemacht haben, nicht; auch nicht die seltsamen Umstände, die uns zusammengeführt und einander werth gemacht haben; noch die seltsamen Dinge, die sich seitdem für uns beide ereignet haben. Dieselben mögen sich in meinen Gedanken alle an einander reihen, und sie thun dies; aber sie sollen mich nicht abschrecken. Ich will eben nicht glauben, daß diese Ereignisse eine Fügung des Schicksals und ein schlechtes Ende zu nehmen bestimmt sind, sondern vielmehr, daß sie eine Fügung Gottes sind und zum Guten führen sollen. Entscheiden Sie, der Sie ein Geistlicher sind, zwischen dem todten Vater, dessen Worte in diesen Blättern stehen, und dem lebenden Sohne, dessen Worte Sie jetzt von seinen Lippen hören! Was bin ich, jetzt, da die beiden Allan Armadale in einer zweiten Generation zusammengeführt worden sind? Ein Werkzeug in den Händen des blinden Schicksals oder ein Werkzeug in den Händen der Vorsehung? Welches ist meine Ausgabe, jetzt da ich mit dem Sohne des Mannes, den mein Vater tödtete, dieselbe. Luft athme und dasselbe Obdach theils? Soll ich das Verbrechen meines Vaters fortsetzen, indem ich ihm tödtliches Unrecht zufüge, oder soll ich das Verbrechen meines Vaters wieder gut machen, indem ich ihm mein ganzes Leben widme? Diese letztere Ueberzeugung ist die meinige und soll die meinige bleiben, was sich immer ereignen möge. In dieser festen bessern Ueberzeugung bin ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen das Geheimniß meines Vaters anzuvertrauen und Ihnen die elende Geschichte meines Lebens mitzutheilen. In dieser festen besseren Ueberzeugung kann ich entschlossen mit der offenen Frage vor Sie hintreten, welche sich auf den Endzweck meiner ganzen Unterredung mit Ihnen bezieht.

»Und diese Frage ist —?« Ihr Zögling befindet sich beim Eintritt in seine neuen Lebensverhältnisse in einer merkwürdigen Lage: Er ist ohne Freunde. Sein größtes Bedürfniß ist das eines Gefährten seines Alters, auf den er sich verlassen kann. Der Augenblick ist da, Sir, zu entscheiden, ob ich dieser Gefährte sein soll oder nicht. Sagen Sie mir offen, ob Sie nach allem, was Sie über Ozias Midwinter gehört haben, ihm trauen und ihm gestatten wollen, Allan Armadale’s Freund zu sein?«

Mr. Brock beantwortete diese furchtlos an ihn gerichtete offene Frage mit derselben furchtlosen Offenheit.

»Ich glaube, daß Sie Allan lieben«, erwiderte er; »ich glaube auch, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben. Ein Mann, der einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat, ist ein Mann, dem ich mein Vertrauen schuldig bin. Ich vertraue Ihnen.«

Midwinter sprang auf und sein braunes Gesicht erglühte tief; seine Augen waren endlich klar und fest auf das Gesicht des Pfarrers geheftet.»Ein Licht!« rief er aus, indem er den Brief seines Vaters Blatt für Blatt von dem Faden riß, der das Manuskript zusammenhielt. »Lassen Sie uns das letzte Glied der Kette vernichten, die uns mit der fürchterlichen Vergangenheit verbindet! Lassen Sie uns, ehe wir von einander scheiden, aus diesem Bekenntnisse einen Aschenhaufen machen!«

»Warten Sie!« sagte Mr. Brock »Es giebt Gründe, dasselbe noch einmal durchzusehen, ehe Sie es verbrennen.«

Midwinter ließ die abgerissenen Blätter fallen. Mr. Brock nahm dieselben auf und ordnete sie sorgfältig bis zu der letzten Seite.

»Ich theile Ihre Ansicht über den Aberglauben Ihres Vaters vollkommen«, sagte der Pfarrer. »Doch steht hier eine Warnung, die Sie um Allan’s und Ihrer selbst willen wohl beachten sollten. Das letzte Glied der Verbindungskette zwischen uns und der Vergangenheit ist noch nicht zerstört, wenn Sie diese Blätter verbrannt haben. Eine der Personen in dieser Geschichte von Falschheit und Mord ist noch nicht todt. Lesen Sie diese Worte!«

Er schob das Blatt über den Tisch hin, während er mit dem Finger eine Stelle aus demselben bezeichnete. Midwinter’s Gemüthsbewegung ließ ihn ein Versehen machen und er las: »Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls die Wittwe noch am Leben ist.«

»Nicht jene Stelle«, sagte der Pfarrer. »Die nächste!«

Midwinter las dieselbe: »Meide das Mädchen, deren gottlose Hand den Pfad zu dieser Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist.«

»Das Mädchen und ihre Herrin«, sagte Mr. Brock, »schieden zur Zeit der Heirath von einander. Das Mädchen und ihre Herrin kamen voriges Jahr in Mrs. Armadale’s Wohnung in Sommersetshire wieder zusammen. Ich selbst begegnete dem Mädchen im Dorfe, und ich weiß, daß ihr Besuch Mrs. Armadale’s Tod beschleunigte. Warten Sie ein wenig und fassen Sie sich. Ich sehe, ich habe Sie überrascht.«

Er wartete, wie ihm geheißen worden, während die frohe Gluth in seinem Gesichte sich in eine graue Blässe verwandelte und das Licht in seinen klaren braunen Augen langsam erlosch. Das, was der Pfarrer gesagt, hatte nicht blos einen flüchtigen Eindruck auf ihn gemacht; es lag etwas mehr als Zweifel, es lag Bestürzung in seinen Zügen, wie er in Gedanken versunken dasaß. Kehrte etwa der Kampf vom vergangenen Abend schon wieder zurück? Fühlte er sich wieder von dem Grausen seines ererbten Aberglaubens beschlichen?

»Können Sie mir dazu behilflich sein, daß ich jenem Frauenzimmer gegenüber auf meiner Hut bin?« frug er nach einem langen Schweigen. »Können Sie mir den Namen dieser Person sagen?«

»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich von Mrs. Armadale erfahren habe«, war die Antwort. »Die Person gestand, daß sie sich, seit sie und ihre Herrin einander zuletzt gesehen, verheirathet habe. Doch ließ sie sich weiter kein Wort über ihr vergangenes Leben entschlüpfen. Sie kam zu Mrs. Armadale, um sie unter dem Vorwand der Bedürftigkeit um Geld zu bitten. Sie erhielt das Geld und verließ das Haus, nachdem sie sich entschieden geweigert hatte, ihren jetzigen Namen anzugeben.«

»Sie haben sie selbst im Dorfe gesehen. Können Sie mir ihr Gesicht beschreiben?«

»Nein; denn sie war dicht verschleiert.«

»Aber Sie können das beschreiben, was Sie an ihr sahen?«

»Das versteht sich. Ich sah, als sie zu mir herankam, daß ihre Bewegungen auffallend anmuthig und ihre Gestalt schön und etwas über mittlerer Größe war. Als sie mich anredete und um den Weg nach Mrs. Armadales Hause fragte, bemerkte ich, daß ihre Manieren die einer gebildeten Dame waren und daß ihre Stimme etwas auffallend Sanftes und Einnehmendes hatte. Schließlich erinnerte ich mich später, daß sie einen dichten schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarz seidenes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl trug. Ich fühle vollkommen, wie wichtig es für Sie ist, bessere Auskunft zu erlangen, um sie identificiren zu können. Unglücklicherweise aber ——«

Er hielt inne. Midwinter beugte sich eifrig über den Tisch und legte plötzlich seine Hand auf den Arm des Pfarrers.

»Ist es möglich, daß Sie die Frau kennen?« frug Mr. Brock, erstaunt über die plötzliche Veränderung in seinem Wesen.

»Nein.«

»Was habe ich gesagt, das Sie so bewegt hat!«

»Erinnern Sie sich der Frau, die sich von dem Flußdampfboote ins Wasser stürzte?« fragte der Andere; »der Frau, welche die Ursache jener Reihe von Todesfällen war, infolge deren Allan Armadale die Güter von Thorpe-Ambrose zufielen?«

»Ich erinnere mich der Beschreibung, welche die Polizeiberichte von ihr gaben«, antwortete der Pfarrer.

»Jene Frau«, fuhr Midwinter fort, »bewegte sich anmuthig und besaß eine schöne Gestalt; jene Frau trug einen schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarzes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl ——« Er schwieg, ließ Mr. Brocks Arm los und kehrte plötzlich zu seinem Sitze zurück. »Kann sie dieselbe sein?« sprach er flüsternd zu sich selber. »Giebt es wirklich ein Verhängnis das den Menschen im Dunkeln verfolgt? Und verfolgt dasselbe uns in den Schritten jenes Weibes?«

War diese Muthmaßung eine richtige, so mußte das eine Ereigniß in der Vergangenheit, welches mit den anderen, ihm vorausgegangenen, anscheinend durchaus in gar keiner Verbindung gestanden, das einzige fehlende Glied sein, welches die Kette vollständig machte. Mr. Brocks gesunder, einfacher Sinn wies diese außerordentliche Folgerung instinctmäßig zurück. Er sah Midwinter mit einem mitleidsvollen Lächeln an.

»Mein junger Freund«, sagte er mit gütiger Stimme; »haben Sie sich wohl so vollkommen allen Aberglaubens entschlagen, wie Sie glauben? Ist das, was Sie soeben gesagt haben, wohl jenes besseren Entschlusses würdig, den Sie gestern Abend gefaßt haben?«

Midwinter ließ den Kopf auf die Brust sinken; es verbreitete sich eine schnelle Röthe über sein Gesicht und er seufzte bitterlich.

»Sie fangen an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln an«, sagte er. »Ich kann Sie nicht dafür tadeln.«

»Ich glaube noch so fest wie je an Ihre Aufrichtigkeit«, erwiderte Mr. Brock. »Nur bezweifle ich,ob Sie die schwachen Stellen in Ihrer Natur so stark befestigt haben, wie Sie selber es annehmen. Es hat schon Mancher in dem Kampfe mit sich selbst weit häufigere Niederlagen erlitten als Sie, und dennoch zuletzt den Sieg davongetragen. Ich tadele Sie nicht; ich mißtraue Ihnen nicht. Ich erwähne bloß dessen, was sich ereignet hat, um Sie vor sich selbst zu Warnen. Kommen Sie, kommen Sie! Nehmen Sie Ihren eigenen vortrefflichen Verstand zu Hilfe, und Sie werden bald mit mir übereinstimmen, daß wirklich kein Beweis vorliegt, der den Argwohn rechtfertigt, daß die Frau, die ich in Sommersetshire sah, und die Frau, welche in London einen Selbstmord versuchte, eine und dieselbe Person sind. Braucht ein alter Mann wie. ich einen jungen Mann daran zu erinnern, daß es in England Tausende von Frauen mit schönen Gestalten giebt —— Tausende von Frauen, die einfach schwarze Seide und gewirkte Shawls tragen?«

Midwinter fing die Idee begierig auf; zu begierig, wie ein schärferer Beurtheiler der Menschen, als Mr. Brock war, vielleicht gedacht haben würde.

»Sie haben vollkommen Recht, Sir«, sagte er, »und ich Unrecht. Zehntausende von Frauen entsprechen jener Beschreibung wie Sie sagen. Ich habe mit meinen müßigen Grillen die Zeit vergeudet, die ich zum sorgfältigen Sammeln von Thatsachen hätte verwenden sollen. Falls diese Frau jemals den Weg zu Allan zu finden versucht, muß ich darauf vorbereitet sein, sie hieran zu hindern.« Er fing hastig zwischen den Blättern des Manuscripts zu suchen an, welche auf dem Tische zerstreut lagen, hielt bei einem derselben an und heftete aufmerksam die Blicke auf die darauf geschriebenen Worte. »Dies verhilft mir zu etwas Positivem«, fuhr er fort; »es klärt mich über ihr Alter auf. Sie war zur Zeit von Mrs. Armadale’s Heirath zwölf Jahre alt; fügen wir ein Jahr hinzu, so macht dies dreizehn; fügen wir dann Allan’s Alter (zweiundzwanzig Jahre) hinzu, so muß sie jetzt eine Frau von fünfunddreißig Jahren sein. Ich kenne ihr Alter und weiß auch, daß sie ihre Gründe hat, um über ihr eheliches Leben zu schweigen. Dies ist etwas für den Anfang und es mag mit der Zeit zu Mehrerem führen.« Er sah abermals mit erheitertem Gesicht zu Mr. Brock empor. »Bin ich jetzt auf dem rechten Wege, Sir? Thue ich mein Möglichstes, um von der Warnung zu profitieren, die Sie so gütig waren mir zu ertheilen?«

»Sie rechtfertigen Ihr eigenes besseres Urtheil«, erwiderte der Pfarrer, um ihn zu ermuthigen, daß er seiner Einbildungskraft nicht die Zügel schießen lasse. »Sie bahnen sich den Weg zu einem glücklicheren Leben.«

»Meinen Sie das?« sagte der Andere gedankenvoll. Er suchte nochmals unter den Papieren nach und hielt bei einem andern der zerstreuten Blätter inne.

»Das Schiff!« rief er plötzlich aus, indem er abermals die Farbe wechselte und sein Wesen sich augenblicklich veränderte.

»Welches Schiff?« frug der Pfarrer.

»Das Schiff, auf welchem die That geschah«, erwiderte Midwinter mit den ersten Anzeichen der Ungeduld; »das Schiff, auf dem die mörderische Hand meines Vaters den Schlüssel in der Kajütenthür umdrehte.«

»Was soll es damit?« frug Mr. Brock.

Er schien die Frage nicht zu hören; seine Augen waren begierig auf die Zeilen geheftet, die er zu lesen beschäftigt war.

»Ein französisches Schiff, das zum Holzhandel verwendet wurde«, sagte er, zu sich selber redend; »ein französisches Schiff, welches La Gráce de Dieu hieß. Wäre der Glaube meines Vaters begründet gewesen; hätte das Verhängnis; mich Schritt für Schritt vom Grabe meines Vaters an verfolgt, so würde ich auf einer oder der andern meiner Fahrten auf jenes Schiff gestoßen sein.« Er schaute abermals zu Mr. Brock auf. »Ich bin mir dessen jetzt völlig gewiß«, sagte er.»Jene beiden Frauen sind nicht eine und dieselbe Person.«

Mr. Brock schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich, daß Sie zu diesem Schlusse gekommen sind«, sagte er; »aber ich wollte, Sie wären auf einem andern Wege zu demselben gelangt.«

Midwinter sprang Ungestüm von seinem Sitze auf, ergriff mit beiden Händen die Blätter des Manuscripts und warf dieselben in den leeren Kamin.

»Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich die Blätter verbrennen!« rief er. »Solange noch eine Seite davon vorhanden ist, werde ich dieselben zu lesen fortfahren. Und solange ich lese, behält mein Vater wider meinen Willen die Oberhand über mich!«

Mr. Brock wies auf die Zündhölzchenschachtel. Im nächsten Augenblicke war das Bekenntniß ein Raub der Flammen. Als das Feuer das letzte Stückchen Papier verzehrt hatte, athmete Midwinter tief auf. Dann rief er mit einer fieberhaften Fröhlichkeit. »Ich darf mit Macbeth sagen: »Jetzt, da es geschehen, bin ich wieder ein Mann!« Sie sehen ermüdet aus, Sir, und dies ist nicht zum Verwundern«, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. »Ich habe Sie zu lange von Ihrer Nachtruhe abgehalten —— ich will Sie nicht länger stören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich mich dessen erinnern werde, was Sie mir gesagt haben; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich zwischen Allan und jeden Feind stellen werde, der ihm nahe kommt, sei derselbe Mann oder Weib. Ich danke Ihnen, Mr. Brock, ich danke Ihnen tausend, tausendmal! Ich kam als das unglücklichste aller lebenden Wesen in dieses Zimmer; ich verlasse dasselbe so glücklich wie die Vögel, die im Garten singen!«

Wie er sich der Thür zuwandte, strömten die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Fenster herein und fielen auf den Aschenhaufen, der schwarz auf dem schwarzen Herde lag.

»Sehen Sie!« rief er froh. »Die Verheißung einer schöneren Zukunft, die die Asche der Vergangenheit verklärt!«



Kapiteltrenner

Zwölftes Kapitel.

Die Morgenstunden waren vergangen; der Mittag war gekommen und verstrichen, Mr. Brock hatte seine Heimreise angetreten.

Die beiden jungen Leute waren, nachdem sie im Hafen von Douglas von dem Pfarrer Abschied genommen hatten, nach Castletown zurückgekehrt und hatten sich dort an der Thür des Hotels von einander getrennt; Allan war nach dem Strande hinabgegangen, um nach seiner Jacht zu sehen, und Midwinter ins Haus, um die Ruhe zu suchen, deren er nach der schlaflosen Nacht bedurfte.

Er verdunkelte das Zimmer und schloß die Augen —— doch der Schlaf kam nicht. An diesem ersten Tage der Abwesenheit des Pfarrers vergrößerte seine empfindsame Natur sich die Verantwortlichkeit, die er jetzt an Mr. Brocks Stelle übernommen hatte, in übertriebener Weise. Eine nervöse Angst, Allan selbst nur auf ein paar Stunden allein zu lassen, erhielt ihn wach und in Zweifel, bis es ihm eher eine Erleichterung als ein Opfer war, sein Bett wieder zu verlassen und Allan nach dem Strande und der Jacht zu folgen.

Die Ausbesserungen, deren das kleine Fahrzeug bedurfte, waren fast beendet. Es war ein heiterer, windiger Tag; das Land lag lachend im Sonnenschein da, das blaue Meer breitete sich unter dem wolkenlosen Himmel aus; die Wellen hüpften in der goldenen Gluth und die Leute sangen bei ihrer Arbeit. Als Midwinter in die Kajüte hinabstieg, fand er seinen Freund eifrig beschäftigt, Ordnung in derselben herzustellen. Für gewöhnlich der unsystematischste Mensch von der Welt, fühlte Allan sich von Zeit zu Zeit unwiderstehlich von dem Gedanken an die Vortheile ergriffen, welche die Ordnung dem Menschen bietet, und zu solchen Zeiten bemächtigte sich seiner eine wahre Raserei der Ordnung. Als Midwinter zu ihm herein sah, kniete er auf dem Boden und war mit einem Eifer, der sich gar komisch ausnahm, damit beschäftigt, die saubere kleine Kajütenwelt in ein wahrhaft ursprüngliches Chaos zu verwandeln —— anstatt sie in Ordnung zu bringen.

»Hier hast Du eine schöne Confusion!« rief Allan, sich mit großer Gemüthsruhe von dem Schauplatze seiner von ihm selbst geschaffenen Unordnung erhebend. »Weißt Du was, mein lieber Junge, ich fange an zu glauben, daß ich es lieber hätte bleiben lassen sollen.«

Midwinter lächelte und kam seinem Freunde mit der den Seeleuten eigenen Gewandtheit im Ordnen zu Hilfe.

Der erste Gegenstand, dem er begegnete, war Allan’s Toilettenkästchen, das Unterste zu oberst gekehrt, während sein Inhalt in der Gesellschaft des Flederwisches und des Staubbesens auf dem Fußboden zerstreut lag. Als Midwinter die zur Ausstattung des Toilettenkästchens gehörigen Gegenstände wieder der Reihe nach jeden an seine Stelle legte, traf er unvermuthet auf ein Miniaturgemälde. Von der altmodischen ovalen Form, welches zierlich mit kleinen Diamanten eingefaßt war.

»Du scheinst hierauf keinen großen Werth zu legen«, sagte er. »Was ist es?«

Allan beugte sich über ihn hin und betrachtete das Bildchen.

»Es gehörte meiner Mutter«, antwortete er, »und ich lege den größten Werth darauf, denn es ist ein Porträt meines Vaters.«

Midwinter gab das kleine Gemälde schnell in Allan’s Hände und zog sich nach dem entgegengesetzten Ende der Kajüte zurück.

»Du weißt selbst am besten, wo Du die Sachen in Deinem Toilettenkästchen zu haben wünschst«, sagte er, Allan den Rücken zuwendend. »Ich will auf dieser Seite Ordnung herstellen und Du sollst dasselbe dort thun.«

Er fing an, die auf dem Kajütentische und dem Fußboden liegenden Gegenstände zu ordnen. Doch schien es fast, als ob das Schicksal beschlossen hätte, ihm an diesem Tage alle Gegenstände in die Hände zu führen, die Allan persönlich gehörten, mochte er sich beschäftigen wie und wo er wollte. Einer der ersten Gegenstände, der ihm ausstieß, war Allan’s Tabakbüchse, in dem sich ein, dem Umfange nach zu urtheilen, mit Einlagen beschwerter Brief befand, der die Stelle des fehlenden Deckels vertreten mußte.

»Wußtest Du, daß Du dies hier hineingethan hattest?« frug er. »Ist dieser Brief von Wichtigkeit?«

Allan erkannte denselben augenblicklich. Es war der erste einer kleinen Anzahl von Briefen, die den Seglern auf ihrer Vergnügungsfahrt nach der Insel Man nachgeschickt worden waren —— der Brief, dessen der junge Armadale kurzweg als eines Schreibens erwähnte, das ihm wieder allerlei Langweiliges von jenen niemals fertig werdenden Advokaten« bringe, und den er dann in seiner gewohnten unbekümmerten Weise ohne weiteres bei Seite gelegt hatte.

»Das kommt davon, wenn man ganz besonders ordentlich ist«, meinte Allan; »dies ist ein Beispiel meiner außerordentlichen Sorgfalt. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich habe den Brief absichtlich dort hineingelegt. Jedes mal, wenn ich die Tabakbüchse öffnete, weißt Du, mußte ich diesen Brief sehen, und jedes mal, wenn ich den Brief sah, mußte ich unfehlbar daran erinnert werden, daß ich denselben beantworten müsse. Es ist dies gar nicht zum Lachen; es war ein vollkommen vernünftiges Verfahren —— wäre ich mich nur zu erinnern im Stande gewesen, wo ich die Tabakbüchse hingestellt hatte. Gesetzt, ich knüpfte diesmal einen Knoten in mein Taschentuch? Du hast ein wunderbares Gedächtniß, mein lieber Junge; vielleicht erinnerst Du mich im Laufe des Tages daran, falls ich jetzt den Knoten vergessen sollte.«

Hierin erblickte Midwinter die erste Gelegenheit, sich in Mr. Brocks Abwesenheit an dessen Stelle nützlich zu machen.

»Hier ist Dein Schreibpult«, sagte er; »warum den Brief nicht sogleich beantworten? Wenn Du ihn wieder bei Seite legst, so könntest Du ihn abermals vergessen.«

»Sehr wahr«, erwiderte Allan. »Aber das Schlimmste an der Sache ist, daß ich noch nicht ganz mit mir einig bin, welche Art von Antwort ich schreiben soll. Ich bedarf eines Rathes. Komm und setze Dich hierher und dann will ich Dir die ganze Geschichte erzählen.«

Mit seinem lauten, knabenhaften Lachen —— das in Midwinter, der sich von seiner Fröhlichkeit angesteckt fühlte, ein Echo fand —— strich er einen bunten Haufen von Gegenständen von dem Kajütensofa und machte auf demselben Platz für sich und seinen Freund. Die Beiden setzten sich voll jugendlichen Uebermuthes nieder, um über einen, in eine Tabakbüchse verlegten Brief eine Consultation zu halten. Es war dies ein denkwürdiger Augenblick für sie, wie leicht sie auch die Sache zur Zeit nehmen mochten. Ehe sie sich wieder von ihren Plätzen erhoben, hatten sie zusammen den ersten unwiderruflichen Schritt auf dem dunklen und verworrenen Pfade ihrer Zukunft gethan.

Die Sache, in Bezug auf welche Allan jetzt den Rath seines Freundes verlangte, verhielt sich in Kürze folgendermaßen:

Während die Erbschaftsangelegenheiten wegen des Besitzthums von Thorpe-Ambrose geordnet wurden und der neue Eigenthümer desselben sich noch in London aushielt, war nothwendigerweise auch die Frage entstanden, wer die Güter in Zukunft verwalten solle. Der Verwalter, welcher bisher der Familie Blanchard gedient, hatte ohne Zeitverlust geschrieben und seine Dienste auch dem neuen Herrn ungetragen. Obgleich ein vollkommen fähiger und zuverlässiger Mann, hatte er doch bei diesem keine Gunst gefunden. Indem Allan, wie gewöhnlich, nach seinen ersten Eingebungen gehandelt und für alle Fälle beschlossen hatte, Midwinter dauernd zu Thorpe-Ambrose zu installieren, war er zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Verwalterstelle genau die Stelle sei, die seinem Freunde zusage —— und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dies seinen Freund nöthigen würde, bei ihm auf dem Gute zu bleiben. Er hatte deshalb das ihm gemachte Anerbieten abgelehnt, ohne Mr. Brock zu Rathe zu ziehen, dessen Mißbilligung er zu fürchten Ursache hatte, und ohne Midwinter etwas davon zu sagen, der wahrscheinlich eine Stelle zurückgewiesen hätte, für die er durch sein früheres Leben nicht im mindesten befähigt war. Diese Bestimmung Allan’s hatte eine weitere Correspondenz zur Folge gehabt und zwei neue Schwierigkeiten herbeigeführt, welche auf den ersten Anblick ein wenig widerwärtig aussahen, die aber Allan mit Hilfe seiner Rechtsanwälte bald aus dem Wege räumte. Die erste Schwierigkeit, die Rechnungsbücher des abgehenden Verwalters zu prüfen, ward gelöst, indem man einen Buchhalter von Profession nach Thorpe-Ambrose sandte; die zweite Schwierigkeit, nämlich über die leere Wohnung des Verwalters in vortheilhafter Weise zu verfügen, ward dadurch beseitigt, daß man die Wohnung auf die Liste eines thätigen Hausagenten der benachbarten Grafschaftsstadt setzen ließ. In diesem Stadium hatte sich die Sache befunden, als Allan London verlassen. Er hatte nicht weiter an dieselbe gedacht oder ferner etwas über dieselbe gehört, bis ihm ein Brief von seinen Advokaten nach der Insel Man gefolgt war, welchem zwei Anerbietungen in Bezug auf die Wohnung beigeschlossen waren, die beide an demselben Tage eingelaufen waren. Der Brief enthielt die Bitte um möglichst baldige Nachricht, welche der beiden Anerbietungen er anzunehmen beabsichtige.

Da Allan, nachdem er den Gegenstand einige Tage vergessen, jetzt die Nothwendigkeit einer Entscheidung vor sich sah, gab er seinem Freunde die beiden Anträge und ersuchte ihn, nachdem er ihm eine verworrene Auseinandersetzung der Sachlage gegeben, um seinen Rath. Allein anstatt die Anerbietungen zu lesen, legte Midwinter dieselben ohne alle Ceremonie bei Seite und that die beiden sehr natürlichen und für Allan sehr unbequemen Fragen, wer der neue Verwalter sei und weshalb er in Allan? Hause wohnen solle?

»Ich will Dir sagen, wer, und ich will Dir sagen, warum —— wenn wir nach Thorpe-Ambrose kommen«, erwiderte Allan. »Inzwischen wollen wir den Verwalter X. Y. Z. nennen und sagen, er wohnt bei mir, weil ich verdammt strenge bin und ihm mit eigenen Augen auf die Finger sehen will. Du brauchst nicht so erstaunt auszusehen; ich kenne den Mann vollkommen, und man muß vorsichtig mit ihm zu Werke gehen. Wenn ich ihm die Verwalterstelle schon früher antrüge, so würde er in seiner Bescheidenheit Nein sagen. Stürze ich ihn aber, ohne ihm vorher ein Wort davon zu sagen und zu einer Zeit, wo Niemand zur Hand ist, um an seine Stelle zu treten, über Hals und Kopf in dieselbe hinein, so wird ihm nichts weiter übrig bleiben als mein Interesse zu berücksichtigen und »Ja« zu sagen. X. Y. Z. ist durchaus kein übler Bursche, kann ich Dir sagen. Du wirst ihn sehen, wenn wir nach Thorpe-Ambrose kommen, und ich denke mir, daß Ihr beide sehr gut mit einander auskommen werdet.«

Das lustige Funkeln in Allan’s Auge und die bedeutungsvolle Schlauheit in seiner Stimme würden einem glücklichen Menschen sein Geheimniß verrathen haben. Midwinter aber war ebenso weit entfernt, dasselbe zu ahnen, wie die Zimmerleute, die über ihnen auf dem Verdeck der Jacht arbeiteten.

»Befindet sich augenblicklich kein Verwalter auf dem Gute?« frug er und sein Gesicht verrieth, daß er keineswegs mit Allan’s Antwort zufrieden war. »Werden die Geschäfte inzwischen völlig vernachlässigt?«

»Durchaus nicht!« erwiderte Allan. »Die Geschäfte gehen mit schwellendem Segel und günstigem Wind.« Ich scherze nicht, ich drücke mich nur bildlich aus. Ein echter Buchhalter hat seine Nase in die Bücher gesteckt, und ein gesetzter Advokatenschreiber zeigt sich wöchentlich einmal im Bureau. Das sieht doch nicht etwa wie Vernachlässigung aus, wie? Laß den neuen Verwalter für jetzt in Ruh’ und sage mir lieber, welchen der beiden Miethanträge Du an meiner Stelle annehmen würdest.«

Midwinter öffnete die beiden Anerbietungen und las dieselben aufmerksam durch.

Die erste derselben kam von keiner geringeren Person als dem Advokaten von Thorpe-Ambrose, welcher Allan die Nachricht von dem ihm zugefallenen großen Vermögen nach Paris gemeldet hatte. Dieser Herr schrieb selbst; er sagte, er habe längst das Häuschen bewundert, welches allerliebst innerhalb der Parkanlagen von Thorpe-Ambrose gelegen sei. Er sei Junggeselle, dem Studium ergeben, und wünsche sich nach den ermüdenden Geschäftsstunden in ländliche Einsamkeit zurückzuziehen; auch glaube er versichern zu dürfen, daß Mr. Armadale, wenn er ihn als Miether annähme, einen friedlichen Nachbarn in ihm finden und die Wohnung in zuverlässige und sorgfältige Hände geben würde.

Das zweite Anerbieten kam durch den Hausagenten und von einem Fremden. Der Herr, welcher das Häuschen zu miethen wünschte, war ein Offizier außer Diensten, ein Major Milroy. Seine Familie bestand blos aus einer Gattin, welche leidend war, und einem einzigen Kinde —— einer jungen Dame. Seine Empfehlungen waren untadelhaft, und auch er wünschte besonders deshalb dieses Häuschen zu miethen, weil die vollkommen ruhige Lage desselben genau das war, was Mrs. Milroy’s schwacher Gesundheitszustand erforderte.

»Nun! Welchem Stande soll ich den Vorzug geben?« frug Allan. »Dem Soldatenstande oder dem Rechtsfache?«

»Es scheint mir darüber kein Zweifel obzuwalten«, sagte Midwinter. »Der Advokat hat bereits mit Dir correspondirt und hat deshalb die besten Ansprüche.«

»Ich wußte, daß Du dies sagen würdest. Alle die tausendmal, daß ich andere Leute um Rath befragte, habe ich noch nie den Rath erhalten, den ich mir wünschte. Nehmen wir zum Beispiel diese Vermiethung. Ich selbst bin durchaus auf der andern Seite; ich wünsche mir den Major.«

»Warum?«

Der junge Armadale deutete mit dem Zeigefinger auf diejenige Stelle im Briefe des Hausagenten, welche die Familie des Majors aufzählte und folgende drei Worte enthielt —— »eine junge Dame.«

»Ein dem Studium ergebener Junggeselle ist kein interessanter Spaziergänger in meinen Anlagen«, sagte Allan; »eine junge Dame aber ist dies. Ich bezweifle nicht im mindesten, daß Miß Milroy ein allerliebstes Mädchen ist. Ozias Midwinter mit dem ernsten Gesicht, denke Dir nur ihr hübsches Musselinkleid zwischen Deinen Bäumen, indem sie sich auf Deinem Grund und Boden Uebertretungen erlaubt; denke Dir, wie ihre anbetungswürdigen Füßchen in Deinem Obstgarten herum trippeln und ihre reizenden, frischen Lippen Deine reifen Pfirsichen küssen; male Dir ihre kleine runde Hand aus, wie sie unter Deinen ersten Veilchen sucht, und ihre kleine weiße Nase, wie sie den Duft Deiner Theerosen einsaugt. Was hat der studierende Junggeselle mir für alles dies zu bieten? Höchstens einen rheumatischen braunen Gegenstand in Gamaschen und Perücke. Nein, nein! Die Gerechtigkeit ist zwar eine gute Sache, mein lieber Freund, aber glaube mir, Miß Milroy ist eine bessere!«

»Kannst Du irgendetwas in der Welt mit Ernst behandeln, Allan?«

»Ich will es versuchen, wenn Du es wünschest. Daß ich den Advokaten nehmen sollte, weiß ich recht wohl; aber was kann ich thun, wenn die Majorstochter mir fortwährend im Kopfe herumgeht?«

Midwinter führte die Sache entschlossen auf den richtigen und verständigen Gesichtspunkt zurück und machte Allan mit der ganzen Beredsamkeit, die ihm zu Gebote stand, auf denselben aufmerksam. Nachdem Allan ihn mit exemplarischer Geduld bis zu Ende angehört, strich er abermals einen bunten Haufen von Gegenständen vom Kajütentische herunter und nahm einen halben Kronenthaler aus der Westentasche.

»Ich habe einen ganz neuen Einfall«, rief er. »Ueberlassen wir es dem Zufalle.«

Die Lächerlichkeit dieses Vorschlages war unwiderstehlich. Midwinters Ernst ließ ihn im Stich.

»Ich will drehen«, sagte Allan, »und Du sollst rathen. Wir müssen natürlich der Armee den Vorrang gestatten; sagen wir also Kopf —— der Major, Wappen —— der Advokat. Das erste Umdrehen entscheidet. Jetzt geht? los, aufgepaßt!«

Damit drehte er die Münze und sie tanzte auf dem Kajütentische herum.

»Wappen!« rief Midwinter, auf Allan’s Knabenscherz eingehend.

Die Münze fiel mit dem Kopfe nach oben auf dem Tische nieder.

»Du willst doch nicht sagen, daß Du es wirklich im Ernste meinst!« sagte Midwinter, wie der Andere sein Schreibepult öffnete und seine Feder ins Tintenfaß tauchte.

»O, das sollt’ ich meinen!« erwiderte Allan. »Der Zufall ist auf meiner und Miß Milroy’ Seite und Du bist überstimmt mit zwei Stimmen gegen eine. Es nützt nichts, darüber zu reden, Der Major hat oben gelegen; der Major soll die Wohnung haben. Ich werde es nicht den Advokaten überlassen, denn sie würden mich nur mit noch mehr Briefen quälen; ich will selbst an den Major schreiben.«

Er schrieb seine Antworten auf die beiden Anträge buchstäblich in zwei Minuten. Die an den Hausagenten lautete: »Mein Werther Herr! Ich nehme Major Milroy’s Anerbieten an; lassen Sie ihn einziehen, sobald es ihm beliebt. Aufrichtig der Ihre, Allan Armadale.« Und die an den Advokaten: »Mein Werther Herr! Ich bedanke, daß die Verhältnisse mich verhindern, Ihr Anerbieten anzunehmen. Aufrichtig der Ihre.«

»Die Leute machen ein solches Aufheben über das Briefschreiben. Ich finde es sehr leicht.«

Er schrieb die beiden Adressen und versah die Briefe mit Postmarken, indem er lustig vor sich hin pfiff. Während er geschrieben hatte, hatte er nicht bemerkt, wie sein Freund sich inzwischen beschäftigte. Als er aber mit den Briefen fertig war, fiel es ihm auf, daß plötzlich eine tiefe Stille in der Kajüte herrschte, und wie er aufblickte, sah er, daß Midwinter’s Aufmerksamkeit in seltsamer Weise auf die Münze geheftet war, welche auf dem Tische lag. Allan stellte erstaunt sein Pfeifen ein.

»Was in aller Welt machst Du da?« frug er.

»Es lag mir etwas im Sinne«, sagte der Andere.

»Was?«

»Der Gedanke, ob es wirklich einen Zufall giebt«, entgegnete Midwinter, ihm sein Geldstück zurückgebend.

Eine halbe Stunde später waren die beiden Briefe auf die Post gegeben, und Allan, dem die unausgesetzte Beaufsichtigung der Ausbesserungen an Bord seiner Jacht bisher wenig Muße am Lande gestattet hatte, machte den Vorschlag, sich durch einen Spaziergang in Castletown die Zeit zu verkürzen. Selbst Midwinter’s nervöse Aengstlichkeit, Mr. Brock’s Vertrauen zu verdienen, konnte gegen diesen harmlosen Vorschlag nichts einzuwenden finden, und die beiden jungen Männer machten sich deshalb auf, um die Hauptstadt der Insel Man in Augenschein zu nehmen.



Kapiteltrenner

Erstes Kapitel.

Es fragt sich, ob es auf dem ganzen bewohnten Erdballe einen Ort gibt, der dem neugierigen Reisenden so wenig Interessantes bietet, wie die Stadt Castletown, welche Allan und Midwinter jetzt durchwanderten. Um mit dem Strande den Anfang zumachen, so gab es dort einen inneren Hafen zu sehen, mit einer Zugbrücke welche die Schiffe durchließ; einen äußeren Hafen, der mit einem zwerghaften Leuchtthurme endete; eine flache Küstenansicht zur Rechten und eine flache Küstenansicht zur Linken. In der Einöde der inneren Stadt stand ein plumpes graues Gebäude, welches »das Schloß« genannt wurde; außerdem ein Denkstein, der einem gewissen Gouverneur Smelt gewidmet war und dessen obere Fläche offenbar bestimmt war, eine Statue zu tragen, doch keine Statue trug. Außerdem gab es eine Kaserne, welche die der Insel zugetheilte halbe Compagnie Soldaten beherbergte und an deren einsamer Thür eine einzige Schildwache melancholisch auf und ab wankte. Die vorherrschende Farbe der Stadt war ein mattes Grau. Zwischen den wenigen offenen Verkaufsläden sah man hier und da andere, welche geschlossen waren, nachdem die Inhaber sie in Verzweiflung aufgegeben hatten. Das langweilige Umherschlendern von Bootsleuten am Lande war hier von einer dreifachen Langweiligkeit; die jungen Leute der Nachbarschaft rauchten zusammen in stummer Niedergeschlagenheit an der vor dem Winde geschützten Seite einer verfallenen Mauer; die zerlumpten Kinder sagten mechanisch »Geben Sie uns einen Penny«, und versanken, noch ehe die mildthätige Hand die großmüthige Tasche zu durchsuchen vermochte, wieder in menschenfeindliche Zweifel an der menschlichen Natur, die sie angefleht hatten. Grabesstille lag über dem Friedhofe und füllte diese elende Stadt. Nur ein einziges erfreulich aussehendes Gebäude erhob sich trostbringend in der Wüstenei jener grausigen Straßen. Von den Studenten des benachbarten König-Wilhel-Collegs frequentiert, war dieses Gebäude natürlicherweise dem Dienste eines Conditors gewidmet. Hier gab es wenigstens hinter den Fenstern etwas für den Fremden zu sehen; denn hier saßen auf hohen Sesseln die Schüler des Collegs mit baumelnden Beinen und langsam kauenden Kinnladen und verschlangen in der fürchterlichen Stille von Castletown mit ernsten Mienen ihre Kuchen.

»Mich soll der Henker holen, wenn ich noch länger die Jungen und die Kuchen anzugaffen im Stande bin!« rief Allan, seinen Freund von der Conditorei hinweg zerrend »Laß uns sehen, ob wir in der nächsten Straße nichts Unterhaltenderes finden können.«

Der erste unterhaltende Gegenstand in der nächsten Straße war der Laden eines Bildhauers und Vergolders, der eben im letzten Stadium commerciellen Verfalls den Geist aushauchte Auf dem Ladentische im Innern war nichts weiter zu sehen als der Kopf eines Knaben, der in der ungestörten Stille des Ortes friedlich schlummernd dalag. Im Fenster erblickte der vorübergehende Fremde drei arg von den Fliegen heimgesuchte kleine Bilderrahmen, einen in Folge langer Vernachlässigung mit Staub bedeckten Zettel, welcher ankündigte, daß das Haus zu vermiethen sei, und einen einzigen colorirten Kupferstich, den letzten einer Reihe von Bildern, welche nach den gewaltigsten Mäßigkeitsgrundsätzen die Gräuel der Trunkenheit - illustrierten. Die Composition, welche eine leere Branntweinflasche, eine geräumige Dachkammer, einen Bibelvorleser und eine vor ihm aus dem Boden liegende, sterbende Familie darstellt« suchte die Gunst des Publikums unter dem völlig untadelhaften Titel »Die Hand des Todes.« Allan’s Entschlossenheit, der Stadt Castletown einige Unterhaltung abzugewinnen, hatte vielem widerstanden; doch jetzt ließ dieselbe ihn endlich im Stich. Er schlug daher einen Ausflug nach einem andern Orte vor. Da Midwinter ihm bereitwillig beistimmte, kehrten sie nach dem Gasthofe zurück, um sich Auskunft geben zu lassen. Dank der entgegenkommenden Vertraulichkeit Allan’s einerseits und seinem völligen Mangel an Klarheit bei seinen Fragestellungen andrerseits sahen sich die beiden Fremden von Auskunft förmlich überfluthet, und zwar von Auskunft, die sich auf alles, nur nicht auf den Gegenstand bezog, der sie nach dem Gasthofe geführt hatte. Sie machten verschiedene interessante Entdeckungen in Bezug auf die Gesetze und die Constitution der Insel Man und die Sitten und Bräuche der Eingeborenen. Zu Allan’s großem Entzücken sprachen die Manxianer von England wie von einer wohlbekannten nahe gelegenen Insel, die sich in gewisser Entfernung von dem centralen Kaiserreiche der Insel Man, befinde. Es ward den beiden Engländern ferner offenbart, daß dieses glückliche kleine Volk sich seiner eigenen Gesetze erfreue, welche alljährlich einmal durch den Gouverneur und die beiden Oberrichten in entsprechendem Costüme auf dem Gipfel eines alten Hügels öffentlich bekannt gemacht wurden. Im Besitze dieser beneidenswerthen Institution genoß die Insel noch den unschätzbaren Segen eines eigenen Parlaments, das »Haus der Schlüssel« genannt, welches vor jenem andern Parlamente auf der benachbarten Insel den Vortheil voraus hatte, daß die Mitglieder sich ohne das Volk behalfen und sich feierlichst gegenseitig erwählten. Mit diesen und vielen andern Neuigkeiten, die er von allen möglichen Arten von Leuten innerhalb und außerhalb des Gasthofs gesammelt, verkürzte Allan sich auf seine eigene unstäte Weise die Zeit, bis das Geplauder eines natürlichen Todes starb und Midwinter, der sich inzwischen bei Seite mit dem Wirthe unterhalten hatte, ihn ruhig an den in Frage stehenden Gegenstand erinnerte. Midwinter hatte in Erfahrung gebracht, daß die schönste Küstengegend der Insel nach Westen und Süden gelegen sei und daß sich in jenen Regionen ein Fischerdorf befinde, Port-St.-Mary genannt, das sich eines Gasthofes zu rühmen habe, in welchem Reisende übernachten könnten. Wenn Allan’s Eindrücke von Castletown ihn noch zu einem Ausfluge nach einem andern Orte geneigt machten, so dürfe er dies nur sagen und es solle ihm augenblicklich ein Fuhrwerk zu Gebote stehen. Allan griff mit beiden Händen zu, und in zehn Minuten befand er sich mit Midwinter auf der Fahrt nach den westlichen Einöden der Insel.

In dieser Weise war der Tag nach Mr. Brock’s Abreise bis hierher verstrichen, ohne daß sich andere als ganz unbedeutende Ereignisse zugetragen —— so unbedeutende Ereignisse, daß selbst Midwinter’s ängstliche Wachsamkeit nichts in denselben zu erblicken vermochte, und so blieb es bis der Abend kam —— ein Abend, den wenigstens der eine der beiden Gefährten bis zu seinem letzten Lebenstage nicht vergessen sollte.

Ehe die Reisenden noch zwei Meilen ihres Weges zurückgelegt hatten, ereignete sich ein Unfall. Das Pferd stürzte und der Fuhrmann erklärte, daß dasselbe ernstlich verletzt sei. Es blieb ihnen daher keine andere Wahl, als entweder ein anderes Fuhrwerk aus Castletown kommen zu lassen oder den Weg nach Port-St.-Mary zu Fuße fortzusetzen. Sie entschlossen sieh zu Letzterem und waren noch nicht weit gegangen, als sie von einem Herrn eingeholt wurden, welcher allein in einer offenen Chaise fuhr. Derselbe stellte sich ihnen höflich als einen Arzt vor, der in unmittelbarer Nähe von Port-St.-Mary wohne, und bot ihnen Plätze in seinem Wagen an. Stets zu neuen Bekanntschaften bereit, nahm Allan sofort die Einladung an. Er und der Doctor, dessen Name, wie sich bald ergab, Hawbury war, wurden freundschaftlich vertraut, als sie noch keine fünf Minuten im Wagen gesessen hatten, während Midwinter zurückhaltend und schweigend hinter ihnen saß. Vor dem Hause des Doctors schieden sie von einander, indem Allan laut die hübschen französischen Fenster des Doctors und dessen zierlichen Blumengarten und Rasen bewunderte und ihm beim Abschied die Hand drückte, wie wenn sie einander seit frühester Kindheit gekannt hätten. In Port-St.-Mary angelangt, sahen die beiden Freunde sich in einem zweiten Castletown in verjüngtem Maßstabe. Aber die umliegende Gegend —— wild, offen und hügelig —— war ihres Rufes würdig. Ein Spaziergang half ihnen über einen guten Theil des Tages hinweg; es war noch immer der harmlose, müßige Tag, der es von Anfang an gewesen. Endlich rückte der Abend heran. Sie warteten noch eine Weile, um die Sonne zu bewundern, welche majestätisch hinter Hügel, Haide und Felsenriff ins Meer hinabsank, während sie sich von Mr. Brock und seiner langen Heimreise unterhielten; dann kehrten sie ins Hotel zurück, um ihr frühes Nachtessen zu bestellen. Immer näher und näher rückte die Nacht heran und mit ihr ein Abenteuer für die beiden Freunde, während doch ihre bisherigen Erlebnisse noch immer ein solches Abenteuer nicht ahnen ließen, sondern höchstens lächerlicher Natur waren. Das Nachtessen war schlecht zubereitet, und die Aufwärterin von einer unaussprechlichen Dummheit; der altmodische Glockenzug im Gastzimmer war, als Allan geschellt, abgerissen und hatte im Herunterfallen eine bemalte Porzellan-Schäferin getroffen und dieselbe in Scherben auf den Boden geworfen. Dieser Art waren die Ereignisse gewesen, als das Zwielicht erlosch und Kerzen ins Zimmer gebracht wurden.

Da Allan seinen Freund Midwinter nach der doppelten Strapaze einer schlaflosen Nacht und eines Unruhigen Tages wenig zur Unterhaltung aufgelegt fand, ließ er ihn auf dem Sofa ruhen und ging in die Hausflur, in der Hoffnung, dort Jemanden zu entdecken, mit dem er sich unterhalten könne. Hier führte ein abermaliges unbedeutendes Ereigniß Allan mit Mr. Hawbury zusammen und half —— ob zum Glücke oder nicht, dies sollte sich erst zeigen —— die Bekanntschaft zwischen ihnen befestigen.

Die Schenkstube des Wirthshauses befand sich an dem einen Ende der Hausflur, und in derselben war die Wirthin beschäftigt, ein Glas Grog für den Doctor zu bereiten, der soeben hereingekommen war, ein wenig zu Plaudern. Da Allan um Erlaubniß bat, beim Plaudern und Trinken der Dritte sein zu dürfen, reichte Mr. Hawbury ihm höflich das Glas, welches die Wirthin soeben gefüllt hatte. Dasselbe enthielt kalten Grog. Eine auffallende Veränderung in Allan’s Gesichte, wie er plötzlich zurücktrat und sich statt dessen Whisky ausbat, entging dem Auge des Arztes nicht. »Eine nervöse Antipathie«, sagte der Dotter, indem er das Glas ruhig für sich nahm. Diese Bemerkung nöthigte Allan zu dem Bekenntniß daß er einen unüberwindlichen Ekel gegen den Geruch und Geschmack von Rum habe, und er war thöricht genug, sich dessen ein wenig zu schämen. Mit welcher andern Flüssigkeit dieses Getränk auch immer vermischt sein mochte —— seine Geruchs- und Geschmacksorgane entdeckten dasselbe augenblicklich, und die bloße Berührung der Mischung mit seinen Lippen verursachte ihm eine tödtliche Uebelkeit. Von diesem Bekenntnisse ausgehend, wandte das Gespräch sich dem Gegenstande der Antipathien im Allgemeinen zu, und der Doctor bekannte seinerseits, daß er ein berufsmäßiges Interesse an dem Gegenstande nehme und zu Hause einige merkwürdige Illustrationen desselben besitze, die sein neuer Bekannter, falls er diesen Abend nichts Besseres zu thun habe und in einer Stunde etwa, nachdem die Berufspflichten des Doctors zu Ende seien, nach seinem Hause kommen wolle, dort in Augenschein nehmen könne.

Nachdem er die Einladung zugleich im Namen Midwinter’s mit Herzlichkeit angenommen hatte, kehrte Allem in das Gastzimmer zurück, um sich nach seinem Freunde umzuschauen. Midwinter lag noch immer halb wach halb schlafend auf dem Sofa und die Ortszeitung entfiel eben seiner matten Hand.

»Ich hörte Deine Stimme in der Hausflur«, sagte er schläfrig. »Mit wem unterhieltest Du Dich?«

»Mit dem Doctor«, erwiderte Allan. »Ich soll in einer Stunde eine Cigarre bei ihm rauchen. Willst Du mitkommen?«

Midwinter willigte mit einem milden Seufzer ein. Von Natur allen neuen Bekanntschaften abgeneigt, trug seine Müdigkeit noch zu dem Widerstreben bei, mit dem er die Einladung des Doctors annahm. Doch wie die Sachen standen, blieb ihm nichts weiter übrig als zu gehen, denn bei Allan’s constitutioneller Unvorsichtigkeit war es nicht gerathen, ihn irgendwo allein hingehen zu lassen, und namentlich nicht nach dem Hause eines Fremden. Mr. Brock hätte seinen Zögling sicherlich nicht allein zu dem Fremden gehen lassen, und Midwinter war sich noch immer ängstlich bewußt, daß er Mr.. Brocks Stelle einnehme.

»Was sollen wir anfangen, bis es Zeit ist zu gehen?« frug Allan, um sich blickend. »Giebt’s hier irgendetwas zu lesen?« fügte er hinzu, indem er die Zeitung erblickte und dieselbe vom Boden aufnahm.

»Ich bin zu müde, um nachzusehen. Wenn Du etwas findest, lies es vor«, sagte Midwinter, indem er dachte, das Lesen werde ihn vielleicht wach erhalten.

Ein Theil der Zeitung, und zwar ein nicht geringer Theil derselben, war Auszügen aus kürzlich in London erschienenen Büchern gewidmet. Eins der Werke, welches die beträchtlichste Beisteuer hierzu lieferte, war von der Art, um Allan’s besonderes Interesse zu erwecken, denn es war eine höchst pikante Erzählung von Reiseabenteuern in den Wildnissen von Australien, welche die Leiden der Reisenden schilderte, die sich in der pfadlosen Wildniß verirrt und in Gefahr waren, vor Durst umzukommen Allan kündigte seinem Freunde an, daß er etwas gefunden habe, das ihm die Haut schaudern mache, und fing eifrig die Stelle vorzulesen an. Entschlossen, nicht einzuschlafen, folgte Midwinter der Erzählung Satz für Satz, ohne ein Wort zu verlieren. Die Berathschlagung der Verirrten Reisenden, denen Verschmachtungstod entgegenstierte; ihr Entschluß, weiter zu dringen, solange ihre Kräfte noch aushielten, der heftige Regenschauer; ihre vergeblichen Bemühungen, das Regenwasser aufzufangen; die kurze Erquickung, die sie in dem Aussaugen des Wassers aus ihren durchnäßten Kleidern fanden; die erneuten Leiden, welche die nächsten Stunden brachten; das nächtliche Vordringen der Stärksten der Gesellschaft, indem sie die Schwächsten zurückließen, ihr weiterer Marsch bei Tagesanbruch, wobei sie sich von einer Flucht von Vögeln leiten ließen; ihre endliche Entdeckung eines großen Teiches, der ihnen das Leben rettete «— alles dies vermochte Midwinters sinkende Aufmerksamkeit nur noch mit Mühe zu erfassen, indem Allan’s Stimme seinem Ohre mit jedem Satze matter und matter erklang. Bald verschwanden die Worte ganz und gar und es blieb nichts, als der langsam sinkende Ton der Stimme. Dann wurde es vor seinen Augen allmählig finster, der Ton von Allan’s Stimme wich einer köstlichen Stille, und die letzten wachen Eindrücke des müden Midwinter nahmen ein sanftes Ende.

Das nächste Ereigniß, dessen er sich bewußt ward, war ein lautes Schellen an der verschlossenen Hausthür des Wirthshauses. Mit der schnellen Munterkeit eines Mannes, dessen Lebensweise ihn daran gewöhnt hat, in einem Augenblicke wach zu sein, sprang er vom Sofa auf. Ein flüchtiger Blick zeigte ihm, daß das Zimmer leer sei, und als er auf seine Uhr blickte, sah er, daß es fast Mitternacht war. Das Geräusch, welches die schläfrige Magd beim Thür öffnen machte, und die im nächsten Augenblicke folgenden schnellen Schritte in der Hausflur erfüllten ihn plötzlich mit schlimmer Ahnung. Wie er eilig vorschritt, um hinauszugehen und zu sehen, was es gebe, öffnete sich die Thür des Gastzimmers und der Doctor stand vor ihm.

»Es thut mir leid, Sie zu stören«, sagte Mr. Hawbury; »seien Sie unbesorgt, es ist kein Unglück geschehen.«

»Wo ist mein Freund?« frug Mitwinter.

»Am Hafendamm«, antwortete der Doctor. »Ich bin gewissermaßen verantwortlich für das, was er zu thun im Begriff ist, und bin der Ansicht, daß er irgendeine umsichtige Person, wie Sie, bei sich haben sollte.«

Dieser Wink genügte Midwinter. Er und der Doctor begaben sich unverzüglich nach dem Hafendamme, und auf dem Wege dorthin erzählte Mr. Hawbury die Umstände, die ihn nach dem Gasthofe geführt.

Allan hatte sich pünktlich im Hause des Doctors eingestellt und erzählt, er habe seinen milden Freund so fest eingeschlafen auf dem Sofa zurückgelassen, daß er nicht das Herz gehabt habe, ihn zu wecken. Der Abend sei sehr angenehm verstrichen und ihre Unterhaltung habe sich um mancherlei Gegenstände gedreht, bis Mr. Hawbury in einem unglückseligen Augenblicke einen Wink habe fallen lassen, daß er ein großer Freund vom Segeln sei und selbst, ein Vergnügungsboot besitze, welches im Hafen liege. Durch seinen Lieblingsgegenstand augenblicklich in Feuer und Flammen gesetzt, hatte Allan seinem gastfreundlichen Wirthe keine andere Wahl gelassen, als mit ihm nach dem Hafendamme zu gehen und ihm sein Boot zu zeigen. Die Herrlichkeit der Nacht und die sanfte Brise hatten das Uebrige gethan —— sie hatten Allan mit dem unwiderstehlichen Verlangen erfüllt, eine Wasserfahrt bei Mondschein zu machen. Der Doctor, dessen Berufspflichten ihn am Lande zu bleiben nöthigten, hatte, da er nicht gewußt, was er anders anfangen sollte, lieber Midwinter zu stören gewagt, als die Verantwortung übernommen, Mr. Armadale ganz allein um Mitternacht aufs Meer hinaussegeln zu lassen.

Als der Doctor diese Erklärung beendete, waren sie auf dem Hafendamme angelangt. Dort war der junge Armadale wirklich im Boote und spannte die Segel, wobei er aus vollem Halse sein Matrosen-Ahoi-ho sang.

»Komm her, alter Junge!« rief Allan »Du kommst gerade zu rechter Zeit zu einem Mondscheinspaße!«

Midwinter schlug vor, daß der Spaß lieber bei Tage genossen würde und sie sich inzwischen zu Bette verfügten.

»Zu Bett!« rief Allan, auf dessen aufgeregtes Temperament die Gastfreiheit des Doktors jedenfalls keine beruhigende Wirkung geübt hatte. »Hören Sie ihn an, Doctor! Man sollte glauben, er sei neunzig Jahre alt! Zu Bett, Du schläfriges altes Murmelthier! Schau Dir das dort an —— und dann denke noch ans Bett, wenn Du kannst!«

Er deutete auf das Meer. Der Mond stand hell an dem wolkenlosen Himmel; der Nachtwind wehte lau und sicher vom Lande her; das friedliche Wasser kreuselte sich lustig in der stillen Herrlichkeit der Nacht. Midwinter wandte sich mit weiser Ergebung in die Umstände zum Doctor; er hatte genug gesehen, um zu wissen, daß alle Gegenvorstellungen weggeworfen sein würden.«

»Wie ist die Fluth?« fragte er.

Der Doctor sagte es ihm.

»Sind die Ruder im Boote?«

Ja.

»Ich bin ans Wasser gewöhnt«, sagte Midwinter, die Hafentreppe hinuntersteigend »Sie dürfen mir die Obhut über meinen Freund und Ihr Boot anvertrauen.«

»Gute Nacht, Doctor!« rief Allan. »Ihr Whisky ist vortrefflich, Ihr Boot ist eine wahre Pracht, und Sie sind der beste Bursch, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin!«

Der Doctor lachte und schwenkte die Hand zum Gruße; das Boot glitt aus dem Hafen, indem Midwinter steuerte.

Die Brise brachte sie bald dem westlichen Vorgebirge gegenüber, welches die Bucht von Poolvash bildet, und es erhob sich die Frage, ob sie ins Meer hinaus oder an der Küste entlang segeln sollten. Das weiseste Verfahren für den Fall, daß der Wind sie, im Stiche ließ, war das Letztere Midwinter veränderte deshalb den Curs des Bootes und sie segelten glatt in südwestlicher Richtung der Küste gegenüber dahin.

Allmählig erhoben sich die Felsenklippen höher und immer höher, wilder und rauher, und zeigten auf der Seeseite gähnende, schwarze Abgründe Auf der Höhe des kühn emporragenden Vorgebirges Spanish-Head sah Midwinter bedeutungsvoll auf seine Uhr; doch Allan flehte um noch eine halbe Stunde, um den berühmten Sundkanal erblicken zu können, dem sie sich jetzt mit großer Schnelligkeit näherten und über den er von den Leuten, die auf seiner Jacht arbeiteten, erstaunliche Geschichten gehört hatte. Die neue Veränderung im Curse des Bootes, die Midwinter’s Einwilligung nothwendig machte, brachte dasselbe scharf vor den Wind und gewährte ihnen auf der einen Seite den großartigen Anblick der Südküste der Insel Man und auf der andern den der schwarzen Felsenabhänge der kleinen Insel, die das »Kalb« genannt und durch den dunkeln und gefährlichen Sundkanal vom Festlande getrennt wird.

Midwinter sah nochmals nach der Uhr. »Wir sind weit genug gesegelt«, sagte er. »Lege das Segel um!«

»Halt!« rief Allan vom Bug des Bootes. »Gerechter Gott! Hier liegt ein Wrack gerade vor uns!«

Midwinter ließ das Boot ein wenig abfallen und schaute nach der Stelle hin, welche der Andere ihm zeigte.

Dort, auf halbem Wege zwischen den Felsengrenzen zu beiden Seiten des Sundes gestrandet, lag, um sieh nie wieder aus seinem Grabe auf dem unterseeischen Felsen zu dem lebendigen Wasser zu erheben, verlassen und einsam in der stillen Nacht, hoch und düster und gespenstisch im gelben Mondscheine das Wrack.

»Das Schiff kenne ich«, rief Allan in großer Aufregung. »Ich hörte meine Zimmerleute gestern von demselben sprechen. Es ward in einer stockfinsteren Nacht hier herein getrieben, da sie die Lichter nicht zu sehen im Stande waren. Ein armer verwitterter alter Kauffahrer, Midwinter, den die Makler gekauft haben, um ihn abzubrechen. Laß uns hinein segeln und ihn in Augenschein nehmen.«

Midwinter zauderte. Die alte Seelust in ihm trieb ihn mächtig, Allan’s Vorschlage zu folgen, aber der Wind fing an zu fallen, und er mißtraute dem unruhigen Gewässer und den Wirbelströmen des vor ihnen liegenden Kanals »Dies ist eine häßliche Stelle für Segler, die nicht vertraut mit derselben sind«, bemerkte er.

»Unsinn!« rief Allan »Es ist so hell wie am Tage, und wir haben hier zwei Fuß Wasser.«

Ehe Midwinter noch antworten konnte, ergriff eine Strömung das Boot und zog dasselbe in den Kanal hinein, gerade dem gestrandeten Schisse zu.

»Zieh’ das Segel ein«, sagte Midwinter ruhig, »und lege die Ruder ein. Wir werden jetzt schnell genug zum Wrack hinuntergetrieben, ob es uns nun gefällt oder nicht.«

Da sie sich beide auf die Handhabung des Ruders verstanden, brachten sie das Boot bald hinlänglich in ihre Gewalt, um es in dem ruhigsten Theile des Kanals zu erhalten, das heißt auf derjenigen Seite, die sich der Insel »Kalb« zunächst befand. Als sie schnell an das Wrack herantrieben, übergab Midwinter sein Ruder an Allan und schlug, den Augenblick wohl abpassend, den Boothaken in die Vorderketten des Schiffes ein. Im nächsten Augenblicke hatten sie das Boot sicher unter dem Lee des Schiffes in ihrer Macht.

Die Schiffsleiter, deren die Arbeitsleute sich bedienten, hing über der Vorderkette herab. Midwinter stieg dieselbe hinan, indem er ein Ende des Bootstaues zwischen den Zähnen hielt, befestigte dieses und ließ das andere zu Allan ins Boot hinab. »Befestige jenes Ende«, rief er, »und warte bis ich nachgesehen, ob an Bord alles sicher ist.« Mit diesen Worten verschwand er hinter dem Bollwerk.

»Warten?« wiederholte Allan in unverhohlenem Erstaunen über die übertriebene Vorsicht seines Freundes. »Was in aller Welt will er damit sagen? Mich soll der Henker holen, wenn ich warte; wo der Eine von uns hingeht, dorthin geht auch der Andere!«

Er schlug das lose Ende des Taues um das vordere Querholz des Bootes und stand, indem er sich gewandt die Leiter hinaufschwang, im nächsten Augenblicke aus dem Verdeck »Befindet sich irgendetwas Fürchterliches an Bord?« frug er spöttisch, als er seinem Freunde begegnete.

Midwinter lächelte. »Durchaus nicht«, erwiderte er. »Aber ich konnte nicht gewiß wissen, daß wir das Schiff ganz für uns haben würden, bis ich über das Bollwerk stieg und nachsah.«

Allan ging einmal um das Verdeck herum und betrachtete das Wrack mit kritischen Blicken vom Bug bis zum Spiegel.

»Kein großes Wunder von einem Schiff«, bemerkte er. »Die Franzosen verstehen sich sonst besser auf den Schiffbau.«

Midwinter kam über das Verdeck zu ihm herüber und betrachtete ihn einige Augenblicke schweigend.

»Die Franzosen?« wiederholte er nach einer Pause. »Ist dies ein französisches Schiff?«

»Ja.«

»Woher weißt Du dies?«

»Die Leute, die an Bord meiner Jacht arbeiten, haben es mir gesagt Sie kennen es sehr genau.«

Midwinter kam ein wenig näher. Allan glaubte in Midtwinter’s Gesicht eine unerklärliche Blässe im Mondlichte wahrzunehmen.

»Erwähnten sie, wozu es bestimmt war?«

»Ja. Zum Holzhandel.«

Wie Allan diese Antwort gab, packte Midwinters hagere braune Hand ihn fest bei der Schulter, und Midwinter’s Zähne klapperten wie die eines Mannes, der von einem plötzlichen Frost ergriffen wird.

»Sagten sie Dir auch seinen Namen?« frug er mit einer Stimme, die plötzlich bis zum Flüsterton herabsank.

»Ich glaube, ja. Aber derselbe ist mir entfallen. —— Sachte, mein alter Junge, Deine langen Krallen packen meine Schulter ein wenig zu fest.«

»War der Name ——?« Er hielt inne, ließ Allan’s Schulter los und strich die großen Tropfen weg, die auf seine Stirn getreten waren. »War der Name etwa La Gráce de Dieu?«

»Wie, zum Henker, kommst Du dazu, ihn zu wissen? Allerdings ist das der Name. La Gráce de Dieu.«

Midwinter war mit einem einzigen Satze auf dem Bollwerke des Wracks.

»Das Boot!!« schrie er mit einem Angstrufe, der weit durch die Stille der Nacht drang und Allan augenblicklich an seine Seite brachte.

Das untere Ende des nachlässig befestigt gewesenen Taus schwamm lose auf dem Wasser, und vor ihnen im hellen Mondscheine schwebte ein kleiner schwarzer Gegenstand, bereits so ferne, daß sie ihn kaum noch zu sehen vermochten. Das Boot war den Wellen preisgegeben.



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Zweites Kapitel.

Midwinter hatte sich in den dunklen Schatten des Bollwerks zurückgezogen, während Allan dreist in das gelbe Licht des Mondes hinausgetreten war. So standen die beiden Freunde auf dem Verdeck des Holzschiffes einander gegenüber und blickten sich gegenseitig schweigend an. Im nächsten Augenblicke aber erfaßte Allans unverwüstliche Sorglosigkeit mit Gewalt die komische Seite ihrer Lage. Er setzte sich rittlings auf das Bollwerk und brach in sein lautestes und herzlichstes Gelächter aus.

»Alles meine Schuld«, rief er; »aber es ist jetzt nicht zu ändern. Hier sitzen wir, sicher und fest in einer selbst gelegten Falle —— und dort treibt das Boot des Doctors dahin! Komm aus Deinem Dunkel heraus, Midwinter, ich kann Dich dort kaum sehen. Uebrigens möchte ich wissen, was zunächst geschehen muß.«

Midwinter regte sich nicht; keine Antwort erfolgte. Allan aber verließ das Bollwerk, stieg das Vordercastell hinan und sah aufmerksam in das Wasser des Sundes hinunter.

»Eines ist ziemlich gewiß«, sagte er. »Da wir die Strömung auf der einen und die Klippen auf der andern Seite haben, ist auf ein Entkommen durch Schwimmen jedenfalls nicht zu rechnen. Und damit sind unsere Aussichten auf dieser Seite des Wracks zu Ende. Jetzt laß sehen, wie sich die Sache auf der andern Seite anläßt Muth, Kamerad!« rief er fröhlich, indem er an Midwinter vorüberging. »Komm mit und laß uns nachsehen, was diese alte Tonne von einem Holzschiffe im Spiegel aufzuweisen hat.« Mit diesen Worten schlenderte er, die Hände in die Taschen steckend und den Chor eines komischen Liedes vor sich hinsummend, weiter.

Seine Stimme hatte dem Anscheine nach keinen Eindruck auf seinen Freund gemacht; doch wie er ihn im Vorübergehen leicht mit der Hand berührte, zuckte Midwinter zusammen und trat langsam aus dem Schatten des Bollwerks heraus. »Komm mit!« rief Allan, einen Augenblick seinen Gesang unterbrechend und sich umsehend. Der Andere folgte ihm, noch immer ohne ein Wort zu erwidern. Dreimal stand er still, ehe er das Spiegelende des Wracks erreichte; das erste Mal, um seinen Hut von sich zu werfen und sich das Haar aus der Stirn und von den Schläfen zurückzustreichen; das zweite Mal, weil er taumelte und sich einen Augenblick an einem nahe zur Hand befindlichen Ringbolzen festzuhalten genöthigt war; das dritte Mal, um mit dem verstohlenen Spähen eines Menschen, welcher im finsteren von andern Schritten verfolgt zu werden wähnt, hinter sich zu blicken. »Noch nicht!« flüsterte er sich zu, während seine Augen forschend durch die leere Luft schweiften. »Ich werde ihn im Spiegel sehen, wie er die Hand aus die Klinke der Kajütenthür legt.«

Das Spiegelende des Wracks war von dem Gerümpel gesäubert, das die Arbeiter, welche das Schiff abbrachen, in jedem andern Theile desselben haufenweise zurückgelassen hatten. Der einzige Gegenstand, der hier auf der ebenen Fläche des Verdecks ins Auge fiel, war das niedrige hölzerne Häuschen, in dem sich die Kajütenthür befand und welches das Dach der Kajütentreppe bildete. Das Rudergehäuse und das Kompaßhäuschen waren abgebrochen; aber der Kajüteneingang und alles, was zu demselben gehörte, war noch unangerührt geblieben. Die Springluke war herabgelassen und die Thür geschlossen.

Auf dem Hintertheile des Schiffs angelangt, schritt Allan geradeswegs dem Spiegel zu und schaute über das Hackebord auf das Meer hinaus. Ringsum auf den stillen mondbeleuchteten Gewässer, war nirgends ein Boot zu erblicken. Da er wußte, daß Midwinter besser in die Ferne sehe als er, rief er ihm zu: »Komm hier heraus und schau’ aus, ob irgendwo innerhalb Hörweite von uns ein Fischer zu sehen ist.« Als er keine Antwort erhielt, sah er sich um Midwinter war ihm bis zur Kajüte gefolgt und dort still gestanden. Er ries abermals und mit lauterer Stimme und winkte ihm ungeduldig zu. Midwinter hatte ihn gehört, denn er blickte auf, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren. Dort stand er, wie wenn er an den äußersten Grenzen des Schiffs angelangt und nicht weiter zu gehen im Stande gewesen wäre.

Allan ging zu ihm zurück. Es war nicht leicht zu entdecken, worauf seine Augen gerichtet waren, denn er hielt das Gesicht vom Mondlichte abgewendet; doch hatte es den Anschein, als ob seine Blicke mit einem seltsam forschenden Ausdruck auf die Kajütenthür geheftet seien. »Was giebt es dort?« frug Allan. »Laß sehen, ob die Thür verschlossen ist.« Aber sowie er einen Schritt vorwärts that, um die Thür zu öffnen, packte Midwinters Hand ihn plötzlich am Rockkragen und schob ihn zurück. Im nächsten Augenblicke ließ die Hand, ohne ihn jedoch fahren zu lassen, in der Heftigkeit ihres Griffes nach und zitterte, wie die Hand eines Menschen, dem alle seine Kräfte versagten.

»Muß ich mich als einen Arrestanten betrachten?« frug Allan halb erstaunt, halb belustigt. »Warum, in aller Welt, stierst Du fortwährend die Kajütenthür an? Hast Du etwa ein verdächtiges Geräusch dort unten gehört? Es nützt nichts, die Ratten zu stören, wenn Du das etwa meinst; wir haben keinen Hund bei uns. Menschen? Lebendige Menschen können es nicht sein, denn diese würden uns gehört haben und aufs Verdeck gekommen sein. Todte? Ganz unmöglich! In einem von Land umschlossenen Gewässer wie dieses hier würde keine Schiffsmannschaft ertrinken, wenn nicht das Schiff zuvor in Trümmer zerfallen wäre —— und hier ist das Schiff, so fest wie eine Kirche, und kann für sich selber zeugen. Ich bitte Dich, Mensch, wie Deine Hand zittert! Was kann es in jener verfaulten alten Kajüte geben, das Dir eine solche Furcht zu verursachen im Stande ist? Weshalb schauderst und zitterst Du nur so? Giebt es etwa Gesellschaft von der übernatürlichen Sorte an Bord? Der Herr erbarme sich unser! wie die alten Weiber sagen. Siehst Du ein Gespenst?«

»Ich sehe zwei Gespenster!« antwortete der Andere, durch eine wahnsinnige Eingebung, die Wahrheit zu offenbaren, mit Gewalt zum Reden und Handeln getrieben. »Zwei!« wiederholte er mit einem schweren Keuchen, indem er vergebens die fürchterlichen Worte zurückzudrängen versuchte. »Das Gespenst eines Mannes gleich Dir, der in der Kajüte ertrinkt! Und das Gespenst eines Mannes gleich mir, der jenen einschließt!«

Das herzliche Gelächter des jungen Armadale hallte abermals laut und lange durch die Stille der Nacht dahin.

»Der ihn einschließt, wie?« sagte Allan, sobald seine Heiterkeit ihn hinlänglich hatte zu Athem kommen lassen, um zu sprechen. »Das ist ein verwünscht unfreundlicher Streich von Deinem Gespenste, Master Midwinter. Das Wenigste was ich danach thun kann, ist, daß ich das meinige aus der Kajüte heraus und frei auf dem Schiffe umherlaufen lasse.«

Vermittelst einer nur momentanen Anwendung seiner überlegenen Stärke machte er sich leicht von Midwinter’s Hand frei. »Du dort unten!« rief er fröhlich, indem er seine starke Hand auf die wacklige Klinke legte und die Kajütenthür aufriß. »Allan Armadale’s Gespenst, komm aufs Verdeck!« In seiner fürchterlichen Unkenntniß der Wahrheit steckte er den Kopf zur Thür hinein und sah lachend auf die Stelle hinab, wo sein Vater gemordet worden war. »Pah!« tief er, indem er plötzlich mit einem Schaudern des Ekels zurücktrat. »Die Luft ist bereits verpestet und die Kajüte voll Wasser.«

So war es. Die Klippen, auf denen das gestrandete Schiff lag, waren durch die unteren Balken des Spiegels gedrungen und das Wasser durch das geborstene Gebälk hereingeströmt. Hier, an der Stelle, wo die That geschehen, war die unglückselige Parallele zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart vollständig. Dasselbe was die Kajüte zur Zeit der Väter gewesen, war sie auch jetzt zur Zeit der Söhne.

Allan stieß die Thür mit dem Fuße wieder zu und war ein wenig erstaunt über das plötzliche Schweigen seines Freundes seit dem Augenblicke, wo er die Hand auf die Klinke der Kajütenthür gelegt. Als er sich umwandte, erkannte er augenblicklich die Ursache dieses Schweigens. Midwinter war auf dem Verdeck niedergesunken und lag bewußtlos vor der Kajütenthür; sein Gesicht, das nach oben gewendet war, lag blaß und stille, wie das Gesicht eines Todten, im Mondscheine da.

Allan war in einer Sekunde an seiner Seite. Indem er Midwinter’s Haupt auf seine Knie nahm, spähte er vergebens auf dem öden Wrack nach Hilfe umher. Jede solche Aussicht war ihm hier unbarmherzig abgeschnitten »Was soll ich anfangen?« sprach er in der ersten Bestürzung zu sich selber. »Es ist kein Tropfen Wasser in der Nähe, außer dem faulen Wasser in der Kajüte.« Da trieb eine plötzliche Erinnerung die Farbe wieder in sein Gesicht und er zog ein Korbfläschchen aus der Tasche »Gott segne den Doctor dafür, daß er mir dies vor dem Absegeln gab!« rief er inbrünstig aus, indem er seinem Freunde einige Tropfen des ungemischten Whisky, den die Flasche enthielt, einflößte. Das Getränk übte augenblicklich seine Wirkung auf den Bewußtlosen. Er seufzte matt und öffnete langsam die Augen. »Habe ich geträumt?« frug er, mit unsicherem Blicke zu Allan’s Gesicht aufschauend. Seine Augen schweiften höher und begegneten den abgetakelten Masten des Wracks, die sich schwarz und gespenstisch an dem nächtlichen Himmel abzeichneten. Er schauderte bei dem Anblicke derselben zusammen und barg sein Gesicht an Allan’s Knie. »Kein Traum!« murmelte er kummervoll für sich. »O, mein Gott, kein Traum!«

»Du hast Dich den Tag über zu sehr ermüdet«, sagte Allan »und dieses verwünschte Abenteuer hat Dir den Garaus gemacht. Trinke noch ein wenig Whisky, es wird Dir gut thun. Kannst Du allein aufrecht sitzen, wenn ich Dich so gegen das Bollwerk lehne?«

»Warum allein? Warum verläßt Du mich?« frug Midwinter.

Allan deutete zu den Besahnstangen des Wracks hinauf, die noch nicht abgebrochen waren. »Du bist nicht wohl genug, um es hier auszuhalten, bis am Morgen die Arbeitsleute kommen werden«, sagte er. »Wir müssen wo möglich sogleich Mittel und Wege finden, um wieder ans Land zu gelangen. Ich will hinaufsteigen und mich wohl umschauen, um zu entdecken, ob uns eine menschliche Wohnung nahe genug ist, sodaß man unser Rufen hört.«

Selbst während des Augenblickes, in dem er diese wenigen Worte sprach, schweiften Midwinters Augen wiederum argwöhnisch nach der Kajütenthür.

»Geh nicht dort heran!« flüsterte er. »Versuche um Gotteswillen nicht, die Thür zu öffnen!«

»Nein, nein«, erwiderte Allan, ihm nachgebend. »Wenn ich aus dem Takelwerk herabsteige, will ich wieder hierher kommen.« Er sprach diese Worte mit einiger Gezwungenheit, da er zum ersten Male eine gewisse geheime Angst in Midwinters Gesichte wahrnahm, die ihn besorgt machte und die er sich nicht zu erklären vermochte. »Du bist doch nicht böse auf mich?« sagte er mit der ihm eignen einfachen, sanften Gutherzigkeit »Es ist dies alles meine Schuld, das weiß ich wohl, und ich habe mich wie ein roher und thörichter Mensch benommen, indem ich Dich verlachte, da ich hätte sehen sollen, daß Du krank warst. Es thut mir sehr leid, Midwinter. Sei nicht böse auf mich!«

Midwinter erhob langsam den Kopf. Seine Augen ruhten mit einem kummervollen Interesse lange und liebevoll auf Allan’s besorgtem Gesicht.

»Böse?« wiederholte er in seinem leisesten, sanftesten Tone. »Böse auf Dich? O, mein armer Junge, bist Du etwa dafür zu tadeln, daß Du freundlich gegen mich warst, als ich in dem alten westländischen Wirthshause krank lag? Und war ich dafür zu tadeln, daß Deine Freundlichkeit mich mit Dank erfüllte? War es unsre Schuld, daß wir nie an einander zweifelten und daß wir blind zusammen den Weg einschlugen, der uns hierher führen sollte? Die grausame Zeit naht, Allan, wo wir den Tag beklagen werden, an dem wir einander kennen lernten. Gieb mir die Hand, Bruder, am Rande des Abgrundes —— gib mir Deine Hand, solange wir noch Brüder sind.«

Allan wandte sich schnell ab, überzeugt, daß Midwinter’s Geist sich noch nicht von der Erschütterung seiner Ohnmacht erholt habe. »Vergiß den Whisky nicht!« sagte er heiter, indem er in das Takelwerk sprang und zu dem Besahnmast hinaufkletterte.

Es war nach zwei Uhr; der Mond fing zu schwinden an, und die Dunkelheit, die dem Tagesanbruch vorangeht, begann das Wrack zu umhüllen. Hinter Allan, wie er jetzt von der Höhe des Besahnmastes um sich schaute, lag das weite, einsame Meer. Vor ihm befanden sich die niedrigen, schwarzen, falschen Felsen und die kurzen Wellen des Kanals, die sich zornig schäumend in die gewaltige Ruhe des jenseitigen westlichen Oceans stürzten. Zur Rechten, majestätisch vom Wasserrande zurücktretend, zeigten sich die Felsen und Abgründe, zwischen denen die kleinen grasigen Hochebenen lagen; die sanft sich abwärts senkenden Dünen und die aufwärts ziehenden Haidewildnisse der Insel Man. Zur Linken erhoben sich die schroffen Felsenufer der kleinen Insel »Kalb« —— bald sich in schwarze Schlünde spaltend, bald niedrig unterhalb der sich weithin dehnenden Gras- und Haideabhänge dahinlaufend. Weder auf dem einen noch dem andern Ufer war ein Laut vernehmbar oder ein Licht zu erblicken. Die schwarzen Außenlinien der oberen Massen erschienen schattenhaft und undeutlich an dem immer dunkler werdenden geheimnißvollen Nachthimmel; der Landwind war gefallen; die kleinen dem Ufer zueilenden Wellen zogen geräuschlos ihres Wegs; kurz, es war nah und fern kein Laut vernehmbar, außer dem eintönigen Gemurmel des Wassers vor ihm, das durch die grauenvolle Stille drang, in der Land und Meer die Ankunft des neuen Tages erwarteten.

Selbst Allans sorglose Natur empfand das Feierliche des Augenblicks. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn, wie er hinabsah und seinen Freund auf dem Verdeck anrief.

»Ich glaube, ich sehe ein Haus«, sagte er, »rechts auf der Hauptinsel nach uns zu gelegen.« Er spähte, um sicher zu gehen, nochmals nach dem undeutlichen kleinen weißen Flecken in dem grasigen Abhange der Hauptinsel, hinter dem sich matte weiße Streifen hinzogen. »Es sieht wie ein steinernes Haus mit einer Umzäunung aus«, fuhr er fort. »Ich will den Versuch machen und es anrufen.« Er schlang den Arm um einen Reif, um sich festzuhalten, machte ein Sprachrohr aus beiden Händen und ließ dieselben plötzlich, ohne einen Laut von sich zu geben, wieder sinken. »Es ist so fürchterlich stille«, flüsterte er für sich, »ich fürchte mich fast, laut zu rufen.« Abermals sah er auf das Verdeck hinunter. »Ich werde Dich doch nicht erschrecken, Midwinter —— wie?« rief er mit einem unbehaglichen Lachen. Dann richtete er seine Augen noch einmal auf den undeutlichen weißen Gegenstand in dem Grasabhange. »Ich; kann nicht umsonst hier heraufgeklettert sein«, dachte er und bildete dann wieder ein Sprachrohr aus seinen beiden Händen. Diesmal rief er mit der ganzen Kraft seiner Lunge. »Ihr dort, am Ufer!« schrie er, das Gesicht der Hauptinsel zuwendend. »Ahoi — hoi — hoi!«

Der letzte Wiederhall seiner Stimme erstarb und war verklungen. Kein Laut antwortete ihm, ausgenommen das eintönige Gemurmel des vor ihm liegenden Wassers.

Er wandte sich wieder zu seinem Freunde hinunter und sah, wie Midwinters dunkle Gestalt sich aufrichtete und dann auf dem Verdeck auf und ab ging; doch entfernte dieselbe sich, wenn sie sich dem Bug des Wracks zuwandte, nie außer Gesichtsweite der Kajüte und überschritt, in entgegengesetzter Richtung dem Spiegel zugehend, nie die Kajütenthür. »Die Ungeduld drängt ihn, von hier fortzukommen«, dachte Allanz »ich will’s noch einmal versuchen.« Er rief daher nochmals das Land an und zwar, wie es ihm frühere Erfahrungen gelehrt, im höchsten Tone seiner Stimme.

Diesmal antwortete ihm ein anderer Laut als der des murmelnden Wassers. Das Brüllen erschrockener Kühe erscholl aus dem Gebäude auf dem grasigen Abhange und drang weit und melancholisch durch die frühe Morgenstille. Allan wartete und lauschte. Wenn das Gebäude ein Farmhaus war, so mußte die Unruhe unter den Kühen die Leute erwecken. War dasselbe jedoch nur ein Stall, so blieb nichts weiter zu erwarten. Das Brüllen der erschrockenen Thiere erscholl bald lauter, bald leiser —— und es geschah weiter nichts.

»Noch einmal!« sagte Allan, auf die unruhige Gestalt hinabblickend, die dort auf und ab schritt. Er rief zum dritten Male das Land an. Zum dritten Male wartete und lauschte er.

In einem Augenblicke, wo das Gebrüll der Thiere verstummt war, hörte er hinter sich auf dem gegenüberliegenden Ufer des Kanals —— matt und fern hin in der Einsamkeit der Insel »Kalb« —— einen kurzen, scharfen Schall, gleich dem fernen Gerassel eines schweren Thürriegels, welcher schnell zurückgezogen wurde. Er wandte sich augenblicklich nach dieser Richtung und strengte seine Augen an, ob er vielleicht ein Haus erblickte. Die letzten matten Strahlen des schwindenden Mondlichts zitterten hier und dort auf den höchsten Felsen und den steilen Anhöhen, doch über das ganze Land zwischen denselben lag eine tiefe schwarze finsterenis; ausgebreitet, und in dieser finstereniß war das Haus, falls überhaupt ein Haus vorhanden war, nicht sichtbar.

»Ich habe endlich Jemanden geweckt«, rief Allan seinem Freunde ermuthigend zu, welcher Letztere noch immer mit einer seltsamen Gleichgültigkeit gegen alles, was über ihm und um ihn vorging, auf dem Verdeck auf- und ab schritt. »Paß auf, wenn die Antwort kommt!« Und Allan rief, das Gesicht der kleinen Insel zuwendend, abermals laut um Hilfe.

Der Ruf ward nicht beantwortet, wohl aber von einer gellenden, Höhnenden Stimme nachgeahmt —— mit wilderem und immer wilderem Gekreisch, das sich aus der tiefen fernen finsterenis; erhob und eine schauerliche Mischung von menschlicher und thierischer Stimme war. Ein plötzlicher Argwohn schoß durch Allan’s Gehirn, der ihn schwindeln und die Hand erstarren machte, mit der er sich am Takelwerke festhielt. In athemlosem Schweigen schaute er nach der Stelle hin, von der das erste Nachahmen seines Hilferufs erschollen war. Nach einer kurzen Pause ward das Gekreisch wiederholt, und der Schall desselben kam näher. Plötzlich sprang eine schwarze Gestalt, welche die eines Mannes zu sein schien, aus dem Gipfel eines Felsens hervor und tanzte und schrie in dem schwindenden Glanze des Mondlichts. Das Geschrei eines erschrockenen Weibes vermischte sich mit dem des springenden Geschöpfes auf dem Felsen. Ein rother Funke von einem Lichte blitzte durch ein unsichtbares Fenster in die Dunkelheit hinaus. Das heisere Rufen einer Zornigen Männerstimme ward durch das Geschrei hindurch gehört. Eine zweite schwarze Gestalt erschien aus dem Felsen, rang mit der ersteren und verschwand mit dieser in der finstereniß. Das Geschrei wurde immer matter und matter —— das der Frau hörte auf —— die heisere Stimme des Mannes ward noch einmal auf einen Augenblick vernommen, wie dieselbe dem Wrack Worte zurief, die der Entfernung halber unverständlich waren, jedoch offenbar eine Mischung von Wuth und Furcht ausdrückten. Einen Augenblick später ward abermals der Schall des Thürriegels gehört, der rothe Lichtfunke erlosch und die ganze kleine Insel lag wieder ruhig in nächtlichem Schatten da. Das Brüllen der Kühe auf der Hauptinsel hörte auf, erscholl dann noch einmal und verstummte endlich ganz.



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Drittes Kapitel.

Kalt und eintönig wie zuvor drang das ewige Gemurmel der kurzen Wellen durch den weiten, weiten Raum —— der einzige Laut, der noch blieb, während die geheimnißvolle Stille der Morgendämmerung gleich einem Schleier vom Himmel herabsank und das Wrack umhüllte.

Allan stieg vom Besahnmast herunter und kehrte zu seinem Freunde auf dem Verdeck zurück.

»Wir müssen uns gedulden bis die Zimmerleute zur Arbeit kommen«, sagte er, wie er Midwinter auf halbem Wege bei seinem rastlosen Spaziergange begegnete. »Nach dem, was sich ereignet hat, kommt mir’s nicht darauf an zu gestehen, daß ich genug davon habe, das Land anzurufen. Denke nur, daß sich in jenem Hause dort am Ufer ein Wahnsinniger befindet und ich ihn mit meinem Rufen aufgeweckt habe! Schauerlich, nicht wahr?«

Midwinter stand einen Augenblick still und sah Allan mit der Miene eines Menschen an, zu dem man in ganz vertraulicher Weise von Dingen spricht, die ihm völlig fremd sind. Es hatte das Ansehen, als ob er von dem, was sich soeben auf der Insel »Kalb« zugetragen, durchaus gar nichts vernommen habe.

»Außerhalb dieses Schiffes ist nichts schauerlich«, sagte er, »auf demselben aber alles!«

Nachdem er mit diesen seltsamen Worten geantwortet, wandte er sich wieder ab und setzte seinen Spaziergang fort.

Allan nahm die Whiskyflasche auf, die neben ihm auf dem Verdecke lag, und erquickte seine Lebensgeister durch einen Trunk aus derselben. »Dies hier ist etwas an Bord, das nicht schauerlich ist«, entgegnete er munter, indem er den Stöpsel wieder in die Flasche schob. »Und hier ist noch etwas«, fügte er hinzu, indem er eine Cigarre aus seinem Etui nahm und dieselbe anbrannte »Drei Uhr!« fuhr er dann, auf seine Uhr blickend, fort und setzte sich, den Rücken gegen das Bollwerk lehnend, gemüthlich auf dem Verdeck nieder. »Es ist nicht mehr weit vom Tagesanbruch; wir werden bald durch Vogelgezwitscher aufgemuntert werden. Weißt Du, Midwinter, Du scheinst Dich von jener unglückseligen Ohnmacht völlig erholt zu haben. Wie Du draus los marschierst! Komm her und rauche eine Cigarre und mache Dir’s bequem. Was soll das ewige Hin- und Hergetrabe nützen?«

»Ich warte«, sagte Midwinter.

»Wartest! Worauf?«

»Auf das, was entweder Dir oder mir oder uns beiden zustoßen wird, ehe wir dies Schiff verlassen.«

»Mit aller Hochachtung vor Deinem überlegenen Urtheile bin ich doch der Ansicht, lieber Junge, daß sich bereits genug zugetragen hat. Das Abenteuer genügt vollkommen, wie es augenblicklich steht. Eine fernere Entwicklung desselben ist mehr als ich verlange.«

Er erquickte sich abermals durch einen Trunk aus der Whiskyflasche und plauderte, seine Cigarre paffend, auf seine gewohnte leichte Weise fort. »Ich besitze nicht Deine glänzende Einbildungskraft, alter Junge, und hoffe, daß das nächste Ereigniß die Ankunft des Bootes mit den Arbeitsleuten sein wird. Ich vermuthe, daß Deine erstaunliche Phantasie mit Dir durchgegangen ist, während Du ganz allein hier unten warst. Komm! Woran dachtest Du, während ich oben im Besahnmast war und die Kühe ängstigte?«

Midwinter stand plötzlich still. »Gesetzt, ich sagte es Dir?« fragte er seinerseits.

»Gesetzt, Du thätest das?«

Die marternde Versuchung, die Wahrheit zu offenbaren, die durch die unbarmherzige Fröhlichkeit seines Gefährten schon einmal in ihm erweckt worden war, bemächtigte sich Midwinter’s zum zweiten Male. Er lehnte sich im finsteren an die hohe Schiffsseite zurück und blickte schweigend auf Allan’s Gestalt hinab, die gemüthlich auf dem Verdeck ausgestreckt lag. »Entreiße ihn«, flüsterte ein Dämon listig, »dieser Unwissenheit und Unbefangenheit, dieser mitleidslosen Gemüthsruhe. Zeige ihm die Stelle, wo die That begangen ward; lehre ihn dieselbe kennen, wie Du sie kennst, fürchten, wie Du sie fürchtest. Erzähle ihm von dem Briefe, den Du verbrannt, und von den Worten, die kein Feuer zu verzehren vermag und die in diesem Augenblicke in Deinem Gedächtnisse leben. Laß ihn Dein Gemüth sehen, wie dasselbe gestern war, als es Dein sinkendes Vertrauen zu Deinen eigenen Ueberzeugungen wieder erweckte, um auf Dein Leben auf dem Wasser zurückzublicken und Dich durch die glückliche Erinnerung zu trösten, daß Du während all’ Deiner Reisen nie auf dieses Fahrzeug gestoßen bist. Laß ihn Dein Gemüth in seinem gegenwärtigen Zustande sehen, wo das Schiff, bei diesem Wendepunkte Deines Lebens, beim Beginne Deiner Freundschaft mit dem einen Manne unter allen Menschen, den Dein Vater Dich meiden hieß, Dich plötzlich gefangen hat. Gedenke jener Worte des Sterbenden und flüstere ihm dieselben ins Ohr, damit auch er ihrer gedenke:

»Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei, unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist.« So flüsterte der Versucher. Und so stieg der Einfluß des Vaters, gleich einem Gifthauche, aus dessen Grabe empor und vergiftete das Gemüth des Sohnes.

Allan verwunderte sich über das plötzliche Schweigen seines Freundes. Er schaute schläfrig über seine Schulter zurück. »Wieder in Gedanken versunken!« rief er mit einem milden Gähnen.

Midwinter trat aus dem Schatten hervor und näher an Allan heran. »Ja«, sagte er, »ich denke an die Vergangenheit und an die Zukunft.«

»Die Vergangenheit und die Zukunft?« wiederholte Allan, indem er sich’s in einer neuen Lage bequem zu machen suchte. »Was mich betrifft, so bin ich über die Vergangenheit stumm. Es ist dies für mich ein schmerzlicher Gegenstand —— die Vergangenheit heißt augenblicklich so viel, wie der Verlust des von Mr. Hawbury geborgten Bootes. Laß uns von der Zukunft reden. Hast Du Dir etwa eine praktische Ansicht über dieselbe gebildet, wie der liebe alte Brock es nennt? Hast Du die nächste ernste Frage in Erwägung gezogen, die an uns beide bei unserer Rückkehr nach dem Gasthofe herantritt —— die Frage wegen des Frühstücks?«

Nach einem kurzen Zögern trat Midwinter noch einen Schritt näher. »Ich habe an Deine Zukunft und die meinige gedacht«, sagte er; »ich habe an die Zeit gedacht, wo Dein Lebensweg und der meinige weit aus einander liegen werden.«

»Sieh, der Tag bricht an!« rief Allan aus. »Sieh, wie die Masten bereits deutlicher hervortreten! Verzeihe —— was sagtest Du?«

Midwinter antwortete nicht. Der Kampf zwischen dem erblichen Argwohne, der ihn vorwärts trieb, und seiner unbezwinglichen Liebe zu Allan, die ihn zurückhielt, ließ die nächsten Worte auf seinen Lippen ersterben. Er wandte in sprachlosem Schmerze das Gesicht ab. »O, mein Vater!« dachte er. »Es wäre besser gewesen, Du hättest mich an jenem Tage getödtet, da ich an Deiner Brust lag, als daß Du mich leben ließest, um dies zu leiden!«

»Was sagtest Du von der Zukunft?« frug Allan. »Meine Aufmerksamkeit war eben auf den Tagesanbruch gerichtet, deshalb hörte ich es nicht.«

Midwinter bemeisterte seine Bewegung und antwortete. »Du hast mich mit Deiner gewohnten Güte behandelt; sagte er, »indem Du den Plan faßtest, mich mit Dir nach Thorpe-Ambrose zu nehmen. Nach Ueberlegung der Sache bin ich jedoch der Ansicht, daß es besser sein wird, wenn ich mich nicht in einen Ort eindränge, wo man mich nicht kennt und nicht erwartet.« Seine Stimme zitterte, und er schwieg wieder. Je mehr er vor dem Bild des glücklichen Lebens, das er auf diese Weise von sich wies, zurückwich, desto deutlicher stand ihm dasselbe vor der Seele.

Allan dachte augenblicklich an die Mystification, die er sich in Bezug auf den neuen Verwalter gegen seinen Freund erlaubt, als sie mit einander in der Kajüte der Jacht berathschlagt hatten. »Ob er sich’s überlegt hat«, fragte er sich, »und endlich die Wahrheit zu argwöhnen anfängt? Ich will versuchen, es aus ihm herauszubringen. —— Schwatze so viel Unsinn wie Du willst, mein lieber Junge«, erwiderte er, »aber vergiß nicht, daß Du mir versprochen hast, mich in Thorpe-Ambrose als Gutsherr zu sehen und mir Deine Ansicht über den neuen Verwalter zu sagen.«

Midwinter trat plötzlich hart an Allan heran. »Ich rede nicht von Deinem Verwalter oder Deinen Gütern«, sagte er leidenschaftlich; »ich spreche von mir selbst. Hörst Du wohl? Von mir selbst! Ich bin kein passender Gefährte für Dich. Du weißt nicht, wer ich bin.« Ebenso schnell wie er hervorgetreten war, zog er sich wieder in den dunkeln Schatten des Bollwerks zurück. »O Gott, ich kann es ihm nicht sagen«, flüsterte er vor sich hin.

Auf einen Augenblick, doch nur auf einen Augenblick, fühlte Allan sich überrascht« »Weiß nicht, wer Du bist?« Doch schon nach diesen Worten gewann seine gemächliche Gutmüthigkeit wieder die Oberhand. Er nahm die Whiskyflasche vom Boden auf und schüttelte dieselbe bedeutungsvoll »Hör einmal«, sagte er, »wieviel hast Du von dieser Medicin des Doctors eingenommen, während ich oben im Besahnmast saß?«

Der leichte Ton, in dem er zu sprechen fortfuhr, brachte Midwinter außer sich. Er trat wieder ins Licht hinaus und stampfte zornig mit dem Fuße. »Höre mich an!« begann er. »Du weißt nicht die Hälfte der gemeinen Beschäftigungen meines Lebens. Ich bin der Knecht eines Krämers gewesen; ich habe den Laden ausgekehrt und die Fensterläden geschlossen; ich habe Packete in der Stadt ausgetragen und an den Thüren der Kunden auf das Geld für meinen Herrn gewartet.«

»Ich habe nie etwas halb so Nützliches gethan«, erwiderte Allan mit vollkommener Gelassenheit. »Du lieber alter Junge, welch ein fleißiger Bursche Du einst gewesen sein mußt!«

»Ich war einst ein Landstreicher und ein gemeiner Lump«, entgegnete der Andere wüthend; »ich bin ein Acrobat, ein Straßenjunge, ein Zigeunerbursch gewesen! Ich habe mit tanzenden Hunden auf der Landstraße um Kupferpfennige gesungen! Ich habe eine Bedientenlivree getragen und bei Tische aufgewartet! Ich bin ein gewöhnlicher Matrosenkoch und ein Mensch für alles bei einem verhungernden Fischer gewesen! Was hat ein vornehmer Herr in Deiner Stellung mit einem Manne in der meinigen gemein? Kannst Du mich in der Gesellschaft zu Thorpe-Ambrose einführen? Mein Name allein würde schon ein Vorwurf für Dich sein. Denke Dir nur die Gesichter Deiner neuen Nachbarin wenn ihr Diener Ozias Midwinter und Allan Armadale in einem Athem anmeldet! »Er brach in ein gellendes Lachen aus und wiederholte die beiden Namen mit einer verachtungsvollen Bitterkeit des Nachdrucks, die erbarmungslos den Contrast zwischen denselben markierte.

Etwas in dem Klange seines Lachens berührte selbst Allan’s unbekümmerte Natur ein wenig unangenehm. Er richtete sich auf dem Verdeck empor und sprach zum ersten Male in ernstem Tone. »Ein Scherz ist ein Scherz, Midwinter«, sagte er, »solange Du ihn nicht zu weit treibst. Ich erinnere mich, wie Du einmal etwas Aehnliches zu mir sagtest, als ich Dich in Sommersetshire pflegte. Du zwangst mich, Dich zu fragen, ob gerade ich von allen Leuten auf der Welt es verdient habe, daß Du mich zurückwiesest und fern hieltest. Zwinge mich nicht, dies noch einmal zu sagen. Scherze, so viel Du willst, alter Junge, aber in einer andern Weise. Diese Art und Weise thut mir weh.«

So einfach diese Worte waren und so einfach der Ton, in dem sie gesprochen wurden, schienen sie doch augenblicklich eine Veränderung in Midwinter’s Gemüthe hervorzubringen. Seine empfindsame Natur bebte wie bei einer plötzlichen Erschütterung zurück. Ohne ein Wort zu erwidern, schritt er dem Vordertheile des Schiffes zu, setzte sich auf einen Bretterhaufen zwischen den Masten und strich sich in einer gedankenlosen, verdutzten Weise mit der Hand über die Stirn. Obgleich seines Vaters Glaube an ein Verhängniß auch der seinige war; obgleich in seinem Geiste nicht der geringste Zweifel darüber herrschte, daß die Frau, welche Mr. Brock in Sommersetshire gesehen, dieselbe sei, die sich in London das Leben zu nehmen versucht hatte; obgleich das ganze Grauen, das ihn nach dem Durchlesen des Briefes aus Wildbad erfüllt, ihn auch jetzt wieder ergriffen hatte, drang ihm doch die Art und Weise, in der Allan sich auf ihre Freundschaft berief, mit einer Macht ins Herz, die unwiderstehlicher war als selbst die Macht seines Aberglaubens. »Warum sollte ich ihn betrüben?« flüsterte er für sich. »Wir sind hier noch nicht am Ende —— noch lauert jene Frau im Hintergrunde. Warum sollte ich mich ihm widersetzen, da das Unglück einmal geschehen ist und die Warnung zu spät kommt? Was geschehen soll, wird geschehen. Was habe ich mit der Zukunft zu schaffen —— und was er?«

Er kehrte zu Allan zurück, setzte sich an seiner Seite nieder und faßte seine Hand. »Vergieb mir«, sagte er sanft; ich habe Dir zum letzten Male wehe gethan« Und noch ehe es Allan möglich war, hierauf zu antworten, nahm er hastig die Whiskyflasche vom Verdeck auf. »Komm!« rief er mit einer plötzlichen Anstrengung, die Fröhlichkeit seines Freundes nachzuahmen, »Du hast die Medicin des Doctors versucht; warum sollte ich nicht dasselbe thun?«

Allan war entzückt. »Dies nenne ich eine höchst vortheilhafte Veränderung«, sagte er. »Midwinter ist wieder der Alte. Horcht Da sind die Vögel! Sei mir gegrüßt, du lächelnder Morgen!« Er sang die Worte dieses Rundgesanges mit seiner alten fröhlichen Stimme und schlug Midwinter mit seiner gewohnten frohen Herzlichkeit auf die Schulten »Wie ist es Dir gelungen, jene verwünschte Migräne aus dem Kopfe loszuwerden? Weißt Du wohl, daß Du mit Deiner Prophezeihung entweder dem Einen oder dem Andern von uns müsse etwas zustoßen, ehe wir dies Schiff verließen, förmlich unangenehm wurdest?«

»Reiner Unsinn!« erwiderte Midwinter verachtungsvoll. »Ich glaube, mein Kopf hat sich nie ganz wieder erholt, seit ich jenes Fieber hatte; ich habe nun einmal einen Sparren zu viel im Kopfe, wie die Leute zu sagen pflegen. Laß uns von etwas Anderem reden. Von jenen Leuten, denen Du Dein Häuschen vermiethet hast? Ob man sich wohl auf den Bericht des Agenten über die Familie des Majors verlassen kann? Es mag vielleicht außer seiner Frau und seiner Tochter noch eine Dame im Hause sein.«

»Oho!« rief Allan. »Fängst auch Du jetzt etwa an, an Nymphen unter den Bäumen und Courschneidereien im Obstgarten zu denken? Wie? Noch eine Dame, so? Gesetzt, der Familienkreis des Majors hat keine solche auszuweisen? Wir werden jene halbe Krone noch einmal kreiseln lassen müssen, um zu bestimmen —— wer von uns beiden den Vorrang bei Miß Milroy haben soll.«

Diesmal antwortete Midwinter in demselben leichten und sorglosen Tone, den Allan angeschlagen hatte. »Nein, nein«, sagte er; »der Hauswirth des Majors hat das erste Anrecht an die Beachtung der Tochter des Majors. Ich will mich in den Hintergrund zurückziehen und auf die nächste Dame warten, die in Thorpe-Ambrose ankommt.«

»Sehr wohl. Ich will eine dahin gehende Aufforderung an die Frauen von Norfolk im Park anschlagen lassen«, bemerkte AlIan. »Bist Du besonders eigen in Bezug aus Größe und Farbe? Welches ist Dein Lieblingsalter?«

Midwinter spielte mit seinem Aberglauben, wie man mit einer geladenen Flinte spielt, die uns tödten, oder mit einem wilden Thiere, das uns fürs ganze Leben verstümmeln kann. Er nannte das Alter der Frau in dem schwarzen Kleide und dem rothen gewirkten Shawl, wie er dasselbe selbst berechnet hatte.

»Fünfunddreißig.«

Allein sowie diese Worte seinen Lippen entfielen, verließ ihn plötzlich seine erkünstelte Fröhlichkeit. Er sprang von seinem Sitze auf, völlig taub gegen Allans Neckereien wegen dieser sonderbaren Antwort, und nahm in tiefem Schweigen seinen rastlosen Spaziergang auf dem Verdeck wieder auf. Der Gedanke, der ihn vorher in der Dunkelheit bei seinem Auf- und Abgehen begleitet, begleitete ihn auch jetzt in der Tageshelle Schritt für Schritt. Es bemächtigte sich seiner abermals die Ueberzeugung daß entweder ihm oder Allan irgendetwas zustoßen müsse, ehe sie das Wrack verließen.

Mit jeder Minute ward es heller am östlichen Himmel, und die finsteren Stellen auf dem Verdeck des Holzschiffes zeigten in der Helle des Tages ihre nackte Leerheit. Wie der Landwind sich wieder erhob, erwachte auch das Meer und fing im Morgenlichte zu murmeln an. Selbst das kalte Geplätscher der kurzen Wellen veränderte seinen melancholischen Klang und schlug sanfter an das Ohr, als die milden Strahlen der Sonne warm auf dieselben herabfielen. Midwinter machte auf dem Vordertheile des Schiffes Halt und suchte sich wieder in die Gegenwart zu versetzen. Wohin er sich wandte, sah er sich von den erheiternden Einflüssen der Stunde umgeben. Das frohe Morgenlächeln des Sommerhimmels goß in seiner barmherzigen Liebe zur alten milden Erde seine allumfassende Herrlichkeit selbst über das Wrack aus! Der Thau, der glitzernd auf den Feldern der Inseln lag, funkelte auch auf dem Verdeck, und das abgenutzte rostige Tafelwerk war ebenso glänzend geschmückt wie die frischen, grünen Blätter am Ufer. Indem er rings umherschaute, wanderten Midwinter’s Gedanken unwillkürlich zu dem Gefährten, der das Abenteuer der Nacht mit ihm getheilt hatte. Er kehrte nach dem Hintertheile des Schiffes zurück und redete Allan an. Da er keine Antwort erhielt, trat er zu der liegenden Gestalt heran und betrachtete dieselbe näher. Allan war, sich selbst überlassen, von seiner Ermüdung überwältigt worden. Sein Kopf war zurückgesunken, sein Hut herabgefallen. Er lag, der Länge nach auf dem Verdeck ausgestreckt, in festem friedlichen Schlummer.

Midwinter nahm seinen Spaziergang wieder auf; sein Geist war in Zweifel versunken; seine eigenen früheren Gedanken erschienen ihm plötzlich sehr seltsam. Mit wie trüben Ahnungen hatte er der kommenden Zeit entgegengesehen —— und wie harmlos war diese Zeit jetzt gekommen! Die Sonne stieg am Himmel auf, die Stunde der Erlösung rückte immer näher und näher, und von den beiden Armadale, die auf dem unglückseligen Schiffe gefangen waren, lag der eine in sanftem Schlummer da, während der andere ruhig das Erwachen des neuen Tages beobachtete.

Die Sonne stieg höher; die Stunde rückte vor. In dem geheimen Argwohne gegen das Wrack, der ihm noch immer anhaftete, schaute Midwinter spähend nach beiden Ufern hinüber, um Zeichen erwachenden menschlichen Lebens zu entdecken. Allein es war noch immer einsam am Lande. Die Rauchsäulen, die bald aus den Essen der Bauernhütten emporkräuseln sollten, waren noch nirgend zu sehen.

Nach einem kurzen Sinnen kehrte er wieder nach dem Hintertheile des Schiffes zurück, um zu sehen, ob sich nicht ein Fischerboot innerhalb Hörweite hinter ihnen befinde. Für, den Augenblick mit diesem neuen Gedanken beschäftigt, ging er eilig an Allan vorüber, indem er kaum bemerkte, daß dieser noch immer schlafe. Mit dem nächsten Schritte würde er sich am Hackebord befunden haben —— doch ein Laut verhinderte ihn, diesen Schritt zu thun, ein Laut, der einem matten Stöhnen glich. Er wandte sich um und betrachtete den Schläfer auf dem Verdeck. Er kniete nieder und beobachtete ihn näher.

»Jetzt ist das Unglück da!« flüsterte er für sich. »Nicht für mich —— aber für ihn.«

Es war da in der hellen Frische des Morgens; es war gekommen in dem Geheimnisse und dem Grauen eines Traumes. Das Gesicht, welches Midwinter zuletzt so ruhig gesehen, war jetzt das verzerrte Gesicht eines Leidenden. Der Schweiß stand dicht auf Allan’s Stirn und feuchtete sein lockiges Haar. Seine halb geöffneten Augen zeigten nichts als das Weiße des matt glänzenden Augapfels. Seine ausgestreckten Hände kratzten und krallten auf dem Verdeck umher. Von Zeit zu Zeit stöhnte und murmelte er vor sich hin; aber die Worte, die ihm entschlüpften wurden durch sein Zähnefletschen unverständlich. Dort lag er —— körperlich dem Freunde so nahe, der sich über ihn hinbeugte; im Geiste sofern, daß die Beiden sich ebenso gut in verschiedenen Welten hätten befinden können —— dort lag er, während der Schein der Morgensonne auf sein Gesicht herabströmte, in den Qualen seines Traumes.

In dem Geiste des Mannes, der ihn betrachtete, erwachte eine Frage, und nur diese eine. Was hatte das Verhängnis, das ihn auf diesem Schiffe gefangen hielt, ihn sehen zu lassen bestimmt?

Hatte der verrätherische Schlaf die Pforten des Grabes für denjenigen der beiden Armadale geöffnet, den der andere über die Wahrheit in Unwissenheit erhalten? Offenbarte die Ermordung des Vaters sich in einem Traumgesichte dem Sohne, hier an derselben Stelle, wo das Verbrechen begangen worden war?

Indem diese Frage alles Andere in seinem Geiste in den Schatten drängte, kniete der Sohn des Mörders auf dem Verdeck nieder und betrachtete den Sohn des Mannes, den seines Vaters Hand erschlagen.

Der Kampf zwischen dem schlafenden Körper und dem wachen Geiste ward jeden Augenblick heftiger. Des Träumenden hilfloses Jammern nach Erlösung ward lauter; seine Hände erhoben sich und krallten die leere Luft. Mit der alles überwindenden Furcht ringend, in der er noch immer befangen war, legte Midwinter seine Hand sanft auf Allan’s Stirn. So leicht die Berührung war, regten sich doch in dem träumenden Manne geheime Sympathien, die dieselbe beantworteten. Sein Stöhnen hörte auf und seine Hände sanken langsam herab. Es erfolgte ein Augenblick der Erwartung, und Midwinter schaute näher hin. Sein Athem strich leicht über das Gesicht des Schlafenden hin. Da richtete Allan sich plötzlich empor, warf sich auf seine Knie, als wäre ein Trompetenstoß an sein Ohr gedrungen —— und im Augenblick war er wach.

»Du hast geträumt«, sagte Midwinter, als der Andere ihn in der ersten Verwirrung des Erwachens wild anstierte.

Allan’s Augen schweiften über das Verdeck hin —— anfangs mit leerem Blicke, dann mit einem Ausdrucke zorniger Ueberraschung. »Sind wir noch immer hier?« sagte er, während Midwinter ihm aufstehen half. »Was ich sonst immer an Bord dieses verdammten Schisses thun mag«, fügte er nach einem Augenblicke hinzu, »jedenfalls will ich hier nicht wieder einschlafen!«

Indem er diese Worte sprach, spähten die Augen seines Freundes mit stiller Frage in seinem Gesichte. Sie gingen neben einander auf dem Schiffe auf und ab.

»Erzähle mir Deinen Traum«, bat Midwinter mit einem seltsamen Tone des Argwohns in seiner Stimme und einer seltsamene Kürze in seinem Wesen.

»Ich kann es noch nicht erzählen«, erwiderte Allan. »Warte ein wenig, bis ich mich wieder gefaßt habe.«

Sie gingen noch einmal auf und ab. Midwinter stand still und ergriff abermals das Wort.

»Schau mich einen Augenblick an, Allan!« sagte er hastig.

Es lag in Allan’s Gesichte, wie er dasselbe dem Sprechenden zuwandte, etwas von der Qual des Traumes und etwas von dem natürlichen Erstaunen über diese soeben an ihn gerichtete seltsame Aufforderung; doch war keine Spur von Groll oder lauerndem Mißtrauen darin zu entdecken. Midwinter wandte sich schnell zur Seite und verbarg, so gut er es vermochte, den Ausdruck freudiger Ueberraschung, zu dem ihn sein erleichtertes Herz zwang.

»Sehe ich ein wenig verstört aus?« frug Allan, indem er seinen Arm nahm und ihn wieder weiter führte. »Beunruhige Dich deshalb nicht. Mir ist der Kopf wild und schwindlich —— aber ich werde es bald überwinden.«

Sie schritten während der nächsten wenigen Minuten schweigend auf und ab, der Eine, indem er sich des Grauens seines Traumes zu entschlagen bemüht war, der Andere, indem er zu entdecken versuchte, worin das Grauen dieses Traumes bestanden habe. Von ihrer bedrückenden Furcht befreit, hatte sich Midwinter’s abergläubische Natur sofort auf eine weitere Schlußfolgerung gestürzt. Hatte etwa der Schläfer im Traume eine andere Vision gehabt als die Offenbarung der Vergangenheit? Hatte sein Traum ihn in dem Buche der Zukunft seine künftige Lebensgeschichte lesen lassen? Der blose Gedanke an diese Möglichkeit verdoppelte Midwinter’s Verlangen, in das Geheimniß einzudringen, welches Allan’s Schweigen ihm noch immer vorenthielt.

»Ist Dein Kopf jetzt klarer?« frug er. »Kannst Du mir jetzt Deinen Traum erzählen?«

Während er diese Frage that, rückte der letzte denkwürdige Augenblick in dem Abenteuer nahe heran.

Sie waren am Spiegel angelangt und im Begriff, sich wieder umzuwenden. Während Allan die Lippen öffnete, um jene Frage Midwinter’s zu beantworten, schaute er mechanisch aufs Meer hinaus, und anstatt zu antworten lief er plötzlich an den Hackebord und schwenkte mit lautem Jubelrufe den Hut.

Midwinter gesellte sich zu ihm und sah ein großes sechsruderiges Boot, das gerade in den Kanal des Sundes hineinruderte. Eine Gestalt, die sie beide zu erkennen glaubten, erhob sich hastig hinter den Rudertaljen und erwiderte hutschwenkend Allan’s Begrüßung. Das Boot kam näher; der Steuermann rief ihnen munter zu, und sie erkannten die Stimme des Doctors.

»Gott sei gelobt, daß Sie sich beide über Wasser befinden!« sagte Mr. Hawbury, als sie ihm auf dem Verdeck des Holzschiffes entgegenkamen. »Welcher Wind von allen Winden des Himmels hat Sie hierher geweht?«

Bei dieser Frage blickte er Midwinter an; aber Allan erzählte anstatt seines Freundes ihm die Geschichte der vergangenen Nacht und befrug seinerseits den Doctor. Das eine, alles verzehrende Interesse in Midwinter’s Geiste, das Geheimniß des Traumes zu erfahren, ließ ihn während alles dessen schweigen. Unbekümmert um alles, was um ihn her geschah oder gesagt wurde, folgte er wie ein Hund Allan überall hin, bis der Augenblick kam, wo sie ins Boot hinabstiegen. Mr. Hawbury’s ärztliches Auge war neugierig aus ihn gerichtet und bemerkte seine wechselnde Farbe, sowie die beständige Unruhe seiner Hände. »Ich möchte für alles in der Welt nicht in der Haut jenes Mannes stecken«, dachte er, indem er den Helmstock des Bootes ergriff und den Ruderern Befehl gab, vom Wrack abzustoßen.

Da Mr. Hawbury alle Erklärungen von seiner Seite bis dahin verschoben hatte, wo sie sich auf der Rückfahrt nach Port-St.-Mary befinden würden, schickte er sich nunmehr an, zunächst Allan’s Neugier zu beschwichtigen. Die Umstände, welche ihn seinen beiden Gästen vom vorigen Abend zu Hilfe geführt, waren sehr einfach. Das verlorene Boot war von Fischersleuten aus Port-Erin, die dasselbe sofort als das des Doctors erkannt und augenblicklich einen Boten nach seinem Hause abgesandt hatten, auf der westlichen Seite der Insel auf dem Meere gefunden worden. Der Bericht des Boten von dem, was sich ereignet, hatte Mr. Hawbury natürlich mit Besorgniß für Allan’s und seines Freundes Sicherheit erfüllt. Er hatte unverzüglich Beistand gesucht und war, dem Rathe der Bootsleute folgend, zuerst nach der gefährlichsten Stelle an der Küste geeilt —— der einzigen Stelle, an der bei so ruhigem Wetter einem Boote, das von erfahrenen Männern geführt wurde, möglicherweise ein Unfall zustoßen konnte —— nämlich dem Kanal des Sundes. Nachdem er in dieser Weise seine willkommene Ankunft auf dem Schauplatze erklärt, bestand der Doctor in seiner Gastfreundschaft darauf, daß seine Gäste vom vorigen Abend auch an diesem Morgen wieder seine Gäste würden. Er erklärte, es werde für die Leute im Gasthofe zu früh sein, um sie aufzunehmen, und sie würden Betten und Frühstück in seinem, Mr. Hawbury’s, Hause bereit finden.

Bei der ersten Pause in der Unterhaltung zwischen Allan und dem Doktor berührte Midwinter, der weder an dem Gespräch theilgenommen, noch dasselbe angehört hatte, den Arm seines Freundes. »Fühlst Du Dich besser?« frug er flüsternd. »Wirst Du Dich bald hinlänglich gefaßt haben, um mir das zu erzählen, was ich zu wissen wünsche?«

Allan runzelte ungeduldig die Stirn; der Traum, sowie die Hartnäckigkeit, mit der Midwinter immer wieder auf denselben zurückkam, schienen ihm beide gleich zuwider zu sein. Er antwortete kaum mit seiner gewohnten Gutmüthigkeit »Ich werde wohl keine Ruhe haben, bis ich es Dir erzähle«, sagte er; »darum will ich es lieber sogleich thun.«

»Nein!« erwiderte Midwinter mit einem Blicke auf den Doctor und dessen Ruderer »Nicht, wo Du von Andern gehört werden kannst —— nicht eher, als bis wir allein sind.«

»Wenn Sie noch einen letzten Blick aus Ihr Nachtquartier zu werfen wünschen, meine Herren«, sagte der Doctor, »so ist es gerade noch Zeit! In einer Minute wird die Küste uns das Schiff entziehen.«

Beide Armadales warfen schweigend einen letzten Blick auf das unglückselige Schiff. Einsam und verloren hatte das Wrack in der geheimnißvollen Sommernacht dagelegen, als sie es gefunden. Einsam und verloren lag dasselbe jetzt in der glänzenden Pracht des Sommermorgens, da sie es verließen.

Eine Stunde später hatte der Doctor seine Gäste auf ihre Schlafgemächer geführt, damit sie bis zur Frühstücksstunde einigermaßen der Ruhe genössen.

Kaum hatte er den Rücken gewandt, als die Thüren beider Zimmer leise geöffnet wurden und Allan und Midwinter einander im Corridor begegneten.

»Kannst Du schlafen, nach alledem, was sich zugetragen hat?« frug Allan.

Midwinter schüttelte den Kopf. »Du warst im Begriff, nach meinem Zimmer zu kommen, nicht wahr?« sagte er. »Weshalb?«

»Ich wollte Dich um Deine Gesellschaft bitten. Weshalb kamst Du nach dem meinigen?«

»Um Dich zu bitten, mir Deinen Traum zu erzählen.«

»Der Henker hole den Traum! Ich wünsche ihn zu vergessen.«

»Aber ich wünsche ihn zu hören«

Beide schwiegen; beide unterließen es instinktmäßig noch ein Wort zu sagen. Zum ersten Male seit dem Anfange ihrer Freundschaft drohte Uneinigkeit zwischen ihnen auszubrechen —— und zwar wegen eines Traumes. Allan’s sanftes Temperament verhütete dies noch zu rechter Zeit.

»Du bist der halsstarrigste Bursche, der mir je vorgekommen ist«, sagte er, »aber Du verlangst es einmal zu hören vermuthlich mußt Du es hören. Komm in mein Zimmer, und ich will Dir’s erzählen.«

Er ging voran und Midwinter folgte ihm. Die Thür schloß sich hinter ihnen und sie waren mit einander allein.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Als Mr. Hawbury mit seinen Gästen im Frühstückszimmer zusammentraf, war ihm der seltsame Contrast ihrer Charaktere, den er bereits früher wahrgenommen, auffallender denn je. Der Eine saß hungrig und lustig an dem wohlbesetzten Frühstückstische und schweifte von einer Schüssel zur andern, wobei er erklärte, daß er in seinem Leben noch nicht so gut gefrühstückt. Der Andere dagegen saß allein am Fenster; seine Tasse stand undankbar verlassen und kaum halb geleert vor ihm; die Speisen lagen kaum ungerührt aus seinem Teller! Des Doctors Morgengruß für die beiden Freunde drückte genau die verschiedenen Eindrücke aus, die sie auf ihn hervorgebracht hatten. Er schlug Allan auf die Schulter und begrüßte ihn mit einem Scherze. Midwinter dagegen empfing er mit einer steifen Verbeugung und sagte: »Ich fürchte, Sie haben sich noch nicht von den Anstrengungen der vergangenen Nacht erholt.«

»Nicht die Nacht ist’s, Doctor, die ihn übler Laune gemacht hat«, bemerkte Allan, »sondern etwas, das ich ihm erzählt habe. Doch ist es nicht meine Schuld. Hätte ich nur vorher gewußt, daß er an Träume glaubt, so würde ich nicht die Lippen geöffnet haben.«

»Träume?« wiederholte der Doctor, indem er sich direct an Midwinter wandte und, den Sinn von Allan’s Worten mißdeutend, ihn anredete. »Bei Ihrer Constitution sollten Sie wohl bereits an Träume gewöhnt sein.«

»Hierher, Doctor; Sie sind an den unrechten Mann gekommen!« rief Allan. »Ich bin der Träumer, nicht er. Sehen Sie nicht so erstaunt aus; es war nicht in diesem gemüthlichen Hause, sondern an Bord jenes verdammten Holzschiffes. Die Sache ist die: Ich schlief kurz vor Ihrer Ankunft ein, und es läßt sich nicht leugnen, daß ich einen sehr garstigen Traum hatte. Nun, als wir hier angelangt ——«

»Warum langweilst Du Mr. Hawbury mit einer Sache, die unmöglich Interesse für ihn haben kann?« fiel Midwinter ungeduldig ein, indem er zum ersten Male die Lippen öffnete.

»Ich bitte um Vergebung«, erwiderte der Doctor mit einiger Schärfe; »soviel ich davon gehört habe, interessiert mich die Sache allerdings.«

»Das ist recht, Doctor!« sagte Allan. »Ich bitte Sie, interessieren Sie sich für die Sache; denn ich wünsche, daß Sie ihm den Unsinn ausreden, den er sich in den Kopf gesetzt hat. Was sagen Sie hierzu? Er besteht darauf, daß mein Traum eine Warnung für mich ist, gewisse Leute zu meiden, und er besteht darauf, daß einer dieser Leute —— er selber sei! Haben Sie je etwas der Art gehört? Ich gab mir die größte Mühe und setzte ihm die ganze Sache aus einander. »Zum Henker mit der Warnung«, sagte ich; »Träume kommen aus dem Magen! Du weißt nicht, was ich alles beim Doktor zu Nacht gegessen und getrunken habe, aber ich weiß es.« Glauben Sie wohl, daß er auf mich hören wollte? Durchaus nicht. Versuchen Sie es jetzt einmal; Sie sind Mediciner und er muß Sie anhören. Thun Sie mir den Gefallen, Doctor, und geben Sie mir ein Zeugniß über meine schlechte Verdauung; ich will Ihnen mit Vergnügen meine Zunge zeigen.«

»Ihr Gesicht ist genug für mich«, erwiderte Mr. Hawbury. »Ich will Ihnen auf der Stelle ein Attest geben, daß Sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht an schlechter Verdauung gelitten haben. Lassen Sie Ihren Traum hören, damit wir sehen, was wir daraus machen können —— das heißt, falls Sie nichts dawider haben.«

Allan deutete mit seiner Gabel auf Midwinter.

»Wenden Sie sich an meinen Freund dort«, sagte er; »er besitzt einen weit bessern Bericht über denselben, als ich Ihnen zu geben im Stande bin. Sollten Sie es wohl glauben? Er brachte die ganze Geschichte sofort zu Papier, als ich sie ihm erzählte, und schließlich ließ er mich es unterzeichnen, als wäre es mein letztes Bekenntniß auf meinem Wege zum Galgen gewesen. Heraus damit, alter Junge! Ich sah, wie Du es in Dein Taschenbuch legtest «— heraus damit!«

»Sprichst Du wirklich im Ernste?« fragte Midwinter, indem er sein Taschenbuch mit einem Widerstreben herausnahm, das unter den vorliegenden Umständen fast beleidigend war, denn es lag in demselben ein Mißtrauen gegen den Doctor, hier in des Doctors eigenem Hause.

Mr. Hawburtys Gesicht röthete sich. »Bitte, zeigen Sie mir es ja nicht, wenn es Ihnen im mindesten zuwider ist«, sagte er mit der gezwungenen Höflichkeit eines Mannes, der sich beleidigt fühlt.

»Unsinn!« rief Allan. »Wirf es hier herüber!«

Anstatt diesem Ersuchen Folge zu leisten, nahm Midwinter das Blatt Papier aus seinem Taschenbuche, verließ seinen Platz und trat zu Mr. Hawbury heran. »Ich bitte Sie um Vergebung«, sagte er, indem er dem Doktor das Manuscript überreichte. Seine Augen senkten sich aus den Boden und sein Gesicht verdüsterte sich, indem er sich in dieser Weise entschuldigte. »Ein geheimnißvoller, verdrießlicher Geselle«, dachte der Doctor, als er ihm mit steifer Höflichkeit dankte; »sein Freund ist tausendmal so viel werth als er.« Midwinter kehrte zum Fenster zurück und setzte sich schweigend und mit jener alten Resignation, die Mr. Brock einst so unbegreiflich gewesen, wieder nieder.

»Lesen Sie das, Doctor«, sagte Allan, als Mr. Hawbury das beschriebene Blatt auseinander faltete. »Es ist nicht in meiner weitschweifigen Manier abgfaßt; doch ist nichts hinzugefügt und nichts weggelassen. Es ist genau das, was ich geträumt habe, und genau das, was ich selbst geschrieben haben würde, wenn ich das Schreiben loshätte ——« was nicht der Fall ist, außer was Briefe betrifft, und die kratze ich Ihnen im Handumdrehen fertig.«

Mr. Hawbury legte das Manuscript offen vor sich auf den Frühstückstisch und las folgende Zeilen :

»Allan Armadales Traum.

Zu früher Stunde am Morgen des vierzehnten Juni achtzehnhundert einundfünfzig befand ich mich mit einem Freunde —— einem jungen Manne meines Alters —— allein an Bord des französischen Holzschiffes La Gráce de Dieu, welches als Wrack in dem Sundkanal zwischen der Hauptinsel Man und der kleinen Nebeninsel Kalb lag. Da ich die Nacht zuvor nicht im Bette zugebracht hatte und mich von Schläfrigkeit überwältigt fühlte, schlief ich auf dem Verdeck des Schiffes ein. Ich erfreute mich zur Zeit meiner gewohnten vortrefflichen Gesundheit, und der Morgen war so weit vorgerückt, daß die Sonne bereits aufgegangen war. Unter diesen Umständen und zu dieser Tageszeit ging ich vom Schlafen zum Träumen über. Soviel ich mich nach Verlauf weniger Stunden erinnere, war die Reihenfolge der Ereignisse, die sich mir im Traume darstellten, folgende:

Das Erste, dessen ich mir bewußt ward, war die Erscheinung meines Vaters. Er nahm mich langsam bei der Hand, und wir befanden uns in der Kajüte eines Schiffes.

Das Wasser stieg allmählig immer höher und höher, und ich und mein Vater sanken mit einander im Wasser unter.

Es folgte ein Zwischenraum von Vergessenheit; dann kam mir das Bewußtsein, daß ich im finsteren allein gelassen sei.

Ich wartete.

Die Finsternis theilte sich und zeigte mir —— wie in einem Bilde —— einen großen einsamen Teich, der von offenen Feldern umgeben war. Ueber der äußersten Grenze des Teiches erblickte ich den wolkenlosen westlichen Himmel, der vom Sonnenuntergang geröthet war.

An dem diesseitigen Rande des Teiches stand der Schatten eines Weibes.

Es war nur der Schatten. Nichts zeigte an, wen dieser Schatten vorstelle, oder mit welchem lebenden Wesen er Aehnlichkeit habe. Das lange Kleid zeigte mir, daß es der Schatten eines Weibes sei, doch weiter nichts.

Es ward wieder finster, und so blieb es eine Weile; dann ward es zum zweiten Male hell.

Ich befand mich in einem Zimmer, wo ich vor einem langen Fenster stand. Der einzige Gegenstand, den ich sah, oder den ich gesehen zu haben mich jetzt erinnere, war eine kleine Statue, welche neben mir stand. Die Statue befand sich zu meiner Linken und das Fenster zu meiner Rechten. Das Fenster ging auf einen Rasenplatz und Blumengarten hinaus, und der Regen schlug heftig an die Fensterscheiben.

Ich war nicht allein im Zimmer. Mir gegenüber am Fenster stand der Schatten eines Mannes.

Ich sah nichts weiter von demselben —— ich wußte nichts weiter von demselben, als was ich von dem Schatten des Weibes gesehen und gewußt hatte. Aber der Schatten des Mannes bewegte sich. Derselbe streckte den Arm nach der Statue aus —— und die Statue fiel in Scherben zu Boden.

Mit einer verworrenen Empfindung, die theils Zorn, theils Bekümmerniß war, bückte ich mich, um die Scherben zu betrachten. Als ich mich wieder aufrichtete, war der Schatten verschwunden und ich sah nichts weiter.

Die Finsternis öffnete sich zum dritten Male und zeigte mir den Schatten des Weibes und den des Mannes zugleich.

Es war mir, wenigstens soviel ich mich jetzt zu erinnern vermag, keine Umgebung sichtbar.

Der Schatten des Mannes stand mir am nächsten, der des Weibes weiter zurück. Von der Stelle, an der sie stand, kam ein Laut gleich dem leisen Ausgießen einer Flüssigkeit. Ich sah sie mit der einen Hand den Schatten des Mannes berühren und ihm mit der andern ein Glas reichen. Er nahm das Glas und reichte dasselbe mir. In dem Augenblicke, da ich dasselbe an die Lippen setzte, fühlte ich mich vom Kopf bis zu den Füßen von einer tödtlichen Ohnmacht befallen. Wie ich wieder zum Bewußtsein kam, war der Schatten verschwunden und das dritte Traumgesicht zu Ende.

Die Finsternis kehrte wieder zurück und nochmals folgte ein Zwischenraum der Vergessenheit.

Ich war mir nichts weiter bewußt, bis ich den Morgensonnenschein auf meinem Gesichte fühlte und meinen Freund sagen hörte, ich sei aus einem Traume erwacht.«

Nachdem der Doctor die Erzählung aufmerksam bis zur letzten Zeile durchgelesen hatte, wo sich Allan’s Unterschrift befand, sah er über den Frühstückstisch zu Midwinter hinüber und klopfte, mit einem satirischen Lächeln, mit den Fingern auf das Manuskript.

»Viele Köpfe, viele Sinne«, sagte er. »Ich stimme mit keinem von Ihnen beiden in Bezug auf diesen Traum überein. Mit Ihrer Theorie«, sagte er lächelnd, indem er Allan anblickte, »sind wir bereits fertig: Das Nachtessen, das Sie nicht zu verdauen im Stande sind, soll noch erfunden werden. Zu meiner Theorie wollen wir sogleich kommen; die Theorie Ihres Freundes fordert zuerst unsere Aufmerksamkeit.« Er wandte sich wieder zu Midwinter, wobei der Triumph, den er über einen ihm unliebsamen Mann zu erringen hoffte, ein wenig zu deutlich in seinem Gesichte und seinem Wesen ausgedrückt war. »Wenn ich recht verstanden habe«, fuhr er fort, »so halten Sie diesen Traum für eine Warnung, die in übernatürlicher Weise an Mr. Armadale gerichtet ist; für eine Warnung vor gefährlichen Ereignissen, die ihn bedrohen und vor gefährlichen Leuten, die mit jenen Ereignissen in Verbindung stehen und die er wohl thun wird zu meiden. Darf ich fragen, ob Sie zu diesem Schlusse gelangt sind, weil Sie überhaupt an Träume glauben, oder weil Sie Gründe haben, diesem einen Traume eine besondere Wichtigkeit beizulegen?«

»Sie haben meine Ueberzeugung vollkommen richtig angegeben«, erwiderte Midwinter, der sich durch den Ton und die Blicke des Doctors gereizt fühlte. »Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie bitte, sich mit diesem Zugeständniß zu begnügen und mich meine Gründe für mich behalten zu lassen.«

»Das ist genau dasselbe, was er zu mir sagte«, unterbrach ihn Allan »Ich glaube nicht, daß er überhaupt irgendwelche Gründe hat.«

»Sachte, sachte!« sagte Mr. Hawbury. »Wir können den Gegenstand besprechen, ohne uns in die Geheimnisse anderer Leute zu drängen. Lassen Sie uns jetzt zu meiner Methode einer Erklärung des Traumes kommen. Es wird Mr. Midwinter wahrscheinlich nicht überraschen zu hören, daß ich die Sache aus einem wesentlich praktischen Gesichtspunkte betrachte.«

»Dies wird mich durchaus nicht im geringsten überraschen«, entgegnete Midwinter. »Der Gesichtspunkt eines Arztes geht, wenn er ein Problem über die Menschheit zu lösen hat, selten über das Secirmesser hinaus.«

Der Doctor fühlte sich hier seinerseits ein wenig gereizt. »Unsere Grenzen sind nicht ganz so eng«, sagte er; »doch bin ich einzuräumen bereit, daß Ihr Glaube gewisse Artikel in sich schließt, an die wir Aerzte nicht glauben. Wir glauben zum Beispiel nicht, daß es gerechtfertigt ist, wenn ein verständiger Mann irgendeinem Phänomen, das innerhalb des Bereichs seiner Sinne kommt, eine übernatürliche Deutung gibt, bevor er die sichere Ueberzeugung gewonnen hat, daß keine natürliche Erklärung desselben möglich ist.«

»Höre, das ist sehr einleuchtend«, rief Allan. —— »Er traf Sie scharf mit seinem »Secirmesser«, Doctor; jetzt aber haben Sie ihm mit Ihrer »natürlichen Erklärung« eins versetzt. Lassen Sie uns dieselbe hören.«

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Mr. Hawbury. »Es liegt in meiner Theorie über die Träume durchaus nichts Außerordentliches, es ist die Theorie, die von dem größeren Theile meiner Berufsgenossen anerkannt wird. Ein Traum ist weiter nichts als die während des Schlafs im Gehirn wiederauftauchenden Bilder und Eindrücke, die dasselbe im wachen Zustande in sich aufgenommen hatte; und diese Reproduction ist aus verschiedenen äußeren und inneren Gründen mehr oder weniger verworren, undeutlich oder widersprechend. Ohne näher in diesen letzteren Theil des Gegenstandes einzugehen, der einen sehr merkwürdigen und interessanten Theil desselben ausmacht, wollen wir die Theorie im Allgemeinen nehmen, wie ich dieselbe soeben angegeben habe, und sie sofort ans den Traum anwenden, um den es sich gegenwärtig handelt.« Er nahm das beschriebene Blatt Papier vom Tische auf und ließ den steifen Lehrton fahren, in den er unwillkürlich verfallen war. »ich sehe in diesem Traume bereits ein Ereigniß«, fuhr er fort, »von dem ich weiß, daß es eine Wiederhervorbringung eines wachen Eindruckes ist, den Mr. Armadale in meiner eigenen Gegenwart empfing. Falls er mir nur behilflich sein will, indem er sein Gedächtnis; anstrengt, verzweifle ich nicht daran, die Spuren der ganzen Reihe von Ereignissen, die hier angegeben sind, in etwas zu entdecken, das er während der vierundzwanzig oder weniger Stunden, die seinem Einschlafen auf dem Verdeck des Holzschiffes vorangingen, gesagt, gedacht, gesehen oder gethan hat.«

»Ich will mit Vergnügen mein Gedächtnis; anstrengen«, sagte Allan. »Wo fangen wir an?«

»Machen wir den Anfang damit, daß Sie mir sagen, was Sie gestern gethan haben, ehe Sie und Ihr Freund mir auf dem Wege nach diesem Orte begegneten«, erwiderte Mr. Hawbury. »Sagen wir also, Sie standen auf und frühstückten. Was dann?«

»Dann nahmen wir einen Wagen«, sagte Allan, »und fuhren von Castletown nach Douglas, um meinen alten Freund Mr. Brock an Bord des Dampfschiffes zu begleiten, in dem er nach Liverpool überfahren sollte. Wir kehrten nach Castletown zurück und trennten uns an der Thür des Hotels. Midwinter ging ins Haus hinein und ich nach meiner Jacht, die im Hafen liegt. —— A propos, Doctor, vergessen Sie nicht, daß Sie eine Fahrt mit uns zu machen versprochen haben, ehe wir die Insel Man verlassen.«

»Besten Dank —— doch lassen Sie uns bei der Sache bleiben. Was dann?«

Allan zögerte. Sein Geist schwamm bereits im vollsten Sinne des Wortes auf dem Wasser.

»Was thaten Sie an Bord der Jacht?«

»O, ich weiß! Ich machte Ordnung in der Kajüte —— gründliche Ordnung. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich kehrte jedes einzelne Stück um. Und mein Freund kam in einem Uferboote heraus und half mir. Das erinnert mich daran, daß ich Sie noch nicht gefragt habe, ob Ihr Boot in der Nacht Schaden genommen hat. Wenn dasselbe irgendwie beschädigt ist, so bestehe ich darauf, daß Sie es mir wieder auszubessern gestatten.«

Der Doctor gab alle ferneren Versuche, Allan’s Gedächtniß zu cultiviren, in Verzweiflung auf.

»Ich zweifle daran, ob wir auf diese Weise unsern Zweck erreichen werden«, sagte er. »Es wird besser sein, daß wir die Ereignisse des Traumes in ihrer regelmäßigen Ordnung vornehmen und dabei die Fragen stellen, die sich von selbst bieten. Hier sind also die beiden ersten Ereignisse. Sie träumen, daß Ihr Vater Ihnen erscheint; daß Sie beide zusammen in der Kajüte eines Schiffes sind; daß das Wasser in derselben immer höher emporsteigt und daß Sie zusammen untersinken. Darf ich fragen, ob Sie unten in der Kajüte des Wracks waren?«

»Ich konnte nicht dort sein«, entgegnete Allan, »da die Kajüte voll Wasser war. Ich sah hinunter, bemerkte dies und schloß dann wieder die Thür.«

»Sehr gut«, fuhr Mr. Hawbury fort. »Hier haben wir die wachen Eindrücke so weit klar genug. Sie hatten die Kajüte in Ihren Gedanken, und Sie hatten das Wasser in Ihren Gedanken; und das Rauschen der Kanalströmung war, wie ich dies wohl weiß, ohne Sie erst zu fragen, das Letzte, was Ihre Ohren hörten, ehe Sie einschliefen. Die Idee des Ertrinkens ist nach solchen Eindrücken eine zu natürliche, als daß wir uns bei derselben aufzuhalten brauchten. Ist hier sonst noch etwas zu beachten, ehe wir weiter gehen? Ja; es bleibt noch ein Umstand zu erklären übrig.«

»Der wichtigste Umstand von allen«, bemerkte Midwinter, sich in das Gespräch mischend, ohne jedoch seinen Platz am Fenster zu verlassen.

»Sie meinen das Erscheinen von Mr. Armadale’s Vater? Ich war im Begriff, desselben zu erwähnen«, erwiderte Mr. Hawbury. »Ist Ihr Vater am Leben?« frug er, abermals gegen Allan gewendet.

»Mein Vater starb, ehe ich geboren war.«

Der Doctor sah einigermaßen verblüfft aus. »Dadurch wird die Sache ein wenig verwickelter«, sagte er. »Woher wußten Sie, daß die Gestalt, die Ihnen im Traume erschien, die Ihres Vaters sei?«

Allan zögerte abermals. Midwinter zog seinen Sessel ein wenig vom Fenster ab und blickte den Doctor zum ersten Male aufmerksam an.

»Dachten Sie an Ihren Vater, ehe Sie einschliefen?« fuhr Mr. Hawbury fort. »Gab es zu Hause bei Ihnen irgendeine Beschreibung oder ein Porträt von ihm, das Ihre Gedanken beschäftigte?«

»Es, das versteht sich!« rief Allan, plötzlich die verlorene Erinnerung erfassend. »Midwinter, erinnerst Du Dich nicht des Miniaturbildchens, das Du in der Kajüte am Boden fandest, als wir dort Ordnung machten? Du sagtest, ich scheine keinen Werth darauf zu legen, aber ich versicherte Dir das Gegentheil, da es das Porträt meines Vaters sei ——«

»Und war das Gesicht in Ihrem Traume dem Gesicht auf dem Bilde gleich?«

»Genau! Hören Sie, Doctor, dies fängt an interessant zu werden!«

»Was sagen Sie jetzt?« frug Mr. Hawbury, sich wieder dem Fenster zuwendend.

Midwinter verließ hastig seinen Platz und setzte sich neben Allan an den Tisch. Ebenso wie er schon vorher einmal in Mr. Brocks behaglichem gesunden Menschenverstande eine Zuflucht vor der Tyrannei seines eigenen Aberglaubens gesucht, flüchtete er sich jetzt mit derselben ungestümen Hast und derselben geradsinnigen Aufrichtigkeit zu des Doctors Theorie der Träume. »Ich sage dasselbe was mein Freund sagt«, antwortete er, vor Enthusiasmus erglühend; »dies fängt an interessant zu werden. Fahren Sie fort —— bitte, fahren Sie fort!«

Der Doctor blickte seinen seltsamen Gast nachsichtiger an, als er bisher gethan. »Sie sind in meiner Erfahrung der erste Mystiker der einer klaren Augenscheinlichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen bereit war. Ich verzweifle nicht daran, Sie zu bekehren, ehe unsere Nachforschungen zu Ende sind.

Lassen Sie uns jetzt zu den nächsten Ereignissen übergehen«, fuhr er fort, nachdem er einen Blick in das Manuscript gethan. »Der Zwischenraum von Vergessenheit, der, wie hier angegeben ist, den ersten Erscheinungen des Traumes folgte, ist leicht zu erklären.

Derselbe ist nichts weiter als das momentane Aufhören der Thätigkeit des Gehirns, indem eine tiefere Welle des Schlafs dasselbe überfluthet, wie denn auch das darauf folgende Gefühl des Alleinseins in der Dunkelheit nur den Uebergang von der vollkommenen Ruhe des Gehirns zu neuer Thätigkeit desselben andeutet, nur daß es dabei noch nicht bis zur Reproduction einer neuen Reihe von Eindrücken kommt. Lassen Sie uns sehen, welcher Art die folgenden Bilder sind. Ein einsamer Teich, von offenen Feldern umgeben; ein vom Sonnenuntergang gerötheter Horizont an der jenseitigen Grenze des Teiches, und der Schatten eines Weibes am diesseitigen Rande desselben. Sehr gut. Jetzt, Mr. Armadale, wie kam jener Teich in Ihren Kopf? Die offenen Felder sahen Sie auf Ihrer Fahrt von Castletown nach diesem Orte. Aber wir haben in dieser Gegend keine Teiche oder Seen; auch können Sie deren ebenso wenig kürzlich anderswo gesehen haben, denn Sie langten hier nach einer Segelfahrt auf dem Meere an. Müssen wir uns mit einem Bilde oder einem Buche oder einer Unterhaltung mit Ihrem Freunde behelfen?«

Allan blickte Midwinter an. »Ich erinnere mich nicht! von Teichen oder Seen gesprochen zu haben«, erklärte er. »Erinnerst Du Dich an etwas der Art?«

Anstatt die Frage zu beantworten, wandte Midwinter sich plötzlich zum Doctor.

»Haben Sie die letzte Nummer der Manxer Zeitung?« frug er.

Der Doetor holte dieselbe von dem Nebentische.

Midwinter suchte die Stelle, welche jene Auszüge aus einer kürzlich erschienenen Reisebeschreibung von Australien enthielt, die am vergangenen Abend Allan’s Interesse so lebhaft erweckt hatten, während er, Midwinter, über dem Vorlesen derselben eingeschlafen war. Dort, in der Stelle, welche schilderte, wie die Reisenden, von Durst gequält, endlich die Entdeckung machten, die ihnen das Leben rettete —— dort befand sich der große Teich, der in Allan’s Traume figuriert hatte!

»Legen Sie die Zeitung noch nicht fort«, sagte der Doctor, als Midwinter ihm dieselbe gezeigt und ihm die nothwendigen Erklärungen gegeben hatte. »Es ist sehr leicht möglich, daß wir, ehe wir mit unseren Nachforschungen zu Ende sind, jener Auszüge noch ferner bedürfen werden. Den Teich haben wir gefunden. Wie steht es mit dem Sonnenuntergange? Es wird in diesem Zeitungsauszuge nichts der Art erwähnt. Suchen Sie noch einmal in Ihrem Gedächtnisse, Mr. Armadale; es fehlt uns Ihr wacher Eindruck von einem Sonnenuntergange; also, haben Sie die Güte!«

Allan vermochte abermals keine Antwort zu geben, und abermals half Midwinters lebendiges Gedächtniß ihm aus der Verlegenheit.

»Ich glaube, die Spur dieses Eindrucks ebenso wohl finden zu können, als ich die jenes andern fand«, sagte er zum Doctor gewendet. »Nachdem wir gestern Nachmittag hier angelangt waren, machten mein Freund und ich einen langen Spaziergang über die Hügel ——«

»Das ist’s!« rief AlIan. »Jetzt erinnere ich mich. Die Sonne war eben im untergehen, als wir zum Nachtessen nach dem Hotel zurückkehrten —— und der Himmel bot eine so herrliche gluthrothe Färbung, daß wir beide stillstanden, um ihn zu betrachten. Und dann plauderten wir von Mr. Brock und ergingen uns in Muthmaßungem welche Station er auf seiner Heimreise jetzt wohl erreicht haben möge. Mein Gedächtniß mag vielleicht schwer in Gang zu bringen sein, Doctor, doch sobald dasselbe einmal im Gange ist, werden Sie es nicht so bald wieder zum Stehen bringen. Ich bin noch nicht halb zu Ende.«

»Warten Sie einen Augenblick, aus Barmherzigkeit für Mr. Midwinters Gedächtniß und das meinige«, bat der Doctor. »Wir haben die Spuren Ihrer Vision der offenen Felder, des Teiches und des Sonnenunterganges in Ihren wachen Eindrücken entdeckt. Doch der Schatten des Weibes ist noch unerklärt geblieben. Können Sie uns das Original zu dieser geheimnißvollen Gestalt in der Traumlandschaft zeigen?«

Allan war abermals unfähig, dem Doctor zu helfen, und Midwinter wartete, mit athemlosem Interesse die Blicke auf das Gesicht des Doctors heftend, der Dinge, die da kommen würden. Es herrschte zum ersten Male tiefes Schweigen im Zimmer. Mr. Hawbury blickte fragend von Allan zu Allan’s Freunde. Keiner von beiden antwortete ihm. Zwischen dem Schatten und dem Wesen des Schattens lag eine tiefe, geheimnißvolle Kluft, die sie alle Drei nicht ausfüllen konnten.

»Geduld«, sagte der Doctor gelassen. »Wir wollen die Gestalt am Teiche für jetzt ruhen lassen und sehen, ob wir dieselbe nicht später irgendwo wieder aufnehmen können. Erlauben Sie mir zu bemerken, Mr. Midwinter, daß es keine Kleinigkeit ist, einen Schatten zu identifizieren; aber wir wollen nicht verzweifeln. Diese unerfaßliche Jungfrau vom See wird vielleicht, wenn wir sie das nächste Mal treffen, eine greifbare Gestalt annehmen.«

Midwinter erwiderte nichts. Von diesem Augenblicke begann sein Interesse, an der Nachforschung nachzulassen.

»Welches ist die nächste Scene in dem Traume?« fuhr Mr. Hawbury fort, indem er wieder in das Manuscript sah. »Wir. Armadale sieht sich in einem Zimmer. Er steht vor einem langen Fenster, das auf einen Rasenplatz und Blumengarten geht, und der Regen schlägt an die Fensterscheiben. Der einzige Gegenstand, den er im Zimmer sieht, ist eine kleine Statue, und seine einzige Gesellschaft ist die des Schattens eines Mannes, der ihm gegenübersteht. Der Schatten streckt den Arm aus, und die Statue fällt in Scherben aus den Boden; der Träumende, voll Unmuth und Verdruß hierüber (bemerken Sie wohl, meine Herren, daß die Verstandesfähigkeiten des Träumenden hier ein wenig erwachen und der Traum auf einen Augenblick ganz natürlich von der Ursache zur Wirkung übergeht) —— der Träumende also bückt sich, um die Scherben zu betrachten. Wie er sich wieder aufrichtet, ist seine Umgebung verschwunden. Das heißt, in der Ebbe und Fluth des Schlafes ist jetzt die Fluth an der Reihe, und das Gehirn ruht ein wenig von seiner Anstrengung. Was gibt es, Mr. Armadale? Geht Ihr unbändiges Gedächtniß wieder einmal mit Ihnen durch?«

»Ja«, rief Allan, »im vollen Galopp. Ich habe die zerbrochene Statue aufgespürt, dieselbe ist nichts Anderes als eine Porzellan-Schäferin, die ich im Gastzimmer des Hotels vom Kaminsims warf, als ich gestern Abend um das Nachtessen schellte. Hören Sie, welche Fortschritte wir machen! Wie? Es ist fast wie ein Räthselrathen. Das nächste Mal kommst Du an die Reihe, Midwinter!«

»Nein!« sagte der Doctor. »Ich komme an die Reihe, wenn Sie es erlauben. Ich fordere das lange Fenster, den Garten und den Rasenplatz als mein Eigenthum. Sie werden das lange Fenster im nächsten Zimmer finden, Mr. Armadale. Wenn Sie zu demselben hinausschauen, werden Sie den Garten und Rasenplatz vor demselben erblicken, und wenn Sie Ihr erstaunliches Gedächtniß anstrengen, werden Sie sich erinnern, daß Sie die Güte hatten, besonders schmeichelhafte Notiz von meinem eleganten französischen Fenster und meinem hübschen Garten zu nehmen, als ich Sie und Ihren Freund gestern nach Port-St.-Mary fuhr.«

»Ganz recht«, erwiderte Allan, »das that ich allerdings. Aber wie steht es mit dem Regen, der in meinem Traume ans Fenster schlug? Ich habe seit einer Woche keinen Tropfen Regen gesehen.«

Mr. Hawbury zögerte. Die Manxer Zeitung, die auf dem Tische liegen geblieben war, fiel ihm ins Auge. »Wenn wir nichts Anderes zu finden im Stande sind«, sagte er, »wollen wir versuchen, ob wir die Idee des Regens nicht an derselben Stelle finden können, wo wir die Idee des Teiches fanden.« Er las den Auszug sorgfältig durch. »Ich hab’s!« rief er. »Hier wird beschrieben, wie den durstigen Reisenden in Australien der Regen zu Hilfe kam, ehe sie den Teich gefunden hatten. Siehe da, der Regenschauer, Mr. Armadale, der Ihnen in den Kopf kam, nachdem Sie Ihrem Freunde gestern Abend den Auszug vorgelesen! Und Sie, Mr. Midwinter, sehen Sie wohl, wie der Traum gewöhnlich die wachen Eindrücke durch einander mischt!«

»Können Sie den wachen Eindruck entdecken, der die menschliche Gestalt am Fenster erklärt?« frug Midwinter. »Oder werden wir den Schatten des Mannes übergehen, wie wir bereits den Schatten des Weibes übergangen haben?«

Er that die Frage mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, doch lag in dem Tone, in dem er sprach, ein Anflug von bitterem Spott, der dem Ohre des Doctors nicht entging, sodaß dieser augenblicklich kampfbereit war.

»Wenn man am Strande Muscheln sammelt, Mr. Midwinter, nimmt man gewöhnlich diejenigen Muscheln zuerst, die Einem am nächsten liegen«, entgegnete der Doctor. »Wir sammeln augenblicklich Thatsachen und wollen diejenigen zuerst aufnehmen, die am leichtesten zu finden sind. Lassen Sie den Schatten des Mannes und den Schatten des Weibes für jetzt mit einander spazieren gehen —— wir wollen sie nicht aus den Augen verlieren, das verspreche ich Ihnen. Alles zu seiner Zeit, mein lieber Herr, alles zu seiner Zeit!«

Auch er war höflich, und auch er war sarkastisch. Der kurze Waffenstillstand zwischen den beiden Gegnern war bereits wieder zu Ende. Midwinter kehrte bedeutungsvoll wieder zu seinem Platze am Fenster zurück. Der Doctor wandte demselben augenblicklich noch bedeutungsvoller wieder den Rücken. Allan, welcher an anderer Leute Ansichten nie etwas auszusetzen fand und das Benehmen Anderer nie einer kritischen Prüfung unterwarf, trommelte fröhlich mit seinem Messerhefte auf den Tisch.

»Fahren Sie fort, Doctor!« rief er aus. »Mein erstaunliches Gedächtniß ist noch immer so frisch wie je.«

»Wirklich?« sagte Mr. Hawbury, abermals die Erzählung von dem Traume mit den Blicken durchlaufend. »Erinnern Sie sich dessen, was sich ereignete, als Sie und ich gestern Abend mit der Wirthin am Schenktisch plauderten?«

»Das versteht sich! Sie waren so gütig, mir ein Glas Grog zu reichen, das die Wirthin soeben für Sie gemischt hatte. Und ich war genöthigt, dasselbe auszuschlagen, weil der Geschmack von Rum, wie ich Ihnen sagte, mir stets Uebelkeit und Schwäche verursacht, in welcher Weise derselbe immer vermischt sein mag.«

»Ganz recht«, erwiderte der Doctor. »Und der Vorfall ist hier im Traume wieder hervorgebracht. Sie sehen diesmal den Schatten des Mannes und den des Weibes zusammen. Sie hören das Ausgießen der Flüssigkeit, nämlich Rum aus der Flasche und Wasser aus dem Kruge der Wirthin im Hotel; das Glas wird von dem Frauenschatten —— der Wirthin —— dem Schatten des Mannes —— der ich bin —— gereicht; der männliche Schatten reicht dasselbe Ihnen —— genau dasselbe, was ich that. Die Uebelkeit und Schwäche aber, die Sie mir vorher beschrieben, erfolgt ganz natürlich. Ich bin empört, Mr. Midwinter, diese geheimnißvollen Erscheinungen mit so jämmerlich unromantischen Originalen wie einer Hotelwirthin und einem Mann, der in einer ländlichen Gegend herumdoctort, zu Identifizieren. Aber Ihr Freund wird Ihnen bestätigen, daß das Glas Grog von der Wirthin gemischt wurde und daß dasselbe durch meine Hand an ihn gelangte. Wir haben die Schatten jetzt, genau, wie ich es erwartete, gefunden, und es bleibt uns jetzt nur noch zu erklären übrig —— was mit zwei Worten geschehen kann —— in welcher Weise dieselben im Traume erschienen. Nachdem der träumende Geist versucht hatte, den wachen Eindruck von dem Doktor und der Wirthin einzeln in Verbindung mit den verkehrten Umständen hervorzubringen, findet derselbe sich beim dritten Versuche zurecht und bringt den Doctor und die Wirthin zusammen unter den richtigen Umständen zum Vorschein. Da haben Sie die Geschichte in einer Nußschale! —— Erlauben Sie mir, Ihnen mit meinem besten Danke für Ihre vollständige und auffallende Bestätigung der rationellen Theorie der Träume Ihr Manuskript zurückzugeben.« Mit diesen Worten überreichte der Doctor Midwinter dasselbe mit der unbarmherzigen Höflichkeit eines Siegers.

»Wunderbar! Von Anfang bis zu Ende kein Punkt übergangen! Beim Jupiter!« rief Allan mit der bereitwilligen Bewunderung großer Unwissenheit. »Welch eine erstaunliche Sache doch die Wissenschaft ist!«

»Kein Punkt übergangen, wie Sie sagen«, bemerkte der Doctor wohlgefällig. »Und dennoch bezweifle ich, ob es uns gelungen ist, Ihren Freund zu überzeugen!«

»Sie haben mich nicht überzeugt«, sagte Midwinter. »Aber ich maße mir deshalb nicht an zu behaupten, daß Sie Unrecht haben.«

Er sprach sehr ruhig, ja fast traurig. Die fürchterliche Ueberzeugung von dem übernatürlichen Ursprunge des Traumes, der er zu entfliehen versucht, hatte sich abermals seiner bemächtigt Sein ganzes Interesse an der Untersuchung war zu Ende; seine ganze Empfindsamkeit gegen die irritierenden Wirkungen derselben verschwunden. Irgendeinem andern Manne gegenüber würde Mr. Hawbury sich durch ein Zugeständniß, wie das, welches sein Gegner ihm soeben gemacht, besänftigt gefühlt haben; aber er hegte eine zu herzliche Abneigung gegen Midwinter, um ihn im friedlichen Genusse seiner eigenen Meinung zu belassen.

»Geben Sie zu«, frug der Doktor kampflustiger denn je, »daß ich die Spuren jedes Ereignisses in dem Traume bis zu den wachen Eindrücken zurückverfolgt habe, die dem Traume Mr. Armadales vorangingen?«

»Ich möchte dies gerade nicht in Abrede stellen«, sagte Midwinter resigniert.

»Habe ich die Schatten mit ihren lebenden Originalen identifiziert?«

»Sie haben dies zu Ihrer eigenen und zu meines Freundes Zufriedenheit gethan. Zur meinigen nicht.«

»Zur Ihrigen nicht? Können wohl Sie dieselben Identifizieren?«

»Nein. Ich kann blos warten, bis die lebenden Originale sich in der Zukunft offenbaren.«

»Das« heißt wie ein Orakel gesprochen, Mr. Midwinter. Haben Sie gegenwärtig irgendeine Vorstellung, wer jene lebenden Originale sind?«

»Ja. Ich glaube, daß künftige Ereignisse den Schatten des Weibes mit einer Person Identifizieren werden, der mein Freund noch nicht begegnet ist, und den des Mannes mit mir.«

Allan wollte sprechen Der Doctor verhinderte ihn daran.

»Lassen Sie uns darüber klar werden«, sagte er zu Midwinter. »Darf ich, indem ich Ihre eigene Betheiligung für den Augenblick bei Seite lasse, fragen, wie ein Schatten, an dem keine besonderen Kennzeichen wahrnehmbar sind, mit einem lebenden Weibe identifiziert werden kann, das Ihr Freund gar nicht kennt?« Midwinters Gesicht röthete sich ein wenig. Er fing an, die Geißel der Logik des Doctors zu fühlen.

»Das Landschaftsbild in dem Traume hatte seine besonderen Kennzeichen«, sagte er, »und in dieser Landschaft wird das Weib erscheinen, wenn es sich zum ersten Male zeigt.«

»Und dasselbe soll vermuthlich mit dem Mannesschatten der Fall sein«, sagte der Doctor, »den Sie so beharrlich mit Ihrer eignen Person Identifizieren. Sie werden in der Zukunft mit einer in Gegenwart Ihres Freundes zerbrochenen Statue, mit einem langen auf einen Garten hinausgehenden Fenster und einem Regen in Verbindung stehen, der ans Fenster schlägt? Wollen Sie dies sagen?«

»Dies will ich sagen.«

»Und so soll es sich vermuthlich auch mit der nächsten Vision verhalten? Sie und das geheimnisvolle Weib werden an einem bis jetzt unbekannten Orte zusammengeführt werden und Mr. Armadale eine bis jetzt ungenannte Flüssigkeit überreichen, die ihm Unwohlsein verursachen wird? Wollen Sie mir allen Ernstes sagen, daß Sie dies glauben?«

»Ich sage Ihnen allen Ernstes, daß ich dies glaube.«

»Und Ihrer Ansicht nach werden diese Erfüllungen des Traumes den Fortgang gewisser Ereignisse bezeichnen, in die Mr. Armadale’s Glück oder Mr. Armadale’s Sicherheit in gefährlicher Weise verwickelt ist?«

»Dies ist meine feste Ueberzeugung.«

Der Doctor stand auf, legte sein moralisches Secirmesser bei Seite, nahm dasselbe jedoch nach einem Augenblick der Ueberlegung wieder auf.

»Noch eine letzte Frage«, sagte er. »Haben Sie irgendeinen Grund dafür anzugeben, daß Sie eine so fern liegende mystische Ansicht vorziehen, wenn eine unwiderlegbare Erklärung des Traumes klar vor Ihren Augen liegt?«

»Keinen Grund«, erwiderte Midwinter, »den ich Ihnen oder meinem Freunde zu nennen im Stande bin.«

Der Doctor sah mit der Miene eines Mannes auf seine Uhr, der sich plötzlich erinnert, seine Zeit vergeudet zu haben.

»Wir gehen nicht von demselben Punkte aus«, sagte er, »und würden zu keiner Uebereinstimmung gelangen, wenn wir bis zum Tage des jüngsten Gerichts disputierten. Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie etwas plötzlich verlasse. Es ist später als ich glaubte, und meine Patienten erwarten mich im Consultationszimmer. Wenigstens habe ich Sie überzeugt, Mr. Armadale, und deshalb ist die Zeit, die wir auf diese Auseinandersetzung verwendet haben, keine ganz verlorene. Bitte, verweilen Sie hier und rauchen Sie Ihre Cigarrez ich werde Ihnen in weniger als einer Stunde wieder zu Diensten stehen.« Er nickte Allan herzlich zu, verbeugte sich steif gegen Midwinter und verließ das Zimmer.

Sowie der Doctor den Rücken gewendet hatte, verließ Allan seinen Platz am Tische und wandte sich mit jener unwiderstehlichen Herzlichkeit zu seinem Freunde, die stets ihren Weg zu Midwinters Sympathie gefunden hatte —— von dem ersten Tage an, da sie einander in dem Wirthshause in Sommersetshire begegnet waren.

»Jetzt, da das Wortgefecht zwischen Dir und dem Doctor vorüber ist«, sagte Allan, »wünsche ich meinerseits ein paar Worte zu sagen. Willst Du etwas für mich thun, das Du nicht für Dich selber zu thun einwilligen würdest?«

Midwinter’s Gesicht klärte sich augenblicklich auf. »Ich will alles thun, was Du von mir verlangst«, antwortete er.

»Sehr wohl. Willst Du den Traum von diesem Augenblicke an gänzlich aus unserer Unterhaltung verbannen?«

»Ja, wenn Du dies wünschest.«

»Willst Du noch einen Schritt weiter gehen? Willst Du aufhören, an denselben zu denken?«

»Es ist schwer, den Gedanken daran zu unterdrücken, Allan; aber ich will es versuchen.«

»Du bist ein guter Junge! Jetzt gib mir jenes bettelhafte Stück Papier und laß mich’s zerreißen und damit der Sache ein Ende machen.«

Er versuchte, seinem Freunde das Manuscript aus der Hand zu reißen; doch Midwinter war zu schnell für ihn und rettete das Papier vor Allan’s Griff.

»So gieb mir’s dacht« bat Allan. »Es liegt mir besonders daran, meine Cigarre damit anzubrennen.«

Midwinter zögerte. Es war schwer, Allan zu widerstehen; dennoch widerstand er ihm. »Ich will ein wenig warten«, sagte er, »ehe ich es Dir gebe, um Deine Cigarre damit anzubrennen.«

»Wie lange? Bis morgen?«

»Länger.«

»Bis wir die Insel Man verlassen?«

»Länger.«

»Zum Henker —— gieb mir eine deutliche Antwort auf eine deutliche Frage! Wie lange willst Du warten?«

Midwinter legte das Manuscript sorgfältig wieder in sein Taschenbuch.

»Ich will warten«, sagte er, »bis wir in Thorpe-Ambrose angelangt sind.«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Ozias Midwinter an Mr. Brock.

Thorpe-Ambrose, 15. Juni 1851.

Lieber Mr. Brock!

Wir sind seit kaum einer halben Stunde hier angelangt, und zwar in dem Augenblicke, wo die Diener das Haus für die Nacht zu schließen im Begriff waren. Allan ist, von der langen Tagereise ermüdet, zur Ruhe gegangen und hat mich in dem Zimmer, das man hier die Bibliothek nennt, allein gelassen, um Ihnen einen Bericht über unsere Reise nach Norfolk abzustatten Da ich besser an Strapazen jeder Art gewöhnt bin als er, so fühle ich mich noch munter genug, um einen Brief zu schreiben, obgleich die Stehuhr auf dem Kaminsims Mitternacht zeigt und wir seit zehn Uhr morgens auf der Reise waren.

Die letzten Nachrichten, die Sie von uns empfingen, kamen von Allan’s Hand und zwar von der Insel Man. Wenn ich nicht irre, erzählte er Ihnen von der Nacht, die wir auf dem Wrack zubrachten. Verzeihen Sie mir, lieber Mr. Brock, wenn ich mich über diesen Gegenstand nicht eher gegen Sie ausspreche, als bis ich desselben mit etwas mehr Fassung werde gedenken können. Der schwere Kampf gegen mich selbst muß wieder ganz von vorn durchgefochten werden; aber ich will mit Gottes Hilfe endlich dennoch siegen.

Es ist unnöthig, Sie mit einer Schilderung unserer Streifzüge in den nördlichen und westlichen Gegenden der Insel oder der kurzen Seefahrten zu langweilen, die wir machten, als die Ausbesserungen an der Jacht endlich beendet waren. Es wird besser sein, daß ich sogleich beim gestrigen Morgen —— dem Morgen des Fünfzehnten —— anfange. Wir waren mit der Nachtfluth in den Hafen von Douglas eingelaufen, und sowie das Postamt geöffnet war, sandte Allan auf meinen Rath ans Land, um die Briefe holen zu lassen. Der Bote kehrte nur mit einem einzigen Briefe zurück, und die Schreiberin desselben war die frühere Herrin von Thorpe-Ambrose, Mrs. Blanchard.

Ich halte es für recht, daß Sie von dem Inhalte dieses Briefes unterrichtet werden, denn derselbe hat beträchtlichen Einfluß auf Allan’s Pläne geübt. Er hat, wie Sie wissen, die Gewohnheit, alle seine Sachen zu verlieren, und hat natürlich auch diesen Brief bereits verloren. Deshalb muß ich Ihnen das Wesentliche desselben mittheilen, so gut es mir möglich ist.

Die erste Seite meldete die Abreise der Damen von Thorpe-Ambrose. Sie verließen den Ort vorgestern, den Dreizehntem mit dem Entschluß, ins Ausland zu reisen und gewisse alte Bekannte zu besuchen, die in Italien, in der Umgegend von Florenz, ansässig sind. Es scheint sehr wohl möglich, daß Mrs. Blanchard und ihre Nichte sich ebenfalls dort niederlassen werden, falls sie ein passendes Wohnhaus mit Grundstück zu finden im Stande sind. Sie haben beide eine große Vorliebe für das italienische Volk und Land und sind wohlhabend genug, um hierin ganz ihrer Neigung zu folgen. Die ältere Dame hat ihr Wittthum und die jüngere ist im Besitz des ganzen väterlichen Vermögens.

Der Inhalt der nächsten Seite war, Allan’s Ansicht nach, nichts weniger als angenehm. Nachdem sie in den dankbarsten Ausdrücken von der Güte gesprochen, mit der Allan ihr und ihrer Nichte gestattet, ihre Abreise von ihrer alten Heimath so lange zu verschieben, wie es ihnen beliebte, fügte Mrs. Blanchard hinzu, daß sein rücksichtsvolles Benehmen einen so außerordentlich günstigen Eindruck bei den Freunden und Untergebenen der Familie hervorgebracht habe, daß diese ihn bei seiner Ankunft auf dem Gute feierlich zu empfangen wünschten. Es sei bereits eine vorläufige Zusammenkunft der Gutspächter und bedeutendsten Leute der benachbarten Stadt zu diesem Zwecke gehalten worden und Allan dürfe binnen kurzem einen Brief von dem Geistlichen erwarten, worin dieser anfragen werde, wann Mr. Armadale persönlich von seinen Gütern in Norfolk Besitz zu nehmen gedenke.

Sie werden jetzt die Ursache unserer eiligen Abreise von der Insel Man errathen. Der erste Gedanke Ihres ehemaligen Zöglings, nachdem er Mrs. Blanchard’s Bericht von den Verhandlungen bei jener Zusammenkunft gelesen, war der, daß er sich diesem öffentlichen Empfange entziehen müsse, und der einzige sichere Ausweg schien ihm der zu sein, daß er nach Thorpe-Ambrose abreiste, ehe noch der Brief des Geistlichen an ihn gelangte. Ich that mein Möglichstes, ihn zu bestimmen, daß er sich die Sache ein wenig überlege, ehe er handle; aber er ließ sich nicht stören, sondern fuhr fort, seinen Mantelsack zu packen In zehn Minuten war sein Gepäck in Ordnung, und in weiteren fünf Minuten hatte er seiner Mannschaft Befehl gegeben, mit der Jacht nach Sommersetshire zurückzukehren. Der Dampfer nach Liverpool lag neben uns im Hafen, und es blieb mir wirklich nichts weiter übrig, als entweder mit ihm an Bord zu gehen oder ihn allein reisen zu lassen. Ich verschone Sie mit dem Berichte von unserer stürmischen Ueberfahrt, von der Art und Weise, wie wir in Liverpool aufgehalten wurden und dann auf unserer Landreise jedes mal die Abfahrt der Züge versäumten. Sie wissen, daß wir sicher hier angelangt sind, und dies wird Ihnen genügen. Was die Dienerschaft darüber denkt, daß ihr neuer Squire ohne ein Wort der Meldung unter ihnen erscheint, hat wenig auf sich. Wie aber das Empfangscomité darüber denken mag, wenn unsere Ankunft morgen bekannt wird, ist, wie ich fürchte, eine ernstere Sache.

Da ich bereits der Dienerschaft erwähnt habe, kann ich Ihnen sogleich sagen, daß der letzte Theil von Mrs. Blanchard’s Briefe ausschließlich von dem zum Haushalt gehörigen Personale handelte. Es scheint, daß alle Diener, sowohl die im Hause, als die außerhalb desselben beschäftigtem mit Ausnahme von dreien, hier warten, in der Hoffnung, daß Allan sie behalten wird. Zwei dieser Ausnahmen sind leicht zu erklären: Mrs. Blanchards und Miß Blanchard’s Kammerjungfern begleiten die Damen auf ihrer Reise. Die dritte Ausnahme betrifft das erste Stubenmädchen, und in diesem Falle hat die Sache einen kleinen Haken. Um mich kurz zu fassen, das Stubenmädchen ist wegen einer »Leichtfertigkeit mit einem Fremden«, wie Mrs. Blanchard sich etwas geheimnißvoll ausdrückt, über Hals und Kopf fortgeschickt worden.

Ich fürchte, daß Sie über mich lachen werden, aber ich muß die Wahrheit bekennen. Ich bin nach dem, was uns auf der Insel Man begegnete, selbst gegen die unbedeutendsten Widerwärtigkeiten, die in keiner Weise mit Allan’s Einführung in seine neue Lebensbahn oder mit seinen neuen Aussichten in Verbindung stehen können, so argwöhnisch geworden, daß ich bereits einen der Diener über diese dem Anscheine nach so unwichtige plötzliche Entlassung des Stubenmädchens befragt habe. Alles, was ich in Erfahrung bringen kann, ist, daß man einen fremden Mann in verdächtiger Weise in den Anlagen hatte umherlauern sehen; daß das Stubenmädchen eine so häßliche Person ist, um fast mit Gewißheit annehmen zu können, der Mann habe einen geheimen Zweck gehabt, indem er sich angenehm bei ihr machte; und daß er seit dem Tage ihrer Entlassung nicht mehr in der Gegend gesehen worden ist. So viel über die einzige Person, die in Thorpe-Ambrose aus dem Dienste entlassen worden ist. Ich hoffe nun, daß aus dieser Angelegenheit nicht etwa Unannehmlichkeiten für Allan erwachsen. Was die übrige dagebliebene Dienerschaft betrifft, so sagt Mrs. Blanchard von dem männlichen sowohl als dem weiblichen Theile derselben, daß sie vollkommen zuverlässige Leute sind; sie werden deshalb ohne Zweifel alle ihre gegenwärtigen Stellen behalten.

Da ich jetzt mit Mrs. Blanchards Briefe zu Ende bin, liegt mir zunächst die Pflicht ob, Ihnen Allan’s herzlichste Grüße auszurichten und Sie in seinem Namen zu bitten, daß Sie sobald als möglich hierher kommen und ihm einen längeren Besuch machen. Obgleich ich mir nicht anmaßen darf zu glauben, daß meine Wünsche viel dazu beitragen werden, Sie zur Annahme dieser Einladung zu bestimmen, so muß ich dennoch bekennen, daß ich meine eignen Gründe habe, um Ihre Anwesenheit dringend zu wünschen. Allan hat mir unschuldigerweise in Bezug auf unsere künftigen Beziehungen zu einander eine neue Sorge verursacht; ich bedarf daher Ihres Rathes sehr, um zu sehen, in welcher Weise ich diese Sorge beseitigen kann.

Was mich augenblicklich in Verlegenheit setzt, ist nämlich die Verwalterstelle zu Thorpe-Ambrose. Bis heute wußte ich blos, daß Allan seine eigenen Pläne hierüber gefaßt habe, die unter Anderem sich seltsamerweise auch auf das Vermiethen des ehemaligen Verwalterhäuschens bezogen, da der neue Verwalter im Herrenhause wohnen sollte. Ein von mir aus der Reise hierher zufällig hingeworfenes Wort bewog Allan, sich deutlicher über den Gegenstand auszusprechen als er bisher gethan, und ich erfuhr zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, daß der Mann, den er zu dieser Verwalterstelle ausersehen, Niemand anderes sei als ich!

Es ist unnöthig, Ihnen zu sagen, wie tief ich diesen neuen Beweis von Allan’s Güte gegen mich empfand. Die erste Freude darüber, daß er mir versicherte, ich verdiene den stärksten Beweis des Vertrauens, den er mir zu geben im Stande sei, ward bald durch den Schmerz verbittert, der sich in alle Freude mischt —— wenigstens in alle Freude, die ich je gekannt habe. Meine frühere Lebensweise ist mir noch nie in einem so betrübenden Lichte erschienen wie jetzt, da ich fühle, wie vollkommen untauglich dieselbe mich für die Stelle gemacht hat, die ich lieber als jede andere im Dienste meines Freundes bekleiden möchte. Ich fand den Muth, ihm zu sagen, daß ich nichts von der Geschäftskenntniß und Erfahrung besitze, die sein Verwalter haben müsse. Diesem Einwande begegnete er durch die großmüthige Erklärung, ich könne lernen; und er versprach, den Mann aus London kommen zu lassen, der bereits eine Zeit lang das Amt eines Verwalters dort versehen habe und deshalb ganz geeignet sei, mir die nöthige Anweisung zu geben. Glauben auch Sie, daß ich es lernen kann? Falls Sie es glauben, will ich Tag und Nacht arbeiten, um mich zu unterrichten .

Sollten aber, wie ich es fürchte, die Pflichten eines Verwalters zu ernster Natur sein, um von einem so jungen und unerfahrenen Menschen wie ich aus dem Stegreif erlernt zu werden, dann bitte ich Sie, Ihre Reise nach Thorpe-Ambrose zu beschleunigen und Ihren Einfluß auf Allan geltend zu machen. Er wird sich durch nichts Geringeres bewegen lassen, von meiner Person abzusehen und einen Verwalter anzustellen, der wirklich für die Stelle taugt. Ich bitte Sie dringend, in dieser Angelegenheit genau in der Weise zu handeln, die Ihnen als die beste für Allan’s Interesse erscheint. Wie sehr ich mich immer enttäuscht fühlen mag, er soll dies niemals gewahr werden.

Ich verbleibe, lieber Mr. Brock,
Ihr dankbarer

Ozias Midwinter.

P.S. Ich öffne dieses Couvert wieder, um noch ein Wort hinzuzufügen. Sollten Sie seit Ihrer Rückkehr nach Sommersetshire irgendetwas von der Frau im schwarzen Kleide und rothen Shawl gehört oder gesehen haben, so bitte ich Sie, mich, wenn Sie schreiben, davon zu benachrichtigen. O. M.

Mrs. Oldershaw an Miß; Gwilt.
Damen-Toiletten-Niederlage, Diana-Street, Pimliw.

Meine liebe Lydia!

Damit mein Brief nicht zu spät auf die Post komme, schreibe ich Dir in meinem Geschäftslocale und auf einem Geschäfts-Briefbogen, da ich, seit ich Dich zuletzt gesehen, Neuigkeiten für Dich habe, die ich Dir ohne Zeitverlust mitzutheilen für rathsam halte.

Fangen wir also beim Anfange an. Nachdem ich die Sache sorgfältig überlegt, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß Du dem jungen Armadale gegenüber wohl thun wirst, über Madeira und alles was sich dort zutrug, den Mund zu halten. Der Mutter gegenüber war Deine Stellung ohne Zweifel eine vortreffliche. Du warst ihr heimlich behilflich gewesen, ihren Vater zu hintergehen; Du warst, sobald Du ihrem Zwecke gedient, in einem jämmerlich zarten Alter auf das undankbarste von ihr entlassen worden —— und als Du nach einer Trennung von mehr als zwanzig Jahren plötzlich mit ihr zusammenkamst, fandest Du sie in sinkender Gesundheit und als Mutter eines erwachsenen Sohnes, den sie in vollkommener Unwissenheit über die wahre Geschichte ihrer Heirath gelassen hatte. Hast Du dem jungen Herrn gegenüber irgendwelche derartige Vortheile? Wenn er nicht ein geborener Einfaltspinsel ist, wird er Dich mit Deinen empörenden Verleumdungen gegen das Andenken seiner Mutter ungläubig abweisen und, da Du ihm nach so langer Zeit keine Beweise von der Sache vorzulegen im Stande bist, ist damit Deine goldene Armadale-Geldgrube eingestürzt. Ich will damit nicht gesagt haben, daß die schwere Schuld der Verpflichtung der alten Dame nach dem, was Du auf Madeira für sie gethan, bereits getilgt sei, und stelle durchaus nicht in Abrede, daß, da die Mutter Dir entwischt ist, zunächst der Sohn an der Reihe ist, Dich zu belohnen. Nur mußt Du ihn in der rechten Weise bearbeiten, meine Liebe. Der Vorschlag, den ich Dir zu machen wage, geht dahin: Bearbeite ihn in der rechten Weise!

Und welche ist die rechte Weise? Dies bringt mich auf meine Neuigkeiten. Hast Du Dir Deinen Plan, mit Hilfe Deiner Schönheit und Deines Scharfsinnes Dein Glück bei diesem jungen Herrn zu versuchen, wohl überlegt? Die Idee verfolgte mich, nachdem Du mich verlassen, in so seltsamer Weise, daß ich schließlich ein Billet an meinen Advokaten sandte und ihn ersuchte, das Testament, vermöge dessen der junge Armadale in den Besitz der Güter gelangte, sorgfältig in Doctor’s Commons zu prüfen. Das Resultat erweist sich als ein bei weitem ermuthigenderes als wir beide, Du und ich, zu hoffen gewagt haben würden. Nach dem Berichte des Advokaten bleibt kein Schatten von Zweifel mehr über das, was Du thun mußt. In zwei Worten, Lydia, ergreife den Stier bei den Hörnern —— und heirathe ihn!!

Ich rede im vollen Ernste. Dieses Wagniß verlohnt sich weit besser als Du glaubst. Bringe ihn nur dahin, daß er Dich zur Mrs. Armadale macht, und dann kannst Du allen künftigen Entdeckungen Trotz bieten. Solange er lebt, kannst Du mit ihm anfangen, was Du willst; und wenn er stirbt, berechtigt das Testament Dich, ungeachtet alles dessen, was er thun oder sagen mag —— ob Du Kinder hast oder nicht —— zu einem aus den Gütern zu entnehmenden Einkommen von zwölfhundert Pfund das Jahr, solange Du lebst. Es unterliegt dies keinem Zweifel —— der Advokat hat das Testament selbst gelesen. Mr. Blanchard hatte natürlich, als er diese Verfügung traf, seinen Sohn und dessen Wittwe im Auge. Da dieselbe jedoch sich nicht auf einen bestimmten, mit Namen genannten Erben beschränkt oder später irgendwo widerrufen ist, so ist sie bezüglich des jungen Armadale ebenso gültig, wie sie dies für den Sohn von Mr. Blanchard gewesen sein würde. Welch eine Aussicht für Dich. nach all dem Elend und den Gefahren, die Du überstanden: Herrin von Thorpe-Ambrose zu sein, solange er am Leben bleibt, und wenn er stirbt, eine lebenslängliche Jahresrente! Erangele ihn Dir, mein armes, liebes Geschöpf; erangele ihn Dir um jeden Preis!

Du wirst, wenn Du dies liest, vermuthlich denselben Einwand erheben, den Du machtest, als wir vor kurzem über den Gegenstand sprachen —— ich meine Dein Alter. Jetzt höre mich an, mein gutes Geschöpf. Es handelt sich nicht darum, ob Du mit Deinem letzten Geburtstage Dein fünfunddreißigstes Jahr erreicht hast —— wir wollen die fürchterliche Wahrheit eingestehen und nichts weiter darüber sagen —— sondern darum, ob Du so alt aussiehst wie Du bist, oder nicht. Meine Ansicht über diesen Gegenstand sollte wohl die maßgebendste in ganz London sein —— und sie ist es. Ich habe eine zwanzigjährige Erfahrung im Verjüngen verwitterter alter Gesichter und abgenutzter alter Gestalten unseres reizenden Geschlechts —— und ich versichere Dir mit Entschiedenheit, daß Du nicht um einen Tag älter als dreißig Jahre aussiehst, wenn überhaupt so alt. Wenn Du meinen Rath annehmen und insgeheim ein paar von meinen Schönheitsmitteln anwenden willst, so will ich Dir noch drei Jahre weniger garantieren. Ich will all das Geld verlieren, das ich Dir in dieser Sache vorzustrecken genöthigt sein werde, wenn Du, nachdem ich Dich in meiner Wundermühle wieder jung gemacht habe, irgendeinem Manne älter als siebenundzwanzig Jahre erscheinst —— ausgenommen natürlich, wenn Du in den frühen Morgenstunden sorgenvoll aus dem Schlafe erwachst; und dann meine Liebste, wirst Du in der Zurückgezogenheit Deines Privatgemachs alt und häßlich sein, und dies wird nichts auf sich haben.

Aber, wirst Du vielleicht einwenden, nehmen wir alles dies an, so bin ich doch im besten Falle immer noch sechs Jahre älter als er, und dies steht mir von vornherein entgegen. Meinst Du? Ueberlege Dir’s noch einmal. Deine eigenen Erfahrungen werden Dich sicherlich gelehrt haben, daß die aller gewöhnlichste Schwäche von jungen Leuten im Alter des jungen Armadale die ist, daß sie sich in Frauen verlieben, die älter sind als sie. Welche Art von Männern schätzt uns wirklich in der Blüthe unserer Jugend —— ich habe in Wahrheit alle Ursache, Gutes von der Blüthe der Jugend zu sprechen, denn ich habe heute funfzig Guineen dadurch verdient, daß ich dieselbe aus den fleckigen Schultern einer Frau hervorbrachte, die Deine Mutter sein könnte —— also, welche Art von Männern, sage ich, ist bereit, uns anzubeten, wenn wir bloße Kinder von siebzehn Jahren sind? Die munteren jungen Herren etwa, die selber in der Blüthe der Jugend stehen? Nein! Sondern die schlauen alten Gesellen, die hoch in den Vierzigen sind.

Und was ist die Moral von alledem? Daß Du, im Besitze eines Kopfes, wie Du ihn zwischen den Schultern trägst, alle Chancen auf Deiner Seite hast. Wenn Du Deine gegenwärtige verlassene Lage fühlst, was ich sehr wohl glaube; wenn Du weißt, welch eine charmante Frau Du in den Augen der Männer noch immer sein kannst, sobald es Dir beliebt; wenn Du wirklich nach jenem abscheulichen Anfalle von Verzweiflung an Bord des Dampfbootes Deine ganze ehemalige Entschlossenheit wiedergefunden hast, so wirst Du keiner ferneren Ueberredung von mir bedürfen, um dieses Experiment zu versuchen.

Wenn man bedenkt, wie die Ereignisse in dieser Welt sich drehen! Wäre jener andere junge Einfaltspinsel nicht ins Wasser gesprungen, um Dich zu retten, so würde dieser junge Einfaltspinsel nimmer die Güter erhalten haben. Es hat wirklich das Ansehen, als ob das Schicksal bestimmt habe, daß Du Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose werden sollst —— und wer kann seinem Schicksal entgehen, wie der Dichter sagt?

Sende mir, liebstes Wesen, eine einzige Zeile, um Ja oder Nein zu sagen, und glaube an die aufrichtige Liebe

Deiner alten Freundin

Maria Oldershaw.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Donnerstag.

Du altes Geschöpf, ich will nicht eher Ja oder Nein sagen, als bis ich einen langen Blick in meinen Spiegel gethan habe. Wenn Du für irgendein Wesen, außer Deinem gottlosen alten Selbst, die geringste Rücksicht zu fühlen fähig wärst, so würdest Du wissen, daß nach allem, was ich gelitten habe, der bloße Gedanke an eine abermalige Heirath genügt, um mich schaudern zu machen.

Doch kann es nicht schaden, wenn Du, während ich zu einer Entscheidung zu kommen versuche, mir noch ein wenig weitere Auskunft zukommen läßt. Es bleiben Dir aus dem Verkauf meiner Sachen noch zwanzig Pfund übrig; sende mir eine Postanweisung von zehn Pfund für meine eigenen Ausgaben und verwende die andern zehn zu heimlichen Nachforschungen in Thorpe-Ambrose. Ich wünsche zu wissen, wann die beiden Blanchardschen Frauenzimmer fortziehen und wann der junge Armadale die kalte Asche des Familienherdes aufzurühren kommt. Bist Du Dir vollkommen sicher darüber, daß er so leicht zu regieren sein wird, wie Du sagst? Falls er nach seiner heuchlerischen Mutter artet, so kann ich Dir Eins sagen —— Judas Ischariot ist wieder lebendig geworden.

Ich fühle mich in dieser Wohnung sehr behaglich. Im Garten sind reizende Blumen und die Vögel wecken mich morgens auf das angenehmste aus dem Schlafe. Ich habe ein ziemlich gutes Klavier gemiethet. Der einzige Mann, an dem mir im aller mindesten gelegen ist —— habe keine Angst, er hat seit vielen Jahren im Grabe gelegen und zwar hieß er Beethoven —— leistet mir in meinen einsamen Stunden Gesellschaft. Die Wirthin würde mir ebenfalls Gesellschaft leisten, wenn ich es ihr gestatten wollte. Ich hasse die Weiber. Der neue Hilfsprediger machte gestern meiner andern Hausgenossin einen Besuch und kam, wie er heraus und über den Rasen ging, an mir vorüber. Meine Augen haben, trotz meiner fünfunddreißig Jahre, jedenfalls noch nichts von ihrer Macht verloren! Der arme Mann erröthete förmlich, wie ich ihn ansah! Welche Farbe würde wohl sein Gesicht überzogen haben, wenn einer der kleinen Vögel im Garten ihm die wahre Geschichte der reizenden Miß Gwilt ins Ohr gezwitschert hätte?

Adieu, Mutter Oldershaw. Ich bezweifle eigentlich, ob ich mit aufrichtiger Liebe die Deine oder sonst irgend Jemandes bin; aber wir lügen alle am Fuße unserer Briefe, nicht wahr? Falls Du daher mit aufrichtiger Liebe meine alte Freundin bist, bin ich natürlich

mit aufrichtiger Liebe die Deine,

Lydia Gwilt.

P.S. Behalte Deine abscheulichen Pulver und Schmieren und Schminken für die fleckigen Schultern Deiner Kunden; keine Spur derselben soll je meine Haut berühren, das verspreche ich Dir. Wenn Du Dich wirklich nützlich zu machen wünschst, so versuche mir ein Beruhigungsmittel zu verschaffen, das mich davon heilt, im Schlafe die Zähne zu fletschen. Ich werde mir nächstens einen derselben ausbrechen, und ich möchte wissen, was dann aus meiner Schönheit werden soll?

Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

Damen-Toiletten-Niederlage, Dienstag.

Meine liebe Lydia —— Es ist außerordentlich schade, daß Dein Brief nicht an den jungen Armadale gerichtet war; Deine anmuthige Keckheit würde ihn entzückt haben. Mich rührt dieselbe nicht; ich bin so sehr daran gewöhnt, wie Du weißt. Wozu vergeudest Du Deinen funkelnden Witz an Deine unerschütterliche Oldershaw, meine Liebste? Sowie die Funken desselben aufsprühen, erlöschen sie schon wieder. Willst Du diesmal versuchen, ernst zu sein? Ich habe Neuigkeiten aus Thorpe-Ambrose für Dich, die kein Scherz sind und mit denen nicht gespielt werden darf.

Eine Stunde nachdem ich Deinen Brief erhalten, brachte ich die Nachforschungen in Gang. Da ich nicht wußte, zu welchen Folgen dieselben führen dürften, hielt ich es für das Sicherste, im finsteren anzufangen. Anstatt irgend Jemand von den Leuten zu verwenden, die in meinem eigenen Dienste stehen und welche Dich und mich kennen, ging ich nach dem geheimen Nachforschungs-Comptoir auf dem Shadyside-Platz und übergab die Sache, als eine Fremde, den Händen des Inspectors, ohne Deiner irgendwie dabei zu erwähnen. Dies hieß allerdings nicht, die Sache in der wohlfeilsten Weise anfangen, das gestehe ich, aber es war die sicherste Weise, und dies ist bei weitem wichtiger.

Der Inspector und ich verstanden einander in zehn Minuten, und es kam augenblicklich die rechte Person für den Zweck zum Vorschein —— ein junger Mann von so harmlosem Aussehen, wie Dir nur einer im Leben vorgekommen sein mag. Er reiste eine Stunde darauf nach Thorpe-Ambrose ab. Ich traf das Uebereinkommen, daß ich mir an den Nachmittagen von Sonnabend, Montag und heute auf dem Comptoir die Nachrichten abholen wolle. Aber ich fand deren keine vor bis heute, wo unser vertrauter Agent soeben nach der Stadt zurückgekehrt war und mich erwartete, um mir einen vollen Bericht über seinen Ausflug nach Norfolk abzustatten.

Vor allem laß mich Dich über Deine beiden Fragen beruhigen; ich kann Dir beide beantworten. Die Blanchardschen Frauenzimmer reisen am dreizehnten nach dem Auslande ab, und der junge Armadale segelt in diesem Augenblicke in seiner Jacht irgendwo auf dem Meere umher. Es geht in Thorpe-Ambrose ein Gerede von einem öffentlichen Empfange den man ihm zugedacht, und von einer Zusammenberufung der Orts-Magnaten, um sich hierüber zu berathen. Mit den Reden und dem ganzen Aufheben wird bei solchen Gelegenheiten meistens eine Menge Zeit vergeudet und es ist daher nicht wahrscheinlich, daß der öffentliche Empfang dem neuen Squire viel vor Ende des Monats zu Theil wird.

Ich denke, daß unser Bote, wenn er nicht mehr als dies für uns gethan hätte, schon sein Geld verdient haben würde. Aber der harmlose junge Mann ist ein wahrer Jesuit im heimlichen Nachforschen —— wobei er vor all den papistischen Pfaffen, die ich gesehen habe, den Vorzug voraus hat, daß seine Schlauheit nicht in seinem Gesichte geschrieben sieht. Da er sich seine Auskunft durch die weibliche Dienerschaft des Hauses zu verschaffen genöthigt war, wandte er sich mit bewundernswerther Discretion an die häßlichste Person im ganzen Hause. »Wenn die Mädchen hübsch sind und die Wahl haben«, sagte er zu mir, »vergeuden sie viel kostbare Zeit in ihrer Wahl eines Liebhabers. Sind sie aber häßlich und haben keinen Schatten von Aussicht auf eine Wahl, so stürzen sie sich auf den ersten besten Liebhaber, der ihnen in den Weg läuft, wie ein verhungernder Hund sich auf einen Knochen stürzt.« Es gelang unserm vertrauten Agenten, da er nach diesen vortrefflichen Grundsätzen handelte, nach einigem unvermeidlichen Verzuge, sich mit dem Oberstubenmädchen zu Thorpe-Ambrose in Verbindung und schon beim ersten Zusammenkommen in den Besitz ihres vollen Vertrauens zu setzen. Der erhaltenen Instructionen eingedenk, brachte er die Person zum Plaudern und ward natürlich umständlich mit dem ganzen Bedientengeschwätze bekannt gemacht. Der größere Theil desselben war ohne die allergeringste Wichtigkeit. Doch hörte ich geduldig zu und wurde endlich durch eine werthvolle Entdeckung entschädigt Dieselbe ist folgende:

Wie es scheint, steht in den Parkanlagen von Thorpe-Ancbrose ein hübsches Häuschen Aus irgendeinem nicht bekannten Grunde hat es dem jungen Armadale beliebt, dasselbe zu vermuthen, und der neue Bewohner ist bereits eingezogen. Dieser ist ein armer Major außer Diensten, Namens Milroy —— eine bescheidene Art von Mann, wie es heißt, der eine Liebhaberei von Beschäftigungen in der Mechanik, außerdem aber ein häusliches Mißgeschick in der Gestalt einer bettlägerigen Gattin hat, die noch von Niemandem erblickt worden ist. Nun, und was soll alles dies? wirst Du mit jener sprühenden Ungeduld fragen, die Dir so vortrefflich steht. Meine liebe Lydia, sprühe nicht! Die Familienangelegenheiten dieses Mannes sind für uns beide von der größten Wichtigkeit, denn zum großen Unglück hat der Mann eine Tochter!

Du wirst Dir denken können, wie ich unsern Agenten ausfragte, und wie dieser sein Gedächtniß durchstöberte, als ich im Verlauf der Unterhaltung plötzlich eine solche Entdeckung machte. Wenn der Himmel für die geschwätzigen Zungen der Weiber verantwortlich ist, so sei der Himmel gelobt! Der Redefluß tröpfelte von Miß Blanchard’s Zunge zu der von Miß Blanchard’s Jungfer, von Miß Blanchard’s Jungfer zur Jungfer von Miß Blanchard’s Tante, von der Jungfer von Miß Blanchards Tante zu dem häßlichen Oberstubenmädchen, von dem häßlichen Oberstubenmädchen zu dem harmlos aussehenden jungen Manne und ergoß sich endlich in das richtige Behältniß —— und die durstige Mutter Oldershaw hat alles aufgeschlürft. Mit deutlichen Worten, meine Liebste, verhält sich die Sache also folgendermaßen. Die Tochter des Majors ist ein Mädchen von kaum sechzehn Jahren; lebhaft und hübsch —— das hassenswerthe kleine Ungeheuer —— unordentlich in ihrer Kleidung —— dem Himmel sei Dank —— und in ihren Manieren noch nicht ausgefeilt genug —— dem Himmel sei nochmals Dank! Sie ist zu Hause erzogen worden. Die Erzieherin, der sie zuletzt anvertraut war, verließ sie, ehe ihr Vater nach Thorpe-Ambrose kam. Ihre Ausbildung bedarf durchaus der letzten Politur, und der Vater weiß nicht, was er jetzt deshalb thun soll. Unter seinen Bekannten weiß ihm Niemand eine neue Erzieherin zu empfehlen und er kann sich nicht entschließen, das Mädchen in eine Schule zu senden. Und so steht jetzt die Sache, nach des Majors eigener Angabe —— denn dahin sprach er sich bei einem Morgenbesuche aus, den Vater und Tochter im großen Hause abstatteten.

Damit hast Du jetzt meine versprochene Neuigkeit, und ich denke mir, daß Du leicht mit mir darin übereinstimmen wirst, daß diese Armadalesche Angelegenheit sofort auf die eine oder andere Weise arrangiert werden muß. Falls Du —— bei Deinen hoffnungslosen Aussichten und bei dem Anrechte, daß Du, wie ich wohl sagen darf, an diesen jungen Menschen hast —— Dich entschließest, ihn aufzugeben, werde ich das Vergnügen haben, Dir den Ueberschuß zu senden, den Du noch bei mir gut hast, nämlich siebenundzwanzig Schillinge und so frei sein, mich ferner nur meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen. Solltest Du Dich aber im Gegentheil dazu entschließen, in Thorpe-Ambrose Dein Glück zu versuchen, dann möchte ich, da es durchaus keinem Zweifel unterliegen kann, daß das Aeffchen des Majors den jungen Squire zu fangen versuchen wird, wohl wissen, in welcher Weise Du der doppelten Schwierigkeit, den jungen Armadale zu entflammen und Miß Milroy auszustechen, zu begegnen gedenkst

Aufrichtig die Deine

Maria Oldershaw.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Mittwoch Morgen.

Mrs. Oldershaw —— Senden Sie mir meine siebenundzwanzig Schillinge und widmen Sie sich Ihren eigenen Angelegenheiten.

Die Ihre,

L.G.

Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

Richmond, Mittwoch Abend.

Du liebe Alte, behalte die siebenundzwanzig Schillinge und verbrenne meinen letzten Brief. Ich bin andern Sinnes geworden.

Ich schrieb das erste Mal nach einer schauerlichen Nacht; diesmal nach einem Spazierritte, einem großen Glase Bordeaux und seiner gebratenen Hühnerbrust. Ist dies eine hinreichende Erklärung? Bitte, sage Ja —— denn ich wünsche, zu meinem Klavier zurückzukehren.

Doch nein, ich kann noch nicht dorthin zurück —— ich muß zuvor Deine Frage beantworten. Aber bist Du wirklich so einfältig, Dir einzubilden, daß ich Dich und Deinen Brief nicht durchschaue? Du weißt ebenso wohl wie ich, daß die Schwierigkeit, in der der Major sich befindet, die beste Gelegenheit für uns ist; aber Du wünschest, daß ich die Verantwortlichkeit des ersten Vorschlags auf mich nehme, nicht wahr? Gesetzt, ich thäte dies nach Deiner weitschweifigen Weise? Gesetzt ich sagte: Bitte, frage mich nicht, in welcher Weise ich den jungen Armadale zu entflammen und Miß Milroy auszustechen gedenke; die Frage ist wirklich eine so abscheulich schroffe, daß ich sie nicht beantworten kann. Frage mich lieber, ob der bescheidene Ehrgeiz meines Daseins dahin geht, Miß Milroy’s Erzieherin zu werden? —— Ja, wenn ich bitten darf, Mrs. Oldershaw —— und wenn Sie mir dazu behilflich sein wollen, indem Sie mir Ihre Empfehlung geben.

Da hast Du’s! Wenn sich irgendein großes Unglück ereignet, was vollkommen wohl möglich ist, da wirst Du großen Trost in der Erinnerung finden, daß dies alles meine Schuld war!

Willst Du jetzt, da ich dies für Dich gethan habe, auch etwas für mich thun?

Es verlangt mich, die kurze Zeit, die mir noch hier bleibt, auf meine eigene Weise zu verträumen. Sei eine barmherzige Mutter Oldershaw und verschone mich mit den Widerwärtigkeiten des ganzen Manövers und dem Dafür und Dawider bezüglich meiner Aussichten in diesem neuen unternehmen. Kurz, denke für mich, bis ich für mich selber zu denken gezwungen bin.

Ich will lieber nichts weiter schreiben, da ich sonst leicht etwas Wüthendes sagen dürfte, das Dir nicht behagen möchte. Ich habe heute Abend einen meiner Wuthanfälle. Ich sehne mich nach einem Gatten, den ich ärgern, oder nach einem Kinde, das ich schlagen könnte. Ergötzest Du Dich zuweilen daran, die Sommerinsecten sich in den Kerzenflammen tödten zu sehen? Ich thue dies oft. Gute Nacht, Madame Jesabel. Je länger Du mich hier lassen kannst, desto besser. Die Luft sagt mir zu und ich sehe charmant aus.

L. G.

Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.
Meine liebe Lydia!

Manche Leute an meiner Stelle würden sich durch den Ton Deines letzten Briefes ein wenig beleidigt fühlen. Aber ich bin Dir so innig zugethan! Und wenn ich ein Wesen liebe, ist es schwer für dieses Wesen, mich zu beleidigen! Mache das nächste Mal keinen so langen Spazierritt und trinke nur ein kleines Glas Bordeaux. Mehr sage ich nicht.

Wollen wir unser Wortgefecht jetzt aufgeben und einmal ernstlich reden? Wie außerordentlich schwer es den Frauen zu werden scheint, einander zu verstehen —— namentlich wenn sie die Feder in der Hand haben! Doch wollen wir’s versuchen.

Zum ersten also entnehme ich aus Deinem briefe, daß Du den weisen Entschluß gefaßt hast, das Thorpe-Ambrosesche Experiment zu versuchen —— und Dir gleich beim Beginn eine vortreffliche Stellung zu sichern, indem Du ein Mitglied von Major Milroy’s Familienkreise wirst. Sollten die Umstände Dir ungünstig sein und eine andere Person die Gouvernantenstelle erhalten, so wird Dir nichts übrig bleiben, als in einer andern Rolle Mr. Armadales Bekanntschaft zu tauchen. In jedem Falle wirst Du meines Beistandes bedürfen, und der erste Punkt, der zwischen uns entschieden werden muß, ist deshalb die Frage in Bezug auf das, was ich zu thun bereit und zu thun im Stande bin, um Dir zu helfen.

Eine Frau von Deinem Aussehen, meine liebe Lydia, Deinen Manieren, Deinen Talenten und Deiner Erziehung kann fast jede ihr beliebige Stellung in der Gesellschaft erlangen, wenn sie Geld in der Tasche und für den Nothfall achtbare Empfehlungen aufzuweisen hat. Erstens, was das Geld betrifft. Ich verpflichte mich, dasselbe zu verschaffen, unter der Bedingung, daß Du Dich meiner Hilfe mit entsprechender Pecuniärer Dankbarkeit erinnerst, falls Du den Armadaleschen Preis erringst. Dein Versprechen, in dieser Weise meiner gedenken zu wollen, soll in Verbindung mit deutlichen Zahlen von meinem eigenen Advokaten zu Papier gebracht werden, damit wir die Sache sofort abmachen und unterschreiben können, wenn ich Dich in London sehe.

Dann, was die Empfehlung betrifft. Hier stehen Dir meine Dienste abermals zu Gebote —— unter einer andern Bedingung. Dieselbe ist folgende: Du führst Dich unter dem Namen in Thorpe-Ambrose ein, den Du seit jener fürchterlichen Angelegenheit bezüglich Deiner Heirath wieder angenommen hast —— ich meine Deinen Mädchennamen Gwilt. Ich habe hierbei nur einen einzigen Zweck im Auge; ich wünsche keine unnöthige Gefahr zu laufen. Meine Erfahrung als vertraute Rathgeberin meiner Kunden in mancherlei romantischen Fällen geheimer Verlegenheiten hat mich gelehrt, daß ein falscher Name in neun Fällen unter zehn eine sehr unnöthige und sehr gefährliche Art von Betrug ist. Deine Annahme eines falschen Namens könnte durch nichts gerechtfertigt werden als durch die Furcht, von dem jungen Armadale erkannt zu werden —— eine Furcht, von der wir glücklicherweise durch das Verfahren seiner Mutter befreit sind, die ihre frühere Bekanntschaft mit Dir vor ihrem Sohne wie vor allen andern Leuten geheim gehalten hat.

Die nächste und letzte Schwierigkeit, meine Liebste, betrifft Deine Aussichten, in Major Milroy’s Familie als Gouvernante Aufnahme zu finden. Sobald Du einmal im Hause bist, kannst Du mit Deinen Talenten für Musik und Sprachen, vorausgesetzt, daß Du Deine Heftigkeit zu beherrschen im Stande bist, Deine Stelle zu behalten sicher sein. Wie die Sachen jetzt stehen, ist der einzige Zweifel nur der, ob Du dieselbe erlangen wirst.

Bei der Schwierigkeit, in der der Major sich augenblicklich befindet, spricht alles dafür, daß er durch Zeitungsannoncen eine Gouvernante sucht. Nehmen wir an, er thut dies —— wohin wird er dann die Bewerberinnen bestellen? Darin liegt die wahre Schwierigkeit für uns. Giebt er eine Adresse in London an, so mögen wir nur sofort jeder Chance zu Deinen Gunsten Lebewohl sagen, und zwar aus dem Grunde, weil wir seine Annonce nicht unter allen ähnlichen Annoncen von Leuten herauszuerkennen im Stande sein werden, die ebenfalls Gouvernanten suchen und ebenfalls Adressen in London angeben. Falls aber unser Glück uns nicht im Stiche läßt und er seine Correspondenten an einen Kaufladen oder ein Postamt oder was sonst immer in Thorpe-Ambrose verweist, so ist uns unsere Annonce dadurch so deutlich bezeichnet, wie wir es nur wünschen können. In diesem Falle hege ich wenig oder gar keinen Zweifel darüber, daß Du —— mit Hilfe einer Empfehlung von mir —— Deinen Weg in den Familienkreis des Majors finden wirst. Wir haben einen großen Vorzug vor den andern Personen voraus, die sich ebenfalls um die Stelle bewerben werden. Vermöge meiner Nachforschungen am Orte selber wissen wir, daß Major Milroy ein armer Mann ist, und wir wollen einen so niedrigen Gehalt fordern, daß der Major sich sicherlich dadurch verlocken läßt. Was den Stil des Briefes betrifft, so möchte ich wissen, wer uns beide in der Abfassung einer bescheidenen und interessanten Bewerbung um die Stelle zu übertreffen im Stande wäre?

Alles dies liegt indessen noch in der Zukunft. Für jetzt geht mein Rath dahin, daß Du bleibst, wo Du bist, und nach Herzenslust fort träumst, bis Du wieder von mir hörst. Ich halte die Times regelmäßig, und Du magst Dich darauf verlassen, daß die Annonce meinem scharfen Auge nicht entgehen wird. Wir können dem Major glücklicherweise Zeit lassen, ohne dadurch unserm eigenen Interesse zu schaden, denn es steht für jetzt noch nicht zu befürchten, daß das Mädchen Dir zuvorkommen wird. Der öffentliche Empfang wird, wie wir wissen, nicht vor Ende des Monats stattfinden können, und wir dürfen uns mit Sicherheit darauf verlassen, daß die Eitelkeit des jungen Armadale ihn vom Hause fern halten wird, bis alle seine Schmeichler zu seiner Bewillkommnung versammelt sind. Laß uns noch wenigstens zehn Tage warten, ehe wir die Gouvernanten-Idee aufgeben und die Köpfe zusammenstecken, um einen neuen Plan ausfindig zu machen.

Ist es nicht merkwürdig, wie viel von der Entscheidung dieses pensionierten Offiziers abhängt? Was mich betrifft, so werde ich jetzt jeden Morgen mit einem und demselben Gedanken erwachen. Welche Adresse wird der Major angeben, wenn er eine Annonce in die Zeitung setzt —— Thorpe-Ambrose oder London?

Immer von Herzen die Deine

Maria Oldershaw.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Allan stand am Morgen nach seiner ersten Nacht in Thorpe-Ambrose frühe auf und betrachtete mit einem gewissen Mißbehagen darüber, daß er sich in seinem eigenen Hause so fremd fühlte, den Theil seines neuen Besitzthums, den er durch das Fenster seiner Schlafstube erblicken konnte.

Das Schlafzimmer befand sich über der großen Eingangsthür mit ihrem Porticus, ihrer Terrasse und ihrer Stufenflucht, vor der im Hintergrunde der große dichte Park die Aussicht schloß. Der Morgennebel um schwebte leicht die fernen Bäume, und die Kühe weideten gesellig in der unmittelbaren Nähe des eisernen Stakets, das den Park von der Auffahrt zum Hause trennte. »Alles mein !« dachte Allan,«indem er seine Besitzungen verdutzt anstaunte. »Hol’ mich der Henker; das will mir nicht in den Kopf! Alles mein!«

Er kleidete sich an, verließ sein Zimmer und ging den Corridor entlang, der nach der Treppe und der großen Eingangshalle führte, wobei er im Vorüber- gehen der Reihe nach alle Thüren öffnete. Die Gemächer in diesem Theile des Hauses waren Schlafzimmer und Ankleidezimmer, hell, geräumig und vollständig meublirt; alle diese Räumlichkeiten waren unbenutzt, das Schlafzimmer neben Allan’s eigenem Schlafzimmer allein ausgenommen, welches Midwinter angewiesen worden war. Dieser schlief noch, als sein Freund zu ihm hineinschaute, da er bis spät in der Nacht gesessen hatte, um seinen Brief an Mr. Brock zu schreiben. Allan ging bis ans Ende des ersten Corridors, bog im rechten Winkel in einen zweiten ein und sah sich, nachdem er denselben durchschritten, an dem oberen Ende der großen Haupttreppe. »Nichts Romantisches hier«, sprach er bei sich, indem er die mit schönen Teppichen bedeckte bequeme steinerne Treppe hinabsah, die in die moderne helle Eingangshalle führte. »Es ist nichts in diesem Hause, was Midwinters unruhige Nerven zu stören geeignet wäre.« Auch war dort in der That nichts der Art zu sehen; Allan’s durchaus oberflächliche Beobachtung hatte ihn für diesmal wenigstens nicht irre geleitet. Das stattliche Herrenhaus von Thorpe-Ambrose, welches nach dem Abreißen des verfallenen alten Wohnhauses errichtet worden war, war kaum fünfzig Jahre alt. In keinem Theile desselben war irgendetwas Malerisches oder etwas, das im allermindesten an Geheimnisse und Romantik erinnerte, zu finden. Es war eben ein Landhaus in rein conventionellem Stil — das Product der classischen Idee in verständiger Weise durch den commerciellen englischen Geist hindurchfiltrirt. Von außen betrachtet bot dasselbe den Anblick einer modernen Fabrik, die sich bemüht, wie ein Tempel des Alterthums auszusehen; im Innern war es vom Souterrain bis zum Dache ein Wunder von reicher Bequemlichkeit. »Uebrigens ist es ganz recht so«, dachte Allan, indem er langsam und zufrieden die breite flachstufige Treppe hinunterging. »Zum Henker mit aller Heimlichkeit und Romantik! Laßt uns sauber sein und Bequemlichkeit haben, sage ich!«

In der Eingangshalle angelangt, stand der neue Herr von Thorpe-Ambrose still und schaute sich ringsum, in Ungewißheit, wohin er sich zunächst wenden solle. Die vier Empfangszimmer im Erdgeschoß, je zwei auf jeder Seite, öffneten sich nach der Eingangshalle. Allan versuchte aufs Gerathewohl die nächste Thür zu seiner Rechten und sah sich im besten Gesellschaftszimmer. Hier gewahrte er das erste Lebenszeichen unter der anziehendsten Gestalt des Lebens. Ein junges Mädchen war im alleinigen Besitz des Gesellschaftszimmers. Das Wischtuch in ihrer Hand schien darauf hinzudeuten, daß ihr die häuslichen Verrichtungen oblagen; in diesem Augenblicke aber gestattete sie den Ansprüchen der Natur den Vorrang vor den Verpflichtungen ihres Dienstes. Mit andern Worten —— sie betrachtete ihr eigenes Antlitz in dem Spiegel über dem Kamine.

»So, so, erschreckt nicht vor mir«, sagte Allan, als das Mädchen vor dem Spiegel zurückfuhr und ihn in unaussprechlicher Verwirrung anstarrte. »Ich bin ganz Eurer Ansicht, mein Kind: Euer Gesicht ist sehr wohl des Ansehens werth. Wer seid Ihr? —— Das Stubenmädchen —— gut! Und Ihr heißt? Susan, wie? Kommt! Euer Name gefällt mir schon. Wißt Ihr, wer ich bin, Susan? Ich bin Euer Herr, obgleich Ihr dies kaum glauben mögt. Euer Zeugniß? O, ja wohl! Mrs. Blanchard hat Euch ein vortreffliches Zeugniß gegeben. Ihr sollt bleiben; fürchtet nichts. Und Ihr werdet ein braves Mädchen sein, Susan, und hübsche Häubchen und saubere Schürzen und bunte Bänder tragen, und werdet hübsch aussehen und die Meubles abstäuben, wie?«

Nachdem er in dieser Weise die Pflichten eines Stubenmädchens zusammengefaßt, spazierte Allan wieder in die Eingangshalle hinaus und entdeckte hier fernere Lebenszeichen. Ein Bedienter erschien und verbeugte sich, wie es einem Vasallen in einer Leinwandjacke zukommt, vor seinem Herrn.

»Und wer mögt Ihr wohl sein?« frug Allan. »Doch nicht der Mann, der uns gestern Abend einließ? Ah, das dachte ich mir wohl. Der zweite Bediente, wie? Zeugniß? O, ja, vortreffliches Zeugniß. Versteht sich, Ihr bleibt. Könnt mich als Kammerdiener bedienen, wie? O, zum Kuckuck mit der Kammerdienerei! Ich kleide mich lieber allein an und bürste meine Kleider am liebsten selbst, und zwar wenn ich schon drin stecke; und wenn ich es nur verstünde, beim heiligen Georg, so möcht’ ich mir sogar die Stiefel selber putzen! Was ist dies für ein Zimmer? Wohnzimmer,y wie? Und dies natürlich das Eßzimmer Gerechter Himmel, welch eine Speisetafel! So lang wie meine Jacht, ja noch länger. Aber hört —— beiläufig —— wie heißt Ihr? Richard, wie? —— Nun Richard, das Schiff, in dem ich segle, habe ich selber gebaut. Was sagt Ihr dazu? Ihr seht mir gerade wie der rechte Mann aus, um mir an Bord als Steward zu dienen. Wenn Ihr auf dem Wasser nicht seekrank werdet —— o, Ihr werdet seekrank auf dem Wasser? Nun, dann wollen wir nicht weiter davon reden. Und welches Zimmer ist dies? Ah, ja wohl, das Bibliothekzimmer, versteht sich —— schlägt mehr in Mr. Midwinters Fach als in das meinige. Mr. Midwinter ist der Herr, der hier gestern Abend mit mir ankam; und laßt Euch’s gesagt sein, Richard, Ihr alle sollt ihm dieselbe Aufmerksamkeit wie mir erzeigen. Wo sind wir jetzt? Welche Thür ist diese hier hinten? Billardzimmer und Rauchzimmer wie? Das ist herrlich. Noch eine Thür! Und noch mehr Treppen? Wohin führt diese Treppe —— und wer kommt hier herauf? Lassen Sie sich Zeit, Madame; Sie sind nicht mehr ganz so jung wie ehedem —— lassen Sie sich Zeit!«

Diese humane Warnung galt einer corpulenten ältlichen Frau, welche Allan passender mit »Mutter« denn mit »Madame« angeredet hätte. Vierzehn Stufen waren alles, was sie vom Herrn des Hauses trennte; sie stieg dieselben mit vierzehnmaligem Stillstehen und vierzehn Seufzern hinan. Die Natur, die sich in allen Dingen so mannigfaltig zeigt, ist im weiblichen Geschlechte ganz besonders mannigfaltig. Es giebt Frauen, deren persönliche Eigenschaften an die Liebesgötter und die Grazien erinnern; und es giebt andere, deren persönliche Eigenschaften an Fetttöpfe erinnern. Die in Frage stehende war eine von den andern Frauen.

»Freut mich, Sie so wohl zu sehen, Madame«, sagte Allan, als die Köchin —— denn als solche offenbarte sie sich —— in der Majestät ihres Amtes vor ihm stand. »Sie heißen Gripper, wie? Ich betrachte Sie als die schätzbarste Person im ganzen Hause, Mrs. Gripper, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Niemand im Hause einen so herzhaften Appetit hat wie ich. Meine Befehle? O, nein, ich wünsche keine Befehle zu geben. Ich überlasse das alles Ihnen. Eine kräftige Suppe —— Fleisch, aus dem der Saft nicht heraus gebraten ist —— da haben Sie in zwei Worten meine Begriffe von einem guten Diner Aufgepaßt! Hier kommt noch Jemand. O, versteht sich —— der Kellerineister. Wir wollen den Wein im Keller von vorne an durchprobieren und uns bis zu Ende durch trinken, Herr Kellermeister; und wenn ich Euch dann noch keine gründliche Ansicht über denselben abzugeben im Stande bin, wollen wir wieder von vorn anfangen. Da wir vom Weine sprechen —— hollah! Hier kommen noch mehr Leute die Treppe herauf. Schon gut, schon gut! Bemüht Euch nicht. Ihr alle habt vortreffliche Zeugnisse und sollt alle bei mir bleiben. Was wollte ich soeben sagen? Etwas über den Wein; ganz recht. Ich will Euch etwas sagen, Herr Kellermeister; es kommt nicht alle Tage ein neuer Herr in Thorpe-Ambrose an, und es ist mein Wunsch, daß wir alle im besten Vernehmen mit einander anfangen: Laßt die Leute unten einen großartigen Schmaus haben, um meine Ankunft zu feiern; und gebt ihnen, was sie am liebsten haben, damit sie meine Gesundheit trinken. Ein Herz, das nimmer froh, ist zu beklagen, nicht wahr, Mrs. Gripper? Nein; ich will mir den Keller jetzt nicht ansehen; ich wünsche auszugehen und vor dem Frühstück ein wenig frische Lust zu athmen. Wo ist Richard? Sagt einmal, habe ich hier irgendwo einen Garten? Auf welcher Seite des Hauses? Auf dieser Seite, wie? Ihr braucht mich nicht herumzuführen. Ich will allein gehen, Richard, und mich womöglich auf meinem eigenen Besitzthum verirren.«

Mit diesen Worten ging Allan, fröhlich pfeifend, die Terrassenstufen vor dem Hause hinunter. Er hatte die ernste Pflicht, seine häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, zu seiner eigenen völligen Zufriedenheit erfüllt. »Die Leute reden von der Schwierigkeit, mit ihrer Dienerschaft fertig zu werden«, dachte Allan. »Was in aller Welt wollen sie damit sagen? Ich finde dies durchaus nicht schwer.« Nachdem er durch ein zierliches Gitterthor eingetreten war, ging er, den Weisungen des Bedienten folgend, in das Gebüsch hinein, hinter dem die Gärten von Thorpe-Ambrose gelegen waren. »Ein hübscher schattiger Ort, um eine Cigarre zu rauchen«, sagte Allan, wie er, die Hände. in den Taschen, daher schlenderte. »Ich wollte, ich könnte es mir in den Kopf hinein trommeln, daß dies alles wirklich mir gehört.«

Das Gebüsch öffnete sich auf einen großen Blumengarten, der in der hellen Morgensonne funkelnd in seiner Sommerpracht dalag. Auf der einen Seite führte ein Bogengang, der durch eine Mauer gebrochen war, nach dem Obstgarten; auf der andern gelangte man vermittelst einer Rasenterrasse aus einen niedrigeren Platz, der wie ein italienischer Garten angelegt war. An den Springbrunnen und Statuen vorübergehend, erreichte Allan abermals ein Gebüsch, das dem Anscheine nach in einen entlegenen Theil der Anlagen auslief. Bis hierher hatte sich nirgendwo ein menschliches Wesen sehen oder hören lassen; doch als er am Ende des zweiten Gebüsches anlangte, war es ihm, als ob er etwas höre. Er stand still und lauschte Es waren zwei deutlich vernehmbare Stimmen —— eine ältere, die sehr halsstarrig, und eine jugendliche, die sehr aufgebracht klang.

»Es nützt nichts, Miß«, sagte die erstere Stimme. »Ich darf es nicht erlauben und will es nicht erlauben. Was würde wohl Mr. Armadale dazu sagen?«

»Wenn Mr. Armadale der Gentleman ist, für den ich ihn halte, Ihr altes Ungeheuer«, erwiderte die jugendliche Stimme, »so würde er sagen: »Kommen Sie in meinen Garten, so oft es Ihnen beliebt, Miß Milroy, und pflücken Sie so viele Sträuße, wie es Ihnen gefällt.«

Allan’s klare blaue Augen funkelten muthwillig. Durch einen plötzlichen Einfall angespornt, schlich er leise nach dem Ende des Gebüsches, schoß um die Ecke, sprang über ein niedriges Staket und befand sich in einem zierlichen kleinen Gehege, durch das sich ein Kiespfad hinzog. In kurzer Entfernung erblickte er auf diesem Pfade eine junge Dame, die ihm den Rücken zuwandte und sich an einem alten Manne vorbeizudrängen versuchte, der sich ihr, mit dem Rechen in der Hand, hartnäckig und kopfschüttelnd in den Weg stellte.

»Kommen Sie in meinen Garten, so oft es Ihnen beliebt, Miß Milroy, und pflücken Sie so viele Sträuße, wie es Ihnen gefällt«, rief Allan, ihre Worte wiederholend.

Die junge Dame wandte sich mit einem hellen Aufschrei zu ihm um; ihr Musselinröckchen das sie vor sich emporhielt, entglitt ihrer Hand, und aus demselben stürzte ein ganzer Schoß voll Blumen auf den Kiespfad.

Ehe noch ein Wort weiter gesagt werden konnte, trat der unerschütterliche alte Mann vor und ging mit der größten Gelassenheit auf den Gegenstand seines eigenen persönlichen Interesses ein, wie wenn durchaus gar nichts vorgefallen und außer ihm und seinem neuen Herrn Niemand zugegen gewesen wäre.

»Ich heiße Sie bescheidentlich in Thorpe-Ambrose willkommen, Sir«, sagte der Alte. »Ich heiße Abraham Sage und bin seit mehr als vierzig Jahren in diesen Anlagen angestellt gewesen; ich hoffe, daß Sie die Güte haben werden, mir meine Stelle zu lassen.«

Mit diesen Worten, nur sein eigenes Interesse verfolgend, redete der Gärtner seinen neuen Herrn an —— und sprach vergebens. Allan lag auf dem Kiespfade auf den Knieen, um die gefallenen Blumen aufzusammeln, und empfing seine ersten Eindrücke von Miß Milroy. Sie war hübsch und auch wieder nicht hübsch; sie bezauberte, sie enttäuschte, sie bezauberte abermals. Nach dem gewöhnlichen Maßstabe für weibliche Schönheit war sie zu klein und zu entwickelt für ihr Alter. Und dennoch würden wenige Männer ihre Gestalt anders gewünscht haben als sie war. Ihre kleinen Hände waren so hübsch gerundet und hatten so niedliche Grübchen, daß es schwer war, zu bemerken, wie roth sie seien vor Uebermaß gesegneter Jugend und Gesundheit. Ihre Füße waren eine zierliche Entschuldigung für ihre alten schlecht sitzenden Schuhe, und der Anblick ihrer Schultern entschädigte für das Musselingewand, das dieselben zu bedecken bestimmt war. Ihre dunkelgrauen Augen bezauberten durch die klare Weichheit der Farbe, durch ihre Lebhaftigkeit, Zärtlichkeit und die sanfte Gutherzigkeit des Ausdrucks; ihr Haar war, soweit ein abgetragener alter Gartenhut dasselbe sichtbar werden ließ, gerade von derjenigen helleren Schattierung von Braun, die durch den Contrast den Werth der dunkleren Schönheit ihrer Augen erhöhte. Nach diesen Reizen aber fingen die dieselben begleitenden kleinen Fehler und Unvollkommenheiten dieses sich selbst widersprechenden Mädchens wieder an. Ihre Nase war zu kurz, ihr Mund zu groß, ihr Gesicht zu rund und zu rosig. Die grausige Gerechtigkeit der Photographie würde kein Erbarmen mit ihr gehabt und die Bildhauer des alten Griechenland würden sie mit Bedauern aus ihrem Atelier herauscomplimentirt haben. Allein, alles dies zugegeben, war der Gürtel, der Miß Milroy’s Taille umschlang, dennoch ein Venus-Gürtel, und Allan hatte sich bereits in sie verliebt, ehe noch die zweite Handvoll Blumen aufgesammelt war.

»O, thun Sie das nicht, bitte, Mr. Armadale, thun Sie das nicht!« sagte sie, die Blumen unter Protest entgegennehmend, wie Allan dieselben in den Schoß ihres Kleides zurückwarf. »Ich bin so beschämt! Ich beabsichtigte gar nicht, mich in dieser dreisten Weise in Ihren Garten einzuladen; meine Zunge ging mit mir durch —— glauben Sie es mir! Was kann ich nur zu meiner Entschuldigung sagen? O, Mr. Armadale, was müssen Sie nur von mir denken!«

Allan sah plötzlich eine Gelegenheit zu einem Compliment und warf ihr dasselbe sofort mit der dritten Handvoll Blumen zu.

»Das will ich Ihnen gleich sagen, Miß Milroy«, antwortete er in seiner offenen knabenhaften Weise. »Ich denke, daß der glücklichste Spaziergang, den ich in meinem ganzen Leben gemacht habe, derjenige ist, der mich heute Morgen hierher führte.«

Er sah dabei lebhaft und schön aus. Er redete nicht zu einem Weibe, das von Bewunderung übersättigt war, sondern zu einem Mädchen, das eben erst sein Frauenleben begann —— und es that ihm jedenfalls keinen Abbruch, daß er in der Rolle des Herrn von Thorpe-Ambrose sprach. Der reumüthige Ausdruck schwand allmählig aus Miß Milroy’s Gesichte; sie blickte bescheiden und lächelnd auf die Blumen in ihrem Schoße.

»Ich verdiene tüchtig ausgezankt zu werden«, sagte sie. »Ich verdiene keine Complimente Mr. Armadale, am allerwenigsten von Ihnen.«

»O, doch!« rief der ungestüme Allan, indem er behende aufsprang. »Und übrigens ist es kein Compliment; es ist wahr. Sie sind das hübscheste —— ich bitte um Vergebung, Miß Milroy! Diesmal ging meine Zunge mit mir durch.«

Nichts fällt wohl der weiblichen Natur im Alter von sechzehn Jahren schwerer, als ernst zu sein. Miß Milroy kämpfte mit sich —— kicherte —— kämpfte abermals —— und bezwang sich dann für den Augenblick.

Der Gärtner, der noch immer regungslos an derselben Stelle stand und auf die nächste passende Gelegenheit wartete, erblickte dieselbe jetzt und schob sanft sein persönliches Interesse in die erste Spalte des Schweigens, die sich für ihn geöffnet, seit Allan auf dem Schauplatze erschienen war.

»Ich heiße Sie bescheidentlich in Thorpe-Ambrose willkommen, Sir«, sagte Abraham Sage, hartnäckig seine kleine Vorstellungsrede noch einmal anfangend. »Ich heiße ——«

Ehe er noch seinen Namen aussprechen konnte, blickte Miß Milroy zufällig in das halsstarrige Gesicht des Gartenkünstlers —— und verlor augenblicklich und unwiderruflich alle Macht über ihren schwer errungenen Ernst. Allan, niemals abgeneigt, jeder Art von geräuschvollem Beispiele zu folgen, stimmte mit großem Behagen in ihr Gelächter ein. Der weise Mann der Gärten verrieth weder Erstaunen, noch zeigte er sich gekränkt. Er wartete einen abermaligen Augenblick des Schweigens ab und suchte denselben, als die beiden jungen Leute innehielten, um Athem zu schöpfen, wiederum mit einigen Worten zu Gunsten seiner persönlichen Interessen auszufüllen.

»Ich bin seit mehr als vierzig Jahren«, fuhr Abraham Sage unerschütterlich fort, »in diesen Anlagen ——«

»Ihr sollt noch vierzig Jahre in diesen Anlagen beschäftigt bleiben«, erwiderte Allan, sobald er zu sprechen im Stande war, »wenn Ihr nur den Mund halten und Eurer Wege gehn wollt!«

»Danke Ihnen bestens, Sir«, sagte der Gärtner mit der äußersten Höflichkeit, doch ohne irgendein Anzeichen, daß er den Mund halten und seiner Wege gehen wolle.

»Nun?« sagte Allan.

Abraham Sage räusperte sich sorgfältig, nahm seinen Rechen aus der einen Hand in die andere, und indem er dieses unschätzbare Werkzeug mit ernstem Interesse und großer Aufmerksamkeit betrachtete, wandte sich dieser unerschütterliche Alte abermals an Allan: »Ich wünsche bei einer passenderen Gelegenheit einmal von meinem Sohne achtungsvollst zu Ihnen zu reden, Sir. Es wird Ihnen vielleicht im Laufe des Tages gelegener sein? Ihr ergebenster Diener, Sir, und meinen besten Dank. Mein Sohn ist streng mäßig. Er ist an den Stall gewöhnt und ein Mitglied der anglicanischen Kirche —— ohne eine belästigende Familie.« Nachdem Abraham Sage in dieser Weise seinen Sohn provisorisch der Achtung seines Herrn empfohlen, schulterte er seinen unschätzbaren Rechen und humpelte langsam von dannen.

»Wenn dies eine Probe von einem zuverlässigen alten Diener ist«, sagte Allan, »so denke ich, daß ich es lieber wagen will, mich von einem neuen betrügen zu lassen. Jedenfalls, Miß Milroy, sollen Sie nicht wieder von ihm belästigt werden. Alle Blumenbeete in diesen Gärten stehen Ihnen zu Diensten —— und alles Obst in der Obstzeit ebenfalls.

»O, Mr. Armadale, Sie sind sehr, sehr gütig. Wie soll ich Ihnen danken?«

Allan sah abermals eine Gelegenheit zu einem Complimente —— einem sehr zierlichen Complimente —— diesmal in Gestalt einer Schlinge.

»Sie können mir die größte Gefälligkeit erweisen«, sagte er, »indem Sie mir zur Verschönerung meiner Anlagen behilflich sind.«

»Mein Himmel! Wie das?« frug Miß Milroy unschuldig.

Allan zog die Schlinge fest zu, indem er sagte: »Indem Sie mich auf Ihrem Morgenspaziergange mitnehmen, Miß Milroy.« Er sprach —— lächelte — und bot seinen Arm.

Sie sah ihrerseits die Gelegenheit zum Coquettiren. Sie legte ihre Hand in seinen Arm —— erröthete —— zögerte —— und zog dieselbe plötzlich wieder zurück.

»Ich glaube nicht, daß es ganz recht ist, Mr. Armadale«, sagte sie, sich mit der größten Aufmerksamkeit mit ihren Blumen beschäftigend. »Sollten wir nicht irgendeine ältere Dame hier bei uns haben? Ist es nicht unpassend für mich, Ihren Arm anzunehmen, bis ich Sie ein wenig besser kenne? Ich bin dies zu fragen genöthigt, weil ich so wenig Anweisung gehabt habe. Ich habe so wenig von der Gesellschaft gesehen; ein Freund meines Papas sagte einmal, ich sei zu dreist für mein Alter. Was meinen Sie?«

»Ich denke, es ist ein Glück, daß der Freund Ihres Papas jetzt nicht hier ist«, antwortete Allan; »ich würde jedenfalls Streit mit ihm anfangen. Was die Gesellschaft betrifft, Miß Milroy, so weiß Niemand weniger von derselben als ich; doch wenn wir hier eine ältere Dame bei uns hätten, so muß ich meinestheils gestehen, daß sie mir außerordentlich im Wege sein würde. Wollen Sie nicht?« schloß Allan, indem er bittend nochmals seinen Arm anbot. »Bitte!«

Miß Milroy blickte seitwärts von ihren Blumen zu ihm hinauf. »Sie sind ebenso schlimm wie der Gärtner, Mr. Armadale!« Unschlüssig und fast zitternd ließ sie ihre Augen wieder zu Boden sinken. »Ich bin überzeugt, daß es unrecht ist«, sagte sie —— und nahm unverzüglich und ohne das geringste Zögern seinen Arm.

Jung, froh und glücklich, schritten sie zusammen über den Rasen des Geheges, während der helle Sonnenschein des Sommermorgens auf ihren blumigen Pfad fiel.

»Und wohin gehn wir jetzt?« frug Allan. »Nach einem andern Garten?«

Sie lachte fröhlich. »Wie außerordentlich sonderbar von Ihnen, Mr. Armadale, dies nicht zu wissen, da es doch alles Ihnen gehört! Sehen Sie Thorpe-Ambrose wirklich heute Morgen zum ersten Male? Wie unbeschreiblich seltsam dies Ihnen erscheinen muß! Nein, nein, machen Sie mir für jetzt keine Complimente mehr. Sie könnten mir sonst den Kopf verdrehen. Wir haben die alte Dame nicht bei uns, und ich muß mich wirklich in Acht nehmen. Lassen Sie mich nützlich sein und Ihnen alles über Ihre eigenen Anlagen erzählen. Wir gehen zu jenem kleinen Pförtchen hinaus, und dann über eine Naturbrücke, und dann um die Ecke der Baumanlagen —— wohin wohl? Dorthin, wo ich wohne, Mr. Armadale; nach dem reizenden kleinen Häuschen, das Sie dem Papa vermiethet haben. O, wenn Sie wüßten, wie glücklich wir uns schätzten, die Wohnung zu bekommen!«

Sie schwieg, sah zu ihrem Gefährten auf und hielt dadurch ein abermaliges Compliment zurück, das dem unverbesserlichen Allan eben auf den Lippen schwebte.

»Ich werde Ihren Arm loslassen, wenn Sie es sagen!« rief sie coquettirend. »Aber wir waren wirklich glücklich, das Häuschen zu erlangen, Mr. Armadale. Der Papa sagte an dem Tage, da wir einzogen, daß wir Ihnen große Dankbarkeit schuldig seien. Und ich sagte noch vor einer Woche dasselbe.«

»Sie, Miß Milroy!« rief Allan aus.

»Ja. Es überrascht Sie vielleicht, dies zu hören; aber wenn Sie dem Papa nicht dies Häuschen vermiethet hätten, so glaube ich, hätte ich die Schmach und den Jammer zu erleiden gehabt, daß man mich in die Schule sandte.«

Allan erinnerte sich des halben Kronthalers, den er auf dem Kajütentische seiner Jacht hatte kreiseln lassen. »Wenn sie wüßte, daß ich gewissermaßen das Loos darüber entscheiden ließ!« dachte er schuldbewußt.

Das momentane Schweigen ihres Gefährten mißdeutend, fuhr Miß Milroy fort: »Sie werden wahrscheinlich nicht begreifen, warum mir so sehr davor grausen sollte, in eine Schule geschickt zu werden. Wäre ich in früher Jugend —— ich meine in dem Alter, in —— dem die meisten Kinder in die Schule gehen —— nach einer Schule gesandt worden, so würde ich mir jetzt nichts daraus gemacht haben. Aber ich hatte zu jener Zeit keine Gelegenheit dazu. Es war dies die Zeit der Krankheit meiner Mama und der unglücklichen Speculationen meines Papas; und da der Papa Niemand hatte, der ihn trösten konnte, blieb ich natürlich bei ihm zu Hause. Sie brauchen nicht zu lachen; ich war von einigem Nutzen, das kann ich Ihnen versichern. Ich half dem Papa durch seine Sorgen hindurch, indem ich nach Tische auf seinem Schoße saß und ihn bat, mir von all den außerordentlichen Leuten zu erzählen, die er gekannt, als er in der weiten Welt umhergereist. Ohne meine Unterhaltung des Abends und seine Uhr am Tage ——«

»Seine Uhr?« wiederholte Allan.

»Ja! Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Der Papa ist nämlich ein erstaunliches Genie in der Mechanik. Sie werden dasselbe sagen, wenn Sie seine große Stehuhr sehen. Sie ist nach dem Modell der berühmten Uhr zu Straßburg gebaut, ohne natürlich deren Größe zu erreichen. Denken Sie nur, er fing dieselbe an, als ich acht Jahre alt war, und sie war an meinem letzten Geburtstage, wo ich doch sechzehn ward, noch nicht vollendet! Einige unserer Bekannten waren ganz erstaunt darüber, daß er eine solche Beschäftigung aufnahm, als seine Sorgen anfingen. Aber der Papa klärte sie hierüber sehr schnell auf; er erinnerte sie daran, das Louis der Sechzehnte die Uhrmacherei anfing, als seine Leiden begannen —— und dann fühlte sich jeder völlig zufriedengestellt.« Sie schwieg plötzlich und wechselte verlegen die Farbe. »O, Mr. Armadale«, sagte sie diesmal in ungekünstelter Verwirrung, »hier geht meine unglückselige Zunge schon wieder mit mir durch! Ich plaudere schon mit Ihnen, wie wenn ich Sie seit Jahren gekannt hätte! Dies ist es, was Papas Freund meinte, als er sagte, meine Manieren seien zu dreist. Es ist vollkommen war. Ich habe eine schreckliche Art und Weise, vertraut mit den Leuten zu werden, wenn ——« Sie legte ihrer Zunge plötzlich den Zaum an, da sie auf dem Punkte war, mit den Worten zu schließen: »Wenn sie mir gefallen.«

»Nein, nein; bitte, fuhren Sie fort!« bat Allan. »Es ist auch mein Fehler, leicht vertraut zu werden. Ueberdies müssen wir ja vertraut mit einander werden; wir sind so nahe Nachbarn. Ich bin ein ziemlich uncultivirter Bursche, und ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, was ich Ihnen sagen wollte; aber ich wünsche, daß Ihr Häuschen gemüthlich und freundschaftlich mit meinem großen Hause, und mein großes Haus gemüthlich und freundschaftlich mit Ihrem Häuschen verkehrt. Da haben Sie, was ich meine. Fahren Sie fort, Miß Milroy; bitte, fahren Sie fort!«

Sie lächelte und zögerte. »Ich erinnere mich nicht recht, wo ich war«, erwiderte sie. »O, jetzt erinnere ich mich, daß ich Ihnen etwas zu erzählen hatte. Dies kommt davon, daß ich Ihren Arm an nahm, Mr. Armadale. Wenn Sie nur darein willigen wollten, daß wir getrennt gingen, so würde ich viel besser von der Stelle kommen. Sie wollen es nicht? Nun, wollen Sie mir dann sagen, was ich Ihnen zu sagen wünschte? Wo war ich, ehe ich zu den Sorgen des Papas und zu seiner Uhr abschweifte?«

»In der Schule!« erwiderte Allan nach einer erstaunlichen Anstrengung des Gedächtnisses.

»Nicht in der Schule, meinen Sie«, sagte Miß Milroy; »und dies alles durch Sie! Jetzt kann ich wieder fortfahren, und das ist ein großer Trost. Ich spreche völlig im Ernste, Mr. Armadale, wenn ich sage, daß ich zur Schule geschickt worden wäre, falls Sie zu Papas Anfrage wegen des Häuschens Nein gesagt hätten. Die Sache ereignete sich folgendermaßen. Als wir einzuziehen anfingen, hatte Mrs. Blanchard die große Freundlichkeit, uns sagen zu lassen, daß uns ihre Dienerschaft zur Verfügung stehe, wenn wir der Hilfe bedürften. Papa und ich konnten hierauf nicht umhin, ihr unsere Aufwartung zu machen und ihr zu danken. Wir sahen Mrs. Blanchard und Miß Blanchard. Mrs. Blanchard war außerordentlich liebenswürdig, und Miß sah in ihren Trauerkleidern reizend aus. Ich bin überzeugt, daß Sie sie bewundern! Sie ist groß und schlank und blaß und anmuthig in ihren Manieren —— ganz Ihre Vorstellung von Schönheit, wie ich mir denke?«

»Nicht im geringsten«, versetzte Allan. »Meine Vorstellung von Schönheit ist in diesem Augenblicke ——«

Miß Milroy sah es kommen und zog augenblicklich ihre Hand von seinem Arme zurück.

»Ich wollte sagen, ich habe weder Mrs. Blanchard noch ihre Nichte je gesehen«, fügte Allan, sich eiligst verbessernd, hinzu.

Miß Milroy ließ Gnade für Recht ergehen und legte ihre Hand wieder in seinen Arm.

»Wie sonderbar, daß Sie sie nie gesehen haben!« fuhr sie fort. »Sie sind für alle und alles in Thorpe-Ambrose ein Fremder! Nun, nachdem Miß Blanchard und ich ein Weilchen dagesessen und mit einander geplaudert hatten, hörte ich Mrs. Blanchard meinen Namen aussprechen und hielt sofort den Athem an. Sie frug den Papa, ob meine Erziehung vollendet sei. Der Papa kam augenblicklich mit seiner großen Noth zum Vorschein. Meine alte Erzieherin, müssen Sie wissen, hatte uns kurz vor unserm Hierherkommen verlassen, um sich zu verheirathen, und es konnte uns Niemand unter unsern Bekannten eine neue empfehlen, deren Forderungen nicht zu hoch für uns waren. »Ich habe von Leuten, die die Sache besser verstehen als ich, gehört, daß das Annoncieren eine riskante Sache sei, Mrs. Blanchard«, sagte der Papa. »Bei Mrs. Milroy’s schlechter Gesundheit fällt diese ganze Sorge mir anheim, und ich vermuthe, ich werde mein kleines Mädchen schließlich in eine Schule zu senden genöthigt sein. Ist Ihnen zufällig eine Schule bekannt, die den Mitteln eines armen Mannes entsprechen würde?« Mrs. Blanchard schüttelte den Kopf —— ich hätte sie auf der Stelle küssen mögen. »Meine Erfahrungen, Major Milroy«, sagte dieser wahre Engel von einer Frau, »stimmen mich zu Gunsten des Annoncierens. Wir fanden die Erzieherin meiner Nichte durch eine Annonce, und Sie können sich ihren Werth für uns vorstellen, wenn ich Ihnen sage, daß sie über zehn Jahre in unserer Familie blieb.« Ich hätte auf die Knie sinken und Mrs, Blanchard danken mögen —— und es nimmt mich blos Wunder, daß ich es nicht that! Der Papa war frappiert —— das sah ich sehr wohl —— und er erwähnte der Sache auf dem Heimwege. »Obgleich ich lange außerhalb der großen Welt gelebt habe«, sagte er, »erkenne ich doch eine feine Frau und eine verständige Frau, sowie ich sie nur sehe, mein Kind. Mrs. Blanchard’s Erfahrung läßt mich das Annoncieren in einem neuen Lichte erblicken —— ich muß mirs überlegen.« Nunmehr hat er sich es überlegt, und ich weiß, obgleich er es mir nicht offen bekannt, daß er schon gestern Abend den Entschluß gefaßt hat, zu annoncieren. Wenn also der Papa Ihnen dafür dankt, daß Sie ihm das Häuschen vermiethet haben, so danke ich Ihnen ebenfalls. Ohne Sie würden wir nie die Bekanntschaft der lieben Mrs. Blanchard gemacht haben; und ohne die liebe Mrs. Blanchard wäre ich in die Schule geschickt worden.«

Ehe Allan noch etwas erwidern konnte, kamen sie um die Ecke der Baumanlagen und standen vor dem Häuschen. Eine Schilderung desselben ist unnöthig; es war das typische Häuschen, wie wir es aus unserm ersten Zeichenunterricht kennen —— mit dem hübschen Strohdach, den üppigen Schlinggewächsen, den bescheidenen Gitterfenstern, dem Porticus von Baumästen und dem geflochtenen Vogelkäfig.

»Ist es nicht reizend!« sagte Miß Milroy. »Bitte, kommen Sie herein!«

»Darf ich? Wird der Major es nicht zu früh finden?«

»Ob es früh oder spät sei, ich weiß gewiß, daß der Papa sich sehr freuen wird, Sie zu sehen.«

Sie ging munter auf dem Gartenpfade voran und öffnete die Thür des Wohnzimmers. Wie Allan ihr in das kleine Zimmer folgte, sah er an der abgelegenen Seite desselben allein an einem altmodischen Schreibtische einen Herrn sitzen, der seinem Gaste den Rücken zuwandte.

»Papa! Eine Ueberraschung für Dich!« sagte Miß Milroy, ihn von seiner Beschäftigung abziehend; »Mr. Armadale ist in Thorpe-Ambrose angelangt, und ich habe ihn zu Dir gebracht.«

Der Major wandte sich schnell und erstaunt um, stand auf, war einen Augenblick völlig verblüfft, erholte sich jedoch augenblicklich von seinem Erstaunen und näherte sich mit gastfreundlich ausgestreckter Hand, um seinen jungen Hauswirth zu begrüßen.

Ein Mann von größerer Welterfahrung und schärferer Beobachtungsgabe, als Allan besaß, würde Major Milroy’s Lebensgeschichte sofort in dessen Gesichte gelesen haben. Die Familiensorgen, die ihn getroffen, verriethen sich sogleich, als er sich von seinem Sessel erhob, in seiner gebeugten Gestalt und seinen bleichen, tiefgefurchten Wangen. Die Wirkung einer und derselben einförmigen Beschäftigung und fortwährender einförmiger Gedankenrichtung machte sich zunächst in der schweren, träumerischen Selbstversunkenheit seines Wesens fühlbar, während seine Tochter zu ihm sprach. Und im nächsten Augenblicke, wie er sich aufraffte, um seinen Gast willkommen zu heißen, ward seine Selbstoffenbarung vollständig; denn in diesem Augenblicke flackerte in den müden Augen des Majors ein matter Strahl seines glücklichen Jugendgeistes auf; in dem schweren und träumerischen Wesen des Majors zeigte sich eine Veränderung, die in unverkennbarer Weise gesellschaftliche Vorzüge und Talente andeutete, die er sich in keiner unedlen socialen Schule angeeignet hatte. Ein Mann, der in seiner mechanischen Beschäftigung eine geduldige Zuflucht vor seinen Leiden gesucht; ein Mann, der nur von Zeit zu Zeit sich selber entrissen ward und sich wieder als das erkannte, was er einst gewesen —— so stand Major Milroy jetzt, an dem ersten Morgen ihrer Bekanntschaft vor Allan —— eine Bekanntschaft, die ein Ereigniß in Allan’s Leben zu bilden bestimmt war.

»Ich freue mich von Herzen, Sie zu sehen, Mr. Armadale«, sagte er in jenem ruhigen klanglosen Tone, der meistens den Leuten eigen ist, deren Beschäftigungen einsam und einförmig sind. »Sie haben mir bereits eine große Güte erzeigt, indem Sie mich als Ihren Miethsmann annahmen, und Sie erweisen mir jetzt durch diesen freundschaftlichen Besuch eine zweite. Falls Sie nicht bereits gefrühstückt haben, gestatten Sie mir, meinerseits alle Ceremonien bei Seite zu lassen und Ihnen einen Platz an unserm kleinen Tische anzubieten.«

»Mit dem größten Vergnügen, Major Milroy, wenn ich nicht im Wege bin«, erwiderte Allan, über den ihm zu Theil werdenden Empfang entzückt. »Ich habe mit Bedauern von Miß Milroy gehört, daß Mrs. Milroy leidend ist. Mein unerwartetes Hiersein —— der Anblick eines fremden Gesichts dürfte sie vielleicht ——«

»Ich begreife Ihr Zögern, Mr. Armadale«, sagte der Major; »doch ist dasselbe ganz unnöthig Mrs. Milroy’s Leiden fesselt sie durchaus an ihr Zimmer. —— Haben wir alles auf dem Tische, dessen wir bedürfen, mein Kind?« frug er, plötzlich der Unterhaltung eine andere Wendung gebend, sodaß ein schärferer Beobachter als Allan unfehlbar gemerkt haben würde, daß der Gegenstand ein unangenehmer für ihn sei. »Willst Du herkommen und den Thee besorgen?«

Miß Milroy’s Aufmerksamkeit schien anderweitig in Anspruch genommen; sie gab keine Antwort. Während ihr Vater und Allan Höflichkeiten mit einander ausgetauscht, hatte sie den Schreibtisch geordnet und mit der ungezügelten Neugier eines verzogenen Kindes die verschiedenen zerstreut auf demselben umherliegenden Papiere untersucht. In dem Augenblicke, nachdem der Major zu ihr gesprochen, entdeckte sie, zwischen den Löschpapierblättern der Schreibmappe versteckt, ein Stückchen Papier, riß dasselbe heraus, betrachtete es und wandte sich schnell mit einem Ausrufe der Ueberraschung um.

»Täuschen mich meine Augen, Papa?« frug sie. »Oder warst Du wirklich mit dieser Annonce hier beschäftigt, als ich hereinkam?«

»Ich hatte dieselbe soeben geschrieben«, antwortete der Vater. »Aber, mein Kind, Mr. Armadale ist hier —— wir warten auf’s Frühstück.«

»Mr. Armadale weiß die ganze Geschichte«, erwiderte Miß Milroy. »Ich habe sie ihm im Garten erzählt.«

»O, ja!« sagte Allan. »Bitte, betrachten Sie mich nicht als einen Fremden, Major! Es handelt sich um die Erzieherin, ich habe in einer indirecten Weise ebenfalls etwas mit der Sache zu schaffen.«

Major Milroy lächelte. Doch ehe er noch etwas entgegnen konnte, wandte seine Tochter, die inzwischen die Annonce gelesen, sich zum zweiten Male eifrig zu ihm.

»O, Papa«, sagte sie, »hier ist etwas, das mir gar nicht gefällt! Warum gibst Du die Anfangsbuchstaben der Großmama an? Warum sagst Du, man solle an das Haus der Großmama in London adressieren?«

»Mein liebes Kind! Deine Mutter kann in dieser Sache gar nichts thun, wie Du weißt. Und was mich betrifft, so tauge ich nicht im geringsten dazu, fremde Damen über ihren Charakter und ihre Befähigung auszuforschen. Deine Großmama ist am Orte; sie ist die geeignete Person, um die Briefe entgegenzunehmen und alle nothwendigen Erkundigungen einzuziehen.«

»Aber ich wünsche die Briefe selbst zu sehen«, sagte das verzogene Kind. »Einige derselben werden sicherlich sehr amüsant sein ——«

»Ich mache Ihnen keine Entschuldigungen wegen dieses außerordentlich unceremoniösen Empfangs Mr. Armadale«, sagte der Major mit drolligem und ruhigem Humor zu Allan. »Derselbe mag Ihnen als eine nützliche Warnung dienen, daß Sie, wenn Sie sich einmal verheirathen und eine Tochter haben, nicht gleich mir damit anfangen, derselben ihren Willen zu lassen.«

Allan lachte und Miß Milroy fuhr hartnäckig fort.

»Ueberdies«, sagte sie, »möchte ich in der Wahl der Briefe behilflich sein, die wir beantworten wollen, Ich denke doch, daß ich in der Wahl meiner eigenen Erzieherin ein Wort mitzureden habe. Warum sagst Du nicht, daß sie die Briefe hierher senden sollen —— nach dem Postamte oder zum Papierhändler oder wohin Du sonst willst? Nachdem Du und ich die Briefe gelesen haben, können wir diejenigen, die wir vorziehen, der Großmama zusenden, und sie kann dann alle ihre Fragen thun und die beste Gouvernante aussuchen, ohne daß ich ganz im Dunkeln darüber bleibe —— was ich ganz unmenschlich finden würde. Sie nicht auch, Mr. Armadale? Laß mich die Adresse ändern, Papa —— bitte, lieber Papa!«

»Wir werden kein Frühstück erhalten, Mr. Armadale, wenn ich nicht Ja sage«, meinte der Major gutmüthig. »Thue was Du willst, mein Kind«, fügte er zu seiner Tochter gewendet hinzu. »Solange schließlich Deine Großmama die Sache für uns ordnet, ist alles Uebrige von geringer Bedeutung.«

Miß Milroy nahm die Feder ihres Vaters, strich mit derselben die letzte Zeile der Annonce durch und schrieb die veränderte Adresse mit eigener Hand folgendermaßen:

»Man adressiere an das Postamt zu Thorpe-Ambrose, Norfolk.«

»So!« sagte sie, geschäftig ihren Platz am Frühstücksstische einnehmend. »Jetzt mag die Annonce nach London wandern, und falls eine Gouvernante danach kommt —— o, Papa, wer wird sie nur sein? —— Thee oder Kaffee Mr. Armadale? Ich schäme mich wirklich, daß ich Sie so lange warten ließ. Aber es ist ein solcher Trost«, fügte sie schelmisch hinzu, »sich vor dem Frühstück alle Geschäfte vom Halse geschafft zu haben !«

Vater, Tochter und Gast setzten sich gesellig um den kleinen runden Tisch —— bereits die besten Nachbarn und die besten Freunde.

Drei Tage später schaffte einer der Londoner Zeitungsjungen sich ebenfalls vor dem Frühstück sein Geschäft vom Halse. Sein Bezirk war Diana-Street, Pimliw; und die letzte seiner Morgenzeitungen war die, welche er an der Thür von Miss. Oldershaw’s Hause abgab.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Etwa eine Stunde nachdem Allan seine Entdeckungsreise durch seine Besitzungen angetreten hatte, stand auch Midwinter auf und erfreute sich seinerseits beim Tageslichte an der Pracht des neuen Hauses.

Durch seine lange Nachtruhe erfrischt, kam er ebenso fröhlich wie Allan die große Treppe herunter. Gleich ihm schaute er der Reihe nach in die geräumigen Zimmer des Erdgeschosses und befand sich in athemlosen Erstaunen über den Glanz und Luxus, von dem er sich umgeben sah. »Das Haus, in dem ich als Knabe diente, war ein sehr stattliches«, dachte er, »aber es war mit diesem nicht zu vergleichen! Ob nur Allan ebenso erstaunt und entzückt ist wie ich? Die Pracht des Sommermorgens lockte ihn durch die offene Hausthür hinaus, gleich wie dies bei Allan der Fall gewesen war. Er sprang munter die Stufen hinab, indem er eine jener Melodien summte, nach denen er in seiner alten Vagabondenzeit getanzt hatte. Selbst die Erinnerungen an seine elende Kindheit wurden an diesem frohen Morgen durch das glänzende Medium gefärbt, durch welches er auf sie zurück sah. »Wenn ich nicht aus der Uebung gekommen wäre, dachte er, indem er sich auf das Stacket lehnte und über dasselbe hinweg auf den weiten Park blickte, »möchte ich auf diesem herrlichen Grase einige meiner alten Gaukelkunststücke versuchen.«

Er wandte sich um, erblickte am Eingange des Gebüsches zwei Diener, die sich mit einander unterhielten, und frug sie nach dem Herrn des Hauses. Die beiden Männer deuteten lächelnd auf den Garten; Mr. Armadale sei vor mehr als einer Stunde dorthin gegangen, und, wie sie bereits erfahren, Miß Milroy in den Anlagen begegnet. Midwinter schlug den Pfad durch das Gebüsch ein; doch da er bei dem Blumengarten anlangte, stand er still, überlegte ein wenig und ging wieder zurück. »Wenn Allan die junge Dame getroffen hat«, sprach er bei sich, »bedarf er meiner nicht.« Diese Worte begleitete er mit einem Lachen, dann wandte er sich rücksichtsvoll ab, um die Schönheiten von Thorpe-Ambrose auf der andern Seite des Hauses in Augenschein zu nehmen.

Um die Vorderseite des Gebäudes herumgehend, stieg er einige Stufen hinab, schritt auf einem gepflasterten Pfade entlang und sah sich bald in einem schmalen Gärtchen an der Hinterseite des Hauses. Hinter ihm befand sich eine Reihe von kleinen Zimmern, die in gleicher Ebene mit den Gesindestuben gelegen waren. Vor ihm, am entlegensten Ende des kleinen Gartens, erhob sich eine durch eine Lorbeerhecke geschützte Mauer, mit einer Thür an dem einen Ende, die an den Ställen vorüber zu einem Thore führte, vermittelst dessen man auf die Landstraße gelangte. Da er sah, daß er hiermit nur den Weg zum Hause entdeckt habe, den die Dienerschaft und die Handwerksleute benutzten, ging Midwinter abermals wieder zurück und blickte im Vorübergehen durch das Fenster eines der Zimmer im Erdgeschosse Waren dies etwa die Gesindestuben? Nein; diese befanden sich dem Anscheine nach in einem andern Theile des Erdgeschosses; das Fenster, durch das er sah, war das einer Polterkammer. Die beiden nächsten Zimmer dieser Reihe waren leer. Das vierte Fenster, dem er sich näherte, bot einige Abwechselung. Dasselbe bildete zugleich eine Thür und stand in diesem Augenblicke offen.

Durch die Bücherbretter angezogen, die er an der Wand bemerkte, trat Midwinter in das Zimmer. Die Bücher, nur wenige an der Zahl, beschäftigten ihn nicht lange; ein Blick auf die Rücken derselben genügte ihm, ohne daß er sie herunterenahm. Die Waverley-Romane, Erzählungen von Miß Edgeworth und deren zahlreichen Nachahmern, Gedichte von Mrs. Hemans und einige Bände von illustrierten »Andenken« bildeten den größeren Theil dieser kleinen Bibliothek. Midwinter wandte sich, um das Zimmer zu verlassen, als ein Gegenstand auf der einen Seite des Fensters, den er bisher nicht bemerkt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich zog und ihn still stehen machte. Es war dies eine Statuette auf einer Console —— eine verkleinerte Copie der berühmten Niobe im Museum zu Florenz. Mit einem plötzlichen Zweifel, der sein Herz pochen machte, sah er von der Statuette nach dem Fenster. Es war ein langes Thürfenster, und die Statuette befand sich, indem er vor dem Fenster stand, zu seiner Linken. Er schaute mit einem Argwohn hinaus, wie er ihn bisher noch nicht gefühlt hatte. Die Aussicht, welche sich vor ihm ausbreitete, war die eines Rasenplatzes und eines Gartens. Einen Augenblick kämpfte sein Geist gegen den Schluß, der sich ihm aufdrang —— doch vergebens. Hier, um ihn und vor ihm, lag das Zimmer, welches Allan in der zweiten Vision seines Traumes gesehen hatte, und trieb ihn erbarmungslos von der glücklichen Gegenwart zu der grausigen Vergangenheit zurück.

Er zögerte sinnend und schaute sich dabei rings um. In seinem Gesichte und seinem Wesen war erstaunlich wenig von einer Gemüthsbewegung wahrzunehmen; ruhig blickte er von dem einen zum andern der wenigen Gegenstände in dem Zimmer, wie wenn die Entdeckung ihn nicht so sehr überrascht als betrübt hätte. Ein Strohgeflecht von ausländischer Production bedeckte den Fußboden. Zwei Rohrstühle und ein einfacher Tisch bildeten das ganze Geräth. Die Wände waren mit einer einfachen Tapete bedeckt und ohne allen Bilderschmuck; die Einförmigkeit derselben ward durch nichts als eine Thür, die ins Innere des Hauses führte, einen kleinen Ofen und die Bücherbretter unterbrochen, die Midwinter bereits bemerkt hatte. Er wandte sich wieder zu den Büchern und nahm diesmal einige derselben herunter.

Das erste, welches er öffnete, enthielt eine von Frauenhand herrührende Inschrift, deren Tinte durch die Zeit erblaßt war. Er las: »Jane Armadale von ihrem geliebten Vater. Thorpe-Ambrose, October 1828.« In den folgenden Bänden, die er aufschlug, fand er dieselbe Inschrift. Seine Kenntniß der Data und Personen verhalf ihm zu dem richtigen Schlusse. Die Bücher mußten Allan’s Mutter angehört haben, welche in der Zeit zwischen ihrer Rückkehr von Madeira und der Geburt ihres Sohnes ihren Namen in dieselben eingeschrieben hatte. Midwinter nahm darauf einen Band von einem andern Brette herunter —— einen Theil von Mrs. Hemans Werken. Das leere Anfangsblatt des Buches war auf beiden Seiten mit einer Abschrift von Versen, und zwar wieder von Mrs. Armadale’s Hand, angefüllt. Die Verse waren »Lebewohl an Thorpe-Ambrose« überschrieben und vom März 1829 datiert — nur zwei Monate nach Allan’s Geburt.

Das einzige Interesse des kleinen Gedichts, das an sich ohne den geringsten Werth war, lag in der Familiengeschichte, die dasselbe erzählte. Sogar das Zimmer, in dem Midwinter stand, war beschrieben —— die Aussicht auf den Garten, die Glasthür, die sich nach demselben öffnete, die Bücherbretter, die Niobe und einige andere vergängliche Zierrathen, welche die Zeit vernichtet hatte. Mit ihren Brüdern im Zwiste und sich ihrer ganzen Familie entziehend, hatte die Wittwe des Gemordeten ihrer eigenen Angabe zufolge sich hierher zurückgezogen und keinen andern Trost mitgenommen, als die Liebe und Verzeihung ihres Vaters. So kam ihr Kind zur Welt. Des Vaters Güte und sein kürzlich erfolgter Tod bildeten den Gegenstand vieler Verse, die in ihrem alltäglichen Ausdrucke der Reue und Verzweiflung glücklicherweise zu unklar waren, um einen Leser, der nicht bereits mit der Wahrheit bekannt war, irgendwie über die Heirathsgeschichte in Madeira aufzuklären. Dann folgten Andeutungen auf die Entfremdung der Schreiberin von all ihren übrigen Angehörigen und auf ihre nahe bevorstehende Abreise von Thorpe-Ambrose, und schließlich die Verkündigung des Entschlusses, sich von all ihren alten Verbindungen loszumachen; alles, selbst die unbedeutendste Kleinigkeit von dem zurückzulassen, was sie an die schreckliche Vergangenheit erinnern könnte, und ihr künftiges Leben von der Geburt ihres Kindes zu datieren, das ihr zum Troste gegeben und jetzt das einzige Wesen in der Welt war, welches ihr noch von Liebe und Hoffnung sprach. Und damit war abermals die alte Geschichte leidenschaftlichen Gefühls erzählt, das sich lieber durch Redensarten tröstet, als allem Troste entsagt.

Midwinter stellte das Buch mit einem schweren Seufzer wieder an seinen Platz.

»Hier in dem Landhause —— oder dort am Bord des Wracks ——« sagte er bitter, »die Spuren von dem Verbrechen meines Vaters folgen mir überall, wohin ich immer gehe.« Er schritt dem Fenster zu, stand still und schaute auf das einsame, vernachlässigte, kleine Zimmer zurück. »Ist dies Zufall?«,frug er sich. »Die Stelle, an der seine Mutter duldete, ist diejenige, die er im Traume sieht; und an dem ersten Morgen in dem neuen Hause wird dieselbe nicht ihm, sondern mir gezeigt. O, Allan! Allan! Wie wird dies enden?«

Eben noch mit diesem Gedanken beschäftigt, vernahm er von dem gepflasterten Pfade an der Seite des Hauses her Allan’s Stimme, der ihn beim Namen rief. Er trat hastig in den Garten hinaus. In demselben Augenblicke kam Allan um die Ecke gelaufen, voll Entschuldigungen, daß er in der Gesellschaft seiner neuen Nachbarn vergessen habe, was er der Gastfreundschaft und seinem Freunde schuldig sei.

»Ich habe Dich wirklich nicht vermißt«, sagte Midwinter; »und es freut mich sehr, zu hören, daß die neuen Nachbarn Dir bereits so gut gefallen.«

Während dieser Worte versuchte er Allan nach der Vorderseite des Hauses zurückzuführen; doch Allan’s flüchtige Aufmerksamkeit war durch das offene Fenster und das einsame kleine Zimmer angezogen worden. Er trat augenblicklich in dasselbe hinein. Midwinter folgte ihm und beobachtete ihn in athemloser Angst, wie er sich dort umschaute. Allan’s Gemüth ward durch keine Spur der Erinnerung an den Traum gestört, und sein Freund ließ keine Silbe der Anspielung auf denselben laut werden.

»Genau der Ort, den man von Dir aufgestöbert zu werden erwarten durfte!« rief Allan fröhlich. »Klein und gemüthlich und anspruchslos. Ich kenne Dich, Meister Midwinter! Du wirst hierher entschlüpfen, wenn die Grafschaftsfamilien mir ihre Besuche machen, und ich denke mir, daß ich bei solchen entsetzlichen Gelegenheiten nicht lange hinter Dir zurückbleiben werde. Was giebt’s? Du siehst krank und bekümmert aus. Hungrig? Natürlich bist Du hungrig! Unverzeihlich von mir,« Dich so lange warten zu lassen —— diese Thür führt vermuthlich irgendwo hin; wir wollen sehen, ob wir einen Weg ins Haus entdecken. Ich habe dort im Häuschen nicht viel gegessen, denn ich weidete meine Blicke an Miß Milroy, wie die Dichter sich ausdrücken. O, der kleine Engel! Sie kehrt Einem das Herz im Leibe um, sowie man sie nur erblickt. Was ihren Vater betrifft —— so warte, bis Du seine wunderbare Uhr siehst! Sie ist zweimal so groß als die berühmte Uhr in Straßburg und. hat einen gewaltigen Schlag, wie man seit Menschengedenken noch nie gehört hat!«

In dieser Weise das Lob seiner neuen Freunde aus vollem Halse singend, zog Allan seinen Freund Midwinter eiligst mit sich den steinernen Gang des Souterrains entlang, welcher, wie er richtig vermuthet hatte, zu einer mit der Eingangshalle in Verbindung stehenden Treppe führte. Sie kamen auf ihrem Wege an den Gesindestuben und der offen stehenden Küche vorbei. Beim Anblicke der Köchin und des hellen Feuers konnte Allan nicht mehr vernünftig bleiben und seine Würde als Hausherr behaupten.

»Aha, Mrs. Gripper, dort sind Sie ja bei ihren Töpfen und Pfannen und Ihrem feurigen Ofen! Man muß wahrlich ein Sadrach, Mesech und der andre Bursche sein, um es dort aushalten zu können. Frühstück, sobald es Ihnen beliebt! Eier, Würstchen, Schinken, Nieren, Marmelade, Wasserkresse, Kaffee und so weiter! Mein Freund und ich gehören zu den wenigen Auserwählten, für die zu kochen ein wahres Privilegium ist. Ein Paar Gourmands, Mrs. Gripper, wahre Gourmands! —— Du wirst sehen«, fuhr Allan fort, wie sie ihren Weg nach der Treppe fortsetzten, »daß ich jene würdige Person wieder jung machen werde; ich bin besser als ein Arzt für Mrs. Gripper. Wenn sie lacht, erschüttert sie ihre fetten Seiten; und wenn sie ihre fetten Seiten erschüttert, strengt sie ihr Muskelsystem an; und wenn sie ihr Muskelsystem anstrengt —— Ha! Hier ist Susan wieder. Drückt Euch nicht so ängstlich gegen das Geländer, mein Kind; wenn es Euch nicht unangenehm ist, mich aus der Treppe anzustoßen, so gestehe ich, daß ich Euch recht gern anstoße Sie sieht wie eine aufgeblühte Rose aus, wenn sie erröthet, nicht wahr? Halt, Susan! Ich wünsche Euch einige Befehle zu geben. Gebt Euch besondere Mühe mit Mr. Midwinter’s Zimmer; schüttelt sein Bett wie toll, und stäubt seine Meubles ab, bis Euch Eure hübschen, runden Arme schmerzen! —— Unsinn, mein lieber Junge! Ich bin nicht zu familiär mit ihnen; ich ermuntere sie blos zu ihrer Arbeit. Nun denn, Richard, wo frühstücken wir? O, hier. Unter uns gesagt, Midwinter, diese prachtvollen Zimmer sind zu groß für mich; es ist mir, als ob ich nie mit meinen eignen Meubles auf vertrautem Fuße stehen könne. Meine Lebensansichten sind dazu zu gemüthlich und ungezwungen —— ein Küchenstuhl, weißt Du, und eine niedrige Decke, das genügt. »Der Mensch nur wenig braucht hinieden, doch braucht er dieses lange.« Dies ist nicht gerade das richtige Citat; aber es drückt aus, was ich meine, und wir wollen uns nicht mit dem Corrigiren aufhalten.«

»Ich bitte um Vergebung«, unterbrach ihn Midwinter, »es erwartet Dich hier etwas, das Du noch nicht bemerkt hast.«

Bei diesen Worten deutete er ein wenig ungeduldig auf einen Brief, der auf dem Frühstückstische lag. Er vermochte Allan die ominöse Entdeckung zu verhehlen, die er an diesem Morgen gemacht; doch das lauernde Mißtrauen gegen Ereignisse, das jetzt in seiner argwöhnischen Natur erweckt worden war, —— jenen instinctmäßigen Verdacht gegen alles, was sich an diesem ersten denkwürdigen Tage in dem neuen Hause ereignete; dies war er nicht zu bemeistern im Stande.

Allan überflog den Brief und warf denselben dann über den Tisch seinem Freunde zu. »Ich verstehe kein Wort davon«, sagte er; »verstehst Du es?«

Midwinter las den Brief laut und langsam vor.

»Sir! Ich hoffe, daß Sie mir die Freiheit verzeihen werden, die ich mir nehme, indem ich diese wenigen Zeilen an Sie richte, noch ehe Sie in Thorpe-Ambrose angekommen sind. Sollten Sie sich durch die Umstände bewogen fühlen, Ihre Geschäftsangelegenheiten nicht Mr. Darch’s Händen zu übergeben ——« Hier hielt er plötzlich inne und überlegte ein wenig.

»Darch ist unser Freund, der Advokat«, sagte Allan, da er vermuthete, daß Midwinter den Namen vergessen habe. »Erinnerst Du Dich nicht, wie ich beim Empfange der beiden Anerbietungen für das Parkhäuschen den halben Kronthaler auf dem Kajütentische kreiseln ließ. —— Kopf für den Major, Wappen für den Advokaten? Dies ist der Advokat.«

Midwinter setze, ohne etwas zu erwidern, die Lectüre des Briefes fort. »Sollten Sie sich durch die Umstände bewogen fühlen, Ihre Geschäftsangelegenheiten nicht Mr. Darch’s Händen zu übergeben, so erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich mich glücklich schätzen werde, Ihren Interessen meine Thätigkeit zu widmen, wenn Sie mich mit Ihrem Zutrauen zu beehren geneigt sind. Indem ich für diesen Fall eine Empfehlung von meinen Agenten in London beilege und nochmals wegen dieser Belästigung um Vergebung bitte, habe ich die Ehre, mich zu zeichnen, Sir, mit Hochachtung Ihr ergebenster Diener A. Pedgift Senior.«

»Umstände?« wiederholte Midwinter, indem er den Brief niederlegte »Welche Umstände könnten Dich wohl abgeneigt machen, Mr. Darch Deine Geschäftsangelegenheiten zu übergeben?«

»Nichts kann mich abgeneigt machen«, sagte Allan. »Außerdem, daß er der Familienanwalt hier ist, war Darch auch der Erste, der mir die Nachricht von meiner Erbschaft nach Paris sandte; und sowie ich dergleichen Geschäftsangelegenheiten zu vergeben habe, so ist natürlich Darch der Mann.«

Midwinter warf einen argwöhnischen Blick auf den offen auf dem Tische liegenden Brief. »Ich fürchte sehr, Allan, daß bereits etwas nicht ist wie es sein sollte«, sagte er. »Dieser Mann würde es nimmer gewagt haben, sich Dir anzutragen, wenn er nicht guten Grund zu glauben hätte, daß Du ihn annehmen werdest. Du wirst am sichersten gehen, wenn Du heute Morgen noch Mr. Darch melden läßt, daß Du hier bist, und für jetzt von Mr. Pedgift’s Briefe keine Notiz nimmst.«

Ehe sie noch ferner etwas sagen konnten, erschien der Diener mit dem Frühstück. Ihm folgte in einer kleinen Weile der Kellermeister —— ein Mann von der wesentlich vertraulichen Sorte, mit einer wohl modulierten Stimme, hofmännischem Wesen und einer knolligen Nase. Jeder Andere als Allan würde in seinem Gesichte gelesen haben, daß er ins Zimmer gekommen sei, um seinem Herrn eine besondere Meldung zu machen. Allan aber, der nie etwas unter der Oberfläche sah, und dessen Gedanken mit dem Briefe des Advokaten vollauf beschäftigt waren. verhinderte ihn an der Ausführung seines Vorhabens, indem er geradezu die Frage an ihn richtete: »Wer ist Mr. Pedgift?«

Der Kellermeister öffnete sofort die Schleußen seiner Localkenntnisse. Mr. Pedgift sei der zweite der beiden Advokaten des Orts; nicht so lange ansässig, nicht so wohlhabend, nicht so allgemein angesehen wie der alte Mr. Darch. Er habe nicht die Geschäfte der höchsten Grafschaftsfamilien und sei in der guten Gesellschaft nicht so beliebt wie der alte Mr. Darch. Dessen ungeachtet sei er auf seine Weise ein sehr tüchtige: Mann und der ganzen Umgegend als ein fähiger und achtbarer Rechtsanwalt bekannt. Mit einem Worte, er gebe in seinem Fache Mr. Darch wenig nach und sei ihm insofern persönlich überlegen —— falls er sich so ausdrücken dürfe —— als Darch sehr mürrisch und Pedgift dies nicht sei.

Nachdem er diese Auskunft gegeben, ging der Kellermeister, indem er den Vortheil seiner Lage weislich benutzte, ohne Verzug auf die Angelegenheit über, die ihn in das Frühstückszimmer geführt hatte. Der Johannis-Termin rückte heran und es sei hier Brauch, die Pächter zu dem Zahltagsdiner einzuladen, was eine Woche vor diesem Diner geschehen müsse. Da die Zeit dränge und bisher noch keine Befehle ertheilt und kein Verwalter in Thorpe-Ambrose eingesetzt worden sei, scheine es wünschenswerth, daß eine zuverlässige Person die Sache zur Sprache bringe. Der Kellermeister sei diese zuverlässige Person und er wage es deshalb jetzt, seinen Herrn mit dem Gegenstande zu belästigen.

Hier öffnete Allan die Lippen, um ihn zu unterbrechen, ward aber seinerseits unterbrochen, ehe er ein Wort aussprechen konnte.

»Wartet« sagte Midwinter zu Allan, da er in dessen Gesichte las, daß er in Gefahr sei, öffentlich als Verwalter angekündigt zu werden. »Wartet« wiederholte er eifrig, »bis ich zuvor mit Dir gesprochen habe.«

Das hofmännische Wesen des Kellermeisters ward weder durch Midwinters Einmischung noch durch seine eigene Entlassung aus dem Zimmer im mindesten gestört. Nichts als die Röthe, die in seine Zwiebelnase stieg, verrieth das Gefühl der Kränkung, das sich seiner bemächtigte, indem er sich zurückzog Mr. Armadale’s Aussichten, sich und seinen Freund an diesem Tage mit dem besten Weine im Keller zu tractiren, waren im Sinken, als der Kellermeister wieder in das Souterrain zurückkehrte.

»Dies ist außer allem Spaße, Allan«, begann Midwinter, als sie allein waren.« »Es muß an dem Zahltage Deinen Pächtern ein Mann vorgestellt werden, der wirklich zu der Verwalterstelle taugt. Mir ist es bei dem besten Willen unmöglich, mich innerhalb einer Woche gehörig in die Sache hineinzuarbeiten. Ich muß dringend wünschen, daß Deine Sorge für mein Wohlergehen Dich nicht Deinen Leuten gegenüber in eine falsche Stellung bringt, und könnte mir nimmer vergeben, wenn ich die unglückselige Ursache wäre ——«

»Sachte, sachte!« rief Allan, staunend über die außerordentliche Ernsthaftigkeit seines Freundes. »Wird es Dich zufrieden stellen, wenn ich mit der Abendpost einen Brief nach London sende und den Mann wieder herbestelle, der schon vorher da war?«

Midwinter schüttelte den Kopf. »Unsere Zeit ist kurz«, sagte er; »und der Mann ist vielleicht nicht mehr frei. Warum es nicht zuvor in der Nachbarschaft versuchen? Du wolltest an Mr. Darch schreiben. Schreibe sogleich und sieh, ob er uns nicht zwischen jetzt und der Abendpost aus der Verlegenheit helfen kann.«

Allan ging an einen Nebentisch, auf dem sich Schreibmaterialien befanden. »Du sollst in Frieden frühstücken, Du alter Sorgenkopf«, erwiderte er und schrieb sofort mit seiner gewohnten spartanischen Kürze an Mr. Darch:

»Verehrter Herr! Hier bin ich mit Sack und Pack. Wollen Sie mir die große Gefälligkeit erzeigen, mein Rechtsanwalt zu sein? Ich frage dies, weil ich Sie sofort zu consultiren wünsche Bitte, lassen Sie sich im Verlauf des Tages hier sehen und bleiben Sie, falls es Ihnen irgend möglich, zu Tische da. Aufrichtig der Ihre, Allan Armadale.«

Nachdem er diesen Brief mit unverhohlener Bewunderung seiner eigenen Schnelligkeit in literarischer Composition laut vorgelesen, adressierte er denselben an Mr. Darch und klingelte. »Hier, Richard, überbringt diesen Brief sogleich und wartet auf Antwort. Und, hört, falls es in der Stadt irgendwelche Neuigkeiten gibt, so sammelt dieselben und bringt sie mit Euch zurück! —— Sieh, wie ich mit meinen Dienern umzugehen weiß!« fuhr Allan fort, indem er zu seinem Freunde am Frühstückstische zurückkehrte. »Sieh nur, wie ich mich meinen neuen Pflichten anpasse! Ich bin noch keinen ganzen Tag hier und fange bereits Interesse an der Umgegend zu nehmen an!«

Als die beiden Freunde mit dem Frühstück fertig waren, gingen sie hinaus, um den Morgen im Schatten eines Baumes im Park zu verträumen. Der Mittag kam, doch Richard nicht mit ihm. Es schlug ein Uhr, und noch immer keine Antwort von Mr. Darch. Midwinter’s Ungeduld konnte den Verzug nicht ertragen. Er ließ Allan schlummernd im Grase liegen und ging nach dem Hause, um Erkundigungen anzustellen. Die Stadt, unterrichtete man ihn, sei wenig mehr als zwei Meilen vom Hause entfernt, doch sei es eben Markttag und Richard werde möglicherweise von einigen der vielen Bekannten aufgehalten, die er bei dieser Gelegenheit getroffen.

Eine halbe Stunde später kehrte der säumige Bote zurück und ward hinaus gesandt, um sich bei seinem Herrn unter dem Baume im Park zu melden.

»Habt Ihr die Antwort von Mr. Darch?« frug Midwinter, da er sah, daß Allan zu träge sei, um selber zu fragen.

»Mr. Darch war beschäftigt, Sir. Ich erhielt Befehl zu sagen, er wolle die Antwort senden.«

»Nichts Neues in der Welt?« frug Allan schläfrig, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Augen zu öffnen.«

»Nein, Sir; nichts Besonderes.«

Indem Midwinter den Mann argwöhnisch beobachtete, las er deutlich in seinem Gesichte, daß er nicht die Wahrheit rede. Er war sichtlich verlegen und fühlte sich augenscheinlich erleichtert, als das Schweigen seines Herrn ihm zu gehen gestattete. Nach kurzem Ueberlegen folgte Midwinter dem Diener und holte ihn in der Auffahrt vor dem Hause ein.

»Richard«, sagte er ruhig, »würde ich, wenn ich sagte, daß es allerdings etwas Neues in der Stadt gab und daß Ihr dasselbe Eurem Herrn nicht gern mittheilen mögt, die Wahrheit errathen haben.«

Der Mann erschrak und wechselte die Farbe.

»Ich weiß nicht, wie Sie es entdeckt haben, Sir«, sagte er; »aber ich kann nicht leugnen, daß Sie recht gerathen haben.«

»Wenn Ihr mir die Neuigkeit mittheilen wollt, will ich die Verantwortlichkeit übernehmen, Mr. Armadale von derselben in Kenntniß zu setzen.«

Nach einigem Zögern und nachdem er seinerseits Midwintens Gesicht einen Augenblick argwöhnisch beobachtet, entschloß Richard sich endlich, zu erzählen, was er an diesem Tage in der Stadt gehört.

Die Neuigkeit von Allan’s plötzlichem Erscheinen in Thorpe-Ambrose war der Ankunft des Dieners an seinem Bestimmungsorte um einige Stunden vorausgeeilt Ueberall, wohin er ging, fand er, daß sein Herr den Gegenstand der öffentlichen Besprechung bildete. Die Meinung über Allan’s Benehmen war unter den Hauptbewohnern der Stadt, den vornehmen Familien der Umgegend und den ersten Pächtern auf der Besitzung allgemein eine ungünstige. Der Ausschuß für den öffentlichen Empfang des neuen Squire hatte erst gestern den Plan für die Procession entworfen; hatte die wichtige Frage in Bezug auf die Triumphbogen erledigt und eine competente Person ernannt, welche Subscriptionen für die Flaggen, Blumen, Festmahle, Feuerwerke und die Musikanten sammeln sollte. In weniger als einer Woche wäre dann das Geld zusammengebracht gewesen und der Pfarrer würde an Mr. Armadale geschrieben und ihn ersucht haben, den Tag zu bestimmen. Und jetzt hatte Allan die öffentliche Bewillkommnung die man ihm zu Ehren beabsichtigt, verachtungsvoll zurückgewiesen! Jeder nahm es für ausgemacht an, daß er heimliche Nachricht von dem ihm zugedachten Empfange erhalten habe. Jeder erklärte, er habe sich absichtlich wie ein Dieb in der Nacht in sein Haus eingeschlichen, um sich den Aufmerksamkeiten seiner Nachbarn zu entziehen. Kurz, der empfindsame Stolz der kleinen Stadt fühlte sich tief verletzt, und um Allans beneidenswerthe Stellung in der Achtung seiner Nachbarn war es geschehen.

Einen Augenblick stand Midwinter dem Ueberbringer dieser schlimmen Nachrichten in schweigender Bekümmerniß gegenüber. Dann aber trieb ihn das Bewußtsein von Allan’s kritischer Lage, jetzt, da ihm das Unheil bekannt war, unverzüglich ein Mittel zu suchen, wodurch die Sache wieder gut gemacht werden könne.

»Hat das Wenige, was Ihr von Eurem Herrn gesehen habt, Euch zu seinem Gunsten eingenommen, Richard?« frug er.

Diesmal antwortete der Mann ohne alles Zögern. »Einem bessern und gütigeren Herrn als Mr. Armadale kann Niemand zu dienen wünschen.«

»Wenn das Eure Ansicht ist«, fuhr Midwinter fort, »so werdet Ihr nichts dawider haben, mir einige Auskunft zu geben, die Eurem Herrn behilflich sein kann, sich seinen Nachbarn gegenüber zu rechtfertigen. Kommt mit mir ins Haus.«

Er ging in das Bibliothekzimmer. Nachdem er die nöthigen Fragen gethan, stellte er eine Liste von den Namen und Adressen der einflußreichsten Bewohner der Stadt und Umgegend zusammen, und sobald er damit fertig war, klingelte er dem oberen Bedienten, da er Richard unterdessen nach dem Stalle gesandt hatte, um zu bestellen, daß innerhalb einer Stunde der Wagen vorfahre.

»Wenn der verstorbene Mr. Blanchard ausfuhr, um Besuche in der Umgegend zu machen, war es da nicht Euer Dienst, ihn zu begleiten?«" frug Midwinter, als der obere Bediente erschien. »Sehr gut! Dann haltet Euch gefälligst bereit, in einer Stunde mit Mr. Armadale auszufahren.« Nachdem er diesen Befehl gegeben, verließ er wieder das Haus und kehrte mit der Besuchliste in der Hand zu Allan zurück. Er lächelte ein wenig traurig, wie er die Stufen hinabging. »Wer hätte gedacht«, sagte er bei sich, »daß meine Bedientenjungen-Erfahrungen in den Sitten und Bräuchen vornehmer Leute eines Tages um Allan’s willen der Erinnerung werth sein würden?«

Der Gegenstand des öffentlichen Abscheus lag unschuldig schlummernd im Grase, den Gartenhut über die Nase gedrückt, die Weste und Beinkleider gelöst. Midwinter weckte ihn, ohne einen Augenblick zu zögern, und theilte ihm rückhaltlos die Neuigkeiten des Dieners mit.

Allan hörte die ihm in dieser Weise aufgedrungene Offenbarung ruhig an. »O, sie mögen zum Henker gehen!« war alles, was er sagte. Laß uns noch eine Cigarre rauchen.« Midwinter nahm ihm die Cigarre aus der Hand. Indem er darauf bestand, daß Allan die Sache ernstlich nehme, sagte er ihm mit deutlichen Worten, er müsse sich aus der falschen Stellung reißen, die er seinen beleidigten Nachbarn gegenüber einnehme, indem er ihnen persönlich seine Aufwartung mache und sich entschuldige Allan richtete sich staunend im Grase auf; seine Augen öffneten sich leicht vor ungläubigem Entsetzen. Er frug, ob Midwinter wirklich die Absicht habe, ihn in einen Cylinderhut, einen sauber gebürsteten Rock und ein Paar reine Handschuhe zu zwingen? Ob er daraus ausgehe, ihn mit dem Diener auf dem Bock und dem Kartenetui in der Hand, in einen Wagen zu sperren und von Haus zu Haus zu schicken, um einen Haufen Narren um Verzeihung zu bitten, daß er ihnen nicht gestattet, ihn öffentlich zu »zeigen.« Wenn wirklich etwas so unerhört Lächerliches gethan werden müsse, könne es doch jedenfalls nicht heute geschehen. Er habe versprochen, zu der reizenden Miß Milroy im Parkhäuschen zurückzukehren und Midwinter mitzubringen. Was in aller Welt sei ihm an der guten Meinung der benachbarten Gutsherrschaften gelegen? Die einzigen Freunde, um die es ihm zu thun sei, seien diejenigen, die er bereits besitze. Die ganze Nachbarschaft möge ihm den Rücken wenden, wenn es ihr beliebe —— es sei dem Squire von Thorpe-Ambrose vollkommen einerlei, ob er ihr Gesicht oder ihren Rücken sehe.

Nachdem Midwinter ihn in dieser Weise hatte fortreden lassen, bis sein ganzer Vorrath von Einwendungen erschöpft war, versuchte er zuerst, was sein persönlicher Einfluß bei Allan vermöge. Er faßte ihn liebevoll bei der Hand. »Ich will Dich um eine große Gefälligkeit bitten«, sagte er. »Wenn Du diesen Leuten nicht um Deiner selbst willen Deinen Besuch machen willst —— willst Du es nicht wenigstens mir zu Liebe thun?«

Allan stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus, richtete seinen Blick in stummem Erstaunen auf das besorgte Gesicht seines Freundes und gab gutmüthig nach. Wie Midwinter seinen Arm nahm und ihn nach dem Hause zurückführtq warf er einen kläglichen Blick aus die Kühe neben ihnen, die in dem kühlen Schatten sich friedlich mit den Schwänzen peitschten. »Laß es nicht in der Nachbarschaft verlauten«, sagte er, »aber ich möchte gern mit meinen Kühen tauschen.«’

Midwinter verließ ihn, damit er sich ankleiden, nachdem er zurückzukehren versprochen, wenn der Wagen vorfahren werde. Allan’s Toilette versprach keine sehr schnelle zu werden. Er begann dieselbe damit, daß er seine Visitenkarten las, und schritt dann zu einem zweiten Stadium vor, indem er in einen Kleiderschrank schaute und die ganze gutsherrschaftliche Umgegend zum Teufel wünschte. Ehe er noch ein drittes Mittel entdecken konnte, um seine Aufgabe zu verzögern, bot sich ihm dieser Vorwand unerwarteterweise durch das Erscheinen Richard’s, welcher ein Billet überbrachte. Es war soeben der Bote mit Mr. Darch’s Antwort gekommen. Allan schloß schnell den Kleiderschrank und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Briefe des Advokaten. Die erfreuliche Antwort Mr. Darch’s lautete also:

»Sir! Ich habe die Ehre, Ihnen den Empfang Ihres werthen Schreibens von heute zu melden, in welchem Sie mich mit dem Antrage, Ihr Rechtsanwalt zu werden, und mit der Einladung zu einem Besuche in Ihrem Hause beehren. In Bezug auf den ersteren Punkt bitte ich um Erlaubniß, die mir zugedachte Ehre mit Dank ablehnen zu dürfen. Was Ihre freundliche Einladung zu einem Besuche betrifft, so muß ich Sie benachrichtigen, daß ich gewisse Dinge bezüglich der Vermiethung des Parkhäuschens zu Thorpe-Amibrose erfahren habe, die es mir, wenn ich gegen mich selber gerecht sein will, unmöglich machen, Ihre Einladung anzunehmen. Ich habe in Erfahrung gebracht, Sir, daß mein Anerbieten gleichzeitig mit dem von Major Milroy an Sie gelangte und daß Sie, da beide Anträge vor Ihnen lagen, einem Fremden, dessen Bewerbung durch einen Hausagenten kam, den Vorzug vor einem Manne gaben, der während zweier Generationen Ihren Anverwandten treue Dienste geleistet hat und welcher der Erste war, der Sie von dem wichtigsten Ereignisse in Ihrem Leben unterrichtete. Nachdem Sie mir hierdurch den Beweis gegeben haben, was Sie den Anforderungen der gewöhnlichsten Höflichkeit und Gerechtigkeit schuldig zu sein glaubten, darf ich mir nicht mit der Hoffnung schmeicheln, irgendwelche von den Eigenschaften zu besitzen, die mich zu einem Platze auf der Liste Ihrer Freunde berechtigen würden.
Ich verbleibe, Sir,

Ihr gehorsamster Diener
James Darch.«

»Laßt den Boten warten!« rief Allan aufspringend und indem sein Gesicht vor Entrüstung erglühte. »Gebt mir Tinte, Feder und Papier! Beim Lord Harry, das sind hübsche Leute hier in dieser Gegend; die ganze Nachbarschaft hat sich gegen mich verschworen!« In einer edlen Wuth epistolarischer Begeisterung ergriff er die Feder.

»Sir —— Ich verachte Sie und Ihren Brief ——« Hier machte die Feder einen Klecks und der Schreiber zögerte einen Augenblick. »Zu stark«, dachte er; »ich will’s dem Advokaten in seinem eigenen trocknen, beißenden Stile zurückgeben.« Er begann noch einmal auf einem reinen Blatt Papier. »Sir — Sie erinnern mich an eine irländische Widersinnigkeit. Ich meine jene Geschichte in Joe Miller, wo Pat in Gegenwart eines Spaßvogels bemerkt, »die Reciprocität ist alle auf einer Seite.« Ihre Reciprocität ist allerdings ganz und gar auf einer Seite. Sie schlagen es aus, mein Rechtsanwalt zu sein, und beklagen sich dann darüber, daß ich es ausschlage, Ihr Hauswirth zu sein.« Nach diesen Worten machte er eine zärtliche Pause. »Sehr fein!« dachte er. »Argument und scharfer Hieb, alles zusammen Wo ich nur diese Gewandtheit im Schreiben herhaben mag?« Dann beendete er den Brief, indem er nur noch zwei Sätze hinzufügte »Was Ihre Zurückweisung meiner Einladung betrifft, so befinde ich mich um nichts schlechter durch dieselbe. Ich bin froh, weder als Freund noch als Hauswirth mit Ihnen zu thun zu haben. Allan Armadale.«

Er nickte seiner Composition frohlockend zu, indem er dieselbe adressierte und dann zu dem Boten hinunter sandte. »Darch muß ein dickes Fell haben«, sagte er, »wenn er das nicht fühlt.«

Rädergerassel vor dem Hause rief ihn plötzlich zu seinem Geschäfte zurück. Der Wagen wartete, um ihn auf seiner Visitenrunde herumzufahrem auch Midwinter war bereits, wie er versprochen, auf Posten. »Lies das«, rief Allan, ihm den Brief des Advokaten zuwerfend. »Ich habe ihm einen Zermalmer zurückgeschrieben.«

Er eilte an den Kleiderschrank zurück, um seinen Rock zu holen. Eine wunderbare Veränderung war mit ihm vorgegangen; er fühlte jetzt wenig oder gar keine Abneigung mehr, die Besuche zu machen. Die angenehme Aufregung, die mit der Beantwortung von Darch’s Brief verbunden war, hatte ihn in eine vortreffliche, zur Offensive gegen seine Nachbarschaft geneigte Stimmung versetzt »Was sie auch sonst von mir sagen mögen, sie sollen wenigstens nicht sagen, daß ich mich fürchtete, ihnen entgegenzutreten.« Bei diesen Gedanken gerieth er noch mehr in die Hitze, und so ergriff er Hut und Handschuhe und eilte aus dem Zimmer. Im Corridor begegnete er Midwinter, der den Brief des Advokaten in der Hand hielt.

»Sei frohen Muths!« rief Allan, da er die Sorge im Gesichte seines Freundes bemerkte und dieselbe für den Augenblick falsch deutete. »Wenn wir nicht darauf rechnen können, daß Darch uns Jemanden verschafft, der uns in der Verwalterstube behilflich ist, so wird Pedgift es thun.«

»Mein lieber Allan, daran dachte ich nicht, sondern an Mr. Darch’s Brief. Ich vertheidige diesen sauern Menschen nicht —— aber ich fürchte, wir müssen zugeben, daß er einige Ursache hat, sich zu beklagen. Bitte, gib ihm nicht noch weitere Gelegenheit hierzu. Wo ist Deine Antwort auf diesen Brief?«

»Abgegangen!« erwiderte Allan. »Ich schmiede das Eisen stets solange es warm ist —— ein Wort und ein Schlag, und zwar den Schlag zuerst, das ist meine Art. Ich bitte Dich, mein lieber Junge, ängstige Dich nicht um die Verwalterbücher und den Zahltag. Hier! Hier ist ein Bund Schlüssel, den man mir gestern Abend gab; einer derselben öffnet die Thür des Zimmers, wo die Verwaltungsbücher liegen; geh hinein und lies in denselben, bis ich wieder zurückkomme. Ich gebe Dir mein heiliges Ehrenwort, daß ich die ganze Geschichte mit Pedgift abmachen will, ehe Du mich wiedersiehst.«

»Einen Augenblicks rief Midwinter, ihn entschlossen auf dem Wege nach dem Wagen anhaltend. »Ich sage nichts gegen Mr. Pedgift’s Zuverlässigkeit, denn ich weiß von nichts, das mich ihm zu mißtrauen berechtigte. Aber er hat sich Dir nicht in sehr zartfühlender Weise vorgestellt; auch hat er ganz verschwiegen, daß er zur Zeit, da er an Dich schrieb, wußte, wie feindselig Darch gegen Dich gestimmt sei — während er doch sicher davon gewußt hat. Watte ein Wenig, ehe Du zu diesem Fremden gehst; warte, bis wir uns heute Abend darüber besprechen können.«

»Warten!«» erwiderte Allan. »Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich stets das Eisen schmiede, solange es warm ist? Verlaß Dich auf meine Charakterkenntniß alter Junge; ich werde Pedgift sehr schnell durchschauen und dann danach handeln. Halte mich um Himmels willen nicht länger auf. Ich bin in einer herrlichen Laune, auf die ansässigen Gutsherrschaften loszugehen, und ich fürchte, sie könnte vermuthen, wenn ich nicht sogleich aufbreche.«

Nach dieser vortrefflichen Entschuldigung für seine Eile stürzte Allan von dannen. Ehe es möglich war, ihn nochmals zurückzuhalten, war er in den Wagen gesprungen und fortgefahren.



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Midwinters Gesicht verfinsterte sich, als die letzte Spur des Wagens seinen Blicken entschwand. »Ich habe mein Möglichstes gethan«, sagte er, wie er düster wieder ins Haus zurückkehrte. »Mr. Brock selber könnte nicht mehr thun, wenn er hier wäre!«

Er betrachtete den Schlüsselbund, den Allan ihm in die Hand gedrückt, und seine empfindsame, selbstquälerische Natur fühlte sich plötzlich von dem Verlangen ergriffen, sich an den Verwalterbüchern zu versuchen. Nachdem er sich das Zimmer hatte zeigen lassen, in welchem man nach der Vermiethung des Parkhäuschens die sämtlichen Bücher des Verwalters nebst Zubehör einstweilen untergebracht hatte, setzte er sich an das Pult und versuchte, wie weit seine eigenen Fähigkeiten ihm durch die Geschäftsbücher über die Besitzung Thorpe-Ambrose hindurch helfen würden. Der Erfolg stellte ihm seine Unwissenheit klar vor Augen. Die Hauptbücher verwirrten ihn; die Pachtcontracte und selbst die Correspondenz hätte ebenso gut in einer andern Sprache abgefaßt sein können —— so wenig verstand er davon. Mißmuthig verließ er das Zimmer. Er erinnerte sich mit einer gewissen Bitterkeit jenes zweijährigen einsamen Selbstunterrichts im Laden des Buchhändlers zu Shrewsbury. »Wenn ich nur in einem Geschäfte hätte arbeiten können!« dachte er. »Wenn ich nur gewußt hätte, daß die Gesellschaft von Dichtern und Philosophen eine zu hohe für einen Vagabonden wie ich sei!«

Er setzte sich allein in der großen Hausflur nieder; die Stille derselben senkte sich schwerer und immer schwerer auf sein kummerbeladenes Gemüth; die Pracht derselben ärgerte ihn wie eine Beleidigung, die man von einem geldstolzen Manne erfährt. »Der Teufel hole das Haus!« murmelte er, indem er seinen Hut und Stock ergriff. »Mir ist der rauheste Felsenabhang, auf dem ich jemals schlief, lieber als dies Haus!«

Ungeduldig stieg er die Stufen hinab und stand in der Ausfahrt still, um zu überlegen, in welcher Richtung er den Park verlassen solle, um in die jenseits liegenden offenen Felder zu gelangen. Falls er den Weg einschlug, den der Wagen genommen, lief er Gefahr, Allan durch ein zufälliges Begegnen in seinen guten Vorsätzen Wanken zu machen. Ging er durchs Hinterthor hinaus, so kannte er sich selber zu gut um zu bezweifeln, daß er nicht im Stande sein werde, an dem »Traumzimmer« vorbeizugehen, ohne wieder in dasselbe einzutreten. Es blieb deshalb nur noch ein Weg übrig, und dies war der, welchen er am Morgen eingeschlagen und wieder ausgegeben hatte. Er hatte jetzt nicht zu fürchten, daß er Allan und der Tochter des Majors im Wege sein werde. Ohne länger zu zögern, schritt Midwinter durch die Gärten, um sich mit den offenen Gefilden auf jener Seite der Besitzung bekannt zu machen.

Durch die Ereignisse des Tages völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, war sein Gemüth voll von jenem erbitterten Widerwillen gegen alle Annehmlichkeiten, die der Reichthum den Glücklichen dieser Welt bietet; voll von jener Erbitterung, mit der die Armen und Unglücklichen den Reichthum zu betrachten pflegen. »Das Haideglöckchen kostet nichts!« dachte er, indem er verachtungsvoll auf die Menge seltener und schöner Blumen sah, die ihn rings umgaben, »und die Butterblumen und Maßliebchen sind ebenso hübsch wie die besten unter euch!« Er schritt zwischen den künstlich gebildeten ovalen und eckigen Beeten des italienischen Gartens umher und fühlte eine Vagabonden-Gleichgültigkeit gegen die Symmetrie und den Geschmack der Anlagen. »Wie viele Pfund hast Du wohl per Fuß gekostet?« sagte er, indem er verächtlich auf den letzten Pfad zurückblickte, wie er denselben verließ. »Schlängele dich hoch und tief wie ein Schafweg, über den Hügel hin, wenn du kannst!«

Er kam in das Gebüsch, das Allan vor ihm betreten hatte, ging durch das Gehege und über die Brücke von Baumstämmen am Ende desselben und langte am Häuschen des Majors an. Seine schnelle Beobachtung erkannte dasselbe auf den ersten Blick, und er stand an dem Gartenpförtchen still, um die hübsche kleine Wohnung zu betrachten, die nimmer zu vermiethen gewesen wäre, falls Allan nicht den unglückseligen Entschluß gefaßt hätte, seinem Freunde die Verwalterstelle aufzubringen.

Der Sommernachmittag war warm; die Luft lau und still. Im oberen wie im unteren Stockwerk des Häuschens waren alle Fenster geöffnet. Aus einem derselben im oberen Stockwerk drang deutlich der Schall menschlicher Stimmen durch die Stille des Paris. In den mißtönenden Klang einer harten, grellen und zornig klagenden Frauenstimme —— einer Stimme, deren Frische und Wohlklang gänzlich geschwunden war und der nichts mehr blieb, als ihre harte Kraft —— mischte sich jeden Augenblick in tieferen und ruhigeren Tönen, besänftigend und mitleidsvoll die Stimme eines Mannes. Obgleich die Entfernung zu groß war, um Midwinter die Worte unterscheiden zu lassen, fühlte er doch die Unschicklichkeit, sich innerhalb Hörweite aufzuhalten, und that deshalb sofort einen Schritt. um seinen Weg fortzusetzen. In demselben Augenblicke jedoch erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, in welchem er, nach Allan’s Beschreibung, leicht Miß Milroy’s Gesicht erkannte, an dem offenen Fenster des Zimmers. Midwinter stand wider Willen still, um sie anzublicken. Der Ausdruck des hübschen Gesichts, das Allan so lieblich angelächelt hatte, war kummervoll und entmuthigt. Nachdem sie zerstreut auf den Park hinausgeschaut, wandte sie plötzlich den Kopf zurück ins Zimmer, da dem Anscheine nach etwas im Innern gesagt worden war, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. »O, Mama, Mama«, rief sie entrüstet, wie kannst Du nur so etwas sagen!« Die Worte wurden unmittelbar am Fenster gesprochen; sie drangen an Midwinter’s Ohr und machten ihn forteilen, ehe er mehr hören konnte. Doch hatte die Offenbarung von Major Milroy’s häuslicher Lage noch nicht ihr Ende erreicht. Wie Midwinter um die Ecke des Gartenzaunes bog, reichte eben ein Krämerjunge der Magd ein Paket über das Pförtchen. »Nun«, sagte der Junge mit der unbezwinglichen Frechheit seiner Klasse, »was macht die Alte?« Die Magd erhob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben. »Was macht die Alte!« wiederholte sie, indem sie zornig den Kopf in den Nacken warf, als der Knabe fortrannte. »Wenn es nur Gott gefiele, die Alte endlich zu sich zu nehmen, so würde dies fürs ganze Haus ein wahrer Segen sein.«

Das hübsche häusliche Bild, das Allan’s Enthusiasmus seinem Freunde von den Bewohnern des Parkhäuschens entworfen, hatte freilich nichts von diesen düsteren Schatten gezeigt. Es war klar, daß die Miethsleute bis hierher ihr Geheimnis; vor ihrem Hauswirthe bewahrt hatten. Nachdem Midwinter noch fünf Minuten weiter gegangen, kam er an das Parkthor. »Ist es meine Bestimmung, heute nichts zu sehen und zu hören, was mir Muth und Hoffnung für die Zukunft einflößen kann?« dachte er, wie er ärgerlich das Thor hinter sich zuschlug. »Selbst die Leute, denen Allan jenes Haus vermiethet hat, sind Leute, deren Leben durch ein Familienleid verbittert ist, welches ich und eben nur ich zu entdecken das Unglück haben mußte!«

Er schlug den ersten besten Weg ein, der vor ihm lag, und ging, kaum auf seine Umgebung achtend, in Gedanken versunken weiter. Es verstrich über eine Stunde, ehe er sich an die Nothwendigkeit erinnerte, zurückzukehren. Sowie ihm dies einfiel, sah er auf seine Uhr und beschloß umzukehren, damit er zu rechter Zeit zu Hause anlange, um Allan bei seiner Rückkehr empfangen zu können. In zehn Minuten war er an einer Stelle angelangt, wo drei Wege in einander liefen, und eine kurze Beobachtung überzeugte ihn, daß er vorher durchaus nicht beachtet hatte, auf welchem der drei Wege er gekommen war.

Ein Wegweiser war nirgends zu sehen; die Gegend war rings umher flach und öde und von breiten Gräben durchschnitten. Hier und dort weideten Kühe, und in der Entfernung, jenseits der Weiden, die den Horizont säumten, stand eine Windmühle. Allein nirgendwo war ein Haus zu sehen und auf keinem der drei Wege zeigte sich nah oder fern ein einziges menschliches Wesen. Da gewahrte Midwinter endlich bei einem Rückblick auf den Weg, auf dem er soeben zurückgekehrt war, zu seiner Zufriedenheit die Gestalt eines Mannes, der sich ihm schnell näherte und von dem er sich Auskunft über den Weg erbitten konnte.

Die Gestalt, vom Kopfe bis zu den Füßen in Schwarz gekleidet, kam näher —— ein beweglicher Flecken auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs. Es war ein hagerer, ältlicher Mann; er trug einen ärmlichen alten schwarzen Frack und eine wohlfeile braune Perücke die sich durchaus nicht für sein eigenes Haar auszugeben versuchte. Kurze schwarze Beinkleider schmiegten sich, gleich anhänglichen alten Dienern, um seine dürren Beine, und rußige schwarze Gamaschen versteckten von seinen plumpen Füßen so viel als sie vermochten Schwarzer Flor fügte sein Scherflein zu der Schäbigkeit seines alten Kastorhuts hinzu; eine altmodische schwarze Cravatte umschlang trübselig seinen Hals und reichte bis zu seinen knochigen Kinnbacken empor. Das einzige bischen Farbe, das er an sich trug, war ein Advokaten-Acten-Beutel von blauer Sersche, der ebenso mager und welk war wie er selber; und der einzige anziehende Theil in seinem glatt rasierten, erschöpften alten Gesicht war sein Gebiß, welches zwei lückenlose Reihen trefflich gepflegter Zähne zeigte und, ebenso ehrlich wie seine Perücke, allen fragenden Blicken deutlich die Antwort gab: »Wir liegen die Nacht über auf seinem Toilettenspiegel und bringen unsere Tage in seinem Munde zu.«

Der ganze unbedeutende Blutvorrath in dem Körper des Mannes stieg röthlich schimmernd in seine fleischlosen Wangen, als Midwinter ihm entgegenkam und ihn nach dem Wege nach Thorpe-Ambrose frug. Seine schwachen wässrigen Augen blickten in einer für den Beschauer peinlichen Verwirrung hierhin und dorthin. Wäre ihm, anstatt eines Mannes, ein Löwe begegnet und wären die an ihn gerichteten Worte eine Drohung gewesen anstatt einer Frage, so hätte er nicht verlegener und geängstigter aussehen können. Zum ersten Male in seinem Leben sah Midwinter einen Wiederschein seiner eigenen Schüchternheit in Gegenwart von Fremden, und zwar mit zehnfacher Intensivität nervösen Leidens, im Gesichte eines Andern und eines Mannes, der alt genug war, um sein Vater sein zu können.

»Belieben Sie, die Stadt zu meinen, Sir, oder das Gut? Ich bitte um Vergebung, aber es wird in dieser Gegend beiden derselbe Name gegeben.«

Er sprach in einem schüchtern sanften Tone, mit einem einschmeichelnden Lächeln und einer ängstlichen Höflichkeit, was alles den betrübenden Eindruck machte, als ob er von den Leuten, mit denen er hauptsächlich umgehe, für seine eigene Höflichkeit mit barschen Antworten bezahlt werde.

»Ich wußte nicht, daß sowohl die Stadt als das Gut unter dem Namen bekannt seien«, sagte Midwinter. »Ich meinte das Gut« Er bemeisterte, indem er diese Worte sprach, instinctmäßig seine eigene Schüchternheit, und sprach mit einem freundlichen Wesen, das in seinem Umgange mit Fremden eine große Seltenheit bei ihm war.

Der Gentleman schien die warme Erwiderung seiner eigenen Höflichkeit dankbar anzuerkennen. Sein Gesicht hellte sich auf und er fand ein wenig Muth. Sein dürrer Zeigefinger deutete eifrig auf den rechten Weg. »Das ist der Weg, Sir«, sagte er, »und wenn Sie wieder an zwei Wege kommen, seien Sie so gütig, den Weg zur Linken einzuschlagen. Ich bedaure, daß ich Geschäfte in der andern Richtung habe —— ich meine in der Stadt. Es würde mir sonst Vergnügen gemacht haben, mit Ihnen zu gehen und Ihnen den Weg zu zeigen. Schönes Sommerwetter, Sir, zum Spazierengehen! Sie können nicht fehlgehen, wenn Sie sich links halten. O, bitte, gern geschehen! Ich fürchte, ich habe Sie aufgehalten, Sir. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückkehr und —— guten Morgen.«

Als er mit seiner Rede, zu der er sich in dem Wahne bewogen fühlte, daß er um so höflicher erscheinen werde, je mehr er spräche, zu Ende kam, war auch sein Muth wieder erschöpft. Er eilte auf seinem eigenen Wege davon, wie wenn Midwinter’s Versuche, ihm zu danken, ihn mit einer Reihe von Prüfungen bedrohten, die zu fürchterlich seien, als daß er sich denselben aussetzen könne. In zwei Minuten hatte sich seine fliehende schwarze Gestalt bereits in der Entfernung verkleinert, bis sie wieder, wie schon vorher, gleich einem beweglichen schwarzen Fleck auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs aussah.

Während Midwinter den Rückweg nach dem Hause fortsetzte, ging ihm der Mann seltsam im Kopf herum. Er vermochte sich dies nicht zu erklären. Es fiel ihm nicht ein, daß er vielleicht unmerklich an sich selbst erinnert ward, da er in dem Gesichte des armen Geschöpfes die deutlichen Spuren früheren Unglücks und gegenwärtigen nervösen Leidens wahrnahm. Er war verdrießlich über sein eigensinniges Interesse an diesem ihm zufällig begegneten Wanderer, wie ihn bereits alles Uebrige verdrossen hatte, was ihm seit dem Beginn des Tages zugestoßen war. »Habe ich wieder einmal eine unglückliche Entdeckung gemacht?« frug er sich ungeduldig. »Werde ich diesen Mann wohl jemals wiedersehen? Wer mag er nur sein?«

Die Zeit sollte diese beiden Fragen beantworten, ehe noch viele Tage über dem Haupte des Fragenden dahingegangen waren.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Allan war noch nicht zurückgekehrt, als Midwinter im Hause anlangte. Es hatte sich nichts ereignet, außer daß eine Entschuldigung aus dem Parkhäuschen gesandt worden war. »Major Milroy’s Empfehlung und er bedaure, daß Mrs. Milroy’s Krankheit ihn verhindere, Mr. Armadale bei sich zu sehen.« Es war klar, daß Mrs. Milroy’s gelegentlichen Krankheitsanfälle nicht blos vorübergehende Störungen in dem häuslichen Frieden bewirkten. Wenigstens hatte Midwinter nach dem, was er selbst vor etwa drei Stunden vor dem Parkhäuschen gehört hatte, diese Ueberzeugung gewonnen. Midwinter begab sich in das Bibliothekzimmer, um unter den Büchern die Rückkehr seines Freundes geduldig abzuwarten.

Es war nach sechs Uhr, als die wohlbekannte herzliche Stimme wieder im Hause gehört ward. Allan stürzte in einem Zustande unbezwinglicher Aufregung in das Bibliothekzimmer und stieß Midwinter, ehe dieser ein Wort sagen konnte, ohne alle Ceremonie wieder in den Sessel zurück, von dem er sich zu erheben im Begriff war.

»Hier ist ein Räthsel für Dich, alter Junge!« rief Allan. »Warum gleiche ich dem Aufseher des Augias-Stalles, ehe Hercules herbeigerufen wurde, um denselben auszufegen? Weil ich meine Stellung zu behaupten hatte, und eine arge Schweinerei daraus gemacht habe! Warum lachst Du nicht? Beim heiligen Georg, er sieht die Pointe nicht! Versuchen wir’s noch einmal. Warum gleiche ich dem ——«

»Um Himmelswillen, Allan, sei einen Augenblick ernsthaft!« unterbrach ihn Midwinter. »Du weißt nicht, wie sehr mir daran gelegen ist zu hören, ob Du die gute Meinung Deiner Nachbarn wiedergewonnen hast.«

»Das sollte das Räthsel Dir gerade erzählen.« erwiderte Allan. »Nun, im Ganzen geht meine Ansicht dahin, daß Du besser gethan haben würdest, wenn Du mich nicht unter jenem Baume im Park gestört hättest. Ich habe mir die Sache genau berechnet, und habe das Vergnügen, Dich zu unterrichten, daß ich, seit ich Dich sah, in der Meinung der ansässigen Gutsherrschaften genau um drei Stufen tiefer gesunken bin.«

»Natürlich mußt Du Deinen Scherz durchsetzen«, sagte Midwinter bitter. »Nun, wenn ich nicht lachen kann, so kann ich doch warten.«

»Mein lieber Junge, ich scherze nicht; ich meine wirklich, was ich sage. Du sollst hören, was sich ereignet hat; Du sollst einen ausführlichen Bericht über meinen ersten Besuch haben. Derselbe wird eine Probe von allen übrigen sein. Zuerst laß Dir gesagt sein, daß ich in der besten Absicht von der Welt geirrt habe. Als ich aufbrach, um diese Besuche zu machen, war ich, wie ich offen gestehe, in Wuth über jenes alte Thier von Advokaten, und hatte allerdings ein Lüstchen, mich übermüthig zu benehmen. Aber dies Gefühl verlor sich unterwegs; und bei der ersten Familie, der ich meinen Besuch machte, trat ich, wie gesagt, mit den besten Absichten von der Welt ein. O, du lieber, lieber Himmel! In diesem Hause, wie in jedem andern, in das ich später kam, immer und immer wieder dasselbe funkelnagelneue Empfangszimmer, in dem ich warten mußte; dahinter dasselbe zierliche Gewächshaus; dieselben ausgewählten Bücher zu meiner Durchsicht —— ein religiöses Buch, ein Buch über den Herzog von Wellington, ein Buch über den Sport und ein Buch über nichts Besonderes, mit prachtvollen Illustrationen geziert. Herunter kam der Papa mit seinem hübschen weißen Haar und die Mama mit ihrer hübschen Spitzenhaube; herunter kam der junge Mister mit seinem rosigen Angesichte und seinem strohfarbenen Backenbarte, und die junge Miß mit ihren runden Wangen und umfangreichen Röcken. Denke nicht, daß ich im geringsten unfreundlich war; ich machte den Anfang stets in derselben Weise mit ihnen —— ich bestand darauf, allen die Hand zu geben. Dies machte sie gleich stutzig. Wenn ich dann zu dem zarten Punkte —— dem öffentlichen Empfange —— kam, so gebe ich Dir mein Ehrenwort darauf, daß ich mir die größte Mühe von der Welt gab, mich zu entschuldigen. Aber es hatte nicht die geringste Wirkung. Sie ließen meine Entschuldigungen zum einen Ohre hinein und zum andern wieder hinausgehen. Einige Leute würde dies entmuthigt haben; ich dagegen versuchte es auf andere Weise mit ihnen. Ich wandte mich zunächst zum Herrn des Hauses und stellte ihm die Sache ganz freundschaftlich vor. »Die Wahrheit zu gestehen«, sagte ich, »wünschte ich dem Redenhalten zu entgehen —— ich hätte mich da erheben müssen, wissen Sie, und Ihnen ins Gesicht sagen, daß Sie der beste aller Menschen sind, und daß ich um Erlaubniß bitte, auf Ihr Wohlsein trinken zu dürfen; worauf dann Sie sich erheben und mir das Gleiche ins Gesicht sagen, und so weiter, Mann für Mann, indem wir rund um die Tafel herum einander loben und langweilen.« In dieser leichten, unbefangenen, überzeugenden Art und Weise stellte ich ihm die Sache vor. Meinst Du, daß ein Einziger von ihnen es in demselben freundschaftlichen Geiste aufnahm? Nicht Einer! Ich bin der festen Ueberzeugung daß sie ihre Reden für den Empfang mit den Fahnen und Blumen in Bereitschaft hatten und daß sie heimlich ärgerlich über mich sind, weil ich ihnen den Mund stopfte, als sie gerade anzufangen im Begriff waren. Wie dem immer sei, sowie wir zu dem Gegenstande der Reden kamen —— ob sie denselben zuerst berührten oder ich —— augenblicklich sank ich die erste jener drei Stufen in ihrer Achtung. Glaube nicht, daß ich mir keine Mühe gab, mich wieder zu erheben! Ich machte verzweifelte Anstrengungen. Da ich die Entdeckung machte, daß sie sich alle zu wissen sehnten, welch eine Art von Leben ich geführt, bis ich das Besitzthum Thorpe-Ambrose erbte, so that ich mein Möglichstes, um sie zufrieden zu stellen. Und was bewirkte dies wohl? Ich will gehangen sein, wenn ich ihnen nicht eine zweite Täuschung bereitete! Wenn sie entdeckten, daß ich niemals in Eton oder Harrow, Cambridge oder Oxford gewesen sei, waren sie förmlich stumm vor Erstaunen. Ich denke mir, sie hielten mich für eine Art Vagabund; kurz ich sank die zweite Stufe in ihrer Achtung Macht nichts! Ich ließ mich nicht aus dem Felde schlagen, denn ich hatte Dir versprochen, mein Möglichstes zu thun, und ich that es. Ich versuchte zunächst ein heiteres Geplauder über die Umgegend. Die Frauen sagten nichts Besonderes; die Männer fingen, zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, alle an zu condoliren. Sie sagten, ich werde innerhalb zwanzig Meilen vom Hause kein Koppel Hunde zu finden im Stande sein, und sie hielten es für nicht mehr als recht, mich davon zu unterrichten, in welcher schmachvollen Weise man zu Thorpe-Ambrose die Wildlager vernachlässigt habe. Ich ließ sie zu Ende condoliren, und was glaubst Du, that ich dann? Ich brachte mich abermals in die Patsche »O, lassen Sie sich das nicht kümmern«, sagte ich; »es liegt mir durchaus gar nichts an irgend einer Art von Jagd. Wenn ich auf meinem Spaziergange einem Vogel begegne, ist es mir unmöglich, eine Begierde zu fühlen, ihn zu tödten; es macht mir im Gegentheil Vergnügen, den Vogel umherfliegen und sich seines Daseins freuen zu sehen.« Da hättest Du ihre Gesichter sehen sollen! Hatten sie mich vorher für eine Art Vagabond gehalten, so hielten sie mich jetzt offenbar für toll. Es herrschte eine Todtenstille, und ich sank die dritte Stufe in der allgemeinen Achtung. Im nächsten Hause, und im nächsten, und wieder im nächsten ging es ebenso. Ich glaube, wir waren alle vom Teufel besessen. Es kam stets auf eine oder die andre Weise zum Vorschein, daß ich keine Reden halten könne, daß ich ohne Universitätsbildung ausgewachsen sei, und daß ich Vergnügen an einem Spazierritt finden könne, ohne einem unglückseligen, übelriechenden Fuchse oder einem armen wahnsinnigen, kleinen Hasen nachzugaloppieren. Diese drei unglücklichen Fehler in mir sind, wie es scheint, bei einem Gutsbesitzer unverzeihlich, namentlich wenn er den Anfang damit gemacht hat, daß er einem öffentlichen Empfange aus dem Wege gegangen ist. Ich denke, am besten kam ich noch mit den Gemahlinnen und Töchtern fort. Die Frauen und ich verfielen überall früher oder später auf Mrs. Blanchard und ihre Nichte. Wir wurden stets darüber einig, daß sie sehr weise gehandelt haben. indem sie nach Florenz gezogen seien; und der einzige Grund, den wir für diese Ansicht anzugeben hatten, war der, daß die Betrachtung der Meisterstücke italienischer Kunst nach dem traurigen Verluste, den die beiden Damen erlitten, einen wohlthätigen Einfluß auf ihr Gemüth haben werde. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf, daß jede einzelne der Damen in jedem Hause, das ich besuchte, früher oder später auf Mrs. und Miß Blanchards Verlust und zu den Meisterstücken italienischer Kunst zu reden kam. Was wir ohne die Hilfe dieses glänzenden Gedankens hätten anfangen sollen, weiß ich wirklich nicht. Der einzige angenehme Augenblick bei all diesen Besuchen war der, wo wir alle zusammen die Köpfe schüttelten und erklärten, daß die Meisterwerke sie trösten würden. Was den Rest betrifft, so habe ich nur noch eins zu sagen: Was ich an einem andern Orte sein könnte, weiß ich nicht; hier aber bin ich der unrechte Mann am unrechten Orte. Laß mich in Zukunft mit meinen eignen wenigen Freunden auf meine eigne Weise fertig werden; verlange Alles in der Welt von mir, nur verlange nicht, daß ich noch fernere Besuche bei meinen Nachbarn machen soll.«

Mit dieser charakteristischen Bitte schloß Allan seinen Bericht über seine Entdeckungsreise unter den ansässigen Gutsherrschaften. Midwinter schwieg einen Augenblick. Er hatte Allan bis zu Ende plaudern lassen, ohne seinerseits ein Wort zu sagen. Der unglückliche Erfolg der Besuche —— ein Erfolg, der in Verbindung mit allen übrigen, seit gestern gemachten, Erfahrungen Allan gleich beim Beginn seines Aufenthalts in der Gegend mit Ausschließung von allem gesellschaftlichen Verkehre bedrohte —— hatte Midwinter’s Kraft so vollständig gebrochen, daß er unfähig war, dem ihn allmählig beschleichenden drückenden Einflusse seines Aberglaubens noch ferneren Widerstand zu leisten. Es kostete ihn schon einige Anstrengung, jetzt zu Allan aufzublicken; noch mehr kostete es ihn Anstrengung, sich zu einer Erwiderung zu ermannen.

»Es soll geschehen, wie Du wünschest«, sagte er ruhig. »Ich bedaure das, was sich zugetragen hat, aber ich bin Dir nichtsdestoweniger dankbar dafür, Allan, daß Du gethan, was ich Dich zu thun bat.«

Sein Haupt sank auf seine Brust, und die fatalistische Resignation, die ihn schon auf dem Wrack beruhigt, beruhigte ihn auch jetzt wieder. »Was sein muß, wird sein!« dachte er abermals. »Was habe ich und was hat er mit der Zukunft zu schaffen?«

»Guten Muth!« rief Allan. »Was Deine Angelegenheiten betrifft, so befinden sich dieselben jedenfalls auf gedeihlichen: Wege. Ich machte einen angenehmen Besuch in der Stadt, von dem ich Dir noch nicht erzählt habe. Ich habe Pedgift gesehen und Pedgift’s Sohn, der ihm in der Expedition behilflich ist. Sie sind die beiden herrlichsten Advocaten, die mir je im Leben vorgekommen sind, und was noch mehr ist, sie können uns den Mann verschaffen, dessen Du bedarfst, um Dich über die Verwalterpflichten zu unterrichten.«

Midwinter sah schnell auf. Es stand bereits deutliches Mißtrauen gegen Allan’s Entdeckung in seinem Gesichte geschrieben, doch sagte er nichts.

»Ich dachte an Dich«, fuhr Allan fort, »sowie die beiden Pedgifts und ich ein Glas auf unsere freundschaftliche Verbindung getrunken hatten, den vortrefflichsten Sherry, den ich in meinem ganzen Leben gekostet habe; ich habe mir eine Quantität von derselben Sorte bestellt, doch darum handelt es sich jetzt nicht. In zwei Worten erzählte ich diesen beiden würdigen Burschen Deine Schwierigkeit, und in zwei Secunden hatte der alte Pedgift die ganze Geschichte begriffen. »Ich habe den Mann in meiner Expedition«, sagte er, »und will ihn, ehe der Zahltag herankommt, mit Vergnügen zu Ihrer Verfügung stellen.«

Bei dieser letzten Ankündigung gab Midwinter seinem Mißtrauen in Worten Ausdruck. Er fragte Allan schonungslos aus. Der Name des Mannes war, wie sich ergab, Bashwoot Er war einige Zeit —— Allan erinnerte sich nicht, wie lange in Mr. Pedgift’s Diensten gewesen. Vorher hatte er bei einem Herrn in Norfolk, dessen Namen Allan vergessen, im westlichen Districte der Grafschaft, eine Verwalterstelle innegehabt, die er aber in Folge gewisser Familienverhältnisse wieder verloren hatte. Pedgift verbürgte sich für ihn und wollte ihn zwei oder drei Tage vor dem Zahltagsdiner nach Thorpe-Ambrose senden. Früher könne er in der Expedition nicht gut entbehrt werden. Es sei unnöthig, sich ferner wegen dieses Gegenstands zu beunruhigen; Pedgift lache über die Idee, daß es irgendwelche Schwierigkeit mit den Pächtern geben könne. Zwei oder drei Tage des Studirens der Verwalterbücher würden Midwinter unter der Leitung eines Manns, der ein praktisches Verständniß der Schae besitze, vollkommen für den Zahltag vorbereiten, und die übrigen Geschäfte könnten bis später warten.

»Hast Du diesen Mr. Bashwood selbst gesehen Allan?« fragte Midwinter, noch immer auf seiner Hut.

»Nein«, erwiderte Allan, »er war auswärts mit dem Actenbeutel, wie der junge Pedgift sich ausdrückte. Sie sagten mir, er sei ein anständiger, ältlicher Mann, zwar ein wenig zerschlagen durch seine Leiden und ein wenig nervös und verwirrt im Wesen, wenn er mit Fremden zu thun hat, aber vollkommen tüchtig und vollkommen zuverlässig —— dies sind Pedgift’s eigne Worte.«

Midwinter schwieg und überlegte ein wenig, da er ein neues Interesse an dem Gegenstande fand. Der fremde Mann, den er soeben hatte beschreiben hören, und der fremde Mann, den er an der Stelle, wo die drei Wege zusammenliefen, getroffen, hatten eine seltsame Aehnlichkeit mit einander. War dies etwa ein abermaliges Glied in der immer länger werdenden Kette von Ereignissen? Midwinter war entschlossen nur um so mehr behutsam zu sein, als ihn der Zweifel, daß dies der Fall sein könne, beschlich.

»Willst Du mir erlauben, wenn Mr. Bashwood kommt, ihn zu sehen und zu sprechen, ehe irgendetwas bestimmt wird?« fragte er.

»Das versteht sich!« erwiderte Allan. Er schwieg und sah auf seine Uhr. »Und ich will Dir sagen, was ich inzwischen für Dich thun will, alter Junge«, fügte er hinzu, »ich will Dich dem hübschesten Mädchen in ganz Norfolk vorstellen! ist noch grade Zeit, vor Tische nach dem Parkhäuschen zu laufen. Komm mit und laß Dich Miß Milroy vorstellen.«

»Das wird für heute nicht möglich sein«, entgegnete Midwinter und richtete ihm dann die Entschuldigung aus, die am Nachmittage vom Major eingetroffen war. Allan war erstaunt und fühlte sich enttäuscht, doch war er nicht von seinem Entschlusse abzubringen, sich bei den Bewohnern des Parkhäuschens in Gunst zu setzen. Nachdem er ein wenig nachgesonnen, fiel ihm ein Mittel ein, von den gegenwärtigen ungünstigen Verhältnissen guten Gebrauch zu machen. »Ich will eine schickliche Besorgniß für Mrs. Milroy’s Genesung an den Tag legen«, sagte er ernst, »morgen früh werde ich ihr mit meiner besten Empfehlung einen Korb mit Erdbeeren senden.«

Der Tag ging zu Ende, ohne daß noch etwas Bemerkenswerthes vorfiel.

Das einzige bemerkenswerthe Ereigniß des folgenden Tags war eine abermalige Offenbarung von Mrs. Milroy’s krankhafter, böser Laune. Eine halbe Stunde später. nachdem Allan? Korb mit Erdbeeren im Parkhäuschen abgegeben worden, ward ihm derselbe mit einer kurzen und bissigen Bestellung, die von der Krankenwärterin der Mrs. Milroy in kurzer und bissiger Manier ausgerichtet wurde, unangerührt wieder zurückgebracht. »Mrs. Milroy’s Empfehlung und sie lasse sich bedanken. Erdbeeren bekämen ihr nie.« Falls diese merkwürdig gereizte Anerkennung einer Höflichkeit Allan hatte ärgern sollen, so erreichte dieselbe durchaus nicht ihren Zweck. Anstatt sich durch die Mutter beleidigt zu fühlen, drückte er seine Theilnahme für die Tochter aus. »Das arme kleine Wesen«, war alles, was er sagte, dachte aber dabei: »Sie muß mit einer solchen Mutter ein hartes Leben führen!«

Später am Tage machte er selbst einen Besuch im Häuschen, doch konnte er Miß Milroy nicht sehn. Sie war oben beschäftigt Der Major empfing seinen Besuch in seiner Arbeitsschürze, weit tiefer in seine wunderbare Uhr versunken und allen äußern Eindrücken weit unzugänglicher, als Allan ihn bei der ersten Zusammenkunft gefunden hatte. Sein Benehmen war ebenso herzlich wie zuvor, doch war kein Wort weiter über seine Gemahlin aus ihm herauszubringen, als daß, wie er sich ausdrückte, Mrs. Milroy’s Befinden sich seit gestern nicht gebessert habe.

Die beiden nächsten Tage vergingen ruhig und ohne alle Ereignisse Allan beharrte dabei, seine Nachfragen im Parkhäuschen fortzusetzen, doch alles, was er von der Tochter des Majors sah, beschränkte sich darauf, daß sie für einen einzigen kurzen Augenblick am Fenster der oberen Etage sichtbar ward. Man hörte nichts weiter von Mr. Pedgift, und Mr. Bashwood’s Ankunft verzögerte sich noch. Midwinter weigerte sich, irgendetwas in der Sache zu unternehmen, bis hinlängliche Zeit verstrichen sei, daß er eine Antwort auf den Brief haben konnte, den er am Abend seiner Ankunft in Thorpe-Ambrose an Mr. Brock geschrieben. Er war ungewöhnlich still und schweigsam, und brachte den größern Theil der Zeit in der Bibliothek unter den Büchern zu. Die Zeit verging langsam. Die ansässigen Gutsherrschaften erwiderten Allan’s Besuche, indem sie aufs förmlichste ihre Karten abgaben. Darauf kam Niemand mehr dem Hause nahe. Das Wetter war einen Tag so schön wie den andern. Allan wurde ein wenig unruhig und unzufrieden. Er fing an, Mrs. Milroy’s Krankheit übel zu nehmen und mit Bedauern an seine verlassene Jacht zu denken.

Der nächste Tag, der zwanzigste des Monats, brachte einiges Neue aus der Außenwelt. Mr. Pedgift ließ sagen, daß sein Schreiber Mr. Bashwood, sich am folgenden Tage in Thorpe-Ambrose einstellen werde, und Midwinter erhielt eine Antwort auf seinen Brief an Mr. Brock.

Der Brief war vom achtzehnten datiert, und der Inhalt desselben heiterte nicht nur Allan, sondern auch Midwinter auf. Mr. Brock kündigte ihnen an, daß er an dem Tage, an dem er schreibe, nach London zu reisen im Begriff sei, wohin er im Interesse eines kranken Anverwandten beschieden worden, dessen Curator er war. Nachdem er diese Geschäfte abgethan, habe er gute Hoffnung, irgendeinen seiner Freunde unter der Geistlichkeit in London bereit zu finden, sein Amt für ihn zu verrichten, und in diesem Falle hoffe er, innerhalb einer Woche oder schon früher von London nach Thorpe-Ambrose reisen zu können. Unter diesen Umständen wolle er den größern Theil der von Midwinter beregten Gegenstände aufsparen, bis sie einander sahen. Da jedoch in Bezug auf die Verwalterstelle in Thorpe-Ambrose die Zeit von Wichtigkeit sein dürfe, wolle er hiermit sogleich sagen, daß er keinen Grund sehe, weshalb Midwinter nicht versuchen sollte, sich mit den Verwalterpflichten vertraut zu machen, und warum es ihm nicht gelingen sollte, seinem Freunde in dieser Stellung unschätzbare Dienste zu leisten.

Während Midwinter zu Hause blieb, um den ermuthigenden Brief des Pfarrers immer und immer wieder mit einer Aufmerksamkeit durchzulesen, als sei ihm daran gelegen, jedes Wort desselben auswendig zu lernen, ging Allan etwas früher als gewöhnlich aus, um seine tägliche Nachfrage im Häuschen zu machen, oder, mit andern Worten, um einen vierten Versuch zu machen, seine Bekanntschaft mit Miß Milroy fortzusetzen. Der Tag hatte in ermuthigender Weise begonnen und schien bestimmt, auch in dieser Weise fortzufahren. Als Allan um die Ecke des zweiten Gebüsches bog und in das kleine Gehege eintrat, in dem er Miß Milroy zum ersten Male begegnet war, fand er dort Miß Milroy vor, welche langsam auf dem Rasenplatze auf und ab ging, dem Anscheine nach Jemanden erwartend.

Sie erschrak ein wenig, als sie Allan erblickte, kam ihm jedoch ohne Zögern entgegen. Sie erschien einigermaßen verändert, aber nicht zu ihrem Vortheil. Ihre rosige Farbe hatte durch die Einsperrung im Hause gelitten, und ein markierter Ausdruck der Verlegenheit umwölkte ihr hübsches Gesicht.

»Ich weiß kaum, wie, ich es bekennen soll, Mr. Armadale«, sagte sie hastig, ehe Allan noch ein Wort herauszubringen im Stande war, »aber ich kam allerdings heute Morgen in der Hoffnung hierher, Sie zu treffen. Ich bin sehr bekümmert gewesen; ich habe nur soeben erst, und zwar durch Zufall, etwas von der Art und Weise erfahren, in der die Mama das Geschenk von Obst aufgenommen hat, das Sie ihr zu senden die Güte hatten. Wollen Sie versuchen, sie zu entschuldigen? Sie ist seit Jahren außerordentlich leidend gewesen und kennt sich nicht immer. Nachdem Sie so sehr freundlich gegen mich und den Papa gewesen, konnte ich wirklich nicht umhin, dem Hause zu entschlüpfen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken. Bitte, vergeben und vergessen Sie, Mr. Armadale, ich bitte Sie!« Ihre Stimme bebte bei diesen letzten Worten, und in ihrem Eifer, seine Verzeihung für ihre Mutter zu erlangen, legte sie ihre Hand auf seinen Arm.

Allan war selbst ein wenig verlegen. Ihr Ernst überraschte ihn, und ihre sichtliche Ueberzeugung, daß er sich beleidigt gefühlt, verursachte ihm aufrichtiges Bedauern. Da er nicht wußte, was er thun solle, folgte er seinem Instincte und nahm ihre Hand.

»Meine liebe Miß Milroy, wenn Sie noch ein Wort darüber sagen, werden Sie mich betrüben«, erwiderte er, indem er in der Verwirrung des Augenblicks unbewußt ihre Hand immer fester und fester in der seinigen drückte. »Ich fühlte mich keinen Augenblick im mindesten beleidigt; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich es auf Mrs. Milroy’s Krankheit schob. Beleidigt!« rief Allan, mit Energie zu seiner alten Manier zurückkehrend. »Ich ließe mir gern tagtäglich meinen Obstkorb zurücksenden, wenn ich nur die Gewißheit hätte, daß dies Sie stets am nächsten Morgen ins Gehege hinaus bringen würde.«

Ein Theil der entflohenen Farbe kehrte wieder in Miß Milroy’s Wangen zurück. »O Mr. Armadale, Ihre Güte ist in der That unbegrenzt«, sagte sie; »Sie können sich keine Vorstellung machen, wie sehr Sie mir das Herz erleichtert haben!« Sie schwieg, ihre frohe Stimmung hatte sich mit einer Schnelligkeit wiedergefunden, als wäre sie ein Kind, und ihre angeborene Heiterkeit funkelte wieder in ihren Augen, wie sie schüchtern lächelnd zu Allan’s Gesicht aufschaute. »Sind Sie nicht der Ansicht«, fragte sie sittsam, »daß es fast Zeit ist, meine Hand loszulassen?«

Ihre Blicke begegneten sich. Allan folgte zum zweiten Male seinem Instincte Anstatt ihre Hand loszulassen, erhob er dieselbe zu seinen Lippen und küßte sie. In einem Augenblicke blühte wieder die ganze entschwundene Rosenfarbe in Miß Milroy’s Gesicht. Sie entriß Allan ihre Hand, wie wenn er sie verbrannt hätte.

»Ich bin überzeugt, daß das unrecht ist, Mr. Armadale«, sagte sie, und wandte schnell den Kopf ab, denn sie lächelte wider Willen.

»Ich beabsichtigte, mich dadurch dafür zu entschuldigen, daß ich Ihre Hand zu lange festgehalten«, stammelte Allan. »Eine Entschuldigung kann doch nicht unrecht sein, wie?«

Es gibt Gelegenheiten, obwohl nicht viele, wo der weibliche Geist genau die Macht der reinen Vernunft zu schätzen im Stande ist. Die gegenwärtige Gelegenheit war eine solche. Es war Miß Milroy eine abstracte Proposition vorgelegt worden, und sie war überzeugt. Wenn es als eine Entschuldigung habe gelten sollen, so sei dies etwas andres, gab sie zu. »Ich hoffe nur«, sagte die kleine Kokette, ihn schlau anblickend, »daß Sie mich nicht hintergehen. Nicht, daß dies jetzt viel zu bedeuten hätte«, fügte sie mit einem ernsten Kopfschütteln hinzu; »haben wir wirklich etwas Unpassendes gethan, Mr. Armadale, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach keine fernere Gelegenheit haben, dasselbe zu wiederholen.«

»Sie gehen doch nicht fort?« rief Allan in großer Bestürzung.

»Schlimmer als das, Mr. Armadale, meine neue Gouvernante kommt.«

»Kommt?« wiederholte Allan »Kommt bereits?«

»Es ist so gut wie gewiß. Wir erhielten heute Morgen die Antworten auf unsere Annonce. Der Papa und ich öffneten dieselben und lasen sie zusammen, und wir wählten beide denselben Brief unter allen übrigen heraus. Ich wählte denselben, weil er so hübsch geschrieben war, und der Papa wählte ihn, weil die Forderungen so mäßig waren. Er wird den Brief heute an die Großmama in London senden, und falls sie auf Erkundigung Alles befriedigend findet, soll die Gouvernante genommen werden. Sie können sich nicht denken, wie ängstlich mir bereits zu Muthe ist, eine fremde Gouvernante ist eine so schreckliche Aussicht. Aber es ist nicht ganz so schlimm wie eine Pension, und ich setze große Hoffnung in diese neue Dame, da sie einen so hübschen Brief schreibt. Derselbe söhnt mich fast, wie ich schon zum Papa sagte, mit ihrem abscheulichen unromantischen Namen aus.«

»Was ist ihr Name?« fragte Allan »Brown? Grubb? Scraggt? Irgendetwas der Art?«

»O still, still! Nicht ganz so entsetzlich Ihr Name ist Gwilt. Fürchterlich unpoetisch, nicht wahr? Die Dame, die sie empfiehlt, muß indessen eine achtbare Person sein, denn sie wohnt in demselben Theile von London, in dem die Großmama wohnt. Halt, Mr. Armadale, wir gehen den verkehrten Weg. Nein, ich kann heute Morgen nicht bleiben, um Ihre reizenden Blumen anzuschauen —— und —— danke sehr —— ich kann Ihren Arm nicht annehmen. Ich habe mich hier bereits zu lange aufgehalten. Der Papa wartet auf sein Frühstück, und ich muß den ganzen Weg zurück laufen. Ich danke Ihnen, daß Sie die Mama so gütig entschuldigt haben, danke, noch einmal und noch einmal, und jetzt adieu!«

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte Allan.

Sie reichte ihm die Hand. »Keine Entschuldigungen mehr, wenn ich bitten darf, Mr. Armadale«, sagte sie schelmisch Ihre Blicke begegneten sich abermals, und die kleine weiche Hand fand abermals den Weg zu Allan’s Lippen. »Es ist diesmal keine Entschuldigung!« rief Allan, sich eiligst vertheidigend. »Es —— es ist ein Zeichen meiner Hochachtung.«

Sie trat ein paar Schritte zurück und brach in ein helles Lachen aus. »Sie werden mich nicht wieder in Ihren Anlagen sehen, Mr. Armadale«, sagte sie fröhlich, »bis ich mich unter Miß Gwilt’s Schutze befinde!« Mit diesem Lebewohl lief sie, so schnell sie konnte, durch das Gehege zurück.

Allan stand still und beobachtete sie mit stummer Bewunderung, bis sie nicht mehr zu sehen war. Seine zweite Zusammenkunft mit Miß Milroy hatte einen erstaunlichen Eindruck auf ihn gemacht. Zum ersten Male, seit er Besitzer von Thorpe-Ambrose geworden, war er in ernstliche Betrachtungen über das, was er seiner neuen Stellung schuldig war, versunken. »Es fragt sich«, dachte Allan, »ob ich nicht am besten mit meinen Nachbarn Friede machen werde, indem ich mich verheirathe. Ich will mir diesen ganzen Tag zum Ueberlegen nehmen, und falls ich desselben Sinnes bleibe, will ich morgen früh Midwinter darüber zu Rathe ziehen.«

Als der Morgen kam und Allan ins Frühstückszimmer hinunterging, entschlossen, seinen Freund über die Verpflichtungen zu Rathe zu ziehen, die er gegen seine Nachbarn im Allgemeinen und gegen Miß Milroy im Besonderen habe, war kein Midwinter zu sehen. Als er sich nach ihm erkundigte, hieß es, daß man ihn in der Hausflur gesehen und daß er einen Brief vom Tische genommen habe, den die Morgenpost für ihn gebracht und mit welchem er augenblicklich nach seinem Zimmer zurückgekehrt sei. Allan ging sofort wieder die Treppe hinauf und klopfte an die Thür seines Freundes.

»Darf ich eintreten?« fragte er.

»Nicht eben jetzt«, war die Antwort.

»Du hast einen Brief erhalten, nicht wahr?« fuhr Allan fort. »Doch keine schlimmen Nachrichten? Es ist doch nichts passiert?«

»Nichts. Ich bin heute Morgen nicht ganz wohl. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich; ich will herunterkommen, sobald es mir möglich ist.«

Es ward von beiden Seiten nichts weiter gesprochen. Allan kehrte ein wenig enttäuscht nach dem Frühstückszimmer zurück. Er hatte sich darauf gefreut, sich über Hals und Kopf in eine Berathschlagung mit Midwinter zu stürzen, und jetzt war diese Berathschlagung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. »Welch ein seltsamer Bursch er ist!« dachte Allan. »Was in aller Welt kann er dort, allein in seinem Zimmer eingeschlossen, Vorhaben?«

Er hatte nichts vor, sondern saß am Fenster und hielt den Brief, den er am Morgen erhalten, offen in der Hand. Derselbe war von Mr. Brocks Hand und lautete wie folgt:

»Mein lieber Midwinter!

Ich habe wörtlich nur zwei Minuten Zeit, um Ihnen vor Abgang der Post mitzutheilen, daß ich soeben in den Kensington —— Gärten der Frau begegnet bin, die uns bis jetzt nur als die Frau im rothen, gewirkten Shawl bekannt ist. Ich bin ihr und ihrer Gefährtin —— einer respektablen ältlichen Dame —— bis nach ihrer Wohnung gefolgt, nachdem ich sie zweimal deutlich Allan’s Namen hatte aussprechen hören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich die Frau nicht aus den Augen verlieren werde, bis ich mich überzeugt habe, daß sie kein Unheil in Thorpe-Ambrose anzustiften im Sinne hat, und erwarten Sie, wieder von mir zu hören, sobald ich weiß, wie diese seltsame Entdeckung enden soll.

Aufrichtig der Ihre

Decimuis Brock.«

Nachdem Midwinter den Brief zum zweiten Male durchgelesen, faltete er denselben nachdenklich zusammen und legte ihn zu dem Berichte von Allan’s Traume in sein Taschenbuch.

»Ihre Entdeckung wird nicht dort bei Ihnen enden, Mr. Brock«, sagte er. »Sie mögen mit der Frau thun, was Sie wollen; wenn der Augenblick kommt, wird die Frau hier sein.«

Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, daß er sich hinlänglich wieder gefaßt habe, um Allan’s Blicken zu begegnen, und so ging er hinunter, um seinen Platz am Frühstückstische einzunehmen.



Kapiteltrenner

Erstes Kapitel.

Von Mrs. Oldershaw (Diana Street, Pimlico)
an Miß Gwilt (West Place Alt Brompton).
»Modenmagazin,

den 20. Juni Abends 8 Uhr.

»Meine liebe Lydia!

Es sind, wenn ich nicht irre, etwa drei Stunden vergangen, seit ich Dich ohne große Ceremonie in mein Haus in West Place hineinstieß und nachdem ich Dir blos gesagt, zu warten, bis Du mich wiedersehen würdest, die Thür zwischen uns zuschlug und Dich im Flur allein stehen ließ. Ich kenne Deine empfindliche Natur und fürchte, Du müssest nachgerade zu der Ansicht gelangt sein, daß noch nie einem Gaste von seiner Wirthin eine so schmachvolle Behandlung geboten ward, wie sie Dir von mir zu Theil geworden.

Das Hinderniß, welches mich abhielt, Dir mein seltsames Benehmen zu erklären, ist, das glaube mir, indessen nicht mir zur Last zu legen. Es hatte sich, wie ich seitdem entdeckt, heute Nachmittag, als wir in den Kensingtongärten Luft schnappten, eine jener mannigfachen zarten kleinen Schwierigkeiten erhoben, die von einem so wesentlich geheimen Geschäfte, wie das meinige, unzertrennlich sind. Ich sehe keine Möglichkeit, früher als in einigen Stunden zu Dir zurückzukehren, und habe Dir ein Wort sehr dringender Warnung zukommen zu lassen, das schon zu lange verschoben worden ist. Deshalb muß ich die freien Augenblicke benutzen, wie sie sich mir eben bieten, und Dir schreiben.

Warnung Nummer eins. Wage Dich heute Abend auf keinen Fall wieder aus dem Hause und vermeide sorgfältig, Dich, so lange es hell ist, an den Fenstern der Vorderfronte sehen zu lassen. Ich habe Grund zu fürchten, daß eine gewisse reizende Person, die augenblicklich mein Gast ist, beobachtet wird. Beunruhige Dich nicht und werde nicht ungeduldig. Du sollst erfahren, warum.

Ich kann mich nur deutlich machen, indem ich auf unser unglückseliges Zusammentreffen mit jenem ehrwürdigen Herrn zurückkomme, der die Güte hatte, uns aus den Gärten nach meinem Hause zu folgen.

Als wir uns eben der Hausthür näherten, kam mir plötzlich der Gedanke, daß der Eifer, mit dem uns der geistliche Herr auf dem Fuße nachfolgte, einen Beweggrund haben möchte, der seinem Geschmacke vielleicht weit weniger Ehre machte und zugleich uns beiden weit gefährlicher werden könnte als das Motiv, welches Du seiner Begleitung unterlegtest. In klareren Worten, Lydia, ich bezweifelte, daß Du in ihm einen neuen Bewunderer gefunden habest, hegte vielmehr den starken Verdacht, daß Du statt dessen auf einen neuen Feind gestoßen seiest. Es war keine Zeit, Dir dies zu sagen, es war blos Zeit, Dich wohlbehalten nach Hause zu bringen und mich dann des Predigers zu versichern, falls mein Argwohn begründet, indem ich ihm anthat, was er uns angethan, das heißt,meinerseits ihm nachging.

Ich blieb anfangs etwas hinter ihm zurück, um mir die Sache zu überlegen und die Genugthuung zu gewinnen, daß meine Zweifel mich nicht irreleiteten. Wir haben keine Geheimnisse vor einander, und Du sollst wissen, was für Zweifel dies waren. Ich war nicht überrascht, daß Du ihn wieder erkanntest, denn er ist durchaus kein gewöhnlich aussehender alter Mann, und Du hattest ihn zweimal in Sommersetshire gesehen, einmal, als Du ihn nach dem Wege zu Mrs. Armadale’s Hause fragtest, und das zweite Mal auf Deinem Rückwege nach der Eisenbahn. Aber ich konnte mir nicht gleich erklären, wie er Dich wieder erkannte, da Du sowohl bei jenen beiden Begegnungen wie auch heute in den Kensingtongärten den Schleier niedergelassen hattest. Ich zweifelte, daß er sich Deiner Gestalt, die er nur in Winterkleidung gesehen, in Sommerkleidung zu erinnern im Stande gewesen; und obgleich wir im Gespräch waren, als er uns begegnete, und Deine Stimme einen Deiner zahlreichen Reize ausmacht, schien mir es doch sehr unwahrscheinlich, daß ihm Deine Stimme noch erinnerlich sei. Und dennoch war ich überzeugt, daß er Dich erkannt hatte. »Warum?" wirst Du fragen. Meine Liebste, das Unglück wollte, daß wir in dem Augenblicke gerade vom jungen Armadale sprachen. Ich glaube fast, daß der Name das Erste war, das ihm auffiel, und als er diesen hörte, mag sicher Deine Stimme und vielleicht auch Deine Gestalt in seinem Gedächtnisse aufgetaucht sein. »Und was dann?« wirst Du sagen. Denke ein wenig nach, Lydia, und sage mir, ob es Dich nicht wahrscheinlich dünkt, daß der Pfarrer des Orts, wo Mrs. Armadale wohnte,zugleich Mrs. Armadale’s Freund war? War er ihr Freund, so war er als Ortsgeistlicher und als Magistratsherr, wie der Wirth des Gasthauses ihn Dir bezeichnete, auch die allererste Person, bei dem sie sich Rath geholt haben wird, nachdem Du ihr einen solchen Schreck eingejagt und nach den höchst unüberlegten Andeutungen, die Du fallen ließest, daß Du Dich in der Sache an ihren Sohn wenden wollest.

Jetzt wirst Du begreifen, warum ich Dich in so außerordentlich unhöflicher Manier verließ, und ich darf daher zu dem übergehen, was sich demnächst ereignete.

Ich folgte dem alten Herrn, bis er in eine stille Straße einbog, und redete ihn mit der Ehrfurcht vor der heiligen Kirche an, die, wie ich mir schmeichle, in jedem Zuge meines Gesichts sich ausprägt.

»Wollen Sie mich entschuldigen«, sagte ich, »wenn ich Sie zu fragen wage, Sir, ob Sie die Dame erkannt haben, die mich begleitete, als Sie uns in den Gärten begegneten?«

»Wollen Sie mich entschuldigen, Madame, wenn ich wissen möchte, warum Sie diese Frage an mich richten?« war die ganze Antwort, die ich erhielt.

»Ich will Ihnen dies zu erklären versuchen, Sir,« sagte ich. »Wenn meine Freundin Ihnen nicht völlig fremd ist, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen zarten Gegenstand lenken, der mit einer verstorbenen Dame und ihrem sie Überlebenden Sohne im engen Zusammenhange steht.«

Er war verblüfft, das konnte ich sehen. Er war aber zugleich schlau genug; um den Mund zu halten, bis ich etwas mehr gesagt haben würde.

»Wenn ich mich in der Annahme irren sollte, daß Sie meine Freundin erkannt haben, Sir«, fuhr ich fort, »so bitte ich Sie um Entschuldigung. Aber ich konnte es kaum für möglich halten, daß ein Herr Ihres Standes einer Dame nach ihrer Wohnung folgen würde, die ihm völlig fremd wäre.«

Damit packte ich ihn. Er wurde glutroth —— denke Dir, in seinem Alter! —— und gestand, um seinen guten Namen zu retten, die Wahrheit.

»Ich bin der Dame schon früher einmal begegnet, und ich gestehe, daß ich sie in den Gärten wiedererkannte«, sagte er. »Sie werden mich entschuldigen, wenn ich ablehne, über die Frage ob ich ihr absichtlich folgte oder nicht, weiter zu discutiren. Wenn Sie sich überzeugen wollten, ob Ihre Freundin mir nicht völlig fremd ist, so haben Sie jetzt diese Ueberzeugung, und wenn Sie mir irgend etwas Besonderes mitzutheilen haben, gebe ich Ihnen die Entscheidung anheim, ob der Augenblick dazu gekommen ist.«

Er wartete und sah sich um. Ich wartete ebenfalls und sah mich auch um. Er sagte, die Straße sei kaum ein passender Ort, eine so zarte Angelegenheit zu verhandeln. Ich sagte dasselbe. Er erbot sich nicht, mich nach seiner Wohnung mitzunehmen, ich offerierte ihm nicht, ihn nach meiner zu führen. Hast Du je ein Paar fremde Katzen sich aus den Dachziegeln gegenüber stehen sehen, meine Liebe? Ist dies der Fall gewesen, so hast Du damit ein sprechendes Bild von mir und dem Pfarrer gesehen.

»Nun, Madame, sagte er endlich, »sollen wir den Umständen zum Trotz unsere Unterhaltung fortsetzen?«

»Ja, Sir«, sagte ich, »wir sind glücklicherweise beide von einem Alter, das uns den Umständen Trotz zu bieten erlaubt.« Ich hatte bemerkt, wie das alte Scheusal einen Blick auf mein graues Haar warf, um sich zu überzeugen, daß sein Ruf ungefährdet blieb, wenn er mit mir zusammen gesehen würde.«

Nach all diesem Knarren und Schnappen kamen wir endlich zur Sache. Ich machte den Anfang, indem ich ihm sagte, sein Interesse an Dir scheine mir leider nicht von freundschaftlicher Beschaffenheit zu sein. So viel gab er zu, natürlich abermals zur Wahrung seines Charakters. Darauf wiederholte ich ihm alles, was Du mir über Dein Thun und Treiben in Sommersetshire erzähltest, als wir zuerst gewahr wurden, daß er uns folgte. Erschrick nicht, Liebste, ich that es grundsätzlich. Wenn Du den Leuten eine Schüssel voll Lügen schmackhaft machen willst, so gib ihr stets eine Garnitur von Wahrheit. Also nachdem ich dergestalt an das Vertrauen des ehrwürdigen Herrn appelliert, erklärte ich ihm zunächst, daß Du seit jener Zeit ein ganz andres Geschöpf geworden seiest. Ich rief jenes todte Ungeheuer, Deinen Gemahl, natürlich ohne Namen zu nennen, wieder ins Leben, etablierte ihn, es fiel mir gerade zuerst ein, als Kaufmann in Brasilien und erwähnte einen von ihm geschriebenen Brief, in dem er seiner fehlenden Gattin Verzeihung angetragen, falls sie bereuen und zu ihm zurückkehren wolle. Ich gab dem Prediger die Versicherung, daß das edle Benehmen Deines Mannes Deine halsstarrige Natur erweicht; und da, als ich den richtigen Eindruck auf ihn gemacht zu haben glaubte, ging ich kühn zum Angriff über. Ich sagte: »Ja demselben Augenblicke; da Sie uns begegneten, Sir, sprach meine unglückliche Freundin eben in Ausdrücken der rührendsten Selbstanklage von ihrem Benehmen gegen die verstorbene Mrs. Armadale Sie bekannte mir ihr dringendes Verlangen, dasselbe wo möglich gegen Mrs. Armadale’s Sohn wieder gut zu machen; und auf ihre Bitte —— denn sie kann es nicht über sich gewinnen, Ihnen selber gegenüber zu treten —— erlaube ich mir jetzt zu fragen, ob Mr. Armadale noch in Sommersetshire ist und ob er darein willigen würde, sich in kleinen Abzahlungen die Summe von ihr zurückerstatten zu lassen, die sie durch Einschüchterung von Mrs. Armadale erlangt zu haben zugibt. Dies waren genau meine Worte. Eine hübschere Geschichte, die Alles so schön erklärt, ist nie erzählt worden; es war eine Geschichte, die einen Stein hätte rühren können. Aber dieser Sommersetshirer Pfarrer ist noch härter als Stein. Ich erröthe für ihn, meine Liebe, indem ich Dir versichere, daß er offenbar gefühllos genug war, kein Wort von alledem zu glauben, was ich ihm von Deiner Besserung, von Deinem Gatten in Brasilien und von Deinem reuigen Verlangen, das Geld zurückzuzahlen, erzählte. Es ist wirklich eine Schmach, daß ein solcher Mann der Kirche angehört; eine Verschlagenheit, wie die seinige, ist im höchsten Grade unpassend für ein Mitglied seines heiligen Berufes.

»Beabsichtigt Ihre Freundin, mit dem nächsten Dampfboote zu ihrem Gatten zurückzukehren?« war alles, was er zu sagen sich herabließ, nachdem ich meine Erzählung geendigt hatte.

Ich gestehe, daß ich in Zorn gerieth. Ich fuhr ihn an und sagte: »Ja, allerdings.«

»Ja welcher Weise soll ich mit ihr verhandeln?« fragte er.

Ich fuhr ihn abermals an: »Brieflich durch mich.«

»Und Ihre Adresse, Madame?«

Da hatte ich ihn von neuem. »Sie haben selbst meine Adresse ausfindig gemacht, Sir«, sagte ich. »Das Adreßbuch wird Ihnen meinen Namen sagen, wenn Sie diesen ebenfalls selbst ausfindig machen wollen; andernfalls steht Ihnen mit Vergnügen meine Karte zu Diensten.«

»Verbindlichsten Dank, Madame. Wenn Ihre Freundin sich mit Mr. Armadale in Unterhandlung zu setzen wünscht, so will ich Ihnen meinerseits meine Karte zukommen lassen.«

»Ich danke Ihnen, Sir.«

»Ich danke Ihnen, Madame«

»Guten Tag, Sir.«

»Guten Tag, Madame«

So trennten wir uns. Ich ging meines Wegs nach meinem Geschäftshause, wo ich erwartet wurde, und er schlug den seinigen in großer Eile ein, was an sich sehr verdächtig ist. Was ich indessen nicht überwinden kann, ist seine Herzlosigkeit. Der Himmel sei den Leuten gnädig, die auf ihrem Sterbebette bei ihm Trost suchen!

Die nächste Frage ist die: was sollen wir anfangen? Wenn wir nicht die rechten Mittel und Wege finden, dieses alte Ungeheuer im Dunkel zu erhalten, so kann er vielleicht in Thorpe-Ambrose unser Verderben werden, gerade im Augenblicke, wo wir unser Ziel mit Händen greifen können. Bleibe auf, bis ich zu Dir komme, hoffentlich mit leichtem Herzen in Bezug auf jene andre Verlegenheit, die mich hier ärgert. Hat es je ein solches Pech gegeben wie unseres? Das; dieser Mann seine Gemeinde im Stich lassen und gerade in dem Moment nach London kommen muß, wo wir auf die Annonce geantwortet haben und nächste Woche die Erkundigung erwarten dürfen! Ich habe keine Nachsicht mit —— sein Bischof sollte sich ins Mittel schlagen.

»Herzlichst die Deine

Maria Oldershaw.«

Von Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»West Place, den 20. Juni.

Mein armes, liebes, altes Geschöpf!

Wie wenig Du meine empfindliche Natur kennst, wie Du sie nennst! Anstatt mich beleidigt zu fühlen, als Du mich verließest, ging ich an Dein Clavier und vergaß Dich und alles, was Dich betrifft, vollständig, bis Dein Bote erschien. Dein Brief war unwiderstehlich; ich habe darüber gelacht, bis ich ganz außer Athem war. Von allen lächerlichen Geschichten, die ich je gelesen, ist die, welche Du dem Sommersetshirer Pfarrer auftischtest, die lächerlichste. Und was Deine Straßenunterhaltung mit ihm anlangt, so wäre es geradezu Sünde, dieselbe für uns zu behalten. Sie sollte wirklich in Gestalt einer Theaterposse dem Publikum zu Gute kommen.

Zum Glück für uns beide (um auf ernste Dinge zu kommen) ist Dein Bote ein vorsichtiger Mensch. Er schickte zu mir hinauf, um fragen zu lassen, ob er Antwort mitbekäme. Inmitten meiner Heiterkeit hatte ich noch Geistesgegenwart genug, ihm »Ja« hinunter sagen zu lassen.

Irgend ein Scheusal von einem Manne sagt in einem Buche, das ich einst gelesen, kein Weib könne jemals zwei getrennte Gedankengänge zugleich in ihrem Geiste verfolgen. Du hast mich fast überzeugt, daß der Mann recht hat. Wie, nachdem Du unbemerkt nach Deinem Geschäftslokale entkommen bist und Verdacht hast, daß dieses Haus beobachtet wird, da willst Du hierher zurückkommen und es dadurch dem Prediger möglich machen, Deine verlorene Spur wiederzufinden? Welche Tollheit! Bleib’, wo Du bist, und wenn Du Deine Schwierigkeit in Pimlico überwunden (natürlich irgend eine Weiberangelegenheit; wie unausstehlich diese Weiber sind!), dann sei so gut und lies, was ich über unsere Schwierigkeit in Brompton zu sagen habe.

Erstens also wird das Haus, wie Du vermuthest, beobachtet. Eine halbe Stunde, nachdem Du mich verlassen, ward ich durch laute Stimmen auf der Straße im Clavier spielen gestört, ich trat ans Fenster. Vor dem Hause gegenüber, wo möblierte Zimmer vermiethet werden, hielt ein Fiaker, und ein alter Mann, der wie ein anständiger Diener aussah, stritt sich mit dem Kutscher wegen des Fahrlohns. Ein ältlicher Herr kam aus dem Hause und endete ihren Zank. Ein ältlicher Herr kehrte in das Haus zurück und erschien behutsam am Fenster des Vorderzimmers im ersten Stock. Du kennst ihn, Du würdiges Wesen, er legte vor wenigen Stunden den schlechten Geschmack an den Tag, zu zweifeln, ob Du ihm die Wahrheit sagtest. Sei ohne Sorgen, er hat mich nicht gesehen. Als er aufblickte, nachdem er den Fiakerkutscher abgelohnt hatte, steckte ich hinter dem Fenstervorhange Ich habe mich seitdem noch zwei- oder dreimal dahinter verborgen und genug gesehen, um versichert zu sein, daß er und sein Diener einander am Fenster ablösen werden, damit sie Dein Haus hier Tag und Nacht keinen Augenblick aus den Augen verlieren. Daß der Pfarrer den wirklichen Sachverhalt argwöhnen sollte, ist natürlich unmöglich. Daß er aber fest überzeugt ist, ich führe Uebles gegen den jungen Armadale im Schilde, und daß Du ihn in dieser Ansicht bestärkt hast, ist so klar, wie das Factum, daß zweimal zwei vier machen. Und dies hat sich, wie Du mich mitleidslos erinnerst, gerade in dem Augenblicke ereignen müssen, wo wir die Annonce beantwortet haben und in wenigen Tagen die Erkundigungen des Majors erwarten dürfen.

Wahrhaftig, das ist eine fürchterliche Situation für zwei Frauen, nicht wahr? Narrenspossen, mit Deiner Situation! Dank dem, Mutter Oldershaw, was ich Dich kaum drei Stunden vor unserer Begegnung mit dem Pfarrer zu thun zwang, gib’s für uns einen leichten Ausweg aus dieser Klemme.

Ist Dir unser giftiger kleiner Streit von heute Morgen, nachdem wir des Majors Annonce in der Zeitung entdeckt, schon gänzlich entfallen? Hast Du vergessen, daß ich bei meiner Ansicht beharrte, daß Du in London viel zu bekannt seiest, um mir unter Deinem eigenen Namen als Reverenz dienen zu können, oder, wie Du unklugerweise vorschlugst, eine Dame oder einen Herrn, die Erkundigungen über mich einzuziehen kämen, in Deinem Hause zu empfangen? Erinnerst Du Dich nicht, in welche Wuth Du geriethst, als ich unserem Streit ein Ende machte, indem ich mich bestimmt weigerte, noch einen weiteren Schritt in der Sache zu thun, falls ich meine Bewerbung um die Stelle bei Major Milroy nicht dadurch zum Ziele führen sollte, daß ich ihn an eine Adresse verwiese, wo Du völlig unbekannt seiest, und ihm einen Namen angäbe, der jeder beliebige sein dürfe, so lange es nur nicht der Deinige wäre —— mit welchem Blicke Du mich beschenktest, als Du sahst, wie es keinen andern Weg gab, als daß Du entweder die ganze Speculation fallen oder mir meinen Willen lassen mußtest? —— wie Du über die Wohnungsjagd auf der andern Seite des Parks tobtest und wie Du, im Besitze eines möblierten Quartiers im respectablen Bayswater, über die unnützen Kosten stöhntest, die ich Dir auferlegt? Wie denkst Du jetzt über jene möblierte Wohnung, Du halsstarriges altes Weib? Da sind wir nun vor unserer eigenen Thür mit Entdeckungen bedroht, und ohne alle Aussicht auf ein Einkommen, wenn es uns nicht gelingt, dem Pfarrer im Dunkeln zu entwischen Und dort ist die Wohnung in Bayswater, wo weder Dir noch mir ein neugieriger Fremder auf der Spur ist, vollkommen bereit, uns zu verschlingen, die Wohnung, in der wir aller weiteren Belästigung entgehen und auf die Erkundigungen des Majors in größter Bequemlichkeit antworten können. Kannst Du endlich ein wenig weiter sehen, als Deine arme alte Nase reicht? Braucht Dich irgend etwas in der Welt abzuhalten, heute Abend mit Sicherheit aus Pimlico zu verschwinden und eine halbe Stunde später Dich ebenso in Deiner neuen Wohnung in der Eigenschaft meiner respectabeln Beschützerin zu etablieren? O, pfui, pfui, Mutter Oldershaw! Sinke aus Deine sündhaften alten Kniee nieder und danke Deinen Sternen, daß Du es heute Morgen mit einem Satan, wie ich, zu thun hattest!

Kommen wir jetzt zu der einzigen Schwierigkeit, die des Erwähnens werth ist, meiner Schwierigkeit. Wie soll ich es, beobachtet und bewacht, wie ich in diesem Hause bin, denn anfangen, mich zu Dir zu begeben, ohne den Pfarrer oder dessen Diener mir an den Fersen mitzubringen?

Da ich also in jeder Hinsicht hier gefangen bin, so bleibt mir, wie es scheint, keine andre Wahl, als das alte Fluchtmittel der Gefangenen zu versuchen —— eine Verkleidung. Ich habe mir Dein Stubenmädchen angeschaut. Abgesehen davon, daß wir beide blond, sind ihr Gesicht und Haar dem meinigen so Unähnlich, wie nur möglich. Aber sie ist so ziemlich von meiner Gestalt und Größe und, wenn sie sich nur zu kleiden verstände und kleinere Füße hätte, ihre Figur ist eine weit bessere, als sie für eine Person in ihrer Lebensstellung sein sollte. Meine Idee ist nun die, sie in den Anzug zu kleiden, den ich heute in den Gärten trug, sie auszuschicken und unsern ehrwürdigen Feind in voller Verfolgung hinterher, und sobald die Luft rein ist, selber zu Dir zu entschlüpfen. Es würde dies natürlich gänzlich unmöglich, wenn ich unverschleiert gesehen worden; doch wie die Sachen jetzt liegen, ist es ein Vortheil jener fürchterlichen Bloßstellung, die meiner Heirath folgte, daß ich mich selten öffentlich und in einem so bevölkerten Orte, wie London, nie blicken lasse, ohne einen dichten Schleier zu tragen. Ich sehe denn wirklich nicht ein, warum wir das Stubenmädchen, wenn es meinen Anzug trägt, nicht zu einem sprechend ähnlichen Conterfei meiner Person verwenden könnten!

Die einzige Frage bleibt: darf man dem Frauenzimmer trauen? Ist dies der Fall, so sende mir eine Zeile, in der Du ihr in Deiner Autorität befiehlst, sich mir zur Verfügung zu stellen. Ich will ihr kein Wort darüber sagen, bis ich nicht zuvor von Dir gehört habe.

Laß mich noch heute Abend eine Antwort haben. So lange wir über meinen Plan hinsichtlich der Gouvernantenstelle blos plauderten, war es mir ziemlich gleichgültig wie die Sache ablief. Doch jetzt, wo wir wirklich auf Major Milroy’s Annonce geantwortet haben, nehme ich das Ding endlich ernsthaft. Ich will Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose werden, und wehe dem, Mann oder Weib, der sich mir in den Weg zu stellen wagt!

Die Deine

Lydia Gwilt.

Nachschrift. Ich öffne meinen Brief wieder, um noch hinzuzufügen, daß Du keine Sorge zu haben brauchst, man könne Deinem Boten auf seinem Heimwege nach Pimlico nachgehen. Er will nach einer Schänke fahren, wo er bekannt ist, will da seinen Fiaker entlassen und dann durch eine Hinterthür wieder hinausgehen, die nur vom Wirth und von dessen Freunden benutzt wird. L. G.«

Von Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

Diana Street, 10 Uhr.

Meine liebe Lydia! Du hast mir einen herzlosen Brief geschrieben. Hättest Du Dich in meiner schwierigen Lage befunden, gequält, wie ich war von Aerger aller Art, als ich an Dich schrieb, so hätte ich Nachsicht für meine Freundin gehabt, wenn diese Freundin sich nicht so schlau wie gewöhnlich gezeigt hätte. Aber der Fehler unseres Zeitalters ist ein Mangel an Rücksichten gegen bejahrtere Personen. Dein Gemüth befindet sich in einem traurigen Zustande, meine Beste, und Du brauchst ein gutes Beispiel sehr nöthig. Du sollst ein gutes Beispiel haben —— ich vergebe Dir.

Jetzt, nachdem ich mir durch eine gute Handlung das Herz erleichtert, wie wäre es da, wenn ich Dir zunächst bejahte —— obgleich ich gegen die Gemeinheit des Ausdrucks protestiere, —— daß ich allerdings ein wenig weiter zu sehen im Stande bin, als meine arme alte Nase reicht?

Ich will Deine Frage wegen des Stubenmädchens zuerst beantworten. Du darfst ihr unbedingtes Vertrauen schenken. Sie hat ihre Nöthen gehabt und Discretion gelernt. Außerdem kann sie für so ziemlich von Deinem Alter gelten, obgleich ich ihr nur Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn ich hinzufüge, daß sie in dieser Hinsicht einen Vorzug von mehren Jahren vor Dir besitzt. Ich lege die nothwendigen Instructionen bei, die sie Dir gänzlich zur Verfügung stellen.

Und was kommt dann? Dann kommt Dein Plan zu Deiner Uebersiedlung nach Bayswater. Derselbe ist, so weit er eben reicht, ganz gut, aber er bedarf sehr einiger kleinen Verbesserungen. Es ist höchst nöthig —— und Du sollst sogleich erfahren, warum —— den Pfarrer viel vollständiger zu täuschen, als Du zu thun beabsichtigst Er muß das Gesicht des Mädchens unter Umständen sehen, die ihm die Ueberzeugung geben, daß es das Deinige sei. Und dann, ich gehe noch einen Schritt weiter, muß er sehen, daß das Stubenmädchen London verläßt, und zwar in der Ueberzeugung daß er Dich Deine Reise nach Brasilien hat antreten sehen. Er glaubte nicht an diese Reise, als ich ihm heute Nachmittag auf der Straße davon erzählte. Indes; kann er daran glauben, wenn Du den Weisungen folgst, die ich Dir jetzt geben werde.

Morgen ist Sonnabend. Schicke das Mädchen, ganz wie Du es vorschlägst, in Deinem heutigen Anzuge aus; aber rühre Dich selber nicht vom Flecke und laß Dich nicht am Fenster blicken. Befiehl ihr, den Schleier niederzulassen, eine Stunde spazieren zu gehen —— natürlich ohne Ahnung von dem ihr folgenden Pfarrer oder seinem Diener —— und dann zu Dir zurückzukehren. Sowie sie heimkommt, laß sie augenblicklich ans offene Fenster treten, den Schleier sorglos zurückschlagen und hinaussehen. Nach ein paar Minuten laß sie vom Fenster zurücktreten, Hut und Shawl ablegen und sich dann nochmals am Fenster oder besser noch, draußen auf dem Balcon zeigen. Dann mag sie sich später am Tage noch einige male in dieser Weise zeigen, doch nicht zu oft, und da wir es mit einem geistlichen Herrn zu thun haben, schicke sie morgen auf jeden Fall in die Kirche. Wenn diese Vorkehrungen den Pfarrer nicht überzeugen, daß das Gesicht des Stubenmädchens das Deinige ist, und ihn nicht bereitwilliger an Deine Besserung glauben machen, als er es zu thun geneigt war, während ich mit ihm sprach, so habe ich meine sechzig Jahre in diesem Jammerthale mit sehr geringem Nutzen zugebracht, meine Liebste.

Der nächste Tag ist Montag. Ich habe mir die Schiffsanzeigen angesehen und finde, daß am Dienstag ein Dampfschiff von Liverpool nach Brasilien abgeht. Nichts könnte sich besser treffen; wir wollen Dich vor den eigenen Augen des Pfarrers abreisen lassen. Du mußt dies folgendermaßen bewerkstelligen.

Um ein Uhr schicke den Mann, der die Messer und Gabeln putzt, nach einem Fiaker aus, und wenn er denselben vor die Thür gebracht, so laß ihn noch eine zweite Droschke holen, in welcher er selber am Square, um die Ecke, wartet. Laß das Mädchen, noch immer in Deinem Anzuge, mit den nothwendigen Koffern und Kisten im ersten Fiaker nach der Nordwestbahn abfahren. Sobald sie fort ist, schlüpfe Du selber um die Ecke nach der wartenden Droschke und komm’ zu mir nach Bayswater. Sie sind vielleicht darauf vorbereitet, dem Fiaker des Mädchens zu folgen, weil sie denselben vor der Thür warten sehen, aber dem Deinigen zu folgen, wird ihnen nicht einfallen, da er ja drüben am Square gehalten hat. Wenn die Zofe auf den Bahnhof gelangt ist und ihr Möglichstes gethan hat, um sich in der Menge zu verlieren —— ich habe absichtlich den gemischten Zug um 2 Uhr 10 Minuten gewählt, um ihr alle Chancen dazu zu geben, —— bist Du bei mir in Sicherheit, und es macht dann nichts mehr aus, wenn sie auch entdecken, daß sie nicht wirklich nach Liverpool abgereist ist. Sie werden jede Spur von Dir verloren haben und mögen dann, wenn es ihnen beliebt, ganz London nach dem Mädchen durchsuchen Sie erhält in der Inlage meine Weisungen, die leeren Reisekoffer ihren Weg nach dem Büreau für verlorene Baggage finden zu lassen und sich selbst zu ihrer Familie in der City zu begeben und dort zu bleiben, bis ich sie zurückberufe.

Und zu welchem Zweck alles dies? Meine liebe Lydia, zu Deiner und zu meiner zukünftigen Sicherheit. Es mag uns glücken oder mißlingen, dem Pfarrer einzubilden, daß Du wirklich nach Brasilien abgereist bist. Glückt es uns, so dürfen wir uns fortan aller Furcht vor ihm entschlagen. Mißglückt es, so wird er den jungen Armadale vor einem Weibe Warnen, das meinem Stubenmädchen gleicht und nicht vor einem Weibe, das aussieht wie Du. Dieser letztere Vortheil ist ein sehr wichtiger, denn wir wissen nicht, ob Mrs. Armadale ihm nicht Deinen Mädchennamen mitgetheilt hat. In diesem Falle wird seine Beschreibung der »Miß Gwilt", die ihm hier durch die Finger geschlüpft, der »Miß Gwilt" in Thorpe-Ambrose so unähnlich fein, um Jedermann zu überzeugen, daß es sich hier nicht um eine Gleichheit der Personen, sondern nur um eine Gleichheit der Namen handelt.

Was sagst Du jetzt zu meiner Verbesserung Deiner Idee? Ist mein Kopf jetzt nicht mehr ganz so verdreht, wie er Dir erschien, als Du an mich schriebst? Glaube nicht, daß ich mich mit meinem Scharfsinn brüsten will. Weit schlauere Streiche, als dieser werden von Woche zu Woche von Schwindlern am Publikum verübt und in den Zeitungen berichtet. Ich möchte Dich blos darauf aufmerksam machen, daß mein Beistand für den Erfolg unserer Armadale-Speculation jetzt nicht minder nothwendig ist, als zur Zeit, wo ich vermittelst des harmlos aussehenden jungen Mannes und des geheimen Intelligenzbüreaus auf dem Shadyside-Platze unsere ersten wichtigen Entdeckungen machte.

Ich habe, so viel ich weiß, nichts weiter hinzuzufügen, außer daß ich mich eben anschicke, nach meiner neuen Wohnung aufzubrechen, und zwar mit einem Koffer, der mit meinem neuen Namen geziert ist. Die letzten Augenblicke der Mutter Oldershaw vom Modemagazine sind gekommen, und die Geburt von Miß Gwilt’s respectabler Beschützerin Mrs. Mandeville wird binnen fünf Minuten in einem Fiaker stattfinden. Ich bilde mir ein, ich muß im Herzen noch immer jung sein, denn ich bin bereits völlig verliebt in meinen neuen romantischen Namen; derselbe klingt fast ebenso hübsch, wie Mrs. Armadale auf Thorpe-Ambrose, nicht wahr? Gute Nacht, Liebste, und angenehme Träume! Wenn sich bis Montag irgend etwas ereignet, so schreib’ mir unverzüglich mit der Post. Ereignet sich nichts, so wirst Du am Montag für die schleunigsten Erkundigungen, die der Major möglicherweise macht, früh genug bei mir anlangen. Meine letzten Worte sind: Geh nicht aus und wage Dich bis Montag nicht an die Fenster des Vorderzimmers.

Herzlich die Deine
M. O.«



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Zweites Kapitel.

Am Einundzwanzigsten gegen Mittag schlenderte Miß Milroy, durch eine Besserung im Befinden ihrer Mutter von ihren Pflichten im Krankenzimmer erlöst, in ihrem Gärtchen umher, als der Klang von Stimmen aus dem Parke ihre Aufmerksamkeit erregte. Die eine dieser Stimmen erkannte sie augenblicklich als die Allan’s, die andere war ihr fremd. Sie bog die Zweige eines Busches am Gartengeländer auf die Seite und sah, indem sie hindurchschaute, Allan in Gesellschaft eines kleinen dunklen, schlanken Mannes, der höchst aufgeregt in lautem Tone plauderte und lachte, sich dem Pförtchen nähern. Miß Milroy lief ins Haus hinein, um ihrem Vater Mr. Armadale’s Ankunft zu melden und hinzuzufügen, daß er einen etwas aufgeregten Fremden mitbringe, der aller Wahrscheinlichkeit nach der Freund sei, welcher dem Gerüchte zufolge sich beim Squire im großen Hause zum Besuch aufhalte.

Hatte die Tochter des Majors richtig gerathen? War der laut schwatzende, laut lachende Begleiter des Squires der schüchterne empfindsame Midwinter von früher? Er war es in der That. In Allan’s Gegenwart war an diesem Morgen eine außerordentliche Veränderung mit dem gewöhnlich so ruhigen Benehmen seines Freundes vorgegangen.

Als Midwinter, nachdem er Mr. Brocks beängstigenden Brief bei Seite gelegt, im Frühstückszimmer erschienen, war Allan zu sehr beschäftigt gewesen, um ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die noch ungelöste Schwierigkeit der Wahl eines Tages für das Pächterdiner war ihm abermals zur Beseitigung aufgedrungen, und der Schmaus war jetzt auf den Rath des Kellermeisters, auf Sonnabend, den Achtundzwanzigsten des Monats, angesetzt worden. Erst als er sich umwandte, um Midwinter zu erinnern, daß diese Anordnung demselben reichliche Zeit lasse, um sich mit den Verwaltungsbüchern vertraut zu machen, ward selbst Allan’s flüchtige Aufmerksamkeit durch die sichtliche Veränderung in dem Gesichte seines vis — a vis gefesselt. Er hatte diese Veränderung in der ihm eigenen unverhohlenen Weise sogleich erwähnt und war augenblicklich durch eine ärgerliche, fast zornige Antwort wieder zum Schweigen gebracht worden. Dann hatten sich beide ohne ihre gewohnte gegenseitige Herzlichkeit zum Frühstück niedergesetzt und das Mahl war trübselig verlaufen, bis Midwinter dadurch das Schweigen brach, daß er sich plötzlich einem Ausbruche von Heiterkeit hingab, die Allan eine neue Seite im Charakter seines Freundes enthüllte.

Der Schluß, zu dem er dadurch gelangte, war, wie dies gewöhnlich mit Allan’s Urtheile der Fall, ein falscher. Es war keine neue Seite in Midwinters Charakter, die sich ihm jetzt darstellte, vielmehr nur ein neuer Anblick des einen, immer wiederkehrenden Kampfes in Midwinter’s Leben.

Von Allan’s Wahrnehmung der in ihm vorgehenden Veränderung gereizt, die er selber nicht bemerkt, als er vor dem Verlassen seines Zimmers einen flüchtigen Blick in den Spiegel geworfen hatte, Allan’s prüfender Blicke sich bewußt und die nächsten Fragen fürchtend, die dessen Neugierde an ihn richten dürfte, hatte Midwinter sich mit Gewalt zusammengerafft, um den Eindruck zu verwischen, den sein verändertes Aussehen hervorgebracht. Es war dies eines jener Kraftstücke, wie sie niemandem so leicht gelingen wie Leuten seines raschen Temperaments und seiner empfindsamen frauenhaften Organisation. Von dem besten Glauben erfüllt, daß seit der Entdeckung des Pfarrers in den Kensingtongärten sich ihm und Allan das Verhängniß um einen großen Schritt genähert —— die Spuren von dem noch im Gesicht, was er unter der erneuten Ueberzeugung gelitten, daß die letzte Warnung seines sterbenden Vaters sich in einem Ereignisse nach dem andern geltend mache, um ihn, welches Opfer es auch kosten möge, von dem einzigen menschlichen Wesen zu scheiden, das er liebte —— in der nimmer ruhenden Angst seines Herzens, Allan’s erstes geheimnißvolles Traumgesicht könne sich noch vor Ablauf des heutigen Tages verwirklichen, —— von diesen dreifachen Banden, die sein eigener Aberglaube geschaffen, gefesselt, wie er sich noch nie zuvor gefesselt gefühlt, spornte er sich erbarmungslos zu der verzweifelten Anstrengung, in Allan’s Gegenwart mit diesem an froher Heiterkeit zu wetteifern. Er plauderte und lachte und belud seinen Teller mit dem Inhalte jeder Schüssel, die auf dem Frühstückstische stand. Ausgelassen lustig, machte er Scherze, die keinen Witz hatten, und erzählte Geschichten, die keine Pointe besaßen. Anfangs setzte er Allan in Erstaunen, dann ergötzte er ihn und gewann endlich sein leicht ermuthigtes Vertrauen in Bezug auf Miß Milroy. Er lachte aus vollem Halse über die plötzliche Entwickelung von Allan’s Heirathsplänen, sodaß die Diener unten zu glauben begannen, der seltsame Freund ihres Herrn sei wahnsinnig geworden. Schließlich hatte er Allan’s Vorschlag, sich der Tochter des Majors vorstellen zu lassen und dann sich sein eigenes Urtheil zu bilden, so bereitwillig, ja bereitwilliger angenommen, als es der allerwenigst schüchterne Mensch von der Welt hätte thun können. Und da standen nun die Beiden am Gartenpförtchen; Midwinter’s Stimme übertönte die seines Freundes immer lauter und lauter, sein Wesen maskierte sich —— wie albern und mit welchem Herzweh, das wußte nur er allein! —— hinter einer gemeinen Dreistigkeit, der unerträglichen, beleidigenden Dreistigkeit eines schüchternen Menschen.

Sie wurden im Wohnzimmer von der Tochter des Majors empfangen, der selbst noch nicht herunter gekommen war.

Allem wollte feinen Freund in hergebrachter Form vorstellen. Zu seinem Erstaunen nahm Midwinter ihm ungeniert das Wort aus dem Munde und stellte sich mit einer sichern Miene, einem unangenehmen Lachen und einer plumpen Affectation von Unbefangenheit, die ihn zu seinem größten Nachtheile erscheinen ließen, selber Miß Milroy vor. Seine künstliche Heiterkeit, die er während des Morgens fortwährend zum Ueberschäumen gepeitscht hatte, stieg jetzt in hysterischer Weise, bis er alle Gewalt über dieselbe verlor. Er sprach und gebärdete sich mit jener fürchterlichen Freiheit und Ungebundenheit, welche bei einem von Natur schüchternen Menschen, wenn er einmal alle Zurückhaltung abgestreift, die nothwendige Folge der Anstrengung ist, mit welcher er sich des Zwanges entledigt hat. Er verwickelte sich in ein verworrenes Gemisch von Entschuldigungen, deren es durchaus nicht bedurfte, und Complimenten, die selbst einem Wilden zu schmeichelhaft erschienen sein dürften. Er blickte von Miß Milroy zu Allan und von Allan zu Miß Milroy hin und her und erklärte scherzhaft neckend, er begreife jetzt, warum die Morgenspaziergänge seines Freundes stets nach derselben Richtung eingeschlagen würden. Er fragte sie nach ihrer Mutter und unterbrach ihre Antworten mit Bemerkungen über das Wetter. In einem Athem sagte er, sie müsse den Tag unerträglich heiß finden, und im nächsten versicherte er ihr, daß er sie um ihr kühles Musselinkleid förmlich beneide.

Der Major trat ein. Ehe er noch zwei Worte sagen konnte, überschüttete ihn Midwinter mit der nämlichen wahnsinnigen Vertraulichkeit und derselben fieberhaften Redseligkeit. Er gab seine Theilnahme an Mrs. Milroy’s Befinden in Ausdrücken zu erkennen, die selbst von den Lippen eines alten Hausfreundes hätten übertrieben klingen müssen. Er strömte von Entschuldigungen über, daß er den Major in seinen technischen Studien gestört habe. Er erwähnte Allan’s überschwängliche Schilderung von der Uhr und sprach in noch überschwänglicheren Ausdrücken sein Verlangen aus, dieselbe sehen zu dürfen. Er paradierte mit seiner oberflächlichen Büchergelehrsamkeit über die große Münsteruhr zu Straßburg und machte weit hergeholte Scherze über die seltsamen Automatengestalten, die jene Uhr in Bewegung setzt —— über die Procession der zwölf Apostel, die um Mittag unter dem Zifferblatt vorüberzieht, rund über den kleinen Hahn, welcher beim Erscheinen des heiligen« Petrus kräht —— und alles dies vor einem Manne, der jedes Rad in diesem complicirten Werke studiert und ganze Jahre mit Versuchen zugebracht hatte, die complicirte Maschinerie nachzuahmen. »Wie ich höre, haben Sie die Straßburger Apostelprocession und das Krähen des Straßburger Hahns noch überboten«, rief er in dem Ton und der Manier eines Freundes, der das Privilegium besitzt, alle Ceremonie bei Seite setzen zu dürfen, »und ich sterbe wirklich vor Verlangen, Ihre wunderbare Uhr zu sehen, Major!«

Major Milroy war, als er ins Zimmer trat, in gewohnter Weise noch ganz in seine mechanischen Erfindungen vertieft gewesen. Aber die Wirkung von Midwinters Vertraulichkeit war mächtig genug, um ihn augenblicklich seiner Träumerei zu entreißen und ihm auf der Stelle die gesellschaftlichen Ressourcen des Weltmanns zu Gebote zu stellen.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche«, sagte er, Midwinter einen Augenblick durch einen festen Blick des Erstaunens zum Schweigen bringend; »ich habe die Uhr des Straßburger Münsters zufällig gesehen, und es klingt meinem Ohre fast lächerlich —— verzeihen Sie mir den Ausdruck —— wenn man mein kleines Experiment in irgend einer Weise mit jenem erstaunlichen Werke vergleicht. In der ganzen Welt gibt es kein zweites Kunstwerk dieser Art!« Er schwieg, um seinen eigenen steigenden Enthusiasmus im Zaume zu halten; die Uhr zu Straßburg war für Major Milroy dasselbe, was der Name des Michael Angelo für Sir Joshua Reynolds war. »Mr. Armadale’s Güte hat ihn zur Uebertreibung verleitet!« fuhr der Major, Allan zulächelnd, fort; dabei ignorierte er einen abermaligen Versuch Midwinter’s, das Wort an sich zu reißen, als wäre ein solcher Versuch gar nicht gemacht worden. »Da aber zufälligerweise zwischen der großen Uhr im Auslande und der kleinen Uhr hier zu Hause wenigstens insofern eine Aehnlichkeit stattfindet, als sie beide mit dem Schlage der zwölften Stunde zeigen, was sie zu leisten im Stande sind, und da nur wenig noch an zwölf Uhr fehlt, so ist’s am besten, wenn Sie meine Werkstatt noch besuchen wollen, ich führe Sie dahin, je eher, je lieber.« Er öffnete die Thür und entschuldigte sich mit bedeutungsvoller Förmlichkeit bei Midwinter, daß er ihm voranschreite.

»Wie gefällt Ihnen mein Freund?« flüsterte Allan, als er mit Miß Milroy folgte.

»Muß ich Ihnen die Wahrheit sagen, Mr. Armadale?« erwiderte sie ebenfalls flüsternd.

»Das versteht sich!«

»Nun denn, er gefällt mir gar nicht!«

»Er ist der beste und liebenswürdigste Bursche von der Welt,« entgegnete der offenherzige Man. »Er wird Ihnen besser gefallen, wenn Sie ihn erst besser kennen werden, sicherlich!«

Miß Milroy verzog ein wenig das Gesichtchen, um die äußerste Gleichgültigkeit in Bezug auf Midwinter und ihr lächerliches Erstaunen über Allan’s Parteinahme für die Verdienste seines Freundes auszudrücken. »Hat er mir nicht Interessanteres zu sagen, als das«, dachte sie verwundert, »nachdem er mir gestern Morgen zweimal die Hand geküßt hat?«

Ehe Allan Gelegenheit fand, ein anziehenderes Thema anzuschlagen, waren sie Alle in der Werkstätte des Majors angelangt. Hier, auf einem rohen hölzernen Kasten, welcher offenbar die Maschinerie enthielt, stand die wunderbare Uhr. Das Zifferblatt ward von einem auf schwarzen Ebenholzblöcken ruhenden Piedestal überragt, und auf diesem Piedestal saß die unvermeidliche Gestalt der »Zeit« mit ihrer Sense in der Hand. Unter dem Zifferblatt befand sich ein kleiner Altan, und an jedem Ende desselben war ein kleines Schilderhäuschen mit verschlossener Thür aufgerichtet. Dies war Alles, was man überblickte, bis der magische Augenblick kam, wo die Uhr die Mittagsstunde schlug.

Es fehlten jetzt noch etwa drei Minuten an zwölf Uhr, und Major Milroy benutzte dieselben, um noch eine Erklärung der zu erwartenden Vorstellung zu geben. Schon bei den ersten Worten verloren sich seine Gedanken wieder völlig in dem Interesse an dieser einzigen Beschäftigung seines Lebens. Er wandte sich Midwinter zu —— der auf dem ganzen Wege vom Wohnzimmer hierher unaufhörlich gesprochen hatte und noch immer fort plauderte —— ohne eine Spur von der kalten und schneidenden Ruhe zu zeigen, die sich noch vor wenigen Minuten in seinen Worten ausgedrückt hatte. Der vorlaute familiäre Mensch der im Wohnzimmer ein ungezogener Eindringling gewesen, wurde in der Werkstätte ein privilegirter Gast, denn hier besaß er den Alles wieder gut machenden gesellschaftlichen Vorzug, daß die Leistungen der wunderbaren Uhr ihm noch etwas Neues waren.

»Bei dem ersten Schlage der Uhr, Mr. Midwinter«, sagte der Major im höchsten Eifer, »heften Sie die Blicke auf die Gestalt der »Zeit«, dieselbe wird ihre Sense bewegen und mit derselben nach dem Glaspiedestal hinabdeuten. Dann werden Sie zunächst hinter dem Glase eine kleine gedruckte Karte erscheinen sehen, die Ihnen das Datum und den Tag der Woche anzeigt. Beim letzten Schlage wird die Zeit ihre Sense wieder in ihre vorige Stellung bringen und das Glockenspiel zu läuten beginnen. Dem Geläute wird eine Melodie folgen —— die des Lieblingsmarsches in meinem ehemaligen Regiment —— und darauf die letzte Vorstellung der Uhr stattfinden. Die Schilderhäuschen an beiden Enden werden sich beide im gleichen Momente öffnen. In dem einen werden Sie die Schildwache erscheinen sehen, und aus der andern wird ein Corporal mit zwei Gemeinen heraustreten, um die Wache abzulösen, und dann, die neue Wache an ihrem Posten zurücklassend, vom Altane verschwinden. Für diesen letzteren Theil der Vorstellung muß ich mir Ihre Nachsicht erbitten. Das Räderwerk ist ein wenig complicirt und es hat noch gewisse Mängel, denen ich, wie ich zu meiner Schande bekenne, noch nicht abzuhelfen vermochte. Zuweilen machen die Figuren ihre Sache ganz recht, zuweilen aber ganz verkehrt. Ich hoffe, daß sie bei ihrem ersten Auftreten vor Ihnen ihr Bestes thun werden.«

Während der Major, neben seiner Uhr postiert, diese letzten Worte sprach, sahen seine drei Zuhörer, die am andern Ende des Zimmers standen, die beiden Zeiger aus zwölf weisen. Der erste Schlag erscholl, und die Figur auf dem Piedestal bewegte, dem Signale gehorsam, ihre Sense. Dann kündeten sich das Datum und Wochentag auf einer gedruckten Karte daneben an, während Midwinter die Vorstellung mit einer lauten, übertriebener: Verwunderung applaudierte, welche sich Miß Milroy falscherweise für einen groben Hohn auf die Beschäftigung ihres Vaters auslegte, und die Man, da er sah, daß sie sich gekränkt fühlte, zu mäßigen suchte, indem er seinen Freund an den Ellbogen stieß. Inzwischen nahm die Vorstellung ihren Fortgang. Mit dem letzten Schlage der Mittagsstunde hob die »Zeit« ihre Sense wieder empor, das Glockenspiel läutete, der Lieblingsmarsch von des Majors ehemaligem Regimente folgte und dann kündigte sich in dem vorläufigen Erbeben der Schilderhäuschen und dem plötzlichen Verschwinden des Majors hinter der Uhr die Schlußvorstellung die Wachenablösung, an.

Dieselbe begann damit, daß das Schilderhäuschen auf der rechten Seite des Altans sich mit aller nur zu wünschenden Pünktlichkeit öffnete; die Thür auf der andern Seite war indessen weniger folgsam —— sie blieb hartnäckig geschlossen. Dieses Hindernis; im Fortgange der Vorstellung nicht gewahrend, erschienen der Corporal und seine beiden Gemeinen in vollkommenster Disciplin an ihren Plätzen, schwankten sämtlich, an allen Gliedern zitternd, quer über den Altan, stürzten mit aller Gewalt nach der geschlossenen Thür des Schilderhäuschens auf der andern Seite und machten nicht den geringsten Eindruck auf die unerschütterliche Schildwache die sich drin im Häuschen befinden sollte. Im Innern des Uhrwerks ließ sich ein gelegentliches Ticken und Schnappen hören, wie von den Schlüsseln und Werkzeugen des Majors. Plötzlich marschierte der Corporal und seine beiden Soldaten rückwärts über den Altan zurück und schlossen sich mit einem Krachen der Thür in ihr eigenes Schilderhäuschen ein. In demselben Augenblicke öffnete sich zum ersten Male die andere Thür, und die verwünschte Schildwache erschien mit der größten Gelassenheit an ihrem Posten und harrte der Ablösung. Sie hatte zu warten. In dem andern Schilderhäuschen geschah nichts, als ein gelegentliches Klopfen innen an der Thür, als wenn der Corporal und die Soldaten ungeduldig hinausstrebten. Von neuem ließen sich im Uhrwerke die Werkzeuge des Majors rasselnd vernehmen; der Corporal und seine Begleiter, denen plötzlich die Freiheit gegeben, erschienen in größter Eile und stürmten wüthend über den Altan. Doch wie schnell sie auch waren, die bisher so gelassene Schildwache auf der andern Seite zeigte sich jetzt tückischerweise noch geschwinder, als sie. Mit Blitzesschnelle verschwand sie in ihrem eigenen Häuschen, die Thür schlug scharf hinter ihr zu. der Corporal und die beiden Gemeinen stürzten zum zweiten Male mit aller Gewalt auf dieselbe los, und der Major bat, hinter der Uhr hervorkommend, die Zuschauer höchst unschuldig: sie möchten ihm gefälligst sagen, ob irgend etwas nicht in Ordnung gewesen sei. Die abenteuerliche Albernheit der ganzen Vorstellung, die durch Major Milroy’s ernste Schlußfrage noch erhöht wurde, war so unwiderstehlich, daß die Gäste in ein schallendes Gelächter ausbrachen; selbst Miß Milroy konnte, ungeachtet all ihrer Rücksicht für den empfindlichen Stolz ihres Vaters auf seine Uhr, sich nicht enthalten, in die Heiterkeit mit einzustimmen, welche die Katastrophe der Puppen herbeigeführt hatte. Doch auch das erlaubte Lachen hat seine Grenzen; und diese Grenzen wurden bald von dem Einen der Gesellschaft so gröblich überschritten, daß die andern Beiden sich dadurch fast augenblicklich zum Schweigen gebracht sahen. Das Fieber von Midwinter’s erkünstelter Lustigkeit artete, als die Vorstellung zu Ende kam, in eine wahre Raserei aus. Seine Lachanfälle folgten einander mit so krampfhafter Heftigkeit, daß Miß Milroy erschrocken von ihm zurückwich und selbst der geduldige Major sich mit einem Blicke zu ihm wandte, welcher deutlich sagte: »Verlassen Sie das Zimmer!« Allan faßte Midwinter, dies eine Mal in seinem Leben, einem weisen Impuls folgend, am Arm und zog ihn mit Gewalt in den Garten und von dort in den Park hinaus.

»Gerechter Himmel! Was fehlt Dir?« rief er aus, indem er vor dem verzerrten Gesichte zurückschrak, das er, wie er stehen blieb, jetzt zum ersten Male genau betrachtete.

Für den Augenblick war es Midwinter unmöglich zu antworten. Der hysterische Anfall ging von dem einen Extreme zum andern über. Schluchzend und keuchend lehnte er sich an einen Baum und streckte, mit einer stummen Gebärde um Geduld bittend, die Hand nach Allan aus.

»Es wäre besser gewesen, Du hättest mich nicht in meinem Fieber gepflegt«, sagte er mit matter Stimme, sobald er zu sprechen vermochte. »Ich bin wahnsinnig und elend, Allan —— ich habe mich nie wieder völlig erholt. Geh’ zurück und bitte in meinem Namen um Verzeihung; ich schäme mich zu sehr, es selber zu thun. Ich kann nicht sagen, wie es geschehen ist —— ich kann nur Dich und sie um Vergebung bitten.« Er wandte schnell den Kopf ab, um sein Gesicht zu verbergen. »Bleib’ nicht hier«, sagte er; »sieh mich nicht an —— ich werde es bald überwinden.« Allan zögerte noch immer und bat dringend, daß er ihn nach Hause führen dürfe. Es war nutzlos »Du brichst mir mit Deiner liebevollen Güte das Herz«, rief er leidenschaftlich aus. »Ich bitte Dich um Gottes willen, laß mich allein!«

Allan kehrte zum Häuschen zurück und bat dort mit einer Ernstlichkeit und Einfachheit um Nachsicht für Midwinter, die ihn bedeutend in der Achtung des Majors steigen ließen, bei Miß Milroy jedoch durchaus nicht denselben günstigen Eindruck hervorbringen wollte. Wie wenig sie dies selber ahnen mochte, sie hatte Allan bereits so lieb gewonnen, das; sie auf Allan’s Freund eifersüchtig war.

»Wie überaus abgeschmackt«, dachte sie gereizt. »Als ob eine solche Person die geringste Wichtigkeit für den Papa und mich haben könnte!«

»Sie werden so freundlich sein, sich Ihre Meinung von meinem Freunde nicht nach Ihrer heutigen Bekanntschaft mit ihm zu bilden, nicht wahr, Major Milroy?« sagte Allan beim Scheiden auf seine herzliche Weise.

»Von Herzen gern!« entgegnete der Major, ihm warm die Hand drückend.

»Und Sie auch, Miß Milroy?« fügte Allan hinzu. Miß Milroy machte eine unbarmherzig steife Verbeugung. »Meine Meinung ist nicht im geringsten von Wichtigkeit, Mr. Armadale.«

Allan verließ das Häuschen, arg verdutzt über Miß Milroy’s plötzliche Kälte gegen ihn. Seine große Idee, sich durch seine Verheirathung die Nachbarschaft geneigt zu« machen, erlitt einige Einschränkung, als er das Gartenpförtchen hinter sich schloß. Die Tugend, mit Namen Vorsicht und der Squire von Thorpe-Ambrose machten bei dieser Gelegenheit zum ersten Male persönliche Bekanntschaft mit einander, und Allan beschloß, sich wie gewöhnlich mit aller Gewalt in den Pfad der moralischen Besserung stürzend, nichts in Uebereilung zu thun!



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Drittes Kapitel.

Als Allan zu Hause anlangte, wurden ihm zwei Aufträge ausgerichtet. Der eine war von Midwinter hinterlassen worden: »Er sei zu einem langen Spaziergang ausgegangen, und Mr. Armadale möge sich nicht beunruhigen, wenn er erst spät wieder heimkehrte.« Der zweite von einem Manne aus Mr. Pedgift’s Bureau, der nach Verabredung erschienen war, während sich die beiden Herren beim Major befanden. »Mr. Bashwoods Empfehlung, und er werde sich die Ehre geben, Mr. Armadale im Verlaufe des Abends nochmals seine Aufwartung zu machen.«

Gegen fünf Uhr kam Midwinter bleich und schweigsam heim. Allan beeilte sich, ihm zu versichern, daß sein Friede mit dem Parkhäuschen geschlossen sei, und erwähnte dann, um das Thema zu wechseln, des Besuchs von Mr. Bashwood. Midwinter war aber entweder so zerstreut oder so erschöpft, daß er sich kaum des Namens zu entsinnen schien. Allan mußte ihn deshalb daran erinnern, daß Mr. Bashwood jener ältliche Schreiber sei, den Mr. Pedgift ihm zur Orientierung in seinen Verwalterpflichten gesandt habe. Er hörte zu, ohne etwas zu bemerken, und begab sich dann auf sein Zimmer, um bis zur Tischzeit zu ruhen.

Auf sich allein angewiesen, ging Allan in die Bibliothek, um zu versuchen, ob er sich nicht mit einem Buche die Zeit vertreiben könne. Er nahm viele Bände von den Brettern herab und stellte einige wieder an ihre Plätze —— doch dabei blieb es. Auf irgend eine geheimnißvolle Weise drängte sich Miß Milroy zwischen den Leser und seine Bücher. Ihre steife Verbeugung und ihre ungnädigen letzten Worte wollten Allan nicht aus dem Sinne kommen, so sehr er sich auch bemühte, sie zu vergessen; von Stunde zu Stunde ward sein Verlangen, den verlorenen Platz in ihrer Gunst wieder zu gewinnen, immer heftiger. Heute noch einmal einen Besuch im Parkhäuschen zu machen und sie zu fragen, ob er so unglücklich gewesen, sie zu beleidigen, war unmöglich. Die Frage mit der nothwendigen Zartheit schriftlich zu thun, erwies sich, nachdem er das Experiment versucht, als eine weit über seine literarischen Fähigkeiten hinausgehende Aufgabe. Nachdem er ein paarmal mit der Feder im Munde im Zimmer auf und ab gegangen war, entschied er sich für den diplomatischen Weg, der in diesem Falle zufällig zugleich der leichteste war, an Miß Milroy zu schreiben, als wenn gar nichts vorgefallen sei, und seine Staffel in ihrer Gunst nach der Antwort zu bemessen, die sie ihm zurücksenden würde. Eine Einladung irgend einer Art, die natürlich auch ihren Vater mit einschloß, obgleich unmittelbar an sie selbst gerichtet, war offenbar das Rechte, um eine schriftliche Antwort von ihr zu erzwingen —— doch hier erhob sich die Schwierigkeit, welche Art von Einladung dies sein solle. An einen Ball war, bei seiner gegenwärtigen Stellung zu den benachbarten Familien, nicht zu denken. Eine Mittagsgesellschaft lag, da sich keine unentbehrliche ältliche Dame im Hause befand, um Miß Milroy zu empfangen —— Mrs. Gripper ausgenommen, die sie doch nur in der Küche empfangen konnte —— ebenfalls außer Frage. Welche Art. von Einladung also konnte es sein? Niemals blöde, wenn er Beistandes bedurfte, diesen rechts und links und in allen Richtungen zu suchen, zog Allan, da er sich am Ende seiner eigenen Hilfsmittel sah, ganz ruhig die Klingel und verblüffte den darauf erscheinenden Diener durch die Frage, wie die frühere Familie zu Thorpe-Ambrose sich zu amüsieren und welche Einladungen sie an ihre Bekannten ergehen zu lassen pflegte.

»Die Familie machte es wie die andern Gutsherrschaften, Sir«, sagte der Mann, seinen Herrn in äußerster Verblüffung anstierend. »Sie gab Mittagsgesellschaften und Bälle. Und im schönen Sommerwetter, wie jetzt, Sir, hatte sie zuweilen Gartengesellschaften und Picknicks.«

»Das ist’s«, rief Allan. »Ein Picknick ist genau das, was ihr Vergnügen machen wird. Richard, Du bist ein unschätzbarer Mensch; Du kannst Dich jetzt wieder hinabbegeben.«

Richard zog sich ganz verwundert zurück, und Richard’s Herr ergriff die Feder.

»Liebe Miß -Milroy. —— Seit ich Sie verlassen, ist es mir plötzlich eingefallen, daß wir ein Picknick arrangieren sollten. Nach so langer Einsperrung in Mrs. Milroy’s Krankenzimmer kann nichts besser für Sie sein, als etwas Abwechselung und Vergnügen (ein gutes Aufrütteln würde ich es nennen, wenn ich nicht an eine junge Dame schriebe). Ein Picknick ist eine Abwechselung und, wenn der Wein gut ist, auch ein Vergnügen. Wollen Sie den Herrn Major fragen, ob er mit diesem Picknick einverstanden ist und mitkommen will? Und falls Sie Bekannte in der Umgegend haben, die an einem Picknick Freude finden, bitte, laden Sie dieselben ebenfalls ein, denn ich selbst habe keine Bekannten. Es soll Ihr Picknick sein, aber ich will für Alles sorgen und Alle mitnehmen. Sie sollen den Tag bestimmen und den Ort zum Picknick wählen. Ich habe mein ganzes Herz an dieses Picknick gehangen.

Immer der Ihre
Allan Armadale.«

Den Brief, ehe er ihn versiegelte, noch einmal überlesend, mußte Allan sich diesmal offen eingestehen, daß der Stil nicht ganz tadellos sei. »Das Wort »Picknick« kommt etwas zu oft darin vor«, sagte er. »Doch einerlei, wenn ihr die Idee gefällt, wird sie sich daran nicht stoßen.« Er sandte den Brief auf der Stelle ab und gab dem Boten strengen Befehl, auf die Antwort zu warten.

In einer halben Stunde war dieselbe da, auf parfümiertem Papier, ohne eine radierte Stelle, lieblich duftend und lieblich anzuschauen.

Das Bekenntniß der nackten Wahrheit ist eins von denen, gegen die das angeborene Zartgefühl des Frauensinnes sich instinctmäßig zu empören scheint. Noch nie waren die wahren Gedanken geschickter verborgen, als jetzt durch Allan’s schöne Correspondentin. Macchiavelli selbst hätte aus Milroy’s Briefe nun und nimmermehr argwöhnen können, daß sie ihr gereiztes Benehmen gegen den jungen Squire, sowie dieser nur den Rücken gewendet, schon von Herzen bereut hatte und hoch entzückt gewesen war, als ihr seine Einladung zukam. Ihr Brief war die Composition einer musterhaften jungen Dame, deren Gefühle alle unter väterlichem Schloß und Riegel gehalten und je nach den Umständen bei Gelegenheit wohl überlegt aufgetischt werden. »Papa« erschien ebenso oft in Miß Milroy’s Antwort, wie »Picknick« in Allan’s Einladung vorgekommen war. »Papa« habe mit Mr. Armadale an rücksichtsvoller Güte gewetteifert, indem auch er daran gedacht, ihr ein wenig Abwechselung und Vergnügen zu verschaffen, und sich deshalb erboten, seine gewohnte ruhige Lebensweise zu unterbrechen und an dem Picknick theilzunehmen. Sie nehme deshalb mit »Papas« Einwilligung Mr. Armadale’s Vorschlag mit Vergnügen an, und auf »Papas« Rath werde sie von Mr. Armadale’s Güte Gebrauch machen und zwei Bekannte, die sich kürzlich in Thorpe-Ambrose niedergelassen, eine Wittwe und ihren Sohn, einen ordinierten Geistlichen von schwächlicher Gesundheit, dazu einluden. Wenn Mr. Armadale der nächste Dienstag gelegen sei, so werde dieser Tag dem »Papa« ebenfalls passen, da dieser bis dahin mit Ausbesserungen an seiner Uhr beschäftigt sei. Das Uebrige wolle sie, auf »Papas« Rath, gänzlich Mr. Armadale überlassen und verbleibe inzwischen, mit »Papas« Empfehlung, Mr. Armadale’s aufrichtige »Eleonor Milroy.« Wer hätte sich jemals gedacht, daß die Schreiberin dieses Briefes vor Freude hochaufgesprungen war, als Allan’s Einladung kam? Wer hätte geahnt, daß bereits unter dem heutigen Datum Folgendes in Miß Milroy’s Tagebuche eingetragen stand: —— »Ich habe den herzigsten, liebsten Brief von Ich-weiß-wohl-Wem erhalten; ich will nie wieder unfreundlich gegen ihn sein, so lange ich lebe.« Allan seinerseits war entzückt über den Erfolg seines Manövers Miß Milroy hatte seine Einladung angenommen, folglich fühlte sie sich nicht von ihm beleidigt. Eine Erwähnung des Briefwechsels schwebte ihm auf der Zunge, als er mit seinem Freunde bei Tische zusammentraf. Aber es lag in Midwinters Gesicht und Wesen etwas, das, selbst für Allan deutlich genug sichtbar, ihn zu warten mahnte, ehe er den peinlichen Gegenstand ihres Besuchs im Parkhäuschen wieder zur Sprache brächte. Wie in stillschweigender Uebereinkunft mieden sie in ihrem Gespräche alles, was sich auf Thorpe-Ambrose bezog, selbst des Besuchs von Mr. Bashwood erwähnten sie nicht, der für den Abend bevorstand. Während der ganzen Mahlzeit versenkten sie sich vielmehr in das alte endlose Thema von ehedem, über Schiffe und Segelfahrten.

Die beiden jungen Leute hatten länger als gewöhnlich bei Tische gesessen. Wie sie mit ihren Cigarren in den Garten hinausgingen, fiel das Sommerzwielicht grau und trübe auf Rasen und Blumenbeet und verengerte allmälig den sanft schwindenden Kreis ihres Horizonts. Der Thau fiel reichlich, und nach wenigen Minuten Weilens im Garten begaben sie sich auf den trocknen Platz der Auffahrt vor dem Hause zurück. Eben waren sie hart an der Biegung, die in das Gebüsch führte, als plötzlich eine leise auftretende schwarze Gestalt hinter dem Laube hervor zu ihnen herausglitt —— ein Schatten, der sich dunkel durch das undeutliche Abendlicht bewegte. Midwinter fuhr beim Anblicke der Erscheinung zurück, und selbst die weniger zarten Nerven seines Freundes waren für den Augenblick erschüttert.

»Wer, zum Teufel, seid Ihr?«. rief Allan.

Die Gestalt entblößte ihr Haupt und trat langsam einen Schritt näher. Midwinter kam seinerseits einen Schritt weiter heran und betrachtete sie scharf. Es war der Mann mit den schüchternen Manieren und in den Trauerkleidern, den er an der Stelle, wo die drei Wege zusammenstießen, um den Weg nach Thorpe-Ambrose gefragt hatte.

»Wer seid Ihr?« wiederholte Allan.

»Ich bitte demüthigst um Verzeihung, Sir«, antwortete der Fremde mit unsicherer Stimme, während er verlegen wieder zurücktrat. »Die Bedienten sagten mir, ich werde Mr. Armadale ——«

»Was, sind Sie Mr. Bashwood?«

»Ja, wenn Sie’s erlauben, Sir.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sie so barsch angeredet zu haben«, sagte Allan; »aber die Wahrheit zu gestehen, Sie haben mich ein wenig erschreckt. Mein Name ist Armadale —— bitte, bedecken Sie sich —— und dies ist mein Freund, Mr. Midwinter, der Ihren, Beistand im Verwaltungsbureau bedarf.«

»Es bedarf kaum des Vorstellens für uns«, sagte Midwinter. »Ich begegnete Mr. Bashwood vor wenigen Tagen aus dem Spaziergange, und er hatte die Freundlichkeit mich zurechtzuweisen, da ich meinen Weg verloren hatte.«

»Setzen Sie Ihren Hut aus«, wiederholte Allan, da Mr. Bashwood noch immer unbedeckten Hauptes dastand und sich sprachlos bald gegen den einen und bald gegen den andern der beiden jungen Männer verbeugte. »Mein guter Herr, setzen Sie Ihren Hut auf und lassen Sie uns zusammen nach dem Hause zurückgehen. Verzeihen Sie mir die Bemerkung«, fügte Allan hinzu, als der Mann aus reiner nervöser Unbehilflichkeit seinen Hut fallen ließ, anstatt mit demselben seinen Kopf zu bedecken; »aber Sie scheinen ein wenig angegriffen zu sein —— ein gutes Glas Wein kann Ihnen nicht schaden, ehe Sie sich mit meinem Freunde ans Geschäft machen. Wo ungefähr trafst Du Mr. Bashwood, als Du Dich verirrt hattest?«

»Ich. kenne die Gegend zu wenig, um dies zu wissen. Ich muß Dich deshalb an Mr. Bashwood verweisen«, antwortete Midwinter.

»Kommen Sie, erzählen Sie uns, wo es war«, sagte Allan, etwas allzu direct versuchend, dem Manne seine Unbefangenheit wiederzugeben, während sie alle Drei zum Hause zurückgingen.

Das Maß von Mr. Bashwood’s angeborener Schüchternheit schien durch Allan’s laute Stimme und unumwundenes Ersuchen bis an den Rand gefüllt zu sein. Mit demselben schwachen Wortstrome floß es über, mit dem er Midwinter überflutet, als sie einander zum ersten Male begegnet waren.

»Es war auf dem Wege, Sir«, begann er, sich abwechselnd an Allan, den er »Sir«, und Midwinter wendend, welchen er beim Namen nannte; »ich meine auf dem Wege nach Little Gill Beek. Ein sonderbarer Name, Mr. Midwinter, und ein sonderbarer Ort; ich spreche nicht vom Dorf, ich spreche von der Umgegend —— ich bitt’ um Vergebung, ich meine die »Breiten«, weiter drüben. Sie haben vielleicht von den Norfolker Breiten gehört, Sir? Was man anderswo in England Seen nennt, nennen die Leute hier »Breiten«. Die Breiten sind sehr zahlreich; ich denke, sie wären wohl der Mühe eines Besuchs werth. Sie würden die erste derselben gesehen haben, Mr. Midwinter, wenn Sie von der Stelle, an der ich die Ehre hatte, Ihnen zu begegnen, ein paar Meilen weiter gegangen wären. Außerordentlich zahlreich, die Breiten, Sir, —— zwischen hier und dem Meere gelegen. Ungefähr drei Meilen vom letzteren, Mr. Midwinter, —— ungefähr drei Meilen. Meistens seicht, Sir, und durch Flüsse mit einander verbunden. Sehr schön; einsam. Eine ganz wässerige Gegend, Mr. Midwinter, eine Gegend ganz für sich, so zu sagen. Es werden zuweilen Partien dahin gemacht, Sir —— Vergnügungspartien zu Nachen. Es ist ein wahres kleines Netz von Seen, oder vielleicht, ja wohl richtiger gesprochen, von Teichen. Im kalten Wetter ist dort gute Jagd. Wildes Geflügel ist da überaus zahlreich. Ja. Die Breiten würden sich eines Besuchs verlohnen, Mr. Midwinter, wenn Sie das nächste Mal einen Spaziergang nach jener Richtung hin machen. Die Entfernung von hier nach Little Gill Beek und dann von Little Gill Beck nach der Girdler Breite, welches die erste ist, zu der man kommt, ist im Ganzen nicht mehr, als ——« In seinem rein nervösen Unvermögen, ein Ende zu finden, würde er den ganzen Abend von den Norfolker Breiten gesprochen haben, wäre nicht der eine seiner Zuhörer ihm ohne alle Umstände ins Wort gefallen, ehe er seine Periode schließen konnte.

»Kann man von hier aus die Hin- und Herfahrt nach den Breiten bequem in einem Tage machen?« fragte Allan, überzeugt, daß in diesem Falle der Ort für das Picknick gefunden war.

O, ja, Sir; eine hübsche, bequeme Fahrt —— eine sehr bequeme Fahrt von diesem schönen Orte aus.«

Sie stiegen jetzt die Vorhallenstufen hinan; Allan ging voran und rief Midwinter und Mr. Bashwood zu, ihm nach der Bibliothek zu folgen, wo eine Lampe brenne. In der Zwischenzeit, die verstrich, ehe der Wein gebracht wurde, betrachtete Midwinter seine zufällige Bekanntschaft von der Landstraße mit einer seltsamen Mischung von Mitleid und Argwohn —— von Mitleid, das wider seinen Willen stieg, und von Argwohn, welcher beharrlich schwand, wie sehr er auch ihn zu nähren suchte. Da, höchst unbequem auf der äußersten Kante seines Stuhls, saß das verkommene, ängstlich arme Geschöpf in seinen abgetragenen schwarzen Kleidern, mit seinen wässerigen Augen, seiner ehrlichen alten Perücke, seiner elenden wollenen Cravatte und seinen falschen Zähnen, die Niemanden zu täuschen vermochten —— da saß er in höflicher Befangenheit, bald vor dem hellen Lichte der Lampe zurückbebend, bald bei Allan’s kräftiger Stimme zusammenfahrend; ein Mann mit den Falten von sechzig Jahren im Gesicht und den Manieren eines Kindes in Gegenwart von Fremden, sicherlich ein Gegenstand des Mitleids, wenn es je einen solchen gab!

»Wovor Sie sich sonst immer fürchten mögen, Mr. Bashwood«, rief Allan, ein Glas Wein einschenkend, »vor dem da fürchten Sie sich nicht! In einem ganzen Oxhoft davon steckt kein einziges Kopfweh! Machen Sie sich’s gemüthlich; ich will Sie mit Mr. Midwinter allein lassen, damit Sie sich zusammen über Ihr Geschäft besprechen. Es ruht ganz in Mr. Midwinters Händen; er handelt für mich und arrangiert Alles nach eigenem Gutachten.«

Er sprach diese Worte mit einer sorgfältigen Wahl seiner Ausdrücke, die ihm sonst durchaus nicht eigen war, und wandte sich dann ohne jede fernere Erklärung der Thür zu. Midwinter, der neben derselben saß, bemerkte sein Gesicht, wie er hinaus ging. Wie leicht es sonst war, den Weg zu Allan’s Gunst zu finden, Mr. Bashwood hatte ihn ohne Zweifel und unbegreiflicherweise nicht finden können!

Die beiden seltsamen Gefährten blieben mit einander allein —— wie es aus den ersten Blick schien, in gegenseitiger Sympathie himmelweit von einander geschieden und nichtsdestoweniger innerlich durch gleiches Temperament zu einander hingezogen, mit jener magnetischen Gewalt, die über allen Alters- und Standesunterschied sich hinweg setzt und allen anscheinenden Gemüths- und Charakter-Verschiedenheiten Trotz bietet. Von dem Augenblicke an, da Allan das Zimmer verließ, begann der geheime Einfluß, der im Dunkeln wirkt, die beiden Männer langsam über die große soziale Kluft zu einander hinzuziehen, die bis zu diesem Tage zwischen ihnen gegähnt hatte.

Midwinter war der erste, der den Zweck ihrer Zusammenkunft zur Sprache brachte.

»Darf ich fragen«, sagte er, »ob man Sie mit meiner Stellung hier bekannt gemacht hat und ob Sie wissen, weshalb ich Ihres Beistandes bedarf?«

Mr. Bashwood, wenngleich noch immer zögernd und schüchtern, aber durch Allan’s Fortgehen sich sichtlich erleichtert fühlend, setzte sich weiter zurück in seinem Stuhl und wagte es, sich durch einen kleinen Schluck Wein zu starken.

»Ja, Sir«, erwiderte er, »Mr. Pedgift hat mich von Allem in Kenntniß gesetzt. Ich soll Sie unterweisen, oder ich sollte vielmehr sagen, Ihnen Rath ertheilen ——«

»Nein, Mr. Bashwood; das erste Wort war das richtigere von den beiden. Ich bin völlig unwissend in den Geschäften, die mir anzuvertrauen Mr. Armadale in seiner Güte sich bewogen gefühlt hat. Wenn ich recht verstanden, so unterliegt Ihre Lehrfähigkeit keinem Zweifel, denn Sie haben selbst eine Verwalterstelle eingenommen. Darf ich fragen, wo dies war?«

»Bei Sir John Mellowchip, Sir, in West-Norfolk. Vielleicht möchten Sie mein Zeugniß sehen, Sir —— ich habe es hier bei mir. Sir John hätte sich wohl etwas freundlicher gegen mich erweisen können, aber ich darf mich nicht beklagen; es ist jetzt Alles geschehen und vorüber!« Seine wässerigen Augen sahen noch wässeriger aus und das Zittern seiner Hände theilte sich seinen Lippen mit, während er einen alten schmutzigen Brief aus seinem Taschenbuche nahm und offen auf den Tisch legte.

Das Zeugniß war sehr kurz und sehr kalt abgefaßt, doch völlig unzweideutig so weit es ging. Sir John hielt es für nicht mehr als recht. zu sagen, daß er sich über keinen Mangel an Fähigkeit oder Rechtlichkeit in seinem Verwalter zu beklagen habe. Hätte sich Mr. Bashwoods häusliche Lage mit seiner ferneren Stellung auf den Gütern vertragen, so würde Sir John ihn gern behalten haben. So aber hatten es gewisse, durch Mr. Bashwoods persönliche Angelegenheiten herbeigeführte Mißhelligleiten nicht wünschenswerth gemacht, daß er noch länger in Sir John’s Diensten verbliebe; und aus diesem Grunde, und nur aus diesem, hatten er und sein Herr sich getrennt. So lautete Sir John’s Zeugniß über Mr. Bashwoods Charakter. Als Midwinter die letzten Zeilen las, gedachte er eines andern Zeugnisses, das sich noch in seinem Besitze befand, des schriftlichen Zeugnisses, das ihm in der Schule gegeben worden, als man den kranken Unterlehrer in die Welt hinausgestoßen hatte. Sein Aberglaube, der ihn allen neuen Ereignissen und neuen Gesichtern zu Thorpe-Ambrose mißtrauen ließ, beargwöhnte den Mann, der vor ihm saß, noch ebenso hartnäckig wie zuvor. Doch wie er diesem Argwohn jetzt Worte leihen wollte, machte sein Herz ihm Vorwürfe, und er legte den Brief schweigend auf den Tisch.

Die plötzliche Pause in der Unterhaltung schien Mr. Bashwood aufzufallen. Er stärkte sich durch einen abermaligen Schluck Wein und brach, den Brief unangerührt liegen lassend, unbezwinglich in Worte aus, als wenn das Schweigen ihm unerträglich wäre.

»Ich bin jede Frage zu beantworten bereit, Sir«, begann er. »Mr. Pedgift sagte mir, daß ich verschiedene Fragen würde beantworten müssen, wenn ich mich um einen Vertrauensposten bewürbe. Mr. Pedgift meinte, daß weder Sie noch Mr. Armadale mit dem Zeugnisse allein zufrieden sein würden. Sir John sagt nicht —— er hätte sich freundlicher darüber ausdrücken können, doch beklage ich mich nicht —— Sir John sagt nicht, welcher Art die häuslichen Bedrängnisse waren, die mich um meine Stelle brachten. Sie wünschen vielleicht zu erfahren ——« Er hielt verlegen inne, sah das Zeugniß an und sagte nichts weiter.

»Wenn es sich in der Sache nur um mein eigenes Interesse handelte«, entgegnete Midwinter, »so gebe ich Ihnen die Versicherung, daß dies Zeugniß mich völlig zufrieden stellen würde. Doch während ich mich mit meinen neuen Pflichten bekannt mache, wird die Person, welche mich darin unterweist, in Wirklichkeit der Gutsverwalter meines Freundes sein. Ich veranlasse Sie sehr ungern, von einem Gegenstand zu sprechen, der Ihnen vielleicht schmerzlich ist, und ich weiß leider gar nicht, was für Fragen ich zu stellen habe; aber in Mr. Armadale’s Interesse müßte ich wohl etwas mehr erfahren, entweder von Ihnen selber, oder von Mr. Pedgift, wenn Sie dies vorziehen ——« Auch er schwieg verlegen, blickte auf das Zeugniß und sagte nichts weiter.

Abermals herrschte momentanes Schweigen. Es war ein warmer Abend und Mr. Bashwood zählte zu seinen sonstigen Uebeln noch das beklagenswerthe Leiden, in den Handflächen zu transpirieren. Er nahm ein elendes kleines baumwollenes Taschentuch aus der Tasche, rollte es zu einem Ballen zusammen und betupfte damit regelmäßig wie ein Pendel erst die eine und dann die andere Hand. Bei einem andern Manne und unter anderen Umständen würde dies lächerlich erschienen sein. Bei diesem Manne aber und in dieser Krisis der Unterredung hatte es etwas Schauerliches.

»Mr. Pedgift’s Zeit ist zu kostbar, Sir, als daß er sie an mich vergeuden könnte«, sprach er. »Wenn Sie erlauben, will ich selber sagen, was zu sagen ist. Ich habe Unglück gehabt in meiner Familie. Es war sehr schwer zu ertragen, obgleich nicht viel davon zu erzählen ist. Meine Frau ——« eine seiner Hände schloß sich fest um das Taschentuch; er befeuchtete seine trockenen Lippen, kämpfte mit sich und fuhr fort:

»Meine Frau, Sir«, begann er wieder, »stand mir ein wenig im Wege; sie hat mir, ich muß es leider zugeben, bei Sir John geschadet. Bald nachdem ich die Verwalterstelle angetreten, verfiel sie —— gewöhnte sie sich —— ich weiß kaum, wie ich es sagen soll —— den Trunk an. Ich konnte sie nicht davon heilen, und ich konnte es auch nicht immer vor Sir John verbergen. Sie verlor alle Selbstbeherrschung und —— und —— stellte seine Geduld ein paarmal auf die Probe, als er in Geschäften auf mein Bureau kam. Sir John hatte Nachsicht, freilich nicht in sehr freundlicher Weise, aber er hatte Nachsicht. Ich klage nicht über Sir John; ich klage jetzt auch nicht über meine Frau.« Er deutete mit zitterndem Finger auf seinen schäbigen alten, mit Krepp umwundenen Castorhut, der neben ihm am Boden stand. »Ich trage Trauer um sie«, sagte er mit schwächer Stimme. »Sie starb vor fast einem Jahre hier im Grafschafts-Irrenhause.«

Sein Mund begann krampfhaft zu arbeiten. Er nahm das Glas Wein in die Hand und leerte es diesmal bis auf den Grund. »Ich bin nicht sehr an Wein gewöhnt, Sir«, sagte er, offenbar fühlend, wie ihm nach dem Trinken die Glut ins Gesicht stieg, und inmitten aller der schmerzlichen Erinnerungen, die er wachgerufen, doch die Pflichten der Höflichkeit nicht aus den Augen verlierend.

»Bitte, Mr. Bashwood, ersparen Sie sich den Schmerz mir noch mehr mitzutheilen«, sagte Midwinter, dem es widerstrebte, seinerseits auf weitere Bekenntnisse zu bestehen, die bereits den Kummer des unglücklichen Mannes vor ihm bis ins Innerste enthüllt hatten.

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Sir«, erwiderte Mr. Bashwood. »Doch wenn ich Sie nicht zu lange belästige und wenn Sie sich gefälligst erinnern wollen, daß die mir von Mr. Pedgift ertheilten Instructionen sehr specielle waren —— übrigens erwähnte ich meiner verstorbenen Frau nur, weil vielleicht Alles anders gekommen wäre, wenn sie nicht von vornherein Sir John ungeduldig gemacht hätte ——« er schwieg, gab den unzusammenhängenden Satz auf, in den er sich verwickelt hatte, und versuchte einen andern. »Ich hatte nur zwei Kinder, Sir«, fuhr er fort, zu einem neuen Punkte in seiner Erzählung fortschreitend; »einen Knaben und ein Mädchen. Das Mädchen starb in zartester Kindheit. Mein Sohn wuchs zum Manne heran —— und mein Sohn war es, durch den ich meine Stelle verlor. Ich that mein Möglichstes für ihn; ich verschaffte ihm eine Stelle auf einem respectablen Comptoir in London. Man wollte ihn ohne Caution nicht aufnehmen. Wohl war es unvorsichtig von mir; aber ich hatte keine reichen Freunde, von denen ich Hilfe erwarten durfte —— und ich bürgte für ihn. Mein Sohn gerieth auf Abwege, Sir. Er —— vielleicht werden Sie mich gütigst verstehen, wenn ich sage, daß er unredlich handelte. Auf mein inständiges Bitten ließen ihn seine Herren gehen, ohne gegen ihn einzuschreiten. Ich mußte flehentlich darum bitten —— ich hatte meinen Sohn James sehr lieb —— und ich nahm ihn mit mir nach Hause und suchte ihn zu bessern. Aber er wollte nicht bei mir bleiben; er ging wieder nach London; er verzeihen Sie, Sir! Ich wirre wohl leider die Dinge durcheinander; ich komme wohl von der Hauptsache ab?«

»Nein, nein«, sagte Midwinter freundlich. »Wenn es Ihnen nöthig erscheint, mir diese traurige Geschichte zu erzählen, so thun Sie dies ganz auf Ihre Weise. Haben Sie Ihren Sohn wiedergesehen, seitdem er Sie verließ, um nach London zu gehen?«

»Nein, Sir. Soviel ich weiß, ist er noch immer in London. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, verdiente er sich sein Brod —— auf nicht sehr rühmliche Art. Er war unter dem Inspector des heimlichen Erkundigungs-Bureaus auf dem Shadyside-Platze angestellt.«

Er sprach diese Worte —— die, soweit jetzt zu beurtheilen, anscheinend weniger als alles bisher Gesprochene zu der jetzt zu verhandelnden. Sache gehörten, in der That aber, wie sich bald herausstellen sollte, das Wichtigste waren, was er überhaupt geäußert hatte —— er sprach diese Worte zerstreut, indem er verwirrt sich umsah und vergebens den verlorenen Faden seiner Erzählung wiederzufinden suchte.

Midwinter kam ihm mitleidsvoll zu Hilfe. »Sie erzählten mir eben«, sagte er, »daß Ihr Sohn Schuld war, daß Sie Ihre Stelle verloren. Wie kam dies?«

»Auf folgende Weise, Sir«, sagte Mr. Bashwood, aufgeregt wieder in den richtigen Gedankengang einlenkend. »Seine Herren ließen ihn gehen, aber sie hielten sich an seinen Bürgen, und dies war ich. Sie waren jedenfalls nicht zu tadeln; die Caution deckte ihren Verlust. Ich konnte nicht Alles aus meinen Ersparnissen bestreiten; ich mußte borgen —— auf mein Ehrenwort, Sir, ich konnte nicht anders, ich mußte borgen. Mein Gläubiger drängte mich; es schien grausam, doch wenn er das Geld brauchte, war es nicht mehr als billig. Haus und Hof wurden mir verkauft. Andere Herren würden wahrscheinlich dasselbe gesagt haben, was Sir John sagte; die meisten Leute würden sich wahrscheinlich geweigert haben, einen Verwalter zu behalten, welcher Execution im Hause gehabt hatte und dessen Hausgeräth in der Umgegend verkauft worden war. So endete die Sache, Mr. Midwinter. Ich brauche Sie jetzt nicht länger aufzuhalten —— hier ist Sir John’s Adresse, für den Fall, daß Sie an ihn schreiben wollen.«

Midwinter lehnte die Adresse großmüthig ab.

»Danke Ihnen bestens, Sir«, sagte M. Bashwood, sich zitternd erhebend. »Es wäre jetzt weiter nichts zu erwähnen, außer —— außer daß Mr. Pedgift für mich sprechen wird, wenn Sie sich gern nach meiner Aufführung, während ich in seinem Dienste war, erkundigen möchten. Ich bin Mr. Pedgift außerordentlich verpflichtet; er ist zuweilen ein wenig barsch gegen mich, aber hätte er mich nicht in seine Dienste genommen, so würde ich, glaube ich, ins Arbeitshaus haben gehen müssen, als ich von Sir John entlassen wurde —— ich war so gebrochen ——« Er nahm seinen schäbigen alten Hut vom Boden auf. »Ich will Sie nicht länger belästigen, Sir. Ich will mit Vergnügen wieder vorkommen, wenn Sie sich die Sache erst überlegen wollen, ehe Sie eine Entscheidung treffen.«

»Nach dem, was Sie mir gesagt haben, bedarf ich keiner Bedenkzeit«, erwiderte Midwinter mit Wärme, indem er sich zugleich der Zeit erinnerte, wo er Mr. Brock seine Geschichte erzählt und auf ein großherziges Wort der Erwiderung gewartet hatte, wie jetzt dieser Mann da vor ihm wartete. »Es ist heute Sonnabend«, fuhr er fort, »können Sie mir künftigen Montag meine erste Lection geben? Verzeihen Sie«, setzte er hinzu, über Mr. Bashwood’s überströmende Dankbarkeit staunend und ihn auf seinem Wege zur Thür anhaltend, »es ist noch eins zwischen uns abzumachen, nicht wahr? Wir haben noch nichts von Ihrem Interesse in der Sache erwähnt —— ich meine von den Bedingungen.« Er deutete damit ein wenig verlegen auf das pecuniäre Moment der Angelegenheit hin. Mr. Bashwood, der sich eiligst der Thür näherte, antwortete noch verlegener:

»Was Ihnen beliebt, Sir, was Ihnen recht dünkt. Ich will nicht länger stören —— ich will es Ihnen und Mr. Armadale überlassen.«

»Wenn Sie es wünschen, will ich Mr. Armadale rufen lassen«, sagte Midwinter, ihm in den Hausflur folgend. »Aber ich fürchte, daß er in derartigen Dingen ebenso wenig Erfahrung besitzt, wie ich. Vielleicht dürften wir uns, wenn Sie nichts dawider hätten, durch Mr. Pedgift bestimmen lassen?«

Mr. Bashwood ging eifrig auf diesen letzten Vorschlag ein und zog sich, während er sprach, bis an die Thür zurück. »Ja, Sir, —— o, ja, ja wohl! Niemand besser, als Mr. Pedgift. Stören Sie —— bitte, stören Sie Mr. Armadale nicht!« Seine wässerigen Augen sahen vor nervöser Angst förmlich wild aus, wie er sich im Lichte der Flurlampe auf einen Augenblick umwandte, um diese höfliche Bitte auszusprechen. Wäre nach Allan zu schicken gleichbedeutend gewesen mit dem Entfesseln eines wüthenden Kettenhundes, Mr. Bashwood hätte solchem Beginnen kaum ängstlicher vorbeugen können. »Ich wünsche Ihnen bestens Gute Nacht, Sir«, fuhr er fort, indem er auf die Hallenstufen hinaustrat. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet; ich werde mich am Montag Morgen pünktlichst einstellen —— ich hoffe —— ich denke —— ich bin überzeugt, daß Sie bald alles erlernen werden, was ich Sie zu lehren vermag. Es ist nicht schwer —— o, mein Himmel, nein, durchaus nicht schwer! Ich wünsche Ihnen bestens Gutenacht, Sir. Ein schöner Abend, ja, in der That ein sehr schöner Abend zu einem Heimwege.«

Mit diesen Worten, die ihm gewissermaßen über Hals und Kopf von den Lippen stürzten, bemerkte er in einer wahren Todesangst von Verlegenheit, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte, gar nicht Midwinter’s ausgestreckte Hand, sondern schritt geräuschlos die Stufen hinab und verlor sich in der Dunkelheit der Nacht.

Wie Midwinter in das Haus eintrat, öffnete sich die Thür des Speisezimmers, und sein Freund kam ihm im Flur entgegen.

»Ist Mr. Bashwood fort?« fragte Allan.

»Er ist fort«, erwiderte Midwinter, »er hat mir eine sehr traurige Geschichte erzählt und mich ein wenig beschämt, daß ich ihm ohne gerechte Ursache mißtraute. Ich bin mit ihm überein gekommen, daß er mir am Montag Morgen in der Verwalterstube meine erste Lection geben soll.«

»Sehr schön!« sagte Allan. »Du brauchst keine Sorge zu haben, alter Junge, daß ich Euch in Euren Studien stören werde. Ich habe wahrscheinlich Unrecht —— aber Mr. Bashwood gefällt mir nicht.«

»Ich habe wahrscheinlich Unrecht«, entgegnete der Andere ein wenig gereizt. »Mir gefällt er.«

Der Sonntag Morgen sah Midwinter im Park, wo er dem Briefboten auflauerte, für den Fall, daß dieser ihm fernere Nachrichten von Mr. Brock brächte.

Zur gewohnten Stunde erschien der Mann und händigte Midwinter den erwarteten Brief ein. Dieser öffnete denselben und las, diesmal ohne Störung besorgen zu müssen, wie folgt:

»Mein lieber Midwinter!

Ich schreibe mehr, um Sie zu beruhigen, als weil ich irgend etwas Bestimmtes zu sagen hätte. hatte keine Zeit, Ihnen in meinem letzten eiligen Briefe mitzutheilen, daß die ältere der beiden Frauen, denen ich in den Gärten begegnete, mir gefolgt war und auf der Straße mit mir gesprochen hatte. Ohne ungerecht gegen sie zu sein, glaube ich, was sie zu zu mir sagte, von Anfang bis zu Ende als ein Gewebe von Unwahrheiten bezeichnen zu dürfen. Jedenfalls bestätigte sie mich in dem Argwohne, daß eine Intrigue im Werke ist, deren Opfer Allan sein soll und daß die Hauptanstifterin des Complotes jenes schändliche Weib ist, das bei der Heirath seiner Mutter behilflich war und später ihren Tod beschleunigte.

In dieser Ueberzeugung habe ich kein Bedenken getragen, etwas für Allan zu thun, was ich für sonst Niemanden in der Welt zu thun im Stande wäre. Ich habe mein Hotel verlassen und mich mit meinem alten Diener Robert in einem Hause etabliert, demjenigen gegenüber, nach dem ich jenen beiden Frauen folgte. Wir liegen nun Tag und Nacht abwechselnd auf der Lauer, von den Leuten uns gegenüber völlig unbemerkt, wie ich gewiß bin. Alle meine Gefühle als die eines Geistlichen und Gentleman empören sich gegen eine solche Beschäftigung aber es bleibt mir keine andere Wahl. Ich muß entweder meiner Selbstachtung diese Gewalt anthun, oder Allan selbst mit seinem sorglosen Wesen und in seiner ungreifbaren Stellung sich gegen eine Elende vertheidigen, die, wie ich fest überzeugt bin, gerüstet ist, in der gewissenlosesten Weise seine Schwachheit und seine Jugend zu benutzen. Die Bitte seiner sterbenden Mutter ist mir stets im Gedächtniß und, Gott helfe mir! in Folge derselben erniedrige ich mich jetzt in meinen eignen Augen.

Das Opfer hat bereits einigen Lohn eingebracht. Ich habe heute (Sonnabend) einen ungeheuren Vortheil errungen —— ich habe das Gesicht der Person gesehen. Sie ging, wie zuvor, mit herabgelassenem Schleier aus, und Robert, der meine Instructionen erhalten, ihr, wenn sie nach Hause zurückkehrte, nicht zu folgen, behielt sie im Auge. Sie kam in der That nach Hause zurück, und der Erfolg war, wie ich erwartet, daß sie auf ihrer Hut zu sein vergaß. Ich sah ihr Gesicht unverschleiert am Fenster und später nochmals auf dem Balcon. Sollte sich irgend Anlaß bieten, daß Sie ihr Signalement brauchen, so will ich es Ihnen geben. Gegenwärtig habe ich nur zu erwähnen, daß sie reichlich so alt aussieht, wie Sie die Person schätzten (fünfunddreißig Jahre), und daß sie durchaus nicht so schön ist, wie ich sie mir, ich weiß kaum warum, gedacht hatte.

Das ist Alles, was ich Ihnen jetzt mittheilen kann. Wenn sich bis nächsten Montag oder Dienstag nichts weiter ereignet, so wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die Mithilfe meiner Advocaten in Anspruch zu nehmen; obgleich es mir im höchsten Grade widerstrebt, diese zarte und gefährliche Angelegenheit andern Händen, als den meinigen, anzuvertrauen. Wenn ich indeß meine eigenen Gefühle gänzlich bei Seite setze, ist die Angelegenheit, welche meine Reise nach London veranlaßt, doch eine zu wichtige, als daß ich sie noch länger so leicht behandeln dürfte, wie ich es jetzt thue. Auf jeden Fall verlassen Sie sich darauf, daß ich Sie über den fernem Verlauf der Dinge ganz au fait erhalten werde.

Immer aufrichtig der Ihre

Decimus Brock.«

Midwinter hob diesen Brief am selben Orte auf, wo er schon den vorigen verwahrt hatte, in seinem Taschenbuche, zusammen mit der Erzählung von Allan’s Traume.

»Wie viele Tage noch?« fragte er sich auf dem Rückwege nach dem Hause. »Wie viele Tage noch?«

Nicht viele. Der erwartete Augenblick rückte heran.

Der Montag kam und mit, ihm Mr. Bashwood pünktlich zur bestimmten Stunde. Der Montag kam und fand Allan ganz absorbiert von den Vorbereitungen zu dem Picknick. Den ganzen Tag lang zu Hause und außer dem Hause hielt er eine Reihe von Besprechungen. Er hatte Geschäfte mit Mr. Gripper, mit dem Kellermeister und mit dem Kutscher, in ihren drei verschiedenen Departements des Essens, Trinkens und Fahrens. Er ging in die Stadt, um seine Rechtsanwälte hinsichtlich der »Breiten« zu Rathe zu ziehen und beide Advocaten, den Vater wie den Sohn in Ermangelung irgendwelcher anderer Nachbarn, die er einladen konnte, aufzufordern, sich an dem Picknick zu betheiligen. Pedgift Senior ertheilte, in seinem Departement, die allgemeine Auskunft, bat aber, daß Allan ihn von dem Picknick dispensiere, da er durch Geschäfte davon abgehalten werde. Pedgift juuior lieferte, in seinem Departement, die nöthigen Details und nahm, die Geschäfte preisgebend, mit dem größten Vergnügen die Einladung an. Von der Expedition der Advocaten zurück, begab Allan sich zunächst nach dem Häuschen des Majas, um sich der Zustimmung der jungen Dame für den Ort zu versichern, welchen er zur Vergnügungspartie in Aussicht genommen hatte. Nachdem dies besorgt war, kehrte er nach Hause zurück, um hier der letzten Schwierigkeit zu begegnen —— der Schwierigkeit, Midwinter zur Theilnahme an der Expedition nach den »Breiten« zu überreden.

Bei der ersten Erwähnung der Sache fand Allan seinen Freund fest entschlossen, zu Hause zu bleiben. Midwinter’s Widerstreben, nach dem, was sich im Parkhäuschen zugetragen, mit dem Major und dessen Tochter zusammenzukommen, wäre vielleicht zu überwinden gewesen. Allein sein Entschluß, den Unterrichts-Cursus Bashwoood’ nicht unterbrechen zu lassen, war unerschütterlich. Nachdem er die äußersten Anstrengungen gemacht, seinen Einfluß zur Geltung zu bringen, mußte sich Allan mit einem Vergleiche begnügen. Midwinter versprach, freilich nicht sehr bereitwillig, gegen Abend da zur Gesellschaft zu stoßen, wo ein Zigeuner-Thee stattfinden, mit dem die Festlichkeit des Tages geschlossen werden sollte. So weit war er bereit, die Gelegenheit zu benutzen, um sich mit den Milroys wieder auf freundschaftlichen Fuß zu stellen. Mehr könne er, selbst auf Allan’s dringende Bitten, nicht zugeben, und mehr zu fordern, sei völlig nutzlos.

Der Tag des Picknicks kam. Der schöne Morgen, sowie die fröhliche Geschäftigkeit bei den Vorbereitungen zu der Partie vermochten Midwinter nicht zu einer Aenderung seines Entschlusses zu verlocken. Zur gewohnten Stunde zog er sich vom Frühstückstisch zurück, um sich zu Mr. Bashwood in die Verwalterstube zu verfügen. Die Beiden saßen auf der Hinterseite des Hauses ruhig über ihren Büchern, während vorn das Packen der Proviantkörbe für das Picknick vor sich ging. Der junge Pedgift, klein von Gestalt, aufgeputzt und zuversichtlichen Wesens, kam, etwas vor der Abfahrtsstunde, um die Anordnungen zu überwachen und die letzten Maßregeln zu treffen, zu denen seine Ortskenntniß ihn berechtigte. Allan und er waren noch in eifriger Berathung mit einander begriffen, als sich das erste Hindernis; einstellte. Das Hausmädchen vom Parkhäuschen brachte Allan ein Billet von Miß Milroy und wartete unten aus Antwort.

Offenbar hatte bei diesem Anlaß Miß Milroy’s Gemüthsbewegung ihr Schicklichkeitsgefühl in den Hintergrund gedrängt. Der Ton des Briefes war ein fieberhaft aufgeregter, und die Schrift wanderte, in beklagenswerther Nichtachtung alles schicklichen Zwanges, schief auf und ab.

»O, Mr. Armadale«, schrieb die Tochter des Majors, »was für ein Unglück! Was sollen wir anfangen? Der Papa hat heute Morgen einen Brief von der Großmama wegen der neuen Gouvernante erhalten. Ihre Empfehlungen haben sieh als völlig befriedigend herausgestellt, und sie ist bereit, unverweilt zu kommen. Großmama meint, je eher je lieber (wie ärgerlich!), und sie sagt, wir dürfen sie —— die Gouvernante meine ich —— schon heute oder morgen erwarten. Papa sagt, er ist stets so lächerlich rücksichtsvoll gegen alle Leute, wir dürfen Miß Gwilt, für den Fall, daß sie heute anlangen sollte, nicht eintreffen lassen, ohne daß Jemand im Hause bleibt, um sie zu empfangen, Was sollen wir anfangen? Ich könnte weinen vor Verdruß. Miß Gwilt macht mir schon den unvortheilhaftesten Eindruck von der Welt, obgleich Großmama sagt, sie sei charmant. Wissen Sie irgendeinen Rath, lieber Mr. Armadale? Wenn Sie ihn haben, so wird Papa sich sicherlich fügen. Halten Sie sich nicht mit Schreiben auf, sondern senden Sie mir eine mündliche Antwort. Ich habe einen neuen Hut zu dem Picknick bekommen, und, o, die Qual, nicht zu wissen, ob ich ihn aufbehalten oder wieder abnehmen muß! ——

Aufrichtig die Ihre

L. M«

»Der Teufel hole Miß Gwilt!« sagte Alan, in hilfloser Bestürzung seinen Rechtsanwalt anstierend.

»Von ganzem Herzen, Sir; ich möchte durchaus nicht verhindern«, bemerkte Pedgift junior. »Darf ich fragen, was es gibt?«

Allan erzählte es ihm. Mr. Pedgift junior mochte seine Fehler haben, aber Verlegenheit um Auskunftsmittel gehörte nicht dazu.

»Es gibt einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit, Mr. Armadale«, sagte er. »Wenn sie heute anlangt, so lassen Sie die Gouvernante mit zum Picknick kommen.«

Allan machte vor Erstaunen große Augen.

»Alle Pferde und Fuhrwerke in den Ställen und Remisen von Thorpe-Ambrose brauchen wir für unsre kleine Partie nicht«, fuhr der junge Pedgift fort. »Das versteht sich! Sehr gut also. Wenn Miß. Gwilt heute kommt, kann sie unmöglich vor fünf Uhr anlangen. Wieder gut. Sie lassen um diese Zeit einen offenen Wagen vor dem Hause des Majors halten, Mr. Armadale, und ich will dem Kutscher seine Anweisungen gehen, wohin er fahren soll. Wenn die Erzieherin im Parkhäuschen eintrifft, mag sie ein hübsches kleines Billet mit einer Entschuldigung vorfinden —— in Begleitung kalten Geflügels oder was man ihr sonst nach ihrer Reise vorsetzen mag —— worin sie ersucht wird, sich des Wagens zu bedienen, um sich dem Picknick anzuschließen. Beim Zeus, Sir«, sagte der junge Pedgift fröhlich, »sie muß in der That von empfindlicher Natur sein, wenn sie sich danach noch vernachlässigt fühlt!«

»Vortrefflich«, rief AlIan. »Es soll ihr jede Aufmerksamkeit erwiesen werden. Ich will ihr den Ponywagen mit dem weißen Geschirr geben, und sie soll sich selber fahren, wenn sie Lust hat.«

Er kritzelte eine Zeile, um Miß Milroy’s Angst zu beschwichtigen, und gab die nöthigen Befehle hinsichtlich der Ponykutsche. Zehn Minuten später hielten die für die Vergnügungsparties bestimmten Wagen vor der Thür.

»Jetzt, da wir uns ihretwegen all diese Mühe genommen«, sagte Allan, als sie aus dem Hause traten, »bin ich neugierig, ob wir, wenn sie wirklich heute kommt, sie beim Picknick sehen werden!«

»Komm ganz und gar auf ihr Alter an, Sir«, sagte der junge Pedgift mit der glücklichen Zuversicht, die ihn in so hohem Grade auszeichnete, sein Urtheil abgebend. »Ist sie alt, so wird sie von der Reise erschöpft sein und sich an dem kalten Kapaun stärken und das Haus halten. Ist sie jung, so verstehe ich entweder nichts von den Weibern, oder die Ponys mit dem weißen Geschirr bringen sie zum Picknick.«

Darauf fuhren sie nach dem Parkhäuschen ab.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Die kleine Gruppe, die in Major Milroy’s Wohnzimmer versammelt war und auf die Wagen von Thorpe-Ambrose wartete, würde auf Niemanden, der nichts davon gewußt hätte, den Eindruck einer Gesellschaft gemacht haben, die einem Picknick entgegensähe. Soviel man sah, waren die Anwesenden in sattsam feierlich langweiliger Stimmung, um für Hochzeitsgäste gelten zu können.

Selbst Miß Milroy, obgleich sich vollkommen bewußt, daß ihr hübsches Musselinkleid und ihr schöner neuer Federhut sie vortrefflich kleideten, erschien in diesem unvortheilhaften Augenblicke als Miß Milroy unter einer Schattenwolke. Obgleich Allans Billet ihr in kräftigster Sprache die Versicherung gegeben, daß der eine große Zweck, die Ankunft der Erzieherin mit der Feier des Picknicks in Einklang zu bringen, erreicht sei, blieb ihr doch noch der Zweifel, ob Allans Plan, sei er, was er sei, von ihrem Vater gebilligt würde. Mit Einem Worte, Miß Milroy wollte sich ihres Vergnügens für den Tag nicht gewiß dünken, bis der Wagen vor der Thür halten und sie von dannen führen würde. Der Major seinerseits, zur Feier des Tages in einen knappen blauen Frack eingeknöpft, den er seit Jahren nicht getragen, und mit einer zwölfstündigen Trennung von seiner alten Freundin und Gefährtin, der Uhr, bedroht, war ein Mann so sehr außer seinem Fahrwasser, wie es nur je einen gegeben. Was die Freunde betraf, die auf Allan’s Wunsch dazu geladen worden, nämlich die Wittwe Mrs. Pentecost und ihr Sohn, Se. Ehrwürden Mr. Samuel Pentecost, so hätte man ganz England von einem Ende zum andern durchsuchen können, ohne ein Paar Leute zu entdecken, die weniger zur Lust des Tages beizutragen geeignet waren, als diese Beiden. Ein junger Mann, der seine Rolle in der Gesellschaft spielt, indem er durch eine grüne Brille zuschaut und mit einem krankhaften Lächeln zuhört, mag wohl ein Wunder von Verstand und ein Abgrund von Tugend sein, aber für ein Picknick ist er kaum der rechte Mann. Eine alte Dame, die an Taubheit leidet, deren einziges unerschöpfliches Thema ihr Sohn ist und die bei den glücklicherweise seltenen Gelegenheiten, wo ihr Sohn spricht, Jeden eifrigst fragt: » »Was sagt mein Sohn?« ist eine Person, die vermöge ihrer Gebrechen zu Mitleid und wegen ihrer mütterlichen Zärtlichkeit zu aller Achtung berechtigt, allein ist es irgendwie zu umgehen, nicht gerade zu einem Picknick taugt. Ein solcher Mann aber war Se. Ehrwürden Mr. Samuel Pentecost, und eine solche Frau war Sr. Ehrwürden Mutter; und in Ermangelung anderer produzierbarer Gäste waren sie engagiert, heute auf Mr. Armadales Vergnügungspartie nach den »Breiten« von Norfolk zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein.

Die Ankunft Allan’s, der von seinem getreuen Begleiter, Pedgift junior, gefolgt ward, fachte die sinkenden Lebensgeister der Gesellschaft im Parkhäuschen wieder an. Der Plan, der Erzieherin die Mittel an die Hand zu geben, um sich dem Picknick anschließen zu können, genügte selbst dem Major in seinem Wunsche: der Dame, die er in seinem Hause aufzunehmen im Begriff stand, alle Aufmerksamkeit zu erzeigen. Nachdem sie die erforderliche Entschuldigung und Einladung geschrieben und in ihrer besten Handschrift an die Gouvernante adressiert, lief Miß Milroy hinauf, um ihrer Mutter Adieu zu sagen, und kehrte mit lächelndem Gesicht und einem Seitenblicke auf ihren Vater zurück, um zu verkünden, daß sie jetzt das Haus verlassen könnten. Die Gesellschaft verfügte sich unverzüglich an das Gartenpförtchen und sah sich, dort angelangt, der zweiten großen Schwierigkeit des Tages gegenüber. In welcher Weise sollten sich die sechs Personen des Picknicks in die beiden offenen Vehikel theilen, die ihrer warteten?

Da legte Pedgift junior abermals seine unschätzbaren Talente in Bezug auf Auskunftsmittel an den Tag. Dieser höchst begabte junge Mann besaß in einem erstaunlichen Grade ein den meisten jungen Leuten unseres Zeitalters eigenthümliches Talent: er war vollkommen fähig, sein Vergnügen zu genießen, ohne darüber seine Geschäfte zu vergessen. Ein Client, wie der Squire von Thorpe-Ambrose, fiel seinem Vater nur sehr selten in den Schooß, und es war daher des jungen Pedgift’s Geschäft, daß er Allan den ganzen Tag hindurch eine besondere, doch nicht aufdringliche Aufmerksamkeit erwies, ein Geschäft, das er vom Anfang bis zum Ende der Lustpartie keinen Augenblick aus dem Gesichte verlor, während er sich zu gleicher Zeit als Leben und Seele des Festes bewahrte. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, wie es zwischen Allan und Miß Milroy stand, und sorgte auf der Stelle für die Erfüllung der nach dieser Richtung hin gehenden Wünsche seines Clienten, indem er sich erbot, um seiner Ortskenntniß willen, im ersten Wagen voran zu fahren und Major Milroy und den Geistlichen um ihre Begleitung ersuchte. »Wir werden an einer für einen Soldaten sehr interessanten Stelle vorbeikommen, Sir«, sagte der junge Pedgift mit seiner glücklichen und dreisten Zuversicht zum Major, »an den Ueberresten eines römischen Feldlagers. Und mein Vater, Sir, der einer der Beitragenden ist«, fuhr der angehende Advocat zum Geistlichen gewendet fort, wünscht, daß ich Sie um Ihre Ansicht über die neue Kleinkinderschule befrage, die in Little Gill Beck gebaut wird. Wollen Sie mir dieselbe auf unserer Fahrt gütigst mittheilen?« Er öffnete den Wagenschlag und half dem Major und dem Geistlichen hinein, ehe weder der Eine noch der Andere Einwendungen zu erheben im Stande war. Dies hatte die nothwendige Folge, daß Allan und Miß Milroy in einem und demselben Wagen zusammen fuhren und noch des Extravortheils einer tauben alten Duena genossen, welche des Squires Höflichkeiten in den unerläßlichen Schranken hielt.

Allan hatte sich noch nie eines Zusammenseins mit Miß Milroy erfreut, wie es ihm jetzt auf der Fahrt nach den, »Breiten« zu Theil wurde. Die liebe alte Dame that, nachdem sie ein paar Anekdoten über ihren Sohn erzählt, das Eine, was noch fehlte, um das Glück ihrer beiden jugendlichen Gefährten vollständig zu machen »— sie ward für die Gelegenheit absichtlich eben sowohl blind, wie sie taub war. Eine Viertelstunde, nachdem der Wagen das Häuschen des Majors verlassen, sank die arme gute Seele, auf bequemen weichen Kissen ruhend und von lauen Sommerlüften angefächelt, in einen friedlichen Schlummer. Allan machte seinen Hof und Miß Milroy gestattete die Fabrication dieses zuweilen sehr kostbaren Gegenstandes menschlichen Verkehrs —— beide vollkommen gleichgültig gegen das in zwei Noten spielende feierliche Aecompagnement, das die arglose Nase der Predigersmutter abgab. Die einzige Unterbrechung, die das Hofmachen erlitt, denn das Schnarchem als ein seiner Natur nach bei weitem ernsteres und dauernderes Ding, ward nicht unterbrochen, kam von Zeit zu Zeit von dem voran fahrenden Wagen. Nicht zufrieden, des Majors römisches Feldlager und des Predigers Kleinkinderschule im Kopfe zu haben, erhob Pedgift junior sich hin und wieder in seinem Wagen, rief das ihnen folgende Fuhrwerk an und lenkte mit durchdringender Tenorstimme und in höchst gewählten Ausdrücken Allan’s Aufmerksamkeit auf die interessanten Punkte der Fahrt. Das Einzige, was ihn zum Schweigen brachte, war die stereotype Antwort: »Ja, herrlich!« die Allan zurückbrüllte, worauf Mr. Pedgift in den Tiefen seines Wagens wieder verschwand und die Römer und Kinder da wieder aufnahm, wo er sie hatte fallen lassen.

Die Gegend, durch die jetzt die Gesellschaft fuhr, verdient weit größerer Aufmerksamkeit, als ihr sowohl von Allan wie von seiner Freundin zu Theil wurde.

Eine Fahrt von einer Stunde hatte den jungen Armadale und seine Gäste über den Bereich von Midwinter’s einsamen Spaziergängen hinausgebracht und führte sie einem der eigenthümlichsten und anmuthigsten Naturbilder immer näher, welches die Binnenlandschaft nicht nur von Norfolk, sondern von ganz England aufzuweisen hat. Je mehr die Wagen sich der entlegenen und einsamen Breitengegend näherten, je mehr veränderte« sich allmählig die Landschaft Die Weizen- und Rübenfelder wurden sichtlich seltener, und die fetten grünen Weideplätze mit ihrem weichen schwellenden Rasen dehnten sich zu beiden Seiten weiter und weiter aus. Haufen von trockenem Rohr und Binsen lagen für Korbmacher und Dachdecker am Wege aufgestapelt. Die alten Giebelhäuschen, an denen sie auf der ersten Strecke ihrer Fahrt vorüber gekommen, verschwanden, und Lehmhütten erschienen an ihrer Stelle. Außer den alten Kirchthürmen und den Wind- und Wassermühlen, welche bisher die einzigen Gegenstände gebildet hatten, die man aus dem flachen Marschboden aufragen gesehen, erhoben sich jetzt rings am Horizonte die Segel von unsichtbaren Booten, die langsam hinter einem fernen Saume niedriger Weidenbäume auf unsichtbaren Gewässern dahinglitten. Alle die Linien des seltsamen und überraschenden, von der gewöhnlichen Erscheinung völlig abweichenden Bildes, wie es ein binnenländischer Ackerbaubezirk darbietet, welcher, durch das ihn umspannende verworrene Netz von Sümpfen und Wassern von seinen Umgebungen abgeschlossen, seinen Verkehr zu Wasser anstatt zu Lande bewerkstelligen muß, begannen in immer gedrängterer Reihenfolge sich zu zeigen. Netze erschienen auf den Hüttengeländern; kleine flache Boote lagen fremdartig zwischen den Blumen der Hüttengärtchen; Ackersleute gingen in einer merkwürdig zusammengesetzten Tracht umher, die zugleich auf See- und auf Landleben deutete, in Matrosenhüten, Fischerstiefeln und Bauernkitteln —— und noch immer war das niedrige Wasserlabyrinth in seiner geheimnißvollen Einsamkeit ein verstecktes Labyrinth. Eine Minute später bogen die Wagen plötzlich von der harten Landstraße in einen kleinen grasbewachsenen Nebenweg ein. Geräuschlos rollten die Räder über den feuchten schwammigen Boden dahin. Eine einsame kleine Hütte mit ihren Netzen und Booten erschien. Ein paar Ellen weiter, und das letzte Stückchen fester Erde endete mit einem Male in eine kleine Bucht und einen Hafendamm. Und am Ende des Dammes —— da, rechts und links ihren großen glänzenden, glatten Wasserspiegel ausgießend, da, so rein in ihrem makellosen Blau, so still in ihrem himmlischen Frieden wie der Sommerhimmel über ihr, lag die erste der Norfolk-Breiten.

Die Wagen hielten, das Hofmachen hatte ein Ende und die ehrwürdige Mrs. Pentecost, die in einem Augenblicke völlig ihrer Stimme mächtig ward, heftete, sowie sie vermochte, ihre Augen streng auf Allan.

»Ich lese in Ihrem Gesicht, Mr. Armadale«, sagte die alte Dame scharf, »daß Sie glauben, ich habe geschlafen.«

Das Schuldbewußtsein wirkt auf die beiden Geschlechter verschieden.In neun Fällen von zehn ist es ein weit minder unbequemes Bewußsein bei den Frauen, als bei den Männern. Die Verlegenheit war diesmal ganz und gar auf der Seite des Mannes. Während Allan erröthete und verlegen aussah, umarmte Miß Milroy mit einem hellen unschuldigen Gelächter schnell die alte Dame. »Er ist einer solchen Aehnlichkeit, Sie für eingeschlafen gehalten zu haben, ganz unfähig, liebe Mrs. Pentecost«, sagte die kleine Heuchlerin.

»Ich möchte Mr. Amardale nur wissen lassen«, fuhr die alte Dame, noch immer auf Allan argwöhnisch, fort, »daß ich, da mir leicht schwindlig wird, im Wagen die Augen schließen muß. Die Augen schließen, Mr. Armadale, ist etwas ganz anderes als einschlafen. Wo ist mein Sohn?«

Se. Ehrwürden, Mr. Samuel, erschien schweigend mit seiner grünen Brille und seinem kränklichen Lächeln in schönster Ordnung an der Wagenthür und war seiner Mutter beim Aussteigen behilflich.

»Hat Dir die Fahrt gefallen, Sammy?« fragte die alte Dame. »Herrliche Gegend, nicht wahr, mein Söhnchen?« Der junge Pedgift, welchem die ganzen Vorkehrungen zur Entdeckungsreise nach den »Breiten« zufielen, war eifrig beschäftigt, den Bootsleuten seine Befehle zu ertheilen. Major Milroy saß gelassen und geduldig allein auf einem umgestülpten Fischerboote und sah heimlich nach seiner Uhr. War Mittag schon vorbei? Schon länger als eine Stunde. Seit langen Jahren hatte die berühmte Uhr zu Hause zum ersten Male in einer leeren Werkstatt geschlagen und ihre Künste produziert Der Major seufzte, als er seine Uhr wieder in die Tasche steckte. »Ich fürchte, ich bin für derlei Partien zu alt«, dachte der gute Mann, indem er sich träumerisch umsah. »Mir scheint, ich finde nicht so viel Vergnügen daran, als ich mir gedacht hatte. Wann werden wir nun auf dem Wasser fahren? wo ist Neelie?«

Neelie, oder schicklicher gesprochen, Miß Milroy, befand sich mit dem Veranstalter des Picknicks hinter einem der Wagen. Sie waren in das interessante Thema von ihren Taufnamen vertieft, und Allan war so nahe daran, ihr einen directen Heirathsantrag zu machen, wie dies einem sorglosen jungen Herrn von zweiundzwanzig Jahren nur möglich ist.

»Sagen Sie mir die Wahrheit«, sprach Miß Milroy, die Augen bescheiden auf den Boden heftend, »als Sie zuerst meinen Namen erfuhren, gefiel er Ihnen nicht, wie?«

»Mir gefällt Alles, was Ihnen angehört«, erwiderte Allan entschieden. »Ich finde, daß Eleonore ein wunderschöner Name ist, und dennoch denke ich fast, ich weiß nicht warum, daß der Major ihn noch verschönerte, als er ihn in Neelie umwandelte.«

»Ich kann Ihnen sagen, warum, Mr. Armadale«, entgegnete die Tochter des Majors mit großem Ernste. »Es gibt in dieser Welt unglückliche Menschen, deren Namen —— wie soll ich es gleich ausdrücken? —— deren Namen nicht für sie passen. Der meine paßt nicht für mich. Ich tadle meine Eltern deshalb nicht, denn als ich noch ein kleines Kind war, konnten sie natürlich nicht wissen, zu welcher Art von Wesen ich heranwachsen würde. So aber —— passen mein Name und ich nicht für einander. Wenn man eine junge Dame Eleonore nennen hört, so denkt man sich augenblicklich ein großes, schlankes, schönes, interessantes Geschöpf ganz das Gegentheil von mir! Bei meinem Aeußeren klingt Eleonore lächerlich —— und deshalb ist Neelie, wie Sie selbst bemerkten, gerade das Rechte. Nein! nein! sagen Sie nichts weiter darüber —— ich habe genug davon; wenn wir einmal von Namen reden müssen, so habe ich einen andern Namen im Kopfe, der weit würdiger ist, besprochen zu werden.«

Sie warf dabei ihrem Gefährten einen verstohlenen Blick zu, welcher deutlich genug sagte: »Es ist Ihr Name Allan trat einen Schritt näher zu ihr heran und dämpfte, ohne die geringste Notwendigkeit, die Stimme zu einem geheimnißvollen Flüstern herab. Miß Milroy nahm augenblicklich ihre Untersuchung auf dem Erdboden wieder auf. Sie betrachtete denselben mit einem so außerordentlichen Interesse, daß ein Geologe sie fast des Kokettierens mit den oberen Gesteinsschichten hätte beargwöhnen können.

»An welchen Namen denken Sie?« fragte Allan. Miß Milroy richtete ihre Antwort in Gestalt einer Bemerkung an die oberen Schichten und lief; diese in ihrer Beschaffenheit als Schallleiter damit anfangen, was ihnen beliebte: »Wenn ich ein Mann gewesen wäre«, sagte sie, »so hätte ich Allan heißen mögen!«

Sie fühlte, während sie sprach, wie seine Blicke auf sie geheftet waren, und war, den Kopf abwendend, plötzlich tief in den Anstrich des Kutschkasten versunken. »Wie wunderhübsch!« rief sie mit einem raschen Ausbruche von Interesse für das weit umfassende Thema von Lack und Firniß aus. »Ich möchte wissen, wie das da gemacht wird?«

Der Mann beharrt und das Weib gibt nach. Allan wollte sich vom Hofmachen nicht zum Wagenbau ableiten lassen. Miß Milroy ließ den Gegenstand fallen.

»Nennen Sie mich bei meinem Taufnamen, wenn Ihnen derselbe wirklich gefällt«, flüsterte er in überredendem Tone. »Nennen Sie mich Allan —— nur dies eine Mal, bloß zum Versuch.«

dies eine Mal, blos zum Versuch«

Sie zögerte mit erhöhter Farbe und einem allerliebsten Lächeln und schüttelte den Kopf. »Ich könnte es —— noch nicht«, antwortete sie leise.

»Darf ich Sie Neelie nennen? Oder ist es noch zu früh?«

Sie sah ihn von neuem an, während sich die Musselinhülle ihrer Brust bewegte und ein Blitz von Zärtlichkeit aus ihren dunkelgrauen Augen flammte.

»Sie wissen es am besten«, sagte sie mit mattem Flüstern.

Die unvermeidliche Antwort schwebte auf Allans Lippen. Doch in demselben Augenblicke, da er zu sprechen im Begriff war, erscholl der entsetzlich hohe Tenor des jungen Pedgift, der nach »Mr. Armadale« rief, lustig durch die stille Luft. Zugleich erschien von der andern Seite des Wagens die glotzende Brille des diensteifrig suchenden geistlichen Herrn, Mr. Samuel Pentecost, und die Stimme der Mutter des geistlichen Herrn, die mit großer Geistesgewandtheit die beiden Ideen von der Nähe des Wassers und einer plötzlichen Bewegung in der Gesellschaft mit einander in Verbindung gebracht hatte, fragte in Tönen der Verzweiflung, ob Jemand ertrunken sei? Die Empfindung flieht und die Liebe schaudert bei jeder lauten Demonstration. Allan sagte: »Verdammt!« und begab sich zum» jungen Pedgift. Miß Milroy seufzte und suchte Zuflucht bei ihrem Vater.

»Ich hab’s zu Stande gebracht, Mr. Armadale!« rief der junge Pedgift, seinen Gönner froh begrüßend. »Wir können Alle zusammen auf dem Wasser fahren; ich habe das größte Boot aus den »Breiten« gemiethet. Die kleinen Nachen«, setzte er mit leiserer Stimme hinzu, wie er nach den Dammstufen voranging, »fassen, abgesehen davon, daß sie wackelig sind und leicht umschlagen, nur zwei Personen außer dem Bootführer, und der Major sagte mir, er erachte es, wenn wir Alle in einzelnen Booten führen, als seine Pflicht, mit seiner Tochter zu fahren. Ich dachte, daß dies kaum angehen würde, Sir«, fuhr der junge Pedgift mit achtungsvoll pfiffigem Nachdruck auf die Worte fort. »Und überdies hätten wir die alte Dame, wenn wir sie mit ihrem Gewicht, zweihundertfünfzig Pfund; in einen Nachen gesetzt hätten, fortwährend kopfüber im Wasser gehabt, was Verzug herbeigeführt und einen Dämpfer auf unser Vergnügen gesetzt hätte. Da ist das Boot, M. Armadale. Was sagen Sie dazu?«

Das Boot war abermals eine der wundersamen Erscheinungen auf den »Breiten.« Es war nichts anderes als ein derbes altes Rettungsboot, das nach einer stürmisch verlebten Jugend auf dem wilden salzigen Meere seinen Lebensabend auf dem glatten Süßwasser zubrachte. In der Mitte des Fahrzeugs war eine kleine gemüthliche Kajüte für Freunde der Entenjagd im Winter gebaut und vorn ein Mast mit Segel für Binnenschiffahrt errichtet. Es war reichlicher Raum für die Gäste, das Diner und die drei Bootführer vorhanden. Allan klopfte seinem getreuen Adjutanten beifällig auf die Schulter, und selbst Mrs. Pentecost gewann, sobald sich die ganze Gesellschaft gemüthlich am Bord etabliert fand, eine verhältnißmäßig heitere Ansicht von dem Picknick.

»Sollte sich irgendein Unglück ereignen«, sagte die alte Dame, zur Gesellschaft im Allgemeinen sich wendend, »so gibt es wenigstens Einen Trost für uns Alle —— mein Sohn kann schwimmen.«

Das Boot glitt von der Bucht in die stillen Gewässer der »Breite« hinaus, und die ganze Schönheit der Scenerie erschloß sich dem Auge.

Im Norden und Westen lag, wie das Boot die Mitte des Sees erreicht hatte, das Ufer hell und flach im Sonnenschein da, hie und da von Reihen dunkler Zwergbäume umsäumt und da und dort in den offeneren Zwischenräumen mit Windmühlen und roth bedachten Lehmhütten besetzt. Nach Süden verengerte sich die große Wasserfläche allmählig zu einer Gruppe von nah aneinander liegenden Inselchen, welche die Aussicht schlossen, während im Osten eine lange, sich sanft hinschlängelnde Linie von Schilf den Windungen des Sees folgte und die jenseits liegende Wasserwüste dem Blicke völlig abschnitt. So klar und leicht war die Sommerluft, daß die einzige Wolke, die sich am östlichen Horizonte zeigte, in dem Rauchkräuseln bestand, welches ein drei Meilen, oder mehr, entfernter Dampfer aus der unsichtbaren See zurückgelassen hatte. Wenn die Stimmen der Lustpartie schwiegen, ließ sich nah und fern kein Laut vernehmen, außer dem leisen Plätschern am Bug, während die Männer mit dem langsamen gelassenen Schlage ihrer langen Ruderstangen das Boot leicht über das flache Wasser bewegten. Es war, als sei die Welt und ihr Getümmel aus immer weit hinten am Lande zurückgeblieben. die Stille war magisch —— das Verschmelzen der weichen Reinheit des Himmels mit der hellen Ruhe des Sees entzückend.

In vollkommener Bequemlichkeit im Boote installiert —— der Major und seine Tochter auf der einen, der Geistliche und seine Mutter auf der andern Seite und Allan und der junge Pedgift zwischen beiden —— schaukelte die Gesellschaft sanft dem kleinen Inselneste am Ende der »Breite« zu. Miß Milroy schwamm in Entzücken; Allan war begeistert, und der Major vergaß seine Uhr. Jeder empfand auf seine Weise die Ruhe und Schönheit des Anblicks. Mrs. Pentecost fühlte sie auf ihre Art, wie eine Hellseherin mit geschlossenen Augen.

»Sehen Sie sich um, Mr. Armadale«, flüsterte der junge Pedgift. »Ich glaube, der Pastor beginnt sich zu amüsieren.«

In der That zeigte sich in diesem Augenblicke eine ungewohnte Munterkeit im Wesen des Geistlichen —— offenbar der Vorläufer einer kommenden Rede.

Wie ein Vogel bewegte er den Kopf von einer Seite zur andern, er räusperte sich, faltete die Hände und blickte mit milder Theilnahme auf die Gesellschaft. Das Vergnügt werden hatte bei diesem vortrefflichen Menschen eine beunruhigende Aehnlichkeit mit den letzten Vorbereitungen zur Kanzelbesteigung.

»Selbst in dieser friedlichen Stille«, sagte Se. Ehrwürden, mit seiner ersten Bemerkung zur Unterhaltung der Gesellschaft beitragend, »wird das christliche Gemüth —— gewissermaßen von einem Extrem zum andern geführt und mächtiglich an die Wandelbarkeit aller irdischen Freuden erinnert. Wie wäre es, wenn diese Ruhe nicht fortdauertet? Wenn sich die Winde erhöben und die Gewässer empörten?«

»Sie brauchen sich deshalb nicht zu ängstigen, Sir«, sagte der junge Pedgift; »der Juni ist hier die günstigste Jahreszeit, und Sie können schwimmen.«

Mrs. Pentecost, von der unmittelbaren Nähe ihres Sohnes wahrscheinlich magnetisch berührt, öffnete plötzlich die Augen und fragte mit ihrem gewohnten Eifer: »Was sagt mein Sohn?«

Se. Ehrwürden wiederholte seine Worte in dem Tone, der dem Gebrechen seiner Mutter entsprach. Die alte Dame nickte hohen Beifall und verfolgte den Gedankengang ihres Sohnes vermittelst eines Citats.

»Ach!« seufzte Mrs. Pentecost mit unaussprechlichem Behagen. »Er reitet auf dem Sturmwind, Sammy, und lenke den Sturm!«

»Edle Worte!« entgegnete Se. Ehrwürden. »Edle und trostreiche Worte!«

Hören Sie«, flüsterte Allan, »was machen wir, wenn er sich noch lange in dieser Weise ergeht?«

»Ich sagte Dir« wohl, Papa, daß es gewagt sei, sie einzuladen«, fügte Miß Milroy ebenfalls flüsternd hinzu

»Mein liebes Kind!« stellte ihr der Major vor. »Wir kannten sonst Niemanden in der Umgegend, und da Mr. Armadale uns gütig anbot, unsere Freunde mitzubringen, blieb uns ja nichts anderes übrig.«

»Wir können das Boot nicht umkippen«, bemerkte der junge Piedgift mit teuflischem Ernst. »Es ist unglücklicherweise ein Rettungsboot. Darf ich den Vorschlag wagen, Mr. Armadale, daß Sie dem geistlichen Herrn etwas in den Mund stecken? Es ist fast drei Uhr. Was meinen Sie, sollen wir zu Tische läuten, Sir?«

Noch nie war der rechte Mann mehr an dem rechten Platze, als der junge Pedgift bei diesem Picknick. In zehn Minuten lag das Boot in dem Schilfe still. Die Proviantkörbe von Thorpe-Ambrose wurden auf dem Kajütendache ausgepackt und dem Strome der Beredtsamkeit des geistlichen Herrn war damit für heute Einhalt gethan.

Wie unermeßlich wichtig in seinen moralischen Folgen, und darum wie lobenswerth an sich, ist das Essen und Trinken! Die gesellschaftlichen Tugenden finden ihren Mittelpunkt im Magen. Ein Mann, der nach seinem Mittagsessen nicht ein besserer Gatte,Vater oder Bruder ist, muß, unter uns gesagt, ein unheilbar lasterhafter Mensch sein. Welche verborgenen Charaktervorzüge entfalten sich; welche schlummernden Liebenswürdigkeiten erwachen nicht über Tische! Beim Oeffnen der Proviantkörbe von Thorpe-Ambrose ergoß sich eine süße Geselligkeit (ein Sprößling jener glücklichen Verbindung von Civilisation und Mrs. Gripper) über unsere Lustpartie und schmolz die widerstrebenden Elemente, aus denen diese bisher zusammengesetzt gewesen, zu einer lieblichen Mischung zusammen. Nun konnten Se. Ehrwürden, Mr. Samuel Pentecost, dessen Licht bis jetzt unter einem Scheffel gestanden, beweisen, daß er etwas thun könne, indem er bewies, daß er zu essen vermochte. Nun glänzte Mr. Pedgift heller als je durch Perlen von kaustischem Humor und durch seine Unerschöpflichkeit an gesellschaftlichen Hilfsquellen. Nun bewiesen der Squire und der reizende weibliche Gast des Squires die dreifache Verbindung von sprudelndem Champagner, kühner werdender Liebe und den Augen, in deren Wörterbuch das Nein fehlt. Nun tauchten in der Erinnerung des Majors frohe alte Zeiten auf, und lustige alte Geschichten, die seit Jahren nicht erzählt worden, fanden den Weg auf seine Lippen. Und nun zeigte sich Mrs. Pentecost in der vollen Stärke ihrer schätzenswerthen Mütterlichkeit, indem sie eine überschüssige Gabel ergriff und dieses nützliche Instrument unablässig zwischen den ausgesuchtesten Bissen der ganzen Versammlung von Schüsseln und den wenigen leeren Stellen auf den Tellern des ehrwürdigen Pfarrers spielen ließ. »Lachen Sie nicht über meinen Sohn«, schrie die alte Dame, die Heiterkeit bemerkend, die ihr Verfahren unter der Gesellschaft hervorrief. »Es ist meine Schuld, der arme, liebe Junge —— ich bringe ihn zum Essen!« Und dennoch gibt es Leute auf dieser Welt, die, wenn sie Tugend en sich an der Speisetafel entfalten sehen, wie solche sich nirgend anderswo entfalten, das herrliche Privilegium des Essens mit jenen kleinen Leiden des menschlichen Lebens in eine Kategorie stellen können, die uns die Nothwendigkeit auferlegt —— wie zum Beispiel das Zuknöpfen der Weste, oder das Zuschnüren des Corsets! Einem solchen Ungeheuer vertraue man nimmer seine zarten Geheimnisse an, weder Gefühle der Liebe, noch des Hasses, weder der Hoffnung noch der Furcht. Sein Herz wird von seinem Magen nicht gebessert, und die gesellschaftlichen Tugenden leben nicht in ihm.

Die letzten warmen Stunden des Tages und die ersten kühlen Lüfte des langen Sommerabends begegneten sich, ehe alle die Schüsseln abgeräumt und die Flaschen so leer waren, wie Flaschen es sein sollen. Als man in dieses Stadium gelangte, blickte die Picknickpartie träge nach Pedgift junior hinüber, um von ihm zu erfahren, was nun zunächst geschehen solle. Wie immer war dieser unerschöpfliche Würdenträger allen Anforderungen an ihn gewachsen. Ehe noch ein Mitglied der Gesellschaft ihn fragen konnte, welche Unterhaltung an die Reihe kommen sollte, hatte er sie schon in Bereitschaft.

»Lieben Sie die Musik auf dem Wasser, Miß Milroy?« fragte er in der leichtesten und liebenswürdigsten Weise.

Miß Milroy vergötterte die Musik auf dem Wasser sowohl, als zu Lande —— den einen Fall immer ausgenommen, wenn sie die Kunst selbst zu Hause auf dem Clavier üben mußte.

»Zuvörderst müssen wir uns aus dem Schilf herausarbeiten«, sagte der junge Pedgift. Er ertheilte den Bootsleuten seine Befehle, tauchte behende in die kleine Kajüte hinab und kam mit einer Ziehharmonica in der Hand wieder zum Vorschein.

»Hübsch, Miß Milroy, nicht wahr?« sagte er auf seinen Namenszug deutend, der in Perlmutter auf dem Instrument eingelegt war. »Ich heiße Augustus, wie mein Vater. Einige meiner Freunde streichen das »A« und nennen mich »Gustus junior.« Ein mäßiger Witz reicht weit unter Freunden, nicht wahr, Mr. Armadale? Ich singe ein wenig, meine Herren und Damen, und begleite mich selber; und wenn Sie es wünschen, wird es mich stolz und glücklich machen, Ihnen mein Bestes zu produzieren.«

»Halt!« rief Mrs. Pentecost. »Ich schwärme für Music.«

Mit dieser fürchterlichen Verkündung öffnete die alte Dame eine gewaltige Ledertasche, von der sie sich Tag und Nacht nicht trennte, und nahm ein Höhrrohr von jener altmodischen Form heraus, welche die Mitte hielt zwischen Horn und Trompete. »Für gewöhnlich bediene ich mich nicht gern dieses Instruments«, rief Mrs. Pentecost, »weil ich fürchte, es könnte mich tauber machen, als ich es schon bin. Aber ich kann und will mir die Musik nicht nehmen lassen. Ich schwärme für Musik. Wenn Du das andere Ende halten willst, Sammy, so will ich dies in mein Ohr stecken. Neelie, mein Kind, lassen Sie ihn beginnen.«

Der junge Pedgift litt nicht an Verlegenheit oder Schüchternheit. er begann sofort nicht etwa mit Liedern von der neuen leichten Art, wie man sie von seinem Alter und seinem Charakter hätte erwarten dürfen, sondern mit declamatorischen und patriotischen Dithyramben, welche in jene kühne und rauschende Musik gesetzt waren, wie sie die Engländer zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts liebten und, wenn sie ihnen vorgeführt wird, noch immer lieben. »Der Tod Marmion’s«, »Die Schlacht auf dem Baltischen Meer«, »Die Bucht von Biscaya«, »Nelson« in verschiedenartigen Compositionen, wie der selige Brahom sie gab —— dies waren die Gesänge, in denen die brausende Ziehharmonica und des jungen Pedgift’s greller Tenor mit einander schwelgten. »Sagen Sie mir, wenn Sie genug davon haben, meine Damen und Herren«, sprach der rechtsgelehrte Troubadour. »Ich bin nicht eitel. Möchten Sie zur Abwechselung etwas Gefühl haben? Soll ich mit dem »Mistelzweig« und der »Armen Mary Anne« vielleicht schließen?«

Nachdem er seine Zuhörer durch diese beiden letzten heiteren Melodien erfreut hatte, ersuchte Pedgift die übrige Gesellschaft ehrfurchtsvoll, seinem Beispiele zu folgen, und erbot sich zugleich, ein laufendes Accompagnement dazu zu improvisieren, wenn der Sänger ihm nur den Grundton anzugeben die Güte haben wolle.

»Fahre doch Jemand fort!« rief Mrs. Pentecost eifrig. »Ich wiederhole Ihnen, ich schwärme für Musik. Wir haben noch nicht zur Hälfte genug gehabt; wie, Sammy?«

Der geistliche Herr gab keine Antwort. Der unglückliche Mann hatte seine Gründe —— nicht gerade in seiner Brust, sondern etwas weiter unten —— um inmitten der allgemeinen Fröhlichkeit und des allgemeinen Beifalls zu schweigen. Du arme Menschheit! Selbst die mütterliche Liebe kann durch die irdische Trüglichkeit der Dinge vergällt werden. Seiner vortrefflichen Mutter bereits für Vieles verpflichtet, hatte Se. Ehrwürden ihr jetzt noch eine starke Indigestion zu verdanken.

Indessen bemerkte noch Niemand die Zeichen und Merkmale des inneren Aufruhres im Gesichte des geistlichen Herrn. Jedermann war beschäftigt, Jeden um ein Lied zu bitten. Miß Milroy bat den Gastgeber. »Bitte, singen Sie etwas, Mr. Armadale«, sagte sie, »ich möchte Sie so gern hören!«

»Wenn Sie einmal den Anfang gemacht, Sir«, fügte der heitere Pedgift hinzu »werden Sie die Fortsetzung außerordentlich leicht finden. Die Musik ist eine Wissenschaft, die man gleich anfangs bei der Kehle packen muß.«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Allan in seiner gutmüthigen Art. »Ich weiß eine Masse von Liedern, aber das Schlimmste dabei ist, daß mir die Worte entfallen. Ob ich wohl im Stande sein werde, mich auf ein einziges von Moore’s Liedern zu besinnen. Meine liebe Mutter fand Gefallen daran, mich, als ich noch ein kleiner Bursche war, Moore’s Lieder zu lehren.«

»Wessen Lieder?«fragte Mrs. Pentecost »Moore’s? Aha! Ich weiß den Tom Moore auswendig.«

»Ja diesem Falle werden Sie vielleicht die Güte haben, mir zu Hilfe zu kommen, Madame, wenn mein Gedächtniß mir den Dienst versagt«, erwiderte Allan. »Ich will die leichteste Melodie in der ganzen Sammlung wählen, wenn Sie erlauben. Sie ist Jedem bekannt —— »Eveline’s Laube.«

»Ich bin im allgemeinen mit den Volksmelodien von England, Schottland und Irland vertraut«, sagte Pedgift junior. »Mit dem größten Vergnügen will ich Sie begleiten, Sir. So, dass ist ungefähr die richtige Weise.« Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf dass Dach der Kajüte und brach in eine complicirte musikalische Improvisation aus, die wunderbar anzuhören war —’ ein Gemisch von Cadenzen und Aechzen; ein Hopser durch einen Grabgesang gehoben —— ein Grabgesang durch einen Hopser erheitert. »So ist? recht«, sagte der junge Pedgift mit seinem Lächeln der höchsten Zuversicht »Losgeschossen, Sir!«

Mrs. Pentecost erhob ihre Trompete und Allan seine Stimme. »»O, weinet um die Stunde, wenn zu Eveline’s Laube ——."« Er hielt inne; die Begleitung hielt inne; die Zuhörer warteten. »Aeußerst merkwürdig«, sagte Allan, »ich dachte, ich hätte die nächste Zeile auf der Zunge, und jetzt scheint sie mir entfallen zu sein. Ich will noch einmal von vorn anfangen, wenn Sie nichts dawider haben: »O, weinet um die Stunde, wenn zu Eveline’s Laube ——«

»Mit falschen Schwüren trat heran der Ritter aus dem Thale"«, half Mrs. Pentecost ein.

»Danke, Madame«, sagte Allan »Jetzt wird es gehen. »O, weinet um die Stunde, wenn zu Eveline’s Laube mit falschen Schwüren trat heran der Ritter aus dem Thale. Hell schien der Mond ——«

»Nein!« sagte Mrs. Pentecost.

»Ich bitt« um Verzeihung, Madame«, sagte Allan.

»Hell schien der Mond ——«

»Es siel dem Monde gar nicht ein«, sagte Mrs. Pentecost.

In der Voraussicht eines Streites beharrte Pedgift junior im Interesse der Harmonie bei einer sotto voce Begleitung.

»Das sind Moore’s eigenen Worte, Madame«, sagte Allan, »in dem Exemplar seiner »Melodien«, welches meine Mutter besaß ——«

»Dann stand es falsch im Exemplar Ihrer Mutter«, entgegnete Mrs. Pentecost. »Habe ich Ihnen nicht soeben gesagt, daß ich den Tom Moore auswendig weiß?«

Die friedenstiftende Ziehharmonica säuselte und stöhnte noch immer in Moll.

»Nun, was hat denn der Mond sonst gethan?«« fragte Allan in Verzweiflung.

»Das, was der Mond thun mußte, Sir, oder Tom Moore würde es nicht so geschrieben haben«, entgegnete Mrs. Pentecost. »Dem Himmel dieser Nacht der Mond entzog sein Licht, und um die Schande weint er Eveline’s! Ich wollte, der junge Mann stellte das Spielen ein«, setzte Mrs. Pentecost hinzu, ihre zunehmende Aergerlichkeit an Gustus juuior auslassend. »Ich habe genug von ihm —— er kitzelt mir die Ohren.«

»Sie machen mich stolz, Madame«, sagte der freche Pedgift. »Die ganze Wissenschaft der Musik besteht im Ohrenkitzel.«

»Es scheint, wir gerathen in eine Art von Streit«, bemerkte der Major gelassen. »Wäre es nicht besser, wenn Mr. Armadale mit seinem Liede fortführe?«

»Bitte, fahren Sie fort, Mr. Armadale«, sprach die Tochter. »Bitte, Mr. Pedgift, fahren Sie fort!«

»Der Eine weiß die Worte nicht und der Andere kennt die Melodie nicht«, sagte Mrs. Pentecost »Laßt sie fortfahren, wenn sie können!«

»Thut mir leid, Ihre Wünsche zu vereiteln, Madame«, sagte Pedgift junior; »ich meinestheils bin bereit fortzufahren, so lange es den Herrschaften beliebt. Also, Mr. Armadale!«

Allan öffnete die Lippen, um da wieder anzufangen, wo er abgebrochen hatte. Ehe er jedoch einen Ton herausbringen konnte, stand plötzlich der Geistliche mit todesbleichem Antlitze auf und preßte die Hand auf die mittlere Region seiner Weste.

»Was gibt’s?« rief die ganze Gesellschaft im Chor.

»Ich fühle mich überaus unwohl«, sagte Se. Ehrwürden, Mr. Samuel Pentecost.

Augenblicklich war das Boot in einem Zustande der Verwirrung. »Eveline’s Laube« erstarb auf Allan’s Lippen, und selbst die unheilvolle Ziehharmonica des jungen Pedgift war endlich zum Schweigen gebracht. Indeß war der Alarm ganz überflüssig. Mrs. Pentecost’s Sohn besaß eine Mutter, und diese Mutter hatte eine Ledertasche. In zwei Minuten hatte die Heilkunst die Stelle der allgemeinen Aufmerksamkeit eingenommen, welche bisher die Musik inne gehabt hatte.

»Reibe Dir’s ein wenig, Sammy«, sagte Mrs. Pentecost. «Ich will die Flaschen herausnehmen und Dir etwas eingehen. Es ist sein armer Magen, Herr Major. Halte mir Jemand das Hörrohr, und lassen Sie das Boot still stehen. Nehmen Sie diese Flasche, Neelie, liebes Kind, und Sie diese, Mr. Armadale. Und gebt mir sie her, sowie ich sie brauche. Ach, mein armer lieber Junge, ich weiß wohl, was ihm fehlt! Es fehlt ihm an Kräften hier, Major —— kalt, sauer und schlaff. Ingwer zum Warmen, Soda zur Herstellung, flüssiges Salz zur Stärkung. Hier, Sammy,trink’ es, ehe es flau wird —— und dann geh’ und lege Dich in der Hundehütte dort nieder, die man hier die Kajüte nennt. Keine Musik mehr«, sagte Mrs. Pentecost, mahnend den Finger gegen den Eigenthümer der Ziehharmonica erhebend, »außer etwa einer Hymne, dann habe ich nichts dagegen.«

Da Niemand in der passenden Gemüthsstimmung zu sein schien, um eine Hymne zu singen, griff der hochbegabte Pedgift in seinen Schatz von Localkenntnissen und brachte eine neue Idee zum Vorschein. Der Curs des Boots ward unter seiner Anweisung augenblicklich verändert. In wenigen Minuten sah sich die Gesellschaft in einer kleinen Inselbucht, an deren äußerstem Ende eine einsame Hütte stand und wo ein förmlicher Schilfwald rings alle Aussicht ausschloß.

»Was sagen Sie dazu, meine Herrschaften, wenn wir ans Land stiegen und uns einmal solch’ eine Schilfschneider-Hütte ansähen?« fragte Pedgift.

»Wir sagen ja dazu, das versteht sich«, erwiderte Allan. »Ich fürchte, unser Vergnügen hat durch Mr. Pentecost’s Krankheit und Mrs. Pentecost’s Ledertasche einen kleinen Dämpfer erhalten«, setzte er flüsternd, zu Miß Milroy gewendet, hinzu. »Eine derartige kleine Veränderung ist genau das, was uns wieder in das rechte Geleise bringen wird«

Er und der junge Pedgift halfen Miß Milroy aus dem Boote. Mrs. Pentecost saß, die Ledertasche auf dem Schooße, regungslos, wie die ägyptische Sphinx, und hielt Wache über Sammy in der Kajüte.

»Wir müssen die Fröhlichkeit im Gange erhalten, Sir«, sagte Allan, während er dem Major beim Aussteigen behilflich war. »Wir sind mit unserem Amüsement noch nicht halb zu Ende.«

Seine Stimme bestätigte seine feste Ueberzeugung von solcher Perspective so kräftig, daß selbst Mrs. Pentecost ihn hörte und unheilverkündend das Haupt schüttelte.

»Ach!« seufzte die Mutter des Geistlichen. »Wenn Sie so alt wie ich wären, junger Herr, so würden Sie nicht ganz so fest an das Vergnügen des Tages glauben!«

So sprach, die Voreiligkeit der Jugend tadelnd, das vorsichtige Alter. Die negative Ansicht ist allbekannt in der ganzen Welt die sicherste —— und die Pentecost’sche Philosophie erweist sich im Allgemeinen folglich als die richtige.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Es war nahe an sechs Uhr, als Allan und seine Freunde das Boot verließen, und schon senkte sich der Abend’ geheimnißvoll und still über die Wasserwüste der »Breiten.«

Das Ufer dieser wilden Gegend glich keinem andern Ufer. So fest dasselbe aussah, war doch der Boden des Gartens vor dem Rohrschneider-Häuschen wankender Boden, der sich unter dem Drucke des Fußes hob und senkte und kleine Sümpfe durchsickern ließ. Die Bootsleute, welche die Gäste führten, mahnten sie, sich streng an den Weg zu halten und deuteten durch offene Stellen im Schilfrohr und in den Weidenbüschen auf Rasenflecke, auf welche Fremde zuversichtlich getreten sein würden und wo doch die Erdrinde über der bodenlosen Tiefe von Schlamm und Wasser nicht stark genug war, nur ein Kind zu tragen. Die einsame, mit Theer überzogene Holzhütte stand auf einem Pfahlroste. Am einen Ende des Daches erhob sich ein kleiner hölzerner Thurm, der in der Entenjagdzeit als Luginsland diente. Von dieser Höhe aus schweifte das Auge weit über die Wasser- und Sumpfwüste dahin. Hätte der Schilfschneider sein Boot verloren, so wäre er von allem Verkehr mit Dorf oder Stadt so vollständig abgeschnitten gewesen, als wenn er statt in einer Hütte auf einem Leuchtschiff gewohnt hätte. Weder er noch seine Familie beklagte sich über diese Einsamkeit oder sah darum im geringsten wilder oder übler aus. Seine Frau empfing die Fremden gastlich in einem gemüthlichen kleinen Zimmer, mit einer Balkendecke und mit Fenstern, die den Kajütenfenstern eines Schiffes glichen. Der Vater seiner Frau erzählte Geschichten aus jenen famosen Tagen, wo die Schmuggler in der Nacht vom Meere heraufkamen, mit gedämpften Rudern durch das Netz von Flüssen ruderten, bis sie die einsamen »Breiten« erreichten und, weit außer dem Bereiche der Küstenwächter, ihre Rumfässer ins Wasser senkten. Seine wilden kleinen Kinder spielten Verstecken mit den Gästen, und erstaunt und entzückt über den neuen Anblick von allem, was sie sahen, gingen diese im Hause und auf dem Stückchen festen Landes umher, auf dem das Häuschen stand. Der Einzige, der auf das Vorrücken des Abends achtete, der Einzige, welcher der fliehenden Zeit und der wartenden Pentecosts im Boote gedachte, war der junge Pedgift. Dieser erfahrene Lootse aus den »Breiten« sah heimlich nach seiner Uhr und zog Allan bei der ersten Gelegenheit auf die Seite.

»Ich möchte Sie nicht treiben, Mr. Armadale«, sagte Pedgift junior, »aber es fängt an spät zu werden und außerdem kommt eine Dame in Frage.«

»Eine Dame?« wiederholte Allan.

»Ja, Sir«, erwiderte der junge Pedgift; »eine Dame aus London, nebst einem, erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, Ponywagen und weißem Geschirr.«

»Gerechter Himmel, die Gouvernante!« rief Allan. »Wie! Wir haben sie ganz vergessen.«

»Aengstigen Sie sich nicht, Sir; wir haben noch vollauf Zeit, wenn wir nur sogleich wieder ins Boot steigen. Die Sache steht so, Mr. Armadale. Wie Sie sich erinnern werden, kamen wir überein, unsern Zigeunerthee an der nächsten »Breite«, Hurle Mere, einzunehmen.«

»Ganz recht«, sagte Allan. »Hurle Mere ist die Stelle, wo mein Freund Midwinter uns zu treffen versprochen hat.«

»Hurle Mere ist die Stelle, an der die Erzieherin sich einfinden wird, Sir, wenn der Kutscher meine Instructionen befolgt«, fuhr der junge Pedgift fort. »Wir haben fast eine Stunde zu rudern, um zwischen den engen Gewässern nach Hurle Mere zu kommen, und nach meiner Berechnung miissen wir, wollen wir die Gouvernante und Ihren Freund treffen, in fünf Minuten wieder an Bord sein.«

»Auf keinen Fall dürfen wir meinen Freund verfehlen«, sagte Allan, »und die Gouvernante natürlich ebenso wenig. Ich will’s dem Major sagen.«

Major Milroy war eben im Begriff. den hölzernen Wachtthurm zu ersteigen, um von dort die Aussicht zu genießen. Der stets behilfliche Pedgift erbot sich, ihn zu begleiten und ihm doppelt so schnell alle nothwendige Auskunft über die ganze Gegend zu geben, wie der Schilfschneider dies über die nächste unmittelbare Umgebung hätte thun können.

Allan blieb stiller und gedankenvoller als gewöhnlich vor der Hütte stehen. Sein letztes Gespräch mit dem jungen Pedgift hatte ihn zum ersten Male, seit sie ihre Lustfahrt angetreten, an den Freund erinnert. Es überraschte ihn, daß Midwinter, der sonst so beständig seine Gedanken erfüllte, jetzt so lange diesen fern geblieben war. Wie eine Selbstanklage fiel es ihm auf die Seele, wie er nun des treuen Freundes zu Hause gedachte, der in seinem Interesse und für ihn über den Rechnungsbüchern schwitzte. »Der liebe alte Junge!« dachte Allan. »Wie werde ich mich freuen, ihn an Hurle Mere zu treffen; das Vergnügen des Tages wird nicht vollständig sein, bevor er sich nicht unter uns befindet!«

»Habe ich Recht oder Unrecht, Mr. Armadale wenn ich glaube, daß Sie an Jemanden denken?« fragte eine sanfte Stimme hinter ihm.

Allan wandte sich um und sah die Tochter des Majors neben ihm stehen. Miß Milroy, die eine gewisse zärtliche Unterhaltung hinter dem Wagen nicht vergessen, hatte gesehen, wie ihr Verehrer nachdenklich allein stand und beschlossen, ihm, während ihr Vater und der junge Pedgift auf dem Wachtthurme waren, noch eine Gelegenheit zu geben.

»Sie wissen Alles«, sagte Allan lächelnd. »Ich dachte in der That an Jemanden.«

Miß Milroy warf ihm einen verstohlenen Blick zu, einen Blick sanfter Ermuthigung. Nach dem, was sich an diesem Morgen zwischen ihnen zugetragen, konnte nur ein einziges menschliches Wesen Mr. Armadale’s Gedanken beschäftigen! Es war nur ein Art der Barmherzigkeit, wenn sie ihn alsbald wieder auf das vor wenigen Stunden gestörte Gespräch über das Thema von den Namen brachte.

»Auch ich habe an Jemanden gedacht«, sagte sie, das kommende Geständniß halb herausfordernd und halb zurückweisend »Wenn ich Ihnen den Anfangsbuchstaben des Namens meines Jemand sage, wollen Sie mir dann den Anfangsbuchstaben des Ihrigen mittheilen?«

»Ich will Ihnen alles sagen, was Sie wollen«, erwiderte Allan in höchster Begeisterung.

Noch immer sträubte sie sich kokett wider den Gegenstand, den sie gerade zur Sprache zu bringen wünschte. »Sagen Sie mir Ihren Buchstaben zuerst«, sprach sie leise, den Kopf von ihm abwendend.

Allan lachte. »Mein Anfangsbuchstabe ist M«, sagte er.

Sie zuckte ein wenig zusammen. Seltsam, daß er bei ihrem Familiennamen an sie dachte, anstatt bei ihrem Taufnamen —— doch das machte wenig aus, so lange er nur wirklich an sie dachte.

»Wie heißt Ihr Buchstabe?« fragte Allan. Sie erröthete und lächelte »A, wenn Sie es durchaus wissen wollen«, antwortete sie mit widerstrebendem Flüstern. Sie warf ihm abermals einen verstohlenen Blick zu und verlängerte schwelgerisch ihren Hochgenuß an dem kommenden Geständnisse.

»Wie viele Silben hat der Name?« fragte sie, während sie mit ihrem Sonnenschirme verlegen im Sande zeichnete.

Kein Mann, der nur die mindeste Kenntniß vom weiblichen Geschlechte besessen, würde an Allan’s Stelle die Unvorsichtigkeit begangen haben, ihr die Wahrheit zu sagen. Allan, der ganz und gar nichts von der Frauennatur verstand und unter allen nur erdenklichen Verhältnissen nach rechts und links die Wahrheit sagte, antwortete, als hätte er vor den Gerichtsschranken gestanden.

»Es ist eine Name von drei Silben«, sagte er.

Miß Milroy’s niedergeschlagenen Augen blitzten ihn an.

»Drei!« wiederholte sie im äußersten Erstaunen.

Allan war von einer zu tiefgewurzelten Offenheit, um sich selbst jetzt noch warnen zu lassen, »Ich zeichne mich allerdings im Buchstabieren nicht besonders aus«, sagte er mit seinem leichtherzigen Lächeln. »Aber ich glaube nicht, daß ich einen Fehler begehe, wenn ich Midwinter als einen Namen von drei Silben bezeichne. Ich dachte an meinen Freund — —aber lassen wir meine Gedanken. Sagen Sie mir, wer A ist —— sagen Sie mir, an wen Sie dachten?«

»An den ersten Buchstaben des Alphabets, Mr. Armadale, und ich bitte auf das Bestimmteste, Ihnen nichts weiter sagen zu dürfen.«

Mit dieser vernichtenden Antwort öffnete die Tochter des Majors ihren Sonnenschirm und ging allein nach dem Boote zurück.

Allan stand wie versteinert da. Wenn Miß Milroy ihm eine Ohrfeige gegeben hätte —— und es ist nicht zu leugnen, daß sie im Stillen große Lust hatte, ihre Hand einem solchen Zwecke zu widmen ——, so hätte er kaum verdutzter sein können. »Was, in aller Welt habe ich gethan?« fragte er sich rathlos, während der Major und der junge Pedgift sich zu ihm gesellten und die Drei zusammen nach dem Wasser hinab gingen »Was wird sie nun zunächst zu mir sagen?«

Sie sagte ganz und gar nichts —— sie sah Allan nicht einmal an, als er sich im Boote niederließ. Da saß sie mit ungewöhnlich glänzenden Augen und leuchtenden Wangen und legte die größte Theilnahme für das Befinden des Geistlichen, für Mrs. Pentecost’s Laune, für Mr. Pedgift, für den sie mit Ostentation an ihrer Seite Platz machte, für die Gegend und die Hütte des Schilfschneiders, für Alles und Jeden an den Tag, außer für Allan, den sie noch vor fünf Minuten mit dem größten Vergnügen von der Welt geheirathet haben würde. »Ich werd’s ihm nie verzeihen!« dachte die Tochter des Majors. »An jenes ungezogene Scheusal zu denken, während ich an ihn dachte —— und mich dies fast bekennen zu lassen, ehe ich ihn verstanden hatte! Dem Himmel sei Dank, daß Mr. Pedgift im Boote ist!«

In dieser Gemüthsverfassung machte Miß Neelie sich unverzüglich ans Werk, den jungen Pedgift zu bezaubern und Allan zu vernichten. »O, Mr. Pedgift wie außerordentlich gescheidt und freundlich von Ihnen, uns jene reizende kleine Hütte zu zeigen! Einsam, Mr. Armadale? Ich finde sie durchaus nicht einsam; ich möchte hier lieber wohnen, als irgend sonst wo in der Welt. Was wäre unser Picknick wohl ohne Sie gewesen, Mr. Pedgift? Sie können sich gar nicht denken, wie vortrefflich ich mich amüsiert habe, seit wir ins Boot stiegen. Kühl, Mr. Armadale? Was denken Sie nur, wenn Sie sagen, es sei kühl; es ist der wärmste Abend, den wir noch im ganzen Sommer gehabt haben. Und die Musik, Mr. Pedgift; wie freundlich von Ihnen, Ihre Harmonica mitzubringen! Ob ich Sie wohl auf dem Clavier begleiten könnte? Ich möchte es einmal versuchen. O ja, Mr. Armadale, ich glaube wohl, daß Sie auch dachten, etwas musikalisch zu sein, und ich zweifle nicht, daß Sie sehr gut singen, wenn Sie den Text wissen; aber, um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, ich habe Moore’s Lieder niemals leiden können und werde sie nimmer leiden mögen.«

So unbarmherzig geschickt handhabte Miß Milroy jene schärfste aller weiblichen Waffen —— die Zunge ——, und so würde sie noch länger fortgefahren haben, wenn Allan nur die erforderliche Eifersucht verrathen oder der junge Pedgift ihr die nothwendige Ermuthigung gegeben hätte. Aber ihr böses Geschick hatte es gefügt, daß sie sich zwei Männer zu Opfern erkoren, die unter den bestehenden Verhältnissen völlig unangreifbar waren. Allan erfreute sich einer zu harmlosen Unkenntniß von allen weiblichen Spitzfindigkeiten und Empfindlichkeiten, um etwas Anderes zu verstehen, als daß die reizende Neelie auf ganz unbegreifliche Weise und ohne die geringste Ursache auf ihn böse war. Der schlaue Pedgift unterwarf sich, wie es einem scharfsichtigen jungen Manne unserer heutigen Generation zukommt, weiblichem Einflusse nur, während er sein eigenes Interesse fortwährend fest im Auge behielt. Gar mancher junge Mann in früheren Zeiten, der doch kein Narr war, hat Alles der Liebe geopfert. Nicht ein Einziger unter Zehntausenden unseres heutigen Geschlechts, die Narren ausgenommen, opfert ihr je einen Heller. Eva’s Töchter erben noch immer die Vorzüge ihrer Mutter und begehen ihrer Mutter Fehler. Aber die Söhne Adam’s unserer Zeit sind Männer, die den berühmten Apfel mit einer Verbeugung und einem »Danke sehr! ich könnte dadurch in Ungelegenheiten gerathen!« zurückgegeben haben würden. Als Allan, überrascht und getäuscht, sich von Miß Milroy entfernte und nach dem Vordertheile des Boots begab, stand der junge Pedgift auch auf und folgte ihm. »Du bist ein sehr hübsches Mädchen«, dachte der pfiffige und verständige junge Mann; »aber ein Client bleibt ein Client, —— und es thut mir leid, Ihnen zu sagen, Miß, daß es nicht angeht.« Unverzüglich machte er sich an die Aufgabe, Allan aufzuheitern, indem er dessen Aufmerksamkeit auf einen neuen Gegenstand lenkte. Im Herbste sollte auf einer der »Breiten" eine Regatta stattfinden, und das Gutachten seines Clienten, als eines ausgezeichneten Schiffers, mußte dem Comité von Nutzen sein. »Es wäre etwas Neues für Sie, eine Segelpartie auf süßem Wasser, Sir, sollt’ ich denken!« sagte er in seiner einschmeichelndsten Weise, und Allan antwortete mit augenblicklicher Theilnahme: »Ganz neu! Bitte, erzählen Sie mir mehr davon.«

Die andere Gesellschaft am entgegengesetzten Ende des Boots schien Mrs. Pentecost’s Zweifel, ob die Heiterkeit der Picknickpartie bis zu Ende vorhalten werde, zu bestätigen. Der natürliche Verdruß der armen Neelie, den Allan’s Ungeschicklichkeit ihr verursacht, war jetzt durch das nagende Bewußtsein der erlittenen Niederlage und Demüthigung bis zu entschiedenem stillen Groll gestiegen. Der Major war in sein gewohntes träumerisches zerstreutes Wesen versunken, sein Geist schwang sich mit den Rädern seines Uhrwerkes einförmig um. Der geistliche Herr barg seine Indigestion noch immer in der Kajüte vor den Blicken der Sterblichen, und seine Mutter saß mit einer zweiten Dosis in Bereitschaft und hielt Wache an der Thür. Frauen in Mrs. Pentecost’s Alter und von ihren Gemüthsanlagen, finden meistens Vergnügen an ihrer eigenen üblen Laune. »Dies also«, seufzte die alte Dame, mit einer Miene sauerer Genugthuung den Kopf hin- und herwiegend, »nennt man eine Lustpartie wie? Acht wie thöricht wir sind, unseren bequemen häuslichen Herd zu verlassen!«

Inzwischen glitt das Boot sanft zwischen den Windungen des Wasserlabyrinths hin, welches zwischen den beiden »Breiten« lag. Rechts und links gab es jetzt keine andere Aussicht, als endlose Reihen von Schilf. Nah und fern ließ sich kein Laut vernehmen, —— nirgendwo erschien eine Spur von bebautem oder bewohntem Boden. »Ein klein wenig öde hier herum, Mr. Armadale«, sagte der ewig heitere Pedgift. »Aber wir haben es eben überstanden. Sehen Sie sich um, Sir! Da sind wir bei Hurle Mere angelangt.«

Das Schilfrohr wich rechts und links zurück und das Boot glitt plötzlich in den weiten Kreis eines Teiches. Die zunächst liegende Hälfte dieses Teiches säumte noch immer das ewige Schilf; um die ferner liegende zeigte sich wieder festes Land, bald als kahle Hügel, bald als grasige Anhöhen über dem Wasser aufragend. An einer Stelle war der Boden zu einer Pflanzung benutzt, und an einer andern standen die Wirthschaftsgebäude eines alten rothen Ziegelhauses neben dem sich, der Gartenmauer entlang laufend, ein schmaler Nebenweg hinzog, der am Teiche endete. Die Sonne sank am klaren Himmel und das Wasser begann schon da, wo es von der Sonne nicht vergoldet ward, die kalte schwarze Farbe der Nacht anzunehmen. Die Einsamkeit, die auf der andern Breite wohlthuend gewesen war, und die Stille, die dort etwas Magisches gehabt hatte, solange der Tag noch auf seiner Höhe stand, waren hier eine Einsamkeit, welche traurig machte —— und eine Stille, die in der Ruhe und Melancholie des sinkenden Tages kalt ans Herz schlug.

Das Boot wurde über den See nach einer Bucht des grünen Ufers gelenkt. Ein paar jener flachen kleinen Nachen, die den »Breiten« eigenthümlich sind, lag in der Bucht, und die Schilfschneider, denen die Fahrzeuge gehörten, kamen, von dem Anblick von Fremden überrascht, hinter einer Ecke der Gartenmauer hervor und glotzten dieselben schweigend an. Kein anderes Lebenszeichen ringsum. Die Schilfschneider hatten keinen Ponywagen gesehen; kein Fremder, weder Mann noch Weib, hatte sich heute noch an dem Ufer des Hurle Mere gezeigt.

Der junge Pedgift warf abermals einen Blick auf seine Uhr und wandte sich zu Miß Milroy. »Mögen Sie nun die Gouvernante vorfinden oder nicht, wenn Sie nach Thorpe-Ambrose zurückkehren«, sagte er, »hier aber können Sie dieselbe nicht mehr erwarten. Sie wissen am besten, Mr. Armadale«, wendete er sich an diesen, »ob« darauf zu rechnen ist, daß Ihr Freund seiner Uebereinkunft mit Ihnen getreu bleibt!«

»Gewiß ist darauf zu rechnen«, erwiderte Allan, indem er mit unverhohlenem Bedauern über Midwinter’s Abwesenheit sich rings umsah.

»Sehr gut«, fuhr Pedgift junior fort. »Wenn wir unser Feuer zum Zigeunerthee auf der offenen Stelle dort anzünden, so wird Ihr Freund uns durch den Rauch auffinden können, Sir. Das ist ein Indianerkniff, um einen Verlorengegangenen auf der Prairie wiederzufinden, Miß Milroy —— und es ist hier fast wild genug zu einer Prairie, nicht wahr?«

Es gibt gewisse Versuchungen, namentlich leichterer Art, denen zu widerstehen nicht im Bereiche der weiblichen Natur liegt. Die Versuchung, die ganze Macht ihres Einflusses als des der einzigen jungen Dame der Gesellschaft geltend zu machen, um Allan’s Vorkehrungen zum Rendezvous mit seinem Freunde über den Haufen zu werfen, war zu groß für die Tochter des Majors. Mit einem Blicke, der ihn hätte niederschmettern sollen —— doch was hätte je einen Advocaten niedergeschmettert? —— wandte sie sich an den lächelnden Pedgift.

»Mir scheint, das da ist der einsamste, ödeste und abscheulichste Platz, den ich je in meinem ganzen Leben gesehen habe!« sagte Miß Neelie. »Wenn Sie darauf bestehen, hier Thee zu machen, Mr. Pedgift, so bereiten Sie keinen für mich. Nein! Ich werde im Boote bleiben, und obgleich ich geradezu verdurste, werde ich doch nichts anrühren, bis wir wieder auf dem andern See sind!«

Der Major öffnete die Lippen, um Einsprache zu erheben. Zur unaussprechlichen Freude seiner Tochter stand jedoch Mrs. Pentecost von ihrem Sitze auf, ehe er noch ein Wort sagen konnte, und fragte, nachdem sie die ganze Landschaft überschaut und darin nichts erspäht hatte, was einem Fuhrwerke glich, voll Entrüstung ob sie den ganzen Weg bis dahin zurück machen müßten, wo sie Mittags die Wagen verlassen hätten. Da sie fand, daß dies in der That beabsichtigt wurde und daß die Wagen wegen der Natur der Umgebungen nicht nach Hurle Mere hätten bestellt werden können, ohne zugleich den ganzen Weg nach Thorpe-Ambrose zurück zu machen, erklärte Mrs. Pentecost augenblicklich, im Interesse ihres Sohnes, daß nichts sie dazu bewegen solle, nach Einbruch der Nacht noch länger auf dem Wasser zu bleiben. »Rufen Sie mir ein Boot!« schrie die alte Dame in großer Aufregung. »Ueberall wo Wasser ist, da ist auch immer ein Nachtnebel, und wo ein Nachtnebel ist, da erkältet sich mein Sohn Samuel jedes mal. Reden Sie mir nicht von Ihrem Mondschein und Ihrem Thee vor —— Sie sind Alle nicht recht bei Sinnen. Hollah! Ihr beiden Männer dort!« rief Mrs. Pentecost den schweigsamen Schilfschneidern am Ufer zu. »Ich gebe Euch Jedem einen Sixpence, wenn Ihr mich und meinen Sohn in Eurem Boote zurückfahrt!«

Ehe der junge Pedgift sich noch ins Mittel legen konnte, beseitigte Allan selbst die Schwierigkeit in vollkommen guter Laune und Geduld.

»Es kann nicht davon die Rede sein, Mrs. Pentecost«, sagte er, »daß Sie in irgendeinem andern Boote zurückfahren, als in dem, in welchem Sie gekommen sind. Da der Ort Ihnen und Miß Milroy mißfällt, so ist nicht die mindeste Nothwendigkeit vorhanden, daß außer mir hier noch irgendwer ans Land geht. Ich aber muß ans Land. Mein Freund Midwinter hat mir noch nie sein Wort gebrochen, und ich kann Hurle Mere nicht verlassen, so lange noch die Möglichkeit existiert, daß er unser Rendezvous einhält. Aber es liegt nicht der geringste Grund vor, daß ich deshalb irgendwie im Wege sein sollte. Sie haben den Major und Mr. Pedgift als Beschützer bei sich, und wenn Sie sogleich umkehren, können Sie noch vor Dunkelwerden zu den Wagen zurückgelangen. Ich will hier noch eine halbe Stunde auf meinen Freund warten —— und dann kann ich Ihnen in einem der Schilfboote folgen.«

»Das ist das Vernünftigste, was Sie heute noch gesagt haben, Mr. Armadale«, bemerkte Mrs. Pentecost, sich in gewaltiger Eile wieder niedersetzend »Sagen Sie ihnen, daß sie sich beeilen!« rief die alte Dame, die Faust gegen die Bootsleute schüttelnd. »Sagen Sie ihnen, daß sie sich beeilen!«

Allan gab die nothwendigen Befehle und stieg ans Land. Der kluge Pedgift suchte, sich fest an seinen Clienten schmiegend, ihm zu folgen.

»Wir können Sie hier nicht allein lassen, Sir«, versicherte er eifrig flüsternd »Lassen Sie den Major nach den Damen sehen und mich bei Ihnen am See bleiben.«

»Nein, nein!« sagte Allan ihn zurückdrängend. »Sie sind Alle in schlechter Stimmung am Bord. Wollen Sie sich mir nützlich machen, so bleiben Sie als guter Gesell da, wo Sie sind, und halten das Ganze im Gange.«

Er winkte mit der Hand und die Leute stießen vom Ufer ab. Alle schwenkten die Hand zum Gruße, nur die Majorstochter nicht, welche das Gesicht unter ihrem Sonnenschirme verbarg. In Neelie’s Augen standen schwere Thränen. Ihr letzter Groll gegen Allan erstarb und ihr Herz flog reuig zu ihm zurück, sowie er das Boot verlassen hatte. »Wie gut er gegen uns Alle ist!« dachte sie, »und welch’ ein elendes Geschöpf ich bin!« Sie stand auf, dem drängenden Impulse ihres Herzens folgend, ihr Unrecht gegen ihn wieder gut zu machen. Sie stand auf und schaute ihm, ohne sich an die Rücksichten der Convenienz zu kehren, mit sehnsüchtigen Blicken und gerötheten Wangen nach, wie er einsam am Ufer stand. »Bleiben Sie nicht lange, Mr. Armadale!« sagte sie mit völliger Nichtachtung dessen, was die Gesellschaft denken würde.

Das Boot war bereits weit ins Wasser hinausgestochen, und trotz Neelie’s Entschlossenheit waren doch ihre Worte mit so leiser Stimme gesprochen, daß sie nicht bis zu Allan’s Ohr dringen konnten. Der einzige Laut, den er hörte, als das Boot am entgegengesetzten Ende des Sees anlangte und langsam zwischen dem Schilf verschwand, waren die Töne der Harmonien. Der unermüdliche Pedgift hielt —— offenbar unter Mrs. Pentecost’s Auspicien —— das Amüsement im Gange, indem er ein Kirchenlied präludirte.

Nun allein, zündete sich Allan eine Cigarre an und ging am Ufer aus und ab. »Sie hätte wohl beim Scheiden ein Wort zu mir sprechen können!« dachte er. »Ich habe Alles nach meinen besten Kräften gethan; ich habe ihr so gut wie gesagt, daß ich sie lieb habe, und so behandelt sie mich jetzt!« Er blieb stehen und schaute zerstreut nach der sinkenden Sonne und auf das schnell dunkelnde Wasser des Sees. Irgendwelche unbegreifliche Gewalt der Scene schlich sich unvermerkt in sein Gemüth und lenkte seine Gedanken von Miß Milroy ab zu seinem Freunde. Er schrak zusammen und sah sich um.

Die Schilfschneider hatten sich wieder in ihr Asyl hinter der Mauer zurückgezogen, kein lebendes Wesen war zu sehen, kein Klang zu hören an dem öden Gestade. Selbst Allan’s Stimmung begann zu sinken. Es war fast eine Stunde über die Zeit, zu der Midwinter am Hurle Mere eiuzutreffen versprochen hatte. Er selbst hatte Alles angeordnet, um zu Fuße nach dem Teiche gelangen zu können, indem er sich von einem Stalljungen von Thorpe-Ambrose auf Nebenwegen und Fußpfaden führen lassen wollte, welche die Entfernung um ein Bedeutendes abkürzen würden. Der Knabe war mit diesen Richtwegen wohl vertraut und Midwinter hielt immer höchft pünktlich Wort. War in Thorpe-Ambrose etwas passiert? War ihm unterwegs ein Unfall zugestoßen? Entschlossen, nicht länger müßig und in Ungewißheit allein zu bleiben, entschloß sich Allan, sich am See landeinwärts zu begeben, in der Hoffnung, so seinem Freunde zu begegnen. Sofort ging er an die Mauerecke und fragte einen der Schilfschneider nach dem Wege nach Thorpe-Ambrose.

Der Mann führte ihn von der Straße ab und deutete auf eine kaum sichtbare Lichtung in den Bäumen der Pflanzung. Nachdem er still gestanden, um noch einen nutzlosen Blick ringsum zu werfen, kehrte Allan dem See den Rücken und schlug die Richtung nach jenen Bäumen ein.

Ein paar Schritte lang lief der Pfad quer durch die Baumpflanzung hin. Dann machte er eine plötzliche Biegung —— und Wasser und offenes Land entschwanden zugleich dem Blicke. Allan folgte dem Rasenpfade vor ihm und sah und hörte nichts, bis er an eine abermalige Biegung des Weges kam. Während er in dieser neuen Richtung dahinschritt, erblickte er unter einem Baume die unklaren Umrisse einer sitzenden menschlichen Gestalt. Zwei Schritte genügten, um ihn die Gestalt erkennen zu lassen. »Midwinter!« rief er erstaunt. »Das da ist nicht die Stelle, wo wir uns treffen wollten! Auf was wartest Du hier?«

Ohne zu antworten, stand Midwinter auf. Das Abend dunkel unter den Bäumen, das sein Gesicht verhüllte, machte sein Schweigen doppelt befremdlich.

Allan setzte seine Fragen ungestüm fort. »Bist Du allein gekommen?« fragte er. »Ich dachte, der Knabe sollte Dich führen.«

Diesmal antwortete Midwinter: »Ich sandte den Knaben zurück, als wir an die Bäume hier gelangten. Er sagte mir, ich sei dem Orte ganz nahe und könne ihn nicht verfehlen.«

»Weshalb bliebst Du hier, als er Dich verließ?« fragte Allan weiter. »Warum bist Du nicht weiter gegangen?«

»Lache mich nicht aus«, erwiderte der Andere, »ich wagte es nicht.«

»Du wagtest es nicht!« wiederholte Allan. Er schwieg einen Augenblick. »O, ich weißt« sagte er dann, indem er fröhlich seine Hand auf Midwinter’s Schulter legte. »Dir bangt noch vor den Milroys. Welche Thorheit, nachdem ich Dir selber gesagt, daß man im Parkhäuschen wieder mit Dir ausgesöhnt ist!«

»An Deine Freunde im Parkhäuschen habe ich nicht gedacht, Allan. Die Wahrheit zu gestehen, bin ich heute kaum mein altes Selbst. Ich fühle mich krank und nervenschwach; jede Kleinigkeit erschreckt mich.« Er schwieg und suchte sich Allans ängstlich forschendem Blicke zu entziehen. »Wenn Du darauf bestehst, es zu wissen«, sagte er leidenschaftlich, »so will ich Dir gestehen, das Grausen jener Nacht am Bord des Wracks hat mich wieder gepackt; ich fühle einen fürchterlichen Druck im Kopfe, eine fürchterliche Beklommenheit im Herzen —— ich fürchte, daß uns etwas zustößt, wenn wir nicht von einander scheiden, ehe der Tag zu Ende ist. Ich kann mein Dir gegebenes Versprechen nicht brechen; um Gotteswillen entbinde Du mich davon und laß mich heim gehen!«

Für Jeden, der Midwinter kannte, war es augensichtlich, daß Gegenvorstellungen vergeblich sein würden. Allan willfahrte ihm. »Komm’ aus diesem dunklen stickigen Holze heraus«, sagte er; »wir wollen darüber reden. Das Wasser und der offene Himmel sind keinen Steinwurf weit von uns entfernt. Ich mag das Holz am Abend nicht leiden. Es macht selbst mich melancholisch. Du hast zu angestrengt über den Rechnungsbüchern gesessen Komm’ und athme frei in der lieben frischen Luft.«

Midwinter blieb stehen, überlegte einen Augenblick und gab plötzlich nach.

»Du hast Recht«, sagte er, »und ich habe, wie immer, Unrecht. Ich verschwende die Zeit und betrübe Dich ganz umsonst. Welche Thorheit von mir, Dich zu bitten, mich zurückgehen zu lassen! Wenn Du ja gesagt hättest!«

»Nun?« fragte Allan.

»Nun«, erwiderte Midwinter, »dann würde schon bei meinem ersten Schritte etwas geschehen, was mich dann verhindert hätte —— weiter nichts. Komm.«

Schweigend schritten sie zusammen auf dem Wege zum See dahin.

Bei der letzten Biegung desselben ging Allan’s Cigarre aus. Während er stehen blieb, um sie wieder anzubrennen, ging Midwinter ihm voran und war der erste, der das offene Land erblickte.

Eben hatte Allan sein Streichhölzchen angezündet, als zu seinem Erstaunen sein Freund wieder um die Biegung auf ihn zukam. Es war noch hell genug, um die Gegenstände in diesem Theile der Baumpflanzung deutlich erkennen zu lassen. Als Midwinter dicht vor ihm stand, fiel Allan das Streichhölzchen aus der Hand.

»Gerechter Gott!« rief er zurückfahrend, »Du siehst wieder gerade so aus wie damals am Bord des Wracks!«

Midwinter erhob die Hand zum Zeichen des Schweigens Die stieren Blicke fest auf Allan’s Gesicht gerichtet, sagte er, seine bleichen Lippen hart an dessen Ohr:

»Du erinnerst Dich, wie ich aussah«, flüsterte er; »entsinnst Du Dich auch dessen, was ich sagte, als Du und der Doctor von dem Traume sprachet?«

»Ich habe den Traum vergessen«, erwiderte Allan. Bei dieser Antwort faßte Midwinter Allan’s Hand und führte ihn um die letzte Windung des Pfades.

»Erinnerst Du Dich seiner jetzt?« fragte er und deutete auf den See.

Die Sonne sank am wolkenlosen Abendhimmel hinab. Unten lagen die Wasser des Sees, von ihren letzten Strahlen roth gefärbt. Das offene Land streckte sich, in bereits melancholischem Dunkel, rechts und links weit dahin, und an dem zunächst liegenden Rande des Teiches, wo vorher Alles einsam gewesen zeigte sich jetzt dem Sonnenuntergange gegenüber eine weibliche Gestalt.

Schweigend standen die beiden Armadales neben einander und blickten auf die einsame Gestalt und die düstere Landschaft.

Midwinter sprach zuerst.

»Deine eigenen Augen haben es gesehen«, sagte er. »Jetzt sieh auch Deine eigenen Worte an.«

Er machte sein Taschenbuch auf, holte die niedergeschriebene Erzählung von dem Traume heraus und hielt sie Allan hin. Seine Finger deuteten auf die Zeilen, welche das erste Traumgesicht schilderten; seine Stimme, die immer leiser und leiser ward, wiederholte die Worte:

»Es kam mir das Bewußtsein, daß man mich in der Dunkelheit allein gelassen hatte.

»Ich wartete.

»Das Dunkel verschwand und zeigte mir —— wie in einem Bilde —— einen großen einsamen Teich, der von offenen Gefilden umgeben war. Ueber dem am fernsten liegenden Rande sah ich den wolkenlosen Abendhimmel roth, glühend im Sonnenuntergange.

»An dem zunächst liegenden Rande des Teiches stand der Schatten eines Weibes.«

Er schwieg und ließ die Hand, die das Geschriebene hielt, herabsinken. Die andere Hand wies auf die einsame Gestalt, welche, der untergehenden Sonne gegenüber, ihnen den Rücken kehrend, dastand.

»Dort«, sagte er, »steht das lebendige Weib anstatt des Schattens! Dort spricht die erste der Traumwarnungen zu Dir und zu mir! Laß uns noch ferner beisammen bleiben —— und die zweite Gestalt, die dann an der Stelle des Schattens steht, wird die meine sein.«

Selbst Allan fühlte sich durch die fürchterliche Gewißheit der Ueberzeugung zum Schweigen gebracht, mit der Midwinter sprach.

Während der hierauf folgenden Pause bewegte sich die Gestalt am Teiche und schritt langsam am Ufer hin. Allan trat völlig aus den Bäumen hervor und gewann dadurch eine weitere Aussicht. Der erste Gegenstand, dem seine Blicke begegneten, war der Ponywagen von Thorpe-Ambrose.

Mit einem Lachen der Erleichterung wandte er sich nach Midwinter um. »Was Du für Unsinn geschwatzt hast!« sagte er. »Und welchen Unsinn« ich angehört habe! Es ist die Gouvernante, die endlich eingetroffen ist.«

Midwinter erwiderte nichts. Allan faßte ihn am Arm und versuchte ihn fortzuziehen. Er machte sich indeß jählings los und faßte Allan mit beiden Händen —— indem er ihn von der Gestalt am See zurückhielt, wie er ihn von der Kajütenthür auf dem Verdeck des Holzschiffes zurückgehalten. Die Anstrengung war abermals vergeblich. Allan befreite sich wiederum ebenso leicht von ihm, wie er es dazumal gethan hatte.

»Einer von uns muß mit ihr sprechen«, sagte er; »und wenn Du’s nicht willst, so will ich es thun.«

Er hatte nur wenige Schritte dem See zu gethan, als er eine leise Stimme ihm einmal nur, ein einziges Mal »Lebewohl« zurufen hörte, oder zu hören glaubte. Mit einem Gefühl von Befremden und Unruhe blieb er stehen und sah sich um.

»Warst Du das, Midwinter?« fragte er.

Keine Antwort erfolgte. Nachdem er noch einen Augenblick gezögert, ging er wieder in das Holz. Midwinter war fort.

Er blickte nach dem Teiche zurück, unschlüssig in dieser neuen Verlegenheit, was er zunächst thun solle. Inzwischen hatte die einsame Gestalt ihre Richtung verändert: sie hatte sich umgewandt und nahte sich den Bäumen. Offenbar war Allan entweder gesehen oder gehört worden. Es war unmöglich, ein Weib in dieser hilflosen Lage und an einem so einsamen Orte unbeschützt zu lassen. Zum zweiten Male trat denn Allan aus den Bäumen hervor ihr entgegen.

Als er ihr nahe genug war, um ihr Gesicht sehen zu können, blieb er in überwältigendem Erstaunen stehen. Der plötzliche Anblick ihrer Schönheit, wie sie lächelte und ihn fragend anschaute, machte die Bewegung in seinen Gliedern und die Worte aus seinen Lippen erstarren. Ein unbestimmter Zweifel überkam ihn, ob das wirklich die Gouvernante sei.

Er ermannte sich jedoch und nannte, ein paar Schritte näher tretend, seinen Namen. »Darf ich fragen«, fügte er hinzu, »ob ich das Vergnügen habe ——?«

Unbefangen und anmuthig kam ihm die Dame auf halbem Wege entgegen.

»Major Milroy’s Gouvernante«, sagte sie; »Miß Gwilt.«



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Alles war still in Thorpe-Ambrose. Der Hausflur war öd und die Zimmer waren finster. Die Diener, die im Garten hinter dem Hause die Stunde des Nachtessens abwarteten, schauten zum klaren Himmel und dem aufsteigenden Mond hinauf und erklärten einstimmig, es sei wenig Aussicht vorhanden, daß die Picknick-Gesellschaft viel vor Mitternacht heimkehren werde. Die allgemeine Meinung, von der hohen Autorität der Köchin vertreten, ging dahin, daß man sich ohne. Furcht vor Störung durch die Klinge! zum Nachtessen niederlassen dürfte. Zu diesem Schlusse gelangt, setzte die Dienerschaft sich zu Tische, und gerade in dem Augenblicke, als Alle Platz genommen, ging die Klingel.

Verwundert stieg der Lakei trepp auf, die Thür zu öffnen, und fand zu seinem Erstaunen Midwinter allein auf der Thürschwelle, welcher nach Ansicht des Bedienten entsetzlich krank aussah. Er bat um ein Licht und zog sich mit der Bemerkung, daß er nichts weiter bedürfe, sofort auf sein Zimmer zurück. Der Bediente begab sich zu seinen Cameraden zurück und berichten, daß dem Freunde seines Herrn sicherlich etwas zugestoßen sein müsse.

Auf seinem Zimmer angelangt, schloß Midwinter die Thür und packte hastig eine Handtasche mit den nothwendigsten Reiseeffecten. Dann nahm er aus einer verschlossenen Schublade einige kleine Geschenke, die Allan ihm gemacht —— eine Cigarrentasche, eine Börse und eine Garnitur von Hemdknöpfen von einfachem Golde —— und steckte dieselben in die Brusttasche seines Stockes. Nachdem er diese Andenken in Sicherheit gebracht, ergriff er die Handtasche und legte die Hand auf die Thürklinke. Da aber hielt er zum ersten Male inne —— da ließ mit einem Mal die jagende Hast seines bisherigen Gebahrens nach, und der Zug starrer Verzweiflung in seinem Gesichte begann sich zu mildern: die Hand auf der Thürklinke, blieb er wartend stehen.

Bis zu diesem Augenblicke war er sich nur eines Beweggrundes, nur eines Zieles bewußt gewesen, das er zu erreichen entschlossen war. »Um Allan’s willen!« hatte er zu sich selber gesprochen, als er auf die unheilvolle Landschaft zurückgeblickt und Allan hatte von ihm gehen sehen, um dem Weibe am Teiche zu begegnen. »Um Allan’s willen« hatte er nochmals gesprochen, als er über das offene Feld jenseits des Holzes dahingeschritten, und ferne im grauen Zwielicht die lange Linie des Dammes und das ferne Schimmern der Bahnlampen erblickt hatte, die ihm zu der Eisenstraße hinzuwinken schienen.

Erst jetzt, als er vor der hinter ihm geschlossenen Thür stehen blieb —— erst jetzt, da seine ungestüme Hast zum ersten Male zu einer Pause kam —— erst jetzt erhob sich die edlere Natur des Mannes gegen die abergläubische Verzweiflung, die ihn von Allem, was ihm theuer war, von hinnen trieb. Seine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, daß er Allan zu dessen eigenem Besten verlassen müsse, hatte seit dem Momente, wo er am Ufer des Sees die Verwirklichung seines ersten Traumgesichts geschaut, nicht gewankt. Jetzt aber stand sein eigenes Herz mit unabweislichem Vorwurfe gegen ihn auf. »Geh, wenn du gehen mußt und willst! aber gedenke der Zeit, da du krank warst und er an deinem Bette saß —— da du freundlos warst und er dir sein Herz erschloß —— und schreibe, wenn du dich zu sprechen fürchtest; schreib’ und bitte ihn, dir zu vergeben, ehe du auf immer von ihm scheidest!«

Die halb geöffnete Thür ward leise wieder geschlossen. Midwinter setzte sich an den Schreibtisch und ergriff die Feder. Wieder und wieder versuchte er das Abschiedswort zu schreiben; er versuchte es, bis der Boden rings um ihn her mit zerrissenen Papierblättern bestreut war. Wie immer er sich von ihnen abwandte —— die alten Zeiten kehrten zurück und traten ihm vorwurfsvoll entgegen. Das geräumige Schlafgemach, in dem er saß, verwandelte sich unwillkürlich in die Bodenkammer des kranken Hilfslehrers in jenem Wirthshause des Westens. Die liebevolle Hand, die ihm einst aus die Schulter geklopft, berührte ihn wieder; die freundliche Stimme, die ihn aufgeheitert, sprach unverändert in den alten, liebevollen Tönen. Er warf seine Arme vor sich auf den Tisch und ließ in thränenloser Verzweiflung das Haupt auf dieselben niedersinken. Das Scheidewort, das seine Zunge nicht zu sprechen vermochte, war seine Feder nicht zu schreiben im Stande. Mit erbarmungsloser Strenge hieß sein Aberglaube ihn gehen, so lange er noch Zeit dazu habe, und ebenso strenge gebot seine Liebe zu Allan ihn zu bleiben, bis er die letzte Bitte um Vergebung und Mitleid würde geschrieben haben.

Mit einem raschen Entschlusse stand er auf und schellte dem Diener. »Wenn Mr. Armadale heimkehrt«, sagte er, »so bittet ihn, mich zu entschuldigen, wenn ich heute nicht hinunterkomme, und sagt, daß ich mich zu Bett gelegt habe.« Er verschloß die Thür, löschte das Licht aus und saß allein in der Dunkelheit. »Die Nacht wird sich zwischen uns legen«, sprach er bei sich, »und mit der Zeit werde ich schreiben können. Ich kann am frühen Morgen fortgehen; ich kann gehen, während ——« Der Gedanke erstarb unvollendet in ihm, und der schneidende Schmerz des Kampfes entriß seinen Lippen den ersten Jammerschrei.

Er wartete im finsteren. Wie die Zeit verging, blieben seine Sinne mechanisch wach, aber sein Geist begann unter der Pein, die ihm seit einigen Stunden auferlegt gewesen, langsam zu schwinden. Eine dumpfe Stumpfheit hatte sich seiner bemächtigt, und er machte keinen Versuch, die Kerze anzuzünden und von Neuem sich zum Schreiben hinzusehen. Er rührte sich nicht und machte keine Bewegung, an das offene Fenster zu treten, als er in der Stille der Nacht das erste Geräusch heranrollender Räder vernahm. Er hörte die Wagen vorfahren; er hörte, wie die Pferde an den Gebissen zerrten; er hörte die Stimmen seines Freundes und des jungen Pedgift auf der Treppe —— und noch immer saß er still im Dunkeln, und die Klänge, die von außen zu ihm hereindrangen, erweckten kein Interesse in ihm. «

Die Stimmen waren noch hörbar, als die Wagen schon fortgefahren waren; offenbar verweilten die beiden jungen Männer noch auf den Stufen, ehe sie Abschied von einander nahmen. Jedes Wort, das sie sprachen, schlug durch das offene Fenster an Midwinter’s Ohr. Der Gegenstand ihrer Unterhaltung war die neue Gouvernante. Allan’s Stimme war laut in ihrem Lobe. In seinem ganzen Leben hatte er keine so glückliche Stunde.genossen, als die war, welche er auf der Fahrt vom Hurle Mere nach der auf dem andern See wartenden Picknick-Gesellschaft mit Miß Gwilt im Boote zugebracht hatte. Der junge Pedgift, seinerseits zwar mit Allem übereinstimmend, was sein junger Client zum Lobe der reizenden Fremden vorbrachte, schien das Thema von einem andern Gesichtspunkte aus aufzufassen. Miß Gwilt’s Reize hatten seine Aufmerksamkeit nicht so ausschließlich in Anspruch genommen, um ihn zu verhindern, den Eindruck zu bemerken, welchen die neue Erzieherin auf ihren Principal und ihre Schülerin gemacht.

»Mit Major Milroy’s Familie hat es irgendwo einen Haken, Sir«, ließ sich die Stimme Pedgift’s vernehmen. »Haben Sie wohl auf die Gesichter des Majors und seiner Tochter gemerkt, als Miß Gwilt sich entschuldigte, so spät am See angelangt zu sein? Sie erinnern sich nicht? Entsinnen Sie sich aber, was Miß Gwilt sagte?«

»Etwas über Mrs. Milroy, nicht wahr?« erwiderte Allan.

Pedgift’s Stimme sank zu einem geheimnißvollen Flüstern herab.

»Miß Gwilt traf heute Nachmittag genau um die Zeit im Parkhäuschen ein, für die ich ihre Ankunft vorausgesagt hatte, Sir, und ohne Mrs. Milroy würde sie auch zu der von mir erwähnten Stunde bei uns gewesen sein. Mrs. Milroy ließ sie jedoch zu sich auf ihr Zimmer bescheiden und hielt sie eine gute halbe Stunde, und länger, fest. So lautete Miß Gwilt’s Entschuldigung wegen ihrer verspäteten Ankunft am See, Mr. Armadale.«

»Nun, und was dann?«

»Sie scheinen zu vergessen, Sir, was in der ganzen Umgegend über Mrs. Milroy bekannt wurde, als der Major sich unter uns niederließ. Nach des Arztes eigener Aussage haben wir Alle gehört, daß sie zu leidend sei, um Fremde bei sich zu sehen. Ist es nicht ein wenig eigenthümlich, daß sie auf einmal gesund genug geworden sein sollte, um in der Abwesenheit ihres Gatten Miß Gwilt zu sehen, sowie diese nur das Haus betrat?«

»Nicht im geringsten! Es war ihr natürlich darum zu »thun, die Bekanntschaft der Gouvernante ihrer Tochter zu machen.«

»Sehr wohl möglich, Mr. Armadale Aber der Major und Miß Neelie sehen die Sache jedenfalls nicht in diesem Lichte. Ich hatte sie beide im Auge, als die Erzieherin ihnen sagte, Mrs. Milroy habe sie zu sich beschieden. Wenn ich je ein Mädchen gründlich in Angst sah, so war dies Miß Milroy; und —— wenn ich mir im strengsten Vertrauen die Freiheit nehmen darf, so etwas von einem tapferen Soldaten zu behaupten —— ich möchte fast sagen, daß der Major sich so ziemlich in der nämlichen Verfassung befand. Lassen Sie sich’s gesagt sein, Sir, es ist dort oben in Ihrem hübschen Parkhäuschen etwas nicht ganz richtig, und Miß Gwilt ist bereits mit darein verwickelt.«

Ein minutenlanges Schweigen folgte. Als Midwinter die Stimmen wieder hörte, waren diese weiter vom Hause entfernt —— Allan begleitete den jungen Pedgift wahrscheinlich ein paar Schritte auf dem Heimwege.

Nach einer Weile ließ Allan’s Stimme sich nochmals unter dem Porticus hören, wie er nach s einem Freunde fragte, worauf die Stimme des Dieners sich des von Midwinter erhaltenen Auftrags entledigte. Sobald diese kurze Unterbrechung vorüber, ward die Stille nicht mehr gestört, bis zu dem Augenblicke des Thorschlusses. Die Schritte der hin- und hergehenden Diener, das Zuschlagen der Thüren, das Bellen eines aufgestörten Hundes im Stallhofe —— das waren die Töne, welche Midwinter anzeigten, daß es schon spät geworden war. Mechanisch erhob er sich, um eine Kerze anzuzünden. Aber der Kopf schwindelte ihm, seine Hand zitterte —— er stellte die Zündhölzchenbüchse wieder bei Seite und kehrte zu seinem Sessel zurück. Die Unterhaltung zwischen Allan und dem jungen Pedgift hatte seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen aufgehört, sowie er das Ende derselben gehört; und jetzt begann ihm auch das Bewußtsein zu schwinden, daß die kostbare Zeit verstrich, sowie das Geräusch im Hause verhallt war. Seine Körper- und seine Geisteskräfte waren erschöpft; mit stumpfer Ergebung erwartete er das Leid, welches der kommende Tag ihm bringen mußte.

Eine Weile verging und dann ward die Stille draußen nochmals durch Stimmen unterbrochen —— diesmal die Stimmen eines Mannes und eines Weibes. Die ersten Worte, die von ihnen gewechselt wurden, thaten deutlich genug dar, daß ihr Zusammentreffen ein heimliches war, und ließen in dem Manne einen der Lakaien von Thorpe-Ambrose und in dem Weibe eine Dienerin vom Parkhäuschen erkennen.

Nachdem die ersten Begrüßungen vorüber, gab abermals die neue Gouvernante den ausschließlichen Unterhaltungsstoff ab. Das Frauenzimmer war voll schlimmer Ahnungen, die ihr einzig und allein Miß Gwilt’s Schönheit eingeflößt hatte, und schüttete dem Manne ihr Herz aus, wie sehr er auch versuchen mochte, sie auf andere Gegenstände zu lenken. Früher oder später, er solle an ihre Worte denken, werde es im Parkhäuschen einen fürchterlichen »Spectakel« geben. Sie dürfe es ihm im Vertrauen sagen, daß ihr Herr ein entsetzliches Leben mit ihrer Herrin führe. Der Major sei der beste Mensch von der Welt; außer seiner Tochter und seiner ewigen Uhr, trage er keinen andern Gedanken im Herzen. Aber sowie ein hübsches Frauenzimmer ihm nur nahe komme, werde Mrs. Milroy auf ihrem elenden Krankenbette eifersüchtig, rasend eifersüchtig auf sie. Wenn Miß Gwilt, die trotz ihres häßlichen Haars entschieden hübsch sei, das glimmende Feuer nicht binnen wenigen Tagen in hellen Flammen über ihren Häuptern aufschlagen lasse, so sei ihre Herrin gar nicht mehr ihre Herrin, sondern eine andere Person. Was sich aber immer ereignen möge, diesmal sei die Mutter des Majors Schuld daran. Die alte Dame habe vor zwei Jahren einen furchtbaren Streit mit ihrer Herrin gehabt und sei in großer Wuth abgereist, nachdem sie vor der ganzen Dienerschaft zu ihrem Sohne gesagt, wenn er nur noch einen Funken von Energie besitze, so würde er die Launen seiner Frau nimmermehr ertragen, wie er dies thue. Sie ginge vielleicht zu weit, wenn sie die Mutter des Majors beschuldige, absichtlich eine hübsche Erzieherin gewählt zu haben, um ihre Schwiegertochter zu ärgern. Aber mit Gewißheit dürfe man behaupten, daß die alte Dame die letzte Person in der Welt sei, welche der Eifersucht ihrer Herrin nachgeben und eine fähige und achtbare Gouvernante für ihre Enkelin zurückweisen werde, blos weil diese Erzieherin zufälligerweise mit Schönheit gesegnet sei. Wie dies Alles noch enden werde (außer zum Schlimmeren) könne kein menschliches Wesen sagen. Die Geschichte lasse sich bereits so schwarz an, wie nur möglich. Miß Neelie habe nach ihrer Lustpartie geweint —— was ein schlechtes Zeichen; die Herrin habe Niemanden getadelt oder ausgezankt —— ein abermaliges schlechtes Zeichen; der Herr habe ihr durch die Thür Gutenacht gewünscht —— was ein drittes schlechtes Zeichen; und die Gouvernante sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, was das schlimmste von allen Zeichen sei, da dies den Anstrich habe, als mißtraue sie der Dienerschaft. Der Art rann der Strom des weiblichen Geplauders weiter und drang durchs Fenster zu Midwinters Ohren, bis die Stalluhr schlug und der Unterhaltung ein Ende machte. Als der letzte Glockenschlag erstarb, ließ sich keine Stimme mehr hören und nun ward das nächtliche Schweigen nicht wieder gestört.

Abermals verging eine Weile und Midwinter machte einen neuen Versuch, sich zu ermannen. Diesmal zündete er ohne Zögern die Kerze an und nahm die Feder in die Hand.

Er schrieb beim ersten Anlauf mit einer Leichtigkeit des Ausdrucks, die ihn beim Weiterschreiben überraschte und schließlich einen vagen Argwohn gegen sich selber in ihm erweckte. Er ging vom Tische weg, um Gesicht und Kopf in kaltem Wasser zu baden, und kam dann zurück und las, was er geschrieben. Die Sprache war kaum verständlich; die Worte waren verwechselt —— die Sätze unbeendet gelassen —— jede Zeile trug den Beweis, wie sehr das ermüdete´Gehirn sich gegen den erbarmungslosen Willen gesträubt hatte, der es zur Thätigkeit gezwungen. Midwinter zerriß das Blatt, wie er bereits alle anderen zerrissen, und legte, dem Kampfe endlich erliegend, sein müdes Haupt auf das Kissen. Fast augenblicklich überkam ihn die Erschöpfung; ehe er noch das Licht auslöschen konnte, schlief er ein.

Ein Geräusch vor seiner Thür weckte ihn. Heller Sonnenschein strömte ins Zimmer; das Licht war völlig herabgebrannt, und der Diener wartete draußen mit einem Briefe, der mit der Morgenpost eingelaufen war.

»Ich nahm mir die Freiheit, Sie zu stören, Sir«, sagte der Mann, als Midwinter ihm. die Thür öffnete, »weil »eilig« auf dem Briefe steht und ich nicht wußte, ob derselbe nicht vielleicht von Wichtigkeit sei.«

Midwinter dankte ihm und betrachtete den Brief. Dieser war allerdings von Wichtigkeit —— die Aufschrift war von Mr. Brocks Hand.

Er wartete einen Augenblick, um seine Gedanken zu sammeln. Die Papierfetzen am Boden riefen ihm sofort die Lage ins Gedächtniß zurück, in der er sich befand. Er verschloß seine Thüre wieder, aus Furcht, Allan möchte früher als gewöhnlich aufstehen und zu ihm hereinkommen, um nach dem Befinden seines Gastes zu fragen. Dann mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit gegen die etwaigen Mittheilungen des Pfarrers —— öffnete er Mr. Brock’s Brief und las folgende Zeilen.

»Dienstag.

Mein lieber Midwinter.

Zuweilen ist’s das Beste, schlimme Nachrichten ohne Umschweif und mit wenigen Worten mitzutheilen. Lassen Sie mich Ihnen die meinige in einem einzigen Satze sagen. Alle meine Vorsichtsmaßregeln sind nutzlos gewesen: das Weib ist mir entwischt.

Dieses Unglück, denn es ist nichts Geringeres —— ereignete sich gestern (am Montag). Zwischen elf und zwölf Morgens zwang mich die Gcschäftsangelegenheit, die mich überhaupt nach London führte, an jenem Tage nach Doctors Commons zu gehen und meinen Diener Robert im Logis allein zu lassen, damit er bis zu meiner Rückkehr das gegenüberstehende Haus bewache. Etwa anderthalbe Stunde nach meinem Weggange sah er einen leeren Fiaker vor der Thür jenes Hauses halten. Reisekoffer und Handtaschen kamen zuerst zum Vorschein, ihnen folgte das Frauenzimmer selber, das die nämlichen Kleider trug, in dem ich sie zuerst gesehen hatte. Nachdem auch er eine Droschke genommen, fuhr, Robert ihr nach dem Bahnhofe der Nordwestbahn nach —— sah sie durch das Billetbureau gehen —— behielt sie im Auge bis sie auf dem Perron anlangte —— dort aber in dem Gedränge und der Verwirrung, welche die Abfahrt eines langen gemischten Zuges herbeizuführen pflegt, verlor er sie aus dem Gesichte. Ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er in dieser Verlegenheit sofort den richtigen Weg einschlug. Anstatt mit Suchen aus dem Perron Zeit zu verlieren, sah er die ganze Wagenreihe entlang und versicherte mit Bestimmtheit, daß er sie in keinem Coupe bemerkt habe. Zugleich gibt er zu, daß sein Suchen (welches zwischen zwei Uhr, dem Augenblicke, da er sie aus dem Auge verlor, und zehn Minuten nach zwei, dem Momente der Abfahrt, stattfand) in der Verwirrung des Augenblicks natürlich nur ein oberflächliches sein konnte. Doch scheint mir dieser letztere Umstand von geringer Bedeutung zu sein. Ich glaube so wenig an die Abreise des Frauenzimmers mit diesem Zuge, als ob ich selbst jeden der Wagen durchsucht hätte, und zweifle nicht, daß Sie darin vollkommen meiner Ansicht sein werden.

Jetzt kennen Sie das Unglück, das geschehen ist. Lassen Sie uns mit Jammern weder Zeit noch Worte vergeuden. Das Unglück ist einmal geschehen, und Sie und ich müssen die Mittel finden, es wieder gut zu machen.

Was ich meinerseits bereits ausgerichtet habe. läßt sich in zwei Worten sagen. Mit allem Widerstreben, das ich anfangs empfand, diese zarte Angelegenheit fremden Händen anzuvertrauen, war es vorbei, sowie ich Robert’s Meldung hörte. Sofort begab ich mich in die City zurück und legte die ganze Sache confidentiell meinem Sachwalter dar. Die Besprechung dauerte sehr lange, und als ich die Expedition verließ, war es zum Schreiben zu spät, sonst würde ich Ihnen anstatt heute, schon am Montag geschrieben haben. Meine Unterredung mit den Advocaten war keine sehr ermuthigende. Sie sagen mir offen, daß dem Wiederauffinden der verlorenen Spur ernstliche Schwierigkeiten im Wege ständen. Doch haben sie ihr Möglichstes zu thun versprochen und wir uns über die zu thuenden Schritte geeinigt —— einen einzigen Punkt ausgenommen, über den wir durchaus verschiedener Ansicht sind. Ich muß Ihnen diese Meinungsverschiedenheit auseinandersetzen; denn so lange meine Geschäftsangelegenheiten meine Anwesenheit in Thorpe-Ambrose unmöglich machen, sind Sie die einzige Person, der ich meine Ansichten zur Prüfung anheim geben kann.

Die Sachwalter meinen also, das Frauenzimmer habe von Anfang an gewußt, daß ich sie beobachtete; darum sei für jetzt keine Aussicht vorhanden, daß sie die Unvorsichtigkeit begehen werde, sich in Thorpe-Ambrose blicken zu lassen; das Unheil, das sie etwa anzustiften im Sinne, sei nun Andern übertragen, und der einzige vernünftige Schritt von Allan’s Freunden müsse ein passives Zuwarten sein, bis die Ereignisse sie weiter aufklären. Meine eigene Meinung läuft dieser schnurstracks zuwider. Nach dem, was sich auf dem Bahnhofe ereignet, kann ich nicht umhin, einzuräumen, daß das Frauenzimmer entdeckt haben muß, wie ich sie beobachtet. Aber sie hat keinen Grund, anzunehmen, daß es ihr nicht gelungen, mich zu hintergehen, und ich glaube fest, sie ist verwegen genug, uns zu überrumpeln und sich in Allan’s Vertrauen einzuschleichen, oder einzudrängen, ehe wir Vorkehrungen getroffen haben, sie daran zu verhindern. Sie, und Sie allein können (so lange ich in London aufgehalten werde) entscheiden, ob ich recht oder unrecht habe —— und Sie können dies in folgender Weise bewerkstelligen. Suchen Sie unverzüglich zu erfahren, ob seit letztem Montag irgend ein Frauenzimmer, das in der Umgegend fremd, in oder in der Nähe von Thorpe-Ambrose angelangt ist. Ist ein solches Frauenzimmer bemerkt worden (und auf dem Lande entgeht Niemand der Beobachtung) so ergreifen Sie die erste beste Gelegenheit, sie zu sehen, und fragen sich, ob ihr Gesicht gewissen deutlichen Fragen entspricht, die ich Ihnen vorzulegen im Begriffe bin, oder nicht. Sie können sich auf meine Genauigkeit verlassen. Ich habe das Frauenzimmer mehr als einmal entschleiert gesehen und zwar das letzte Mal mit Hilfe eines vortrefflichen Opernglases.

1) Ist ihr Haar hellbraun und anscheinend nicht sehr stark?
2) Ist ihre Stirn hoch, schmal und zurückweichend?
3) Sind ihre Augenbrauen sehr schwach gezeichnet und ihre Augen klein und eher dunkel, als hell —— entweder grau oder braun (ich habe sie nicht nahe genug gesehen, um hierüber ganz sicher zu sein)?
4) Ist ihre Nase eine Adlernase?
5) Sind ihre Lippen dünn und ist die Oberlippe etwas lang?
6) Sieht ihre Hautfarbe aus, als ob sie ursprünglich sehr zart gewesen sei und sich allmählich in eine trübe kränkliche Blässe verwandelt habe?
7) und letztens, hat sie ein zurückweichendes Kinn, und befindet sich auf der linken Seite desselben ein Merkmal irgendwelcher Art —— entweder eine Narbe oder ein Mal —— ich weiß nicht, was von beiden?

Ich sage nichts von ihrem Gesichtsausdrucke, denn Sie können sie vielleicht unter Umständen sehen, die diesen theilweise verschieden zeigen von dem, welchen ich an ihr wahrnahm. Prüfen Sie ihre Züge, die keine Zufälligkeiten verändern können. Befindet sich eine Fremde in Ihrer Umgegend und entsprechen deren Züge meinen sieben Fragen —— so haben Sie die Person gefunden! In diesem Falle gehen Sie augenblicklich zum nächsten Advocaten und geben meinen Namen als Bürgschaft für die Kosten, die ihre strenge Bewachung bei Nacht und bei Tage verursachen wird. Darauf setzen Sie mich mit möglichster Schnelligkeit von dem Geschehenen in Kenntniß und ich werde dann unverzüglich nach Norfolk eilen, meine Geschäfte mögen hier zu Ende gebracht sein oder nicht.

Jedenfalls —— ob Sie« nun meinen Argwohn bestätigen oder nicht —— schreiben Sie mir mit umgehender Post. Schreiben Sie —— wenn auch nur, um mir den Empfang meines Briefes anzuzeigen. Fern von Allan stehe ich eine Angst und Spannung aus, welche Sie allein mir etwas lindern können. Wie ich Sie kenne, bin ich überzeugt, daß ich kein Wort weiter zu sagen’ brauche.

Stets Ihr aufrichtiger Freund

Decimus Brock.«

Die fatalistische Anschauung die sich seiner jetzt bemächtigte, machte, daß Midwinter ohne das geringste Zeichen des Interesses oder des Erstaunens las, was der Pfarrer von seiner Niederlage schrieb. Die einzige Stelle in dem Briefe, die er noch einmal überflog, war der Schluß desselben Er las den letzten Satz von neuem, und sann dann einen Augenblick darüber nach. »Ich habe Mr. Brocks Güte viel zu verdanken«, dachte er, »und ich werde Mr. Brock niemals wiedersehen. Es ist nutz- und hoffnungslos —— aber er bittet mich, es zu thun, und es. soll gethan werden. Ein einziger Blick in ihr Gesicht wird genügen —— ein einziger Blick, mit seinem Briefe in der Hand —— und eine Zeile, um ihm zu sagen, daß das Weib hier ist!«

Abermals blieb er zögernd an der halb geöffneten Thür stehen. Die grausame Notwendigkeit, Allan sein Lebewohl zu schreiben, trat ihm von neuem entgegen und hielt ihn fest.

Zweifelhaft sah er auf die neben ihm liegende Epistel des Pfarrers. »Ich will die beiden Briefe zugleich schreiben«, sagte er, »der eine kann mir vielleicht bei dem andern helfen.« Sein Gesicht überzog sich mit einer hohen Röthe, als ihm diese Worte entschlüpften Er war sich bewußt, etwas zu thun, was er noch nie zuvor gethan hatte —— freiwillig schob er die böse Stunde hinaus und nahm Mr. Brock zum Vorwande, um eine letzte Frist zu gewinnen.

Der einzige Laut, der durch die geöffnete Thür zu ihm drang, waren Allan’s geräuschvolle Bewegungen im nächsten Zimmer. Sofort trat er in den leeren Corridor hinaus und verließ, von Niemandem auf der Treppe gesehen, das Haus. Die Besorgniß sein Entschluß Allan zu Verlassen, müsse wanken, falls er den Freund wiedersähe, war noch ebenso lebendig in ihm, wie während der ganzen Nacht hindurch. Erleichtert that er einen tiefen Athemzug, als er die Stufen vor der Hausthür herabging —— erleichtert, weil er dem herzlichen Morgengruße des einzigen menschlichen Wesens entgangen, das er liebte!

Mit Mr. Brock’s Briefe in der Hand betrat er das Bosket Und schlug den kürzesten Weg nach dem Häuschen des Majors ein. Nicht die geringste Erinnerung der Gespräche war ihm blieben, die in der Nacht den Weg zu seinen Ohren gefunden hatten. Der einzige Grund, der ihn bewog das Weib zu sehen, war der ihm vom Pfarrer gegebene. Die einzige Erinnerung, die ihn jetzt nach der Stelle führte, wo sie augenblicklich weilte, die Erinnerung ’an Allan’s Ausruf, als er die Gouvernante mit der Gestalt am Teiche identifizierte.

Am Pförtchen des Parkhäuschens blieb er stehen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er seinen Zweck verfehlen würde, wenn er in Gegenwart des Weibes die Fragen des Pfarrers consultirte. Ihr Argwohn würde wahrscheinlich zuerst schon dadurch erregt werden, daß er sie zu sehen verlangte (wie dies seine Absicht war, mit oder ohne Entschuldigung), und der Brief in seiner Hand mußte sie in jenem Argwohn bestärken. Sie konnte ihn schlagen, indem sie augenblicklich das Zimmer verließ. Entschlossen, sich die Beschreibung zuvörderst fest einzuprägen und ihr dann gegenüber zu treten, öffnete er den Brief und las, während er langsam am Hause hin wandelte, die sieben Fragen, von denen er im voraus überzeugt war, daß das Gesicht des Frauenzimmers ihm darauf antworten würde.

In der Morgenstille des Parks drang selbst das leiseste Geräusch weit. Ein solches unterbrach Midwinter’s Lection.

Er sah auf und fand sich am Rande eines mit Gras bewachsenen breiten Grabens, auf dessen einen Seite der Park lag, dessen andere eine Lorbeerhecke bildete. Die Einfriedung umschloß offenbar den hinteren Theil des zum Parkhäuschen gehörigen Gartens und der Graben diente dazu, jenen vor den im Park weidenden Kühen und Schafen zu schützen. Aufmerksam lauschend, bis das leise Geräusch, das ihn gestört, schwächer wurde erkannte er in demselben das Rauschen von Frauenkleidern. Ein paar Schritte vor ihm führte eine Brücke über den Graben, die durch ein Pförtchen gesperrt wurde und den Graben mit dem Park verband. Er ging durch das Pförtchen über die Brücke und sah sich, als er das Pförtchen am andern Ende aufgemacht, in einer Laube, die dicht mit Schlingpflanzen umzogen war und einen freien Blick auf den ganzen Garten gewährte.

Er sah hinaus und bemerkte die Gestalten zweier Damen, die langsam von ihm fort dem Häuschen zu gingen. Die kleinere der beiden nahm seine Aufmerksamkeit keinen Augenblick in Anspruch —— keine Secunde hielt er sich mit dem Gedanken auf, ob sie die Tochter des Majors sei, oder nicht. Seine Augen waren auf die andere Gestalt geheftet, —— jene Gestalt, welche in einem sich in leichten Falten anschmiegenden langen Kleide mit unbefangener verführerischer Anmuth auf dem Gartenpfade dahin schwebte. Dort, genau, wie es sich ihm schon einmal gezeigt, —— dort, abermals mit dem Rücken ihm zugewendet, war das Weib vom Teiche!

Es war möglich, daß ihre Promenade im Garten noch nicht beendet und daß sie umkehren und nach der Laube zurückkehren würden. Auf diese Möglichkeit wartete Midwinter. Kein Gedanke, daß er sich auf fremden Boden eindränge, hatte ihn an der Thür des Häuschens zurückgehalten, und auch jetzt beunruhigte ihn ein solcher Gedanke nicht. Seit der grausamen Pein der vergangenen Nacht war jedes zartere Gefühl in ihm erstorben. Die trotzige Entschlossenheit, das zu thun, weshalb er gekommen, war das einzige Motiv, das ihn noch leitete. Er handelte, ja, er sah aus, wie der stumpfeste Mensch von der Welt an seiner Stelle gehandelt und ausgesehen haben würde. Indessen besaß er noch Geistesgegenwart genug, um, während er wartete, ehe die Gouvernante und ihre Schülerin am Ende des Pfades anlangten, Mr. Brock’s Brief zu öffnen und durch einen letzten Blick den Abschnitt, der ihr Gesicht beschrieb, sich noch einmal ins Gedächtniß zu prägen.

Er war noch in diese Lectüre vertieft als er das leichte Kleiderrauschen wieder näher kommen hörte. Er stand im Schatten des Sommerhäuschens und wartete. Den frischen Eindruck ihres geschriebenen Porträts im Kopfe und mit Hilfe des hellen Morgenlichtes forschten seine Augen in ihrem Gesicht, während sie sich näherte, und die Antworten, die dasselbe ihm gab, waren folgende:

Das Haar in der Beschreibung des Pfarrers war hellbraun und nicht reich. Das Haar dieses Weibes, von einer üppigen Fülle, war von jener auffallenden Farbe, die das Vorurtheil der nördlichen Nationen einzig nicht verzeiht —— es war roth! Die Stirn in der Beschreibung des Pfarrers war hoch, schmal und zurückweichend; die Augenbrauen schwach gezeichnet und die Augen klein und entweder grau oder hellbraun. Die Stirn dieses Weibes war niedrig, gerade und breit nach den Schläfen zu; ihre Brauen, die leicht aber scharf gezeichnet, waren um einen Schatten dunkler, als ihr Haar; ihre Augen, groß, klar und hell geöffnet, waren von jener rein blauen Farbe, in der keine Spur von Grau oder Grün sichtbar, die so oft auf Gemälden und in Büchern unsere Bewunderung erregt und der man im wirklichen Leben so selten begegnet. Die Nase in der Beschreibung des Pfarrers war eine Adlernase. Die Nase dieses Weibes war weder nach außen noch nach innen gebogen: es war die grade, zart geformte Nase mit der kurzen Oberlippe der antiken Statuen und Büsten. Die Lippen in der Beschreibung waren dünn und die Oberlippe lang; die Hautfarbe war von einer trüben kränklichen Blässe; das Kinn zurückweichend und auf der linken Seite desselben, ein Mal oder eine Narbe. Die Lippen des Weibes hier waren voll und sinnlich; ihre Hautfarbe von der blendenden Zartheit, die jene Art von Haar begleitet —— von so zarter Durchsichtigkeit in den rosigen Schattierungen, die Carnation von Stirn und Nacken von so zarten warmen Farbentönen. Ihr Kinn rund und mit Grübchen geziert, war durchaus makellos und stand in Einer Linie mit der Stirn. Näher und immer näher, schöner und immer schöner in dem hellen Morgenlichte kam sie heran —— und bot den auffallendsten unbestreitbaren Gegensatz den das Auge nur sehen, der Geist nur fassen konnte, zu der Beschreibung im Briefe des Pfarrers.

Gouvernante und Schülerin waren bis hart an das Sommerhäuschen herangekommen, ehe sie sich umsahen und Midwinter darin stehen sahen. Die Erzieherin sah ihn zuerst.

»Ein Freund von Ihnen, Miß Milroy?« fragte sie ruhig, ohne zu erschrecken, oder irgend ein Zeichen von Ueberraschung zu geben.

Neelie erkannte ihn augenblicklich. Durch Midwinter’s Benehmen gelegentlich seiner ersten Vorstellung im Parkhäuschen durch seinen Freund bereits gegen ihn eingenommen, begann sie ihn jetzt, als die unglückselige erste Ursache ihres Mißverständnisses mit Allan auf dem Picknick, förmlich zu hassen. Ihr Gesicht überflog ein plötzliches Roth und mit einem Ausdrucke von Ueberraschung und kaltem Befremden wandte sie sich vom Gartenhäuschen ab.

»Er ist ein Freund von Mr. Armadale«, erwiderte sie scharf. »Ich weiß nicht, was er will oder weshalb er hier ist.«

»Ein Freund von Mr. Armadale!« Auf dem Gesicht der Gouvernante blitzte ein rasch erregtes Interesse auf, während sie die Worte wiederholte. Mit der nämlichen Sicherheit erwiderte sie Midwinter’s Blick, der noch immer fest auf ihr Gesicht geheftet war.

»Ich meinestheils«, fuhr Neelie, verdrossen über Midwinter’s Gleichgültigkeit gegen ihre Anwesenheit fort, »finde, daß man sich eine große Freiheit herausnimmt, wenn man Papas Garten wie den offenen Park betrachtet!«

Die Gouvernante wandte sich um und vermittelte mild.

»Meine liebe Miß Milroy«, remonstrirte sie, »wir müssen gewisse Unterschiede machen. Dieser Herr ist ein Freund von Mr. Armadale. Sie könnten sich kaum stärker ausdrücken, wenn er ein Fremder wäre.«

»Ich spreche meine Meinung aus«, entgegnete Neelie, gereizt von dem ironisch nachsichtigen Tone, in dem die Erzieherin zu ihr sprach. »Das ist Geschmackssache, Miß Gwilt, und der Geschmack ist verschieden.« Sie wandte sich ärgerlich ab und ging allein nach dem Häuschen zurück.

»Sie ist sehr jung«, sagte Miß Gwilt, indem sie Midwinter mit einem Lächeln um Nachsicht bat; »und außerdem, wie Sie selbst sehen müssen, ein verzogenes Kind.« Sie schwieg, zeigte, jedoch nur auf einen Augenblick, ihr Erstaunen über Midwinter’s seltsames Schweigen und seinen seltsam auf sie gehefteten Blick und machte sich dann mit reizender Anmuth und Gewandtheit daran, ihn aus der falschen Stellung zu befreien, in der er sich befand. »Da Sie Ihren Spaziergang so weit ausgedehnt haben«, fuhr ste fort, »so erzeigen Sie mir bei Ihrer Heimkehr vielleicht den Gefallen, einen kleinen Auftrag an Ihren Freund auszurichten. Mr. Armadale hat mich auf heute Morgen zu einer Besichtigung der Gärten von Thorpe-Ambrose freundlichst eingeladen. Wollen Sie ihm sagen, daß Major Milroy mir gestattet, der Einladung in Gesellschaft von Miß Milroy, zwischen zehn und elf Uhr, Folge zu leisten?« Einen Augenblick ruhten ihre Blicke mit erneutem Interesse auf Midwinter’s Gesichte. Noch immer wartete sie vergebens aus eine Antwort von ihm, lächelte, als ob sein merkwürdiges Schweigen sie eher ergötzte als erzürnte, und kehrte, ihrer Schülerin folgend, nach dem Parkhäuschen zurück.

Erst als die letzte Spur von ihr verschwunden, riß Midwinter sich aus seiner Betäubung heraus und versuchte sich seine Lage zu Vergegenwärtigen. Ihre Schönheit war keineswegs an dem athemlosen Erstaunen schuld, das ihn bis zu diesem Augenblicke gefesselt gehalten. Der einzige deutliche Eindruck, den sie bis jetzt auf ihn gemacht, begann und endete mit der Entdeckung des wunderbaren Contrastes, den ihr Gesicht Zug für Zug mit der Beschreibung in Mr. Brock’s Briefe bot. Alles Andere war ihm unklar und nebelhaft —— eine undeutliche Erinnerung an ein schlankes elegantes Weib, an gütige Worte, die mit Bescheidenheit und Anmuth zu ihm gesprochen worden, weiter nichts.

Ohne zu wissen warum, machte er einige Schritte in den Garten hinaus blieb stehen, während er wie ein Verirrter dahin und dorthin blickte, erkannte mit Anstrengung das Gartenhäuschen, als wenn Jahre vergangen, seit er es zuletzt gesehen, und ging endlich wieder in den Park hinaus. Selbst hier wandelte er zuerst bald links bald rechts. Sein Geist taumelte noch unter der erlittenen Erschütterung; seine Wahrnehmungen veränderten sich samt und sonders. Ein Etwas erhielt ihn in fortwährender Thätigkeit, ohne Grund und ohne Ziel wanderte er umher.

Ein Mann von weit weniger sensibler Natur hätte sich durch die ungeheure augenblickliche Gefühlsumwälzung überwältigt fühlen dürfen, welche dies Begebniß der letzten Minuten in ihm hervorgebracht hatte.

In dem denkwürdigen Augenblicke, da er die Thür des Sommerhäuschens öffnete, waren seine Geisteskräfte völlig frei und klar gewesen. Mit Recht oder mit Unrecht war er in Allem, was sich auf sein Verhältniß zu Allan bezog, durch einen ganz bestimmten Gedankengang zu einem ganz bestimmten Schlusse gelangt. Die ganze Gewalt des Motives, das ihn zu dem Entschlusse einer Trennung von Allan getrieben, wurzelte in dem Glauben, daß er am Hurle Mere die unheilvolle Erfüllung des ersten Traumgesichts erblickt habe. Und dieser Glaube ruhte seinerseits nothwendigerweise auf der Ueberzeugung, daß das Weib, die Person, welche allein das Trauerspiel in Madeira überlebte, unvermeidlich auch das Weib sein müsse, welches er anstatt des Schattens hatte am Teiche stehen sehen. Fest in dieser Ueberzeugung, hatte er selbst den Gegenstand seines Argwohns und des Argwohns seines ehrwürdigen Freundes, Mr. Brock, mit der Beschreibung dieses Letzteren verglichen —— eine genaue umständliche Beschreibung von der Hand eines vollkommenen zuverlässigen Mannes —— und seine eigenen Augen hatten ihn überzeugt, daß das Weib, welches er am Teiche erblickt, und das Weib, das Mr. Brock in London identifizierte, nicht eine und dieselbe Person waren. An Stelle des Traum-Schattens hatte, nach dem in dem Briefe des Pfarrers enthaltenen Beweise, nicht das Werkzeug des Verhängnisses —— sondern eine Fremde gestanden!

Zweifel, wie sie sich vielleicht in einem weniger abergläubischen Menschen geregt hätten, wurden durch die Entdeckung, die er jetzt gemacht, in ihm nicht erweckt.

Es fiel ihm nicht ein, sich jetzt, da der Brief ihm gezeigt, daß eine Fremde als die Gestalt in der Traumlandschaft dagestanden, zu fragen, ob nicht eine Fremde das vom Verhängniß auserkorene Werkzeug sein dürfe. Ein solcher Gedanke stieg in ihm gar nicht auf —— konnte ihm gar nicht aufsteigen. Das eine Weib, das sein Aberglaube fürchtete, war das Weib, welches sich mit dem Leben der beiden Armadales aus der ersten Generation und mit den Schicksalen der beiden Armadales aus der zweiten verflocht —— das zugleich der in der Warnung seines sterbenden Vaters bezeichnete Gegenstand und die erste Ursache der traurigen Familienereignisse war, welche Allan den Weg zu den Gütern von Thorpe-Ambrose gebahnt —— das Weib, mit Einem Worte, welches er, hätte ihn des Pfarrers Brief nicht irregeführt, instinktmäßig in dem Weibe erkannt haben würde, das er soeben gesehen hatte.

Das soeben erlebte Begebniß unter dem Einflusse des Irrthums betrachtend, zu dem der Pfarrer ihn unschuldigerweise verleitet hatte, erkannte und erfaßte sein Geist unverzüglich den neuen Schluß und verfuhr genau in derselben Weise, wie er damals bei seiner Unterredung mit Mr. Brock aus der Insel Man verfahren war.

Gerade, wie er damals als eine völlig genügende Widerlegung des Fatalitätsgedankens erklärt hatte, daß er auf allen seinen Seereisen bisher nie auf das Holzschiff gestoßen war, so erfaßte er auch jetzt den ähnlich gewonnenen Schluß, daß der ganze Anspruch des Traumes an einen übernatürlichen Ursprung mit der Erscheinung einer Fremden an der Stelle des Schattens von selbst über den Haufen fiel. Einmal zu dieser Ueberzeugung gelangt und ermuthigt, sich durch seine Liebe zu Allan ausschließlich wieder leiten zu lassen, durchflog sein Geist mit Blitzesschnelle die ganze, sich daraus entwickelnde Gedankenreihe. Brauchte der Traum nicht länger als eine Warnung aus einer andern Welt angenommen zu werden, so folgte hieraus unumgänglich, daß, der Zufall und nicht das Verhängniß den Weg zu jener Nacht auf dem Verdeck geführt hatte, und daß Alles, was seit seiner und Allan’s Trennung von Mr. Brock passiert, an sich harmlose Ereignisse gewesen waren, die nur sein Aberglaube verunstaltet hatte. In weniger als einer Secunde hatte seine bewegliche Phantasie ihn nach jenem Morgen in Castletown zurückversetzt, da er dem Pfarrer das Geheimniß seines Namens offenbart und ihm, mit dem Briefe seines Vaters vor sich, den besseren Glauben bekannt hatte, der in ihm lebte. Von neuem fühlte er, wie sein Herz festhielt an dem Bruderbande zwischen ihm und Allan; abermals konnte er mit der warmen Offenheit der Vergangenheit zu sich sprechen: »Wenn mir der Gedanke, Allan zu verlassen, das Herz bricht, so ist der Gedanke unrecht!« Während sich diese edlere Ueberzeugung wieder seiner bemächtigte, den Aufruhr seiner Brust beschwichtigte und die Verwirrung in ihm löste, erblickte er durch das Laub der Bäume hindurch das Haus von Thorpe-Ambrose, auf dessen Stufen Allan stand und ihn erwartete. Ein Gefühl unaussprechlicher Erleichterung hob seinen lebhaften Geist hoch über die Sorgen und Zweifel und Aengste hinweg, die ihn so lange bedrückt hatten, und zeigten ihm wieder die bessere und schönere Zukunft seiner Jugendträume. Seine Augen füllten sich mit Thränen und er drückte, wie er Allan durch die Baumperspective hindurch betrachtete, den Brief des Pfarrers in seiner wilden leidenschaftlichen Weise an die Lippen. »Ohne dies Stückchen Papier«, dachte er, »würde mein Leben mir wohl nichts gewesen sein, als ein langer bitterer Gram, und das Verbrechen meines Vaters hätte uns vielleicht auf immer geschieden!«

Dies war der Erfolg der Kriegslist, vermittelst derer dass Gesicht des Stubenmädchens Mr. Brock als das Gesicht von Miß Gwilt gezeigt worden war. Und so triumphierte die Schlauheit Mutter Oldershaw’s —— indem durch sie Midwinter’s Vertrauen auf seinen Aberglauben in dem einzigen Falle, wo diesen sein Aberglaube ihn zur Wahrheit leitete, erschüttert wurde —— über Schwierigkeiten und Gefahren, welche von Mutter Oldershaw selbst gar nicht in Betracht gezogen worden waren.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Von St. Ehrwürden Decimus Brock an Ozias
« Midwinter.

»Donnerstag.

Mein lieber Midwinter!

Ich kann Ihnen nicht mit Worten sagen, welche Erleichterung mir Ihr heute Morgen empfangener Brief gewährt und wie wahrhaft glücklich ich bin, daß es sich somit herausstellt, wie ich unrecht gehabt habe. Die Vorsichtsmaßregeln, die Sie für den Fall getroffen haben, daß das Frauenzimmer sich noch jetzt nach Thorpe-Ambrose wagen sollte, scheinen mir Allem zu entsprechen, was man nur verlangen kann. Ohne Zweifel werden Sie durch Einen oder den Andern vom Büreaupersonal des Rechtsanwalts, die Sie ersucht haben, Sie von jeder fremden Erscheinung im Orte in Kenntniß zu setzen, von ihr hören.

Ich bin über diesen Beweis, daß ich mich in unserer Sache auf Sie verlassen darf, um so mehr erfreut, als ich Allan’s Angelegenheiten wahrscheinlich länger, als vorauszusehen war, in Ihren Händen zu lassen genöthigt sein werde. Leider werde ich meinen Besuch in Thorpe-Ambrose noch auf zwei Monate verschieben müssen. Der einzige meiner Collegen, der mich in meinem Amte zu vertreten im Stande ist, kann es vor Ablauf der erwähnten Zeit nicht ermöglichen, seine Familie nach Sommersetshire zu bringen. Es bleibt mir deshalb nichts Anderes übrig, als meine Geschäfte hier zu beenden und noch vor nächsten Sonnabend auf meine Pfarre heimzukehren. Sollte sich irgendetwas ereignen, so werden Sie mich natürlich unverzüglich davon benachrichtigen, und ich muß dann, welche Inconvenienzen damit auch verbunden sein mögen, sofort nach Thorpe-Ambrose aufbrechen. Sollte dagegen Alles glatter verlaufen, als meine ewige Angst mich. glauben lassen will, so darf mich Allan, an den ich geschrieben habe, nicht früher als heute über acht Wochen erwarten.

Unsere Bemühungen, die auf dem Bahnhofe verlorene Spur wiederzufinden, sind bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Ich will indessen meinen Brief bis zur Postzeit noch nicht schließen, für den Fall, daß die nächsten paar Stunden noch etwas Neues bringen.

Stets treulich der Ihre

Decimus Brock.

P.S. Ich habe soeben von den Advokaten gehört, Sie haben den Namen entdeckt, unter dem das Frauenzimmer in London lebte. Gibt diese Entdeckung, keine sehr wichtige, wie ich fürchte, Ihnen irgend neue Mittel und Wege an die Hand, so bitte ich Sie, augenblicklich danach zu handeln. Der Name ist —— Miß Gwilt.«

Von Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»Parkhäuschen Thorpe-Ambrose,
Sonnabend, den 28. Juni.

Wenn Du mir versprechen willst, Dich nicht zu ängstigen, Mama Oldershaw, so will ich diesen Brief in einer sehr seltsamen Weise beginnen, indem ich nämlich eine Seite aus einem Briefe copire, den eine andere Person geschrieben hat. Du hast ein vortreffliches Gedächtniß und vielleicht nicht vergessen, daß ich am vorigen Montag, nachdem man mich als Gouvernante engagiert hatte, einen Brief von Major Milroy’s Mutter erhielt. Derselbe war datiert und unterschrieben, und die erste Seite lautete folgendermaßen: ——
»Den 23. Juni 1851. Liebes Fräulein —— Bitte, entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie vor Ihrer Abreise nach Thorpe-Ambrose noch mit einem Worte über die im Hause meines Sohnes herrschenden Gewohnheiten behellige. Als ich heute um zwei Uhr das Vergnügen hatte, Sie in Kingstown Crescent zu sehen, hatte ich in einem entfernten Theile der Stadt um drei Uhr ein anderes Geschäft, und in der Eile entfielen mir ein paar Dinge, die ich, wie mich dünkt, Ihrer Beachtung anempfehlen muß.« Der übrige Inhalt des Briefs ist von gar keiner Bedeutung, aber die Zeilen, die ich hier abgeschrieben, sind aller Aufmerksamkeit Werth, die Du ihnen nur schenken kannst Sie haben mich vor Entdeckung geschützt ehe ich noch eine Woche in Major Milroy’s Diensten gewesen bin, meine Theure!

Die Sache trug sich gestern Abend zu und begann und endete folgendermaßen.

Es befindet sich hier ein Herr, über den ich weiterhin noch Einiges zu sagen haben werde, der ein vertrauter Freund des jungen Armadale ist und den seltsamen Namen Midwinter trägt. Gestern gelang es ihm, mich im Park allein zu sprechen. Sowie er die Lippen auf that, ward ich gewahr, daß man in London meinen Namen ausspioniert hat, ohne Zweifel durch den Sommersetshirer Pfarrer, und daß Mr. Midwinter dazu ersehen war, und zwar offenbar von demselben Herrn, die aus Brompton verschwundene Miß Gwilt mit der in Thorpe-Ambrose erschienenen zu Identifizieren. Irre ich nicht, so hast Du diese Gefahr vorausgesehen, aber Du hast kaum annehmen können, daß die Bloßstellung mich schon so bald bedrohen werde.

Ich erspare Dir die Einzelheiten unserer Unterredung, um zum Schlusse zu kommen. Mr. Midwinter trug die Sache sehr zart vor, zu meinem großen Erstaunen sprach er seine Ueberzeugung aus, daß ich nicht die Miß Gwilt sei, die sein Freund suche, und er frage mich nur, mit Rücksicht auf die Befürchtungen eines Mannes, dessen Wünsche er in Ehren zu halten verpflichtet sei, ob ich ihm nicht behilflich sein wolle, diese Besorgnisse, soweit die Sache mich persönlich betreffe, gänzlich zu beschwichtigen, indem ich ihm eine einfache Frage beantworte, die er kein anders Recht an mich zu richten habe, als dasjenige, welches meine Nachsicht ihm einräumen werde? Die verschwundene Miß Gwilt habe man am vorigen Montag um zwei Uhr Nachmittags auf dem Perron der Nordwestbahn in Enston Square aus den Augen verloren. Wolle ich ihn zu sagen ermächtigen, daß die Miß Gwilt, welche jetzt bei Major Milroy Gouvernante sei, an jenem Tage und zu jener Stunde gar nicht nach dem erwähnten Bahnhof gekommen sei.

Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich die schöne Gelegenheit, die er mir geboten, allen ferneren Verdacht zu entwaffnen, mit Freuden ergriff. Auf der Stelle nahm ich einen hohen Ton an und schlug ihn mit dem Briefe der alten Dame. Er weigerte sich höflich, ihn einzusehen, allein ich bestand darauf. »Ich mag nicht fälschlicher Weise für ein Frauenzimmer gehalten werden«, sagte ich, »das vielleicht einen schlechten Ruf hat, blos, weil sie denselben Namen trägt, oder angenommen hat, welcher auch der meinige ist. Ich bestehe darauf, daß Sie zu meiner Genugthuung, wenn nicht zu der Ihrigen, den ersten Theil dieses Briefes lesen.« Er mußte nachgeben —— und da hatte er das Zeugniß in der Handschrift der alten Dame selbst, daß sie und ich vergangenen Montag um zwei Uhr in Kingstown Crescent zusammen waren, der, wie ihm jedes Adreßbuch darthun kann, in Bayswater liegt.

Natürlich hätte ich ihn, wenn ich den Brief nicht aufbewahrt, mit demselben Erfolge an Dich oder die Mutter des Majors verweisen können. So aber ist der Zweck sonder Verzug und Mühe erreicht worden. Es ist bewiesen, daß ich nicht ich war; und eine der Gefahren, die mich in Thorpe-Ambrose bedrohten, ist von diesem Augenblicke an aus dem Wege geräumt. Das Gesicht Deines Stubenmädchens mag nicht sonderlich hübsch sein, aber es läßt sich nicht leugnen, daß es uns vortreffliche Dienste geleistet hat.

So viel über die Vergangenheit, jetzt zur Zukunft. Du sollst hören, wie ich mit den Leuten hier verkomme, und selber beurtheilen, welche Aussichten ich habe, Herrin von Thorpe-Ambrose zu werden.

Laß mich mit dem jungen Armadale anfangen, —— denn das heißt, mit guten Nachrichten beginnen. Ich habe bereits den rechten Eindruck auf ihn gemacht, und der Himmel weiß, daß ich darauf stolz zu sein keine besondere Ursache habe! Jedes leidlich hübsche Frauenzimmer, das sich die Mühe nähme, könnte ihn verliebt in sie machen. Er ist ein schwindelköpfiger junger Narr —— einer jener munteren, frischen, blonden, gutmüthigen Männer, gegen die ich einen besonderen Abscheu hege. Am Tage meiner Ankunft war ich eine ganze Stunde mit ihm im Boote allein, und ich kann Dir sagen, daß ich von jenem Tage an bis heute meine Zeit gut benützt habe. Die einzige Schwierigkeit ihm gegenüber liegt darin, daß es mir schwer fällt, meine eigenen Gefühle zu verbergen, namentlich, wenn er meine Abneigung gegen ihn zu förmlichem Hasse steigerte, indem er mich zuweilen an seine Mutter erinnert. Ich habe wirklich nie einen Menschen gesehen, den ich so schlecht behandeln könnte, wenn sich mir die Gelegenheit dazu böte. Kommt nichts dazwischen, so wird er mir diese Gelegenheit früher geben, als wir denken. Soeben bin ich von einer Gesellschaft im Herrenhause zurückgekehrt, dem Festmahle, das am Zinstage stattfindet, und die Aufmerksamkeiten des Squire gegen mich und mein bescheidenes Widerstreben, sie anzunehmen, haben bereits allgemeine Aufmerksamkeit erregt.

Sodann kommt meine Schülerin Mr. Milroy. Auch sie ist rosig und albern und, mehr noch, ungeschickt und plump und sommersprossig und Verdrießlich und schlecht gekleidet. Sie brauche ich nicht zu fürchten, obschon sie mich haßt wie die Pest, was mir ein großer Trost ist, denn dadurch bin ich während der Zeit, wo ich sie nicht unterrichte oder nicht mit ihr spazieren gehe, von ihrer Gesellschaft befreit. Es ist sehr leicht, zu bemerken, daß sie ihr Zusammensein mit dem jungen Armadale, beiläufig ein Umstand, den wir nicht in Rechnung brachten, wohl benützt hat und so dumm gewesen ist, ihn sich durch die Finger schlüpfen zu lassen. Wenn ich Dir sage, daß sie, um des Anscheines willen, ihren Vater und mich bei den kleinen Besuchen in Thorpe-Ambrose begleiten und die Bewunderung des jungen Armadale für mich mit ansehen muß, so wirst Du ungefähr ermessen können, wie hoch ich in ihrer Gunst stehe. Sie würde mich ganz unerträglich ärgern, sähe ich nicht, daß ich sie reize, wenn ich meine Ruhe bewahre —— und darum bewahre ich diese natürlich. Wenn ich wirklich einmal in Wuth gerathe, so wird dies in den Lectionen geschehen, und zwar in den Musikstunden. Nicht mit Worten kann ich schildern, wie tief ich für ihr armes Clavier fühle. Der Hälfte der Clavier spielenden Mädchen in England sollten, im Interesse der Gesellschaft, die Finger abgehackt werden, und ginge es nach meinem Willen, Miß Milroy’s Finger kämen zuerst daran. «

Was den Major betrifft, so kann ich in seiner Achtung kaum höher steigen, als ich bereits darin stehe. Ich bin stets bei der Hand, sein Frühstück zu bereiten —— und seine Tochter ist dies nicht. Ich kann immer seine Sachen finden, die er verliert —— und seine Tochter kann es nicht. Ich gähne nie, wenn er uns seine langweiligen Erzählungen auftischt —— und seine Tochter thut es. Ich habe den armen, harmlosen, lieben alten Herrn gern; deshalb will ich kein Wort weiter über ihn sagen.

Nun, da haben wir doch sicherlich eine schöne Aussicht für die Zukunft? Meine gute Oldershaw, es gab noch nie eine schöne Aussicht, worin nicht ein häßlicher Fleck gewesen wäre. Meine Aussicht hat zwei häßliche Flecke. Der eine heißt Mrs. Milroy, der andere Mr. Midwinter.

Mit Mrs. Milroy angefangen. Was that sie wohl am Tage meiner Ankunft, ehe ich noch kaum fünf Minuten im Hause gewesen? Sie ließ mir sagen, daß sie mich zu sehen wünsche. Diese Botschaft überraschte mich ein wenig. —— nachdem ich von der alten Dame in London gehört, daß ihre Schwiegertochter zu leidend sei, um irgend Jemanden zu empfangen —— doch blieb mir natürlich nichts anderes übrig, als der Aufforderung Folge zu leisten und mich in das Krankenzimmer hinauf zu begeben. Ich fand sie durch ein unheilbares Rückenleiden ans Bett gefesselt und von einem wahrhaft schauerlichen Anblick, doch im Besitz all ihrer Geistesfähigkeiten, und sie ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, ein so falsches Weib, von so abscheulichem Charakter, wie Dir in all’ Deinen langen Erfahrungen nur je eines vorgekommen ist. Ihre ausgesuchte Höflichkeit und die Schlauheit, mit der sie ihr eigenes Gesicht im Schatten der Bettvorhänge hielt, während es ihr gelang, auf das meinige ein helles Licht fallen zu lassen, bewogen mich, sowie ich ins Zimmer trat, auf meiner Hut zu sein. Wir,´waren eine halbe Stunde zusammen, ohne daß ich in eine einzige der kleinen Fallen ging, welche sie so geschickt für mich zu legen wußte. Das einzige Räthselhafte in ihrem Benehmen, das ich zur Zeit nicht zu durchschauen vermag, war der Umstand, daß sie mich fortwährend bat, ihr bald Dies bald Jenes, Dinge, die sie offenbar gar nicht brauchte, aus verschiedenen Theilen des Zimmers zu holen.

Seitdem haben mich die Ereignisse hierüber aufgeklärt. Mein Argwohn ward zuerst durch ein Geschwätz der Mädchen erweckt, das ich zufällig mit anhörte, und das Benehmen von Mrs. Milroy’s Wärterin hat mich in meiner Meinung bestärkt. In den seltenen Fällen, wo ich zufällig mit dem Major allein geblieben, hat sich die Wärterin ebenfalls zufällig etwas bei ihrem Herrn zu thun gemacht, und jedes mal vergessen, ihr Erscheinen durch Anklopfen an die Thür zu melden. Begreifst Du jetzt, warum Mrs. Milroy mich zu sich beschied, sowie ich im Hause angelangt war, und was sie damit bezweckte, indem sie mich im Zimmer hin und her schickte? Kaum dürfte sich noch ein anziehendes Licht für mein Gesicht und meine Gestalt finden, in dem jenes Weibes eifersüchtiges Auge sie nicht bereits studiert hätte. Ich weiß nun recht wohl, warum Vater und Tochter überrascht waren und einander ansahen, als ich ihnen vorgestellt ward, oder warum die Mädchen mich mit boshafter Hoffnung im Blicke anstieren, wenn ich schelle und sie um Dies oder Jenes ersuche. Zwischen uns beiden, Mutter Oldershaw, ist’s unnütz, die Wahrheit zu verbergen. Als ich in jenes Krankenzimmer hinausging, marschierte ich mit verbundenen Augen geradezu in den Rachen eines eifersüchtigen Weibes. Kann mich Mrs. Milroy aus dem Hause schaffen, so wird sie es thun, und sie hat in ihrem Bettgefängnisse vom Morgen bis in den Abend sich mit nichts Anderem zu beschäftigen, als die Mittel und Wege dazu auszudenken.

In dieser üblen Lage wird mein eigenes vorsichtiges Benehmen von der vollkommenen Unempfindlichkeit des lieben alten Majors vortrefflich unterstützt. Die Eifersucht seiner Frau ist ein so unerhörter Wahnsinn, wie es außerhalb eines Tollhauses je einen gegeben —— es ist die Frucht ihres abscheulichen Temperaments, welches ein unheilbares Leiden noch verschlimmert. Der arme Mann denkt an nichts, als an seine mechanischen Bestrebungen, und ich glaube nicht, daß er bis zu diesem Augenblicke weiß, ob ich schön bin oder nicht. Bei solcher Sachlage darf ich hoffen, auf eine Zeitlang wenigstens, den plötzlichen Störungen von Seiten der Wärterin und den Anschlägen ihrer Herrin die Spitze bieten zu können. Aber Du weißt, was ein eifersüchtiges Weib ist, ich denke, ich weiß, was Mrs. Milroy ist, und ich bekenne, daß sich an dem Tage freier athmen werde, wo der junge Armadale seine albernen Lippen zu passenden Worten aufthut und den Major nöthigt, durch die Zeitungen eine neue Erzieherin zu suchen.

Armadales Name erinnert mich an Armadale’s Freund. Aus diesem Revier droht mir größere Gefahr, und was noch schlimmer, ich fühle mich vor der Hand gegen Mr. Midwinter nicht halb so gut gewaffnet, wie gegen Mrs. Milroy.

An diesem Menschen ist Alles mehr oder minder geheimnißvoll, was mir zuvörderst schon nicht gefällt Wie kommt er dazu, der Vertraute des Sommersetshirer Pfarrers zu sein? Wie viel hat dieser Pastor ihm mitgetheilt? Wie kam es, daß er bei unserer Begegnung im Park so fest davon überzeugt war, ich sei nicht die Miß Gwilt, die sein Freund suche? Ich habe keinen Schatten von Antwort auf diese drei Fragen. Nicht einmal entdecken kann ich, wer er ist und wie er und der junge Armadale zuerst mit einander bekannt wurden. Ich hasse ihn. Nein, das thue ich nicht; ich möchte nur ins Klare über ihn kommen. Er ist sehr jung, klein und schlank, dunkel und gewandt, und hat glänzende schwarze Augen, die deutlich zu mir sagen: »Wir gehören einem Manne an, der Verstand und seinen eigenen Willen besitzt; einem Manne, der nicht immer zum Gefolge eines Narren auf einem großen Landsitze gehört hat.« Ja, ich bin fest überzeugt, daß Mr. Midwinter, so jung er noch ist, bereits etwas gethan oder etwas gelitten hat, und ich möchte, ich weiß nicht was, darum geben, zu erfahren, was dies war. Nimm mir’s nicht übel, daß ich ihm so viel Platz in meinem Briefe widme. Sein Einfluß auf den jungen Armadale ist groß genug, um sich mir als ein sehr unbequemes Hinderniß in den Weg zu stellen, wenn ich mir nicht von vornherein seine gute Meinung sichern kann. Nun, und was hindert Dich daran, Dir seine gute Meinung zu sichern? wirst Du fragen. Ich fürchte sehr, Mutter Oldershow, daß ich derselben bereits in einer Weise theilhaftig geworden bin, auf die ich gar nicht gerechnet habe.

Ich fürchte sehr, der Mann ist schon in mich verliebt. Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln und zu sagen: »Das sieht ihrer Eitelkeit ähnlich!« Nach den Aengsten, die ich durchgemacht habe, bleibt mir keine Eitelkeit mehr, und ein Mann, der mich bewundert, ist ein Mann, der mich schaudern macht. Es gab eine Zeit, das gebe ich zu —— Bah! was schreibe ich da? Empfindsamkeit, so wahr ich lebe! Empfindsamkeit an Dich! Lache nur zu, meine Liebe. Ich meinerseits lache weder, noch weine ich; ich schneide meine Feder, und fahre in meinem —— wie nennen die Männer es gleich? —— in meinem Berichte fort.

Das Einzige, was sich der Untersuchung verlohnt, ist die Frage, ob ich in meiner Annahme hinsichtlich des Eindruck, den ich auf ihn gemacht, Recht habe. Laß sehen —— ich bin viermal in seiner Gesellschaft gewesen. Das erste Mal im Garten des Majors, wo wir einander unerwartet gerade gegenüber standen. Er stand da und sah mich an, als wäre er versteinert, und ohne ein Wort zu sprechen. Die Wirkung meines häßlichen rothen Haares vielleicht? Ganz wahrscheinlich —— schreiben wir es meinem Haar zu. Das zweite Mal, als wir in den Gartenanlagen von Thorpe-Ambrose spazierten, wo der junge Armadale auf der einen und meine Schülerin in mürrischer Laune auf der andern Seite von mir ging. Mr. Midwinter gesellte sich zu uns, wiewohl er aus dem Administrationsbüreau beschäftigt war und diese Arbeit sonst niemals vernachlässigt. Trägheit, vielleicht? oder eine Zuneigung für Miß Milroy? Kanns nicht sagen; schreiben wir es Miß Milroy zu, wenn Du willst —— ich weiß blos, daß er Niemanden ansah, als mich. Das dritte Mal war bei unserer Privatunterredung im Park, von der ich Dir bereits erzählt habe. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Mann bei einer delicaten Frage an ein Weib so bewegt gesehen. Doch dies mochte blose Verlegenheit sein, und daß er, nachdem wir uns getrennt hatten, fortwährend noch zurückblickte, mochte nur geschehen, um die Aussicht zu genießen. Messen wir es der Aussicht bei, auf jeden Fall der Aussicht! Das vierte Mal war heute Abend bei der kleinen Gesellschaft. Ich mußte spielen, und da das Piano gut war, spielte ich so gut wie ich überhaupt konnte. Die ganze Gesellschaft drängte sich um mich herum und sagte mir Schmeicheleien —— meine reizende Schülerin brachte ihr Compliment mit dem Gesichte einer Katze vor, wenn sie im Begriff ist zu kratzen —— außer Mr. Midwinter. Er wartete, bis der Augenblick des Fortgehens kam, und dann wußte er mich einen Augenblick allein im Hausflur zu treffen. Er hatte gerade Zeit, meine Hände zu fassen und zwei Worte zu sagen. Soll ich Dir beschreiben, wie er meine Hände faßte und wie seine Stimme klang, als er sprach? Ganz unnöthig! Du hast mir stets gesagt, daß der verstorbene Mr. Oldershaw Dich vergötterte. Rufe Dir eben die Art und Weise ins Gedächtniß zurück, in der er zum ersten Male Deine Hand nahm und Dir ein paar heimliche Worte ins Ohr flüsterte Welchem Umstande schriebst Du damals sein Benehmen zu?« Wenn Du im Laufe des Abends Clavier gespielt hattest, dann ohne Zweifel der Musik.

Ja! Du magst Dich darauf verlassen, das Unglück ist geschehen. Dieser Mensch ist kein schwindelköpfiger Narr, der seine Herzensneigungen so schnell wechselt, wie seine Kleider —— das Feuer, das in jenen großen schwarzen Augen brennt, ist kein Flackerfeuer, welches ein Weib, das es entzündet, so leicht wieder auszulöschen vermag. Ich möchte Dich nicht entmuthigen; ich sage auch nicht, daß die Chancen gegen uns sind. Aber auf der einen Seite von Mrs. Milroy und auf der andern Seite von Mr. Midwinter bedroht, laufe ich die schlimmste aller Gefahren ——: die Zeit zu verlieren.

Bereits hat der junge Armadale so gut wie ein solcher Tölpel es eben versteht, auf ein heimliches Rendezvous angespielt! Miß Milroy’s Augen sind scharf und die der Wärterin noch schärfer, und ich werde meine Stelle verlieren, wenn die Eine oder die Andere dahinterkommt. Einerlei! Ich muß die Chance ergreifen, und ihm die heimliche Zusammenkunft gestatten. Laß mich ihn nur bei Seite haben, laß mich nur den spionierenden Blicken der Weiber entwischen, und —— wenn sein Freund nicht dazwischen tritt —— will ich einstehen für den Erfolg.

Inzwischen —— habe ich Dir noch sonst etwas mitzutheilen? Sind uns noch andere Leute in Thorpe-Ambrose im Wege? Keine Seele! Von den Gutsnachbarn macht hier Niemand Besuch, denn der junge Armadale steht glücklicher Weise in schlechtem Geruch bei der Nachbarschaft. Weder schöne vornehme Damen, noch Leute von Bedeutung kommen zu ihm, die wider seine Aufmerksamkeiten gegen eine Gouvernante protestieren winden. Die einzigen Gäste, die er heute Abend für seine Gesellschaft hatte austreiben können, waren der Advocat mit seiner Familie (aus dessen Gattin, einem Sohne und zwei Töchtern bestehend) und eine taube alte Frau mit ihrem Sohne —— lauter völlig unbedeutende Leute und alle demüthig gehorsame Diener des dummen jungen Squires.

Da ich von demüthig gehorsamen Dienern rede, fällt mir noch eine Persönlichkeit ein, die hier im Administrationsbureau angestellt ist —— ein jämmerlicher, schäbiger, zerrütte alter Mann, namens Bashwood. Er ist mir völlig fremd, und ich bin offenbar für ihn ebenfalls eine Fremde; denn er hat das Stubenmädchen im Parkhäuschen gefragt, wer ich sei. Ich mache mir selbst kein großes Compliment, wenn ich es bekenne; aber es ist darum nicht minder wahr, daß ich auf dieses schwache alte Geschöpf, als es mich zum ersten Male sah, den erstaunlichsten Eindruck gemacht habe. Er wechselte zehnmal die Farbe und stand zitternd da und starrte mich an, als läge etwas ganz Entsetzliches in meinem Gesichte. Für den Moment war ich ganz erschrocken, denn von all den Männern, die mich in meinem Leben angesehen haben, hat mich noch keiner dergestalt angestiert. Hast Du je die Riesenschlange im Thiergarten füttern sehen? Man bringt ein lebendiges Kaninchen in den Käfig und die beiden Thiere sehen einander einen Augenblick an. Ich versichere Dir, daß mich Mr. Bashwood an das Kaninchen erinnerte!

Warum erwähne ich dieses Umstandes? Ich weiß nicht, warum. Vielleicht habe ich zu lange geschrieben und mein Kopf beginnt schwach zu werden. Vielleicht frappiert mich Mr. Bashwoods Art und Weise der Bewunderung durch ihre Neuheit. Lächerlich! Ich rege mich auf und beunruhige Dich um nichts. O, welch einen langen langweiligen Brief ich geschrieben habe! und wie klar die Sterne durchs Fenster auf mich herabschauen, und wie schauerlich stille die Nacht ist! Schicke mir noch etwas von den bewußten Schlaftropfen und schreibe mir einen Deiner schönen, boshaften, amüsanten Brief. Du sollst wieder von mir hören, sobald ich ein wenig besser weiß, wie Alles ablaufen wird. Gute Nacht, und bewahre in Deinem steinernen alten Herzen einen Winkel für

L. G. «

Von Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street Pimlico, Montag.
Meine liebe Lydia!

Ich bin durchaus nicht in der Gemüthsverfassung um Dir einen amüsanten Brief zu schreiben. Deine Mittheilungen sind sehr entmuthigender Natur und Dein leichtsinniger Ton ängstigt mich förmlich. Bedenke doch das Geld, das ich Dir bereits vorgeschossen, und die Interessen, die für uns beide auf dem Spiele stehen. Was Du immer sein magst, ums Himmels willen sei wenigstens nicht leichtsinnig!

Was kann ich thun? —— Ich frage mich als Geschäftsfrau, was kann ich thun, Dich zu fördern? Ich kann Dir keinen Rath geben, denn ich bin nicht an Ort und Stelle, und weiß nicht, wie die Verhältnisse sich vielleicht von einem Tage zum andern verändern. In der Lage, in der wir uns jetzt befinden, kann ich nur in einer Weise nützlich sein: ich kann ein neues Hinderniß entdecken, das Dich bedroht, und glaube, daß ich es aus dem Wege zu räumen im Stande sein werde.

Du sagst sehr wahr, es habe noch nie eine Aussicht ohne eine häßliche Stelle darin gegeben, und in der Deinigen befinden sich zwei solcher häßlicher Flecken. Meine Liebste, es dürften wohl drei darin sein, wenn ich mich nicht ins Mittel lege, und der dritte Fleck wird Brock heißen! Ist es möglich, daß Du des Pfarrers erwähnen kannst, wie Du es thust, ohne einzusehen, daß die Fortschritte, die Du bei dem jungen Armadale machst, früher oder später durch den Freund des jungen Armadale an den Geistlichen berichtet werden müssen? Ja, jetzt, da ich daran denke, sehe ich, daß Du doppelt in der Gewalt des Pfarrers bist! Irgendein neuer Verdacht kann ihn binnen vierundzwanzig Stunden selbst nach Eurer Gegend bringen, und Du bist der Gefahr ausgesetzt, daß er, sowie er hört, der Squire stehe im Begriff, sich mit der Gouvernante eines Nachbars zu compromittiren, sich sofort hindernd dazwischen stellt. Wenn ich sonst nichts thun kann, so kann ich wenigstens diese Gefahr von Dir fern halten. Und, o Lydia, mit welcher Freude werde ich dabei Alles aufbieten, nachdem mich der alte Bursche so schmachvoll gekränkt hat, als ich ihm auf der Straße jene Jammergeschichte erzählte! Wahrhaftig, ich zittere vor Vergnügen, wenn ich daran denke, wie ich Mr. Brock zum Narren halten werde!

Und wie soll das geschehen? Ei, genau so, wie wir es schon einmal vollbracht haben. Er hat Miß Gwilt, oder vielmehr mein Stubenmädchen verloren, nicht wahr? Sehr wohl. Er soll sie, wo er auch immer sein mag, in bequemer Nähe wiederfinden. Solange sie an dem Orte bleibt, wird auch er dort bleiben; und da wir wissen daß sie nicht zu Thorpe-Ambrose ist, so bist Du dort vor ihm sicher! Der Verdacht des alten Herrn hat uns bis jetzt erstaunlich viel Ungelegenheit bereitet. Laß uns denselben wenigstens nutzbringend ausbeuten; durch seinen Argwohn wollen wir ihn an die Schürzenbänder meines Mädchens binden. Sehr erquicklich. Eine ganz moralische Vergeltung, nicht wahr?

Der einzige Beistand, um den ich Dich behelligen muß, ist derart, daß Du mir ihn leicht wirst leisten können. Suche von Mr. Midwinter’s zu erfahren, wo sich der Pfarrer gegenwärtig aufhält, und benachrichtige mich davon mit umgehender Post. Ist er noch in London, so will ich meinem Mädchen bei der Mystification persönlich behilflich sein. Ist er irgendwo anders, so will ich sie ihm nachschicken, in Begleitung einer Person, auf die ich unbedingtes Vertrauen setzen kann.

Die Schlaftropfen sollst Du morgen erhalten. Inzwischen wiederhole ich schließlich das, was ich im Eingange sagte —— keinen Leichtsinn! Gib Dich nicht poetischen Empfindungen hin, gucke nicht nach den Sternen und schwatze nicht von der schauerlichen Stille der Nacht. Es gibt ja Leute auf der Sternwarte, welche dafür bezahlt werden, daß sie die Sterne für Dich betrachten —— überlasse es ihnen. Und was die Nacht betrifft, so mache damit, was die Vorsehung Dich mit der Nacht machen hieß, indem sie Dich mit Augenlidern versah —— schlafe

Von Herzen die Deine
Maria Oldershaw.«

Von St. Ehrwürden Decimus Brock an
Ozias Midwinter.

»Pfarrhaus Bascomb, Sommerset,
Donnerstag, den 3. Juli.

Mein lieber Midwinter.

Nur eine Zeile, ehe die Post abgeht, um Sie aller Verantwortlichkeit in Thorpe-Ambrose zu entheben Und der Dame, die in Major Milroy’s Familie als Gouvernante lebt, meine Entschuldigungen zu "machen.

Die Miß Gwilt —— oder ich sollte vielmehr sagen, das Frauenzimmer, welches sich diesen Namen gibt —— ist zu meinem unaussprechlichen Erstaunen hier in meinem Pfarrsprengel ganz offen erschienen! Sie logirt im Gasthof und ist von einem plausibel aussehenden Manne begleitet, der für ihren Bruder gilt. Was dieses unverschämte Benehmen zu bedeuten hat —— wenn es nicht etwa neue Schritte im Complote gegen Allan andeutet, die nach neuen Rathschlägen unterenommen werden —— geht natürlich über meine Entdeckungskunst.

Meine Idee ist die, daß man die Unmöglichkeit eingesehen hat, bis zu Allan zu dringen, ohne mich oder Sie als einen Stein des Anstoßes im Wege zu finden, und daß man aus der Noth eine Tugend machen will, indem man offen versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Der Mann sieht aus, als ob er jeder Unverschämtheit fähig wäre, und er sowohl als das Frauenzimmer hatten die Frechheit, mich zu grüßen, als ich ihnen vor einer halben Stunde im Dorfe begegnete. Sie haben bereits Erkundigungen über Allan’s Mutter eingezogen —— hier, wo deren exemplarisches Leben all ihren Nachforschungen Trotz bieten wird. Wenn es nur auf Gelderpressungen als Preis für ihr Schweigen über das Verhalten der armen Mrs. Armadale zur Zeit ihrer Heirath auf Madeira abgesehen ist, so werden sie mich gerüstet finden. Ich habe mit dieser selben Post an meine Advocaten geschrieben und sie ersucht, mir einen geschickten Menschen zur Hilfe zu schicken, und er wird sich in irgendeiner Rolle, wie sie ihm unter den gegenwärtigen Verhältnissen als die sicherste erscheint, aus der Pfarrei einquartieren.

In den nächsten Tagen sollen Sie erfahren, was sich weiter begeben hat.

Stets aufrichtig der Ihre.
Decimus Brock.«



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Seit jenem Morgen, an dem Miß Gwilt und ihre Schülerin einen Spaziergang im Garten des Parkhäuschens gemacht, waren neun Tage vergangen und der zehnte nahte sich dem Ende.

Der Abend war umwölkt. Seit Sonnenuntergang waren Anzeichen am Himmel erschienen, aus denen der Volksglaube Regen prophezeit. Die Gesellschaftszimmer des Herrenhauses waren sämtlich leer und finster. Allan war ausgegangen, um den Abend bei den Milroy’s zuzubringen, und Midwinter wartete seine Heimkehr ab —— nicht unter den Büchern im Bibliothekzimmer, wo er ihn gewöhnlich erwartete —— sondern in dem kleinen Hinterstübchen, das Allan’s Mutter während der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Thorpe-Ambrose bewohnt hatte.

Nichts war aus dem Zimmer fortgenommen, wohl aber Manches zu seinen sonstigen Geräthen hinzugefügt worden, seit Midwinter es zuletzt gesehen hatte. Die Bücher, welche Mrs. Armadale hinterlassen, das Mobiliar, die alte Matte am Fußboden, die alte Tapete an den Wänden —— alles war unangerührt geblieben. Noch immer stand die kleine Statue der Niobe auf ihrer Console, und noch immer ging das lange Fenster auf den Garten hinaus. Doch zu den Reliquien der Mutter waren jeztzt die persönlichen Habseligkeiten des Sohnes gekommen. Die bisher kahle Wand war mit Aquarellen geschmückt —— mit einem Porträt von Mrs. Armadale, dem links eine Ansicht des Hauses in Somersetshire und rechts ein Bild der Yacht zur Seite hing. Unter den Büchern, in welche in verblichener Tinte in Mrs. Armadale’s Handschrift die Worte: »Von meinem Vater« eingeschrieben standen, befanden sich andere Bücher, die in derselben Handschrift und mit schwärzerer Tinte die Inschrift: »An meinen Sohn» trugen. An der Wand, auf dem Kaminsims, auf dem Tische umhergestreut, standen und lagen unzählige kleine Gegenstände, denen einige Allan’s früherem Leben angehörten und andere zu seinen gegenwärtigen Beschäftigungen und Unterhaltungen nothwendig waren und die alle deutlich zu erkennen gaben, daß das Zimmer, das Allan in Thorpe-Ambrose vorzugsweise bewohnte, gerade das war, welches Midwinter einst an sein zweites Traumgesicht gemahnt hatte. Hier, merkwürdig gleichgültig gegen das, was ihn umgab und was vor so kurzem noch den Gegenstand seiner abergläubischen Befürchtungen gebildet hatte, wartete Allan’s Freund ruhig auf dessen Heimkehr —— und hier, was noch merkwürdiger, fielen seine Blicke auf eine Veränderung der Einrichtung, die ursprünglich durch ihn herbeigeführt worden war. Seine eigenen Lippen hatten von der Entdeckung berichtet, die er am ersten Morgen im neuen Hause gemacht; er selbst hatte freiwillig den Sohn dazu bewogen, sich in dem Zimmer seiner Mutter wohnlich zu etablieren.

Aus welchem Beweggrunde hatte er jene Worte gesprochen? Aus keinem andern, der nicht aus den neuen Interessen und den neuen Hoffnungen natürlich entsprang, die ihn jetzt belebten.

Der gänzliche Umschwung seiner Ueberzeugung seit dem denkwürdigen Ereignisse, das ihn Miß Gwilt gegenüber geführt hatte, war von einer Natur, die Allan zu verbergen nicht in seinem Wesen lag. Offen, wie es sein Charakter war, hatte er davon gesprochen. Das Verdienst, seinen Aberglauben überwunden zu haben, war ein Verdienst, das er sich ungern beimaß, bevor er nicht diesen Aberglauben schonungslos und seiner schlimmsten und schwächsten Seite dargelegt hatte. Erst nachdem er rückhaltslos eingestanden, unter welchem Impulse er Allan am See verlassen, hatte er sich Glück gewünscht, daß er nunmehr den Traum in anderem Lichte betrachten konnte. Dann, und nicht eher, hatte er von der Erfüllung des ersten Gesichts gesprochen, wiewohl der Arzt auf der Insel Man davon gesprochen haben würde —— er hatte sich gefragt, wie der Arzt gefragt haben würde, was es Wunderbares sei, einen Teich beim Sonnenuntergange zu erblicken, wo man rings von einem wahren Netze von Teichen umgeben war? und was Erstaunliches darin liege, ein Weib am See zu sehen, wenn offene Wege zu diesem hinführten und Dörfer genug in der Umgegend lager; wenn Boote auf dem Wasser umher fuhren und Lustpartien dahin veranstaltet wurden? Und so hatte er damit gewartet, den festeren Entschluß zu rechtfertigen, mit dem er jetzt der Zukunft entgegenblickte, bis er offenbart haben würde, was er jetzt selbst Alles als Irrthümer der Vergangenheit erkannt hatte. Die Interessen seines Freundes aufzugeben, das Vertrauen zu täuschen, das ihn mit der Verwalterstelle bekleidet, die von Mr. Brock in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen, was Alles im Gedanken lag, Allan zu verlassen —— das stand jetzt lebhaft vor ihm. Der crasse Widerspruch, der darin lag, daß er den Traum als die Schicksalsoffenbarung hinnahm und dann durch eine Anstrengung des freien Willens diesem Schicksale zu entgehen suchte —— daß er eifrig arbeitete, um sich für die Zukunft zu der Verwalterstelle geschickt zu machen, und zugleich vor dem Gedanken zurück bebte, daß die Zukunft ihn noch unter Allan’s Dache finden könne —— ward seinerseits schonungslos dargelegt. Er gestand jeden Irrthum, jede Inconsequenz ehe er von dem helleren und besseren Geist in ihm zu reden —— ehe er die letzte einfache Frage zu thun wagte, die Alles schloß: »Willst du mir in Zukunft vertrauen? willst du die Vergangenheit vergeben und vergessen?«

Ein Mann, der solchergestalt ohne einen einzigen Rückhalt, den die Rücksicht auf sich selbst ihm eingab, sein ganzes Herz ausschütten konnte, war nicht der Mann, irgendeine geringere Verheimlichung zu vergessen, deren seine Schwäche ihn gegen seinen Freund hätte schuldig machen können. Schwer lastete es auf Midwinter’s Gewissen, daß er seinem Freunde eine Entdeckung verheimlicht hatte, die er ihm in Allan’s Interesse hätte machen sollen —— die Entdeckung nämlich, die er im Zimmer seiner Mutter gemacht.

Ein Zweifel hatte jedoch seine Lippen geschlossen —— der Zweifel, ob Mrs. Armadale’s Verhalten auf der Insel Madeira bei ihrer Heimkehr nach England geheim gehalten worden war. Sorgfältige Erkundigungen, zuerst unter der Dienerschaft, dann unter den Gutspächtern, sorgfältige Berücksichtigung der wenigen zur Zeit umlaufenden Gerüchte, wie diese ihm von den wenigen noch übrigen Personen mitgetheilt wurden, die sich jener erinnerten, überzeugten ihn endlich, daß das Geheimniß in den Grenzen der Familie geblieben war. Sowie er einmal zu dem Schlusse gelangt war, daß die Nachforschungen des Sohnes in keiner Weise zu Enthüllungen führen konnten, die seine Achtung für das Gedächtniß seiner Mutter zu erschüttern vermochte, zögerte Midwinter nicht länger. Er hatte Allan in das Zimmer geführt und ihm die Bücher auf den Regalen sowohl als die darin enthaltenen Inschriften gezeigt. Er hatte offen zu ihm gesagt: »Mein Beweggrund, Dir früher nichts hiervon zu sagen, entsprang aus meiner Furcht, ein Interesse für das Zimmer in Dir zu erwecken, das ich mit Grausen als den zweiten Schauplatz meines Traumgesichts betrachtete. Verzeih mir auch dies, und dann wirst Du mir Alles verziehen haben.«

Bei Allan’s Liebe für das Andenken seiner Mutter, konnte ein solches Bekenntniß nur Einen Erfolg haben. Von Anfang an hatte ihm das kleine Zimmer gefallen wegen des angenehmen Contrastes, welchen es zu der drückenden Pracht der übrigen Zimmer von Thorpe-Ambrose bot —— und jetzt, da er wußte, welche Erinnerungen sich daran knüpften, beschloß er augenblicklich, es zu seinem speciellen Wohnzimmer zu erheben. Noch am selben Tage wurden all seine persönlichen Habseligkeiten zusammengesucht und in Midwinter’s Beisein und unter Midwinter’s Mithilfe in dem Zimmer untergebracht.

Unter diesen Umständen war die kleine häusliche Veränderung vollzogen worden, und in dieser Weise hatte Midwinter’s Ueberwindung seinen Fatalismus —— dadurch, daß er Allan zum täglichen Bewohner eines Zimmers gemacht hatte, das dieser sonst vielleicht nie betreten haben würde —— in der That die Erfüllung der zweiten Vision des Traumes gefördert.

Die Stunde verging ruhig, während Midwinter dasaß und auf Allan’s Heimkehr wartete. Er verkürzte sich die Zeit bald durch Lectüre, bald durch stilles Sinnen. Er ward jetzt von keinen widerwärtigen Sorgen, von keinen ahnungsvollen Zweifeln gequält. Der Zinstag, den er einst so sehr gefürchtet, war harmlos erschienen und harmlos verstrichen. Ein freundschaftlicheres Verständnis; zwischen Allan und seinen Pächtern hatte sich angebahnt. Mr. Bashwood hatte sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig gezeigt; Pedgifts, Vater und Sohn, hatten die gute Meinung, die ihr Client von ihnen gefaßt, in vollem Maße gerechtfertigt. Wohin Midwinter immer blickte, überall war die Aussicht hell, die Zukunft ohne Wolken.

Er putzte die Lampe auf dem Tische neben ihm und sah in die Nacht hinaus. Die Stalluhr schlug halb zwölf, als er ans Fenster trat, und eben begann es zu regnen. Er hatte die Hand auf die Klingel gelegt, um den Diener mit einem Regenschirme nach dem Parkhäuschen zu senden, als die bekannten Schritte auf dem Wege draußen ihn davon abhielten.

»Wie spät Du kommst!« sagte Midwinter, als Allan durch die offene Fensterthür hereintrat. »War Gesellschaft im Parkhäuschen?«

»Nein! Niemand als die Familie. Die Zeit verstrich, ohne daß man’s gewahr wurde«

Er antwortete mit leiserer Stimme als gewöhnlich und seufzte, indem er sich niedersetzte.

»Du scheinst in übler Stimmung zu sein«, fuhr Midwinter fort. »Was gibts?«

Allan zögerte. »Ich mag Dir’s wohl sagen«, erwiderte er nach einem Augenblicke. »Es ist nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte; es wundert mich nur, daß Du es nicht schon bemerkt hast! Wie gewöhnlich handelt es sich um ein Weib —— ich bin « verliebt.«

Midwinter lachte. »Ist Miß Milroy heute Abend noch reizender als sonst gewesen?« fragte er munter.

»Miß Milroy!« wiederholte Allan. »Woran denkst Du! Ich bin nicht in Miß Milroy verliebt.«

»In wen denn?«

»In wen? Welch eine Frage! Wer kann es anders sein, als Miß Gwilt?«

Ein plötzliches Schweigen trat ein. Allan saß nachlässig da mit den Händen in den Taschen und sah hinaus auf den niederströmenden Regen. Hätte er seinen Freund angesehen, wie er Miß Gwilt’s Namen aussprach, so würde ihn die Veränderung in Midwinters Gesicht wahrscheinlich frappiert haben.

»Vermuthlich bist Du nicht damit einverstanden?« sagte er nach einer kleinen Pause.

Keine Antwort erfolgte.

»Es ist zu spät, um Einwürfe zu erheben«, fuhr Allan fort. »Ich meine es ernstlich, wenn ich sage, daß ich in sie verliebt bin.«

»Vor vierzehn Tagen warst Du in Miß Milroy verliebt«, sagte der Andere in ruhigem, gemessenem Tone.

»Bah! Eine bloße kleine Courmacherei. Diesmal ist es ganz etwas Anderes. Es ist mir Ernst mit Miß Gwilt.«

Er wandte sich um, indem er sprach. Mindwinter kehrte das Gesicht ab und beugte sich über ein Buch.

»Ich sehe, Du bist mit der Sache nicht einverstanden«, fuhr Allan fort. »Hast Du etwa dagegen einzuwenden, daß sie blos eine Gouvernante ist? Das kannst Du gewiß nicht. Wärest Du an meiner Stelle, der Umstand, daß sie blos Gouvernante ist, würde Dich nicht abhalten.«

»Nein«, sagte Midwinter, »ich wäre unwahr, wollte ich behaupten, daß mich dies abhalten würde.«

Er gab die Antwort widerstrebend und schob seinen Sessel zurück, aus dem Lichte der Lampe.

»Eine Gouvernante ist eine Dame, die nicht reich ist«, sagte Allan orakelhaft, »und eine Herzogin ist eine Dame, die nicht arm ist. Das der ganze Unterschied, den ich zwischen ihnen einräume. Miß Gwilt ist älter, als ich, das leugne ich nicht. Für wie alt hältst Du sie, Midwinter? Ich sage sieben- oder achtundzwanzig. Was meinst Du?«

»Nichts. Ich bin Deiner Ansicht.«

»Meinst Du, eine Frau von sieben- bis achtundzwanzig Jahren sei zu alt für mich? Du würdest sieben- oder achtundzwanzig Jahre nicht zu alt finden, wenn Du in ein Weib verliebt wärst, wie?«

»Ich kann nicht sagen, daß ich sie zu alt finden würde, wenn ——«

»Wenn Du sie wirklich lieb hättest?«

Abermals keine Antwort.

»Nun«, fuhr Allan fort, »wenn in dem Umstande, daß sie blos Gouvernante und dazu etwas älter ist, als ich, kein Hinderniß liegt, was hast Du dann gegen Miß Gwilt einzuwenden?«

»Ich habe nichts gegen sie eingewendet.«

»Ich sage nicht, daß Du dies gethan. Aber der Gedanke scheint Dir dem ungeachtet nicht zu gefallen.«

Ein abermaliges Schweigen erfolgte, welches diesmal von Midwinter gebrochen ward.

»Bist Du Deiner sicher, Allan?« fragte er, indem er das Gesicht wieder über das Buch neigte; »hegst Du wirklich eine ernstliche Zuneigung zu dieser Dame? Hast Du bereits ernstlich daran gedacht, sie um ihre Hand zu bitten?«

»Diesen Augenblick eben denke ich ernstlich daran«, sagte Allan »Ich kann nicht glücklich sein —— kann ohne sie nicht leben. Auf mein Wort, ich vergöttere den Boden, auf dem ihr Fuß wandelt.«

»Wie lange —«?« Midwinter’s Stimme bebte und er stockte. »Wie lange«, wiederholte er, »hast Du den Boden vergöttert, auf dem ihr Fuß wandelt?«´

»Länger, als Du glaubst. Ich weiß, daß ich Dir alle meine Geheimnisse anvertrauen darf ——«

»Vertraue mir nichts an!«

»Unsinn! Ich will Dir vertrauen. Noch eine kleine Schwierigkeit steht im Wege, deren ich nicht erwähnt habe. Es betrifft eine zarte Angelegenheit, und ich wünsche Dich zu Rathe zu ziehen. Unter uns gesagt, ich habe Gelegenheit gehabt, heimlich mit Miß Gwilt zusammenzukommen ——«

Midwinter sprang plötzlich auf und öffnete die Thür.

»Wir wollen morgen davon reden«, sagte er. »Gute Nacht.«

Allan sah sich erstaunt um. Die Thür war wieder geschlossen und er war allein im Zimmer.

»Er hat mir nicht die Hand gegeben» rief Allan, verblüfft den leeren Sessel betrachtend.

Als diese Worte seinen Lippen entstehn, öffnete sich die Thür und Midwinter trat wieder ein.

»Wir haben uns nicht die Hand gereicht«, sagte er kurz. »Gott segne Dich, Allan! Wir wollen morgen davon reden. Gute Nacht.«

Allan stand allein am Fenster und sah in den herabgießenden Regen; er hatte ein unbehagliches Gefühl, ohne die Ursache desselben zu wissen.

»Midwinter’s Manieren werden immer seltsamer«, dachte er. »Was kann er damit sagen wollen, daß er es auf morgen verschiebt, wenn ich gerne heute Nacht mit ihm reden möchte?« Etwas ungeduldig nahm er seine Kerze und setzte den Leuchter wieder nieder —— trat von neuem an das offene Fenster und sah nach der Richtung, wo das Parkhäuschen lag. »Ob sie jetzt wohl an mich denkt?« sprach er leise für sich.

Sie dachte in der That an ihn. Soeben hatte sie ihr Schreibpult geöffnet, um an Mrs. Oldershaw zu schreiben, und soeben hatte ihre Feder die Anfangszeile geschrieben: —— »Beruhige Dich. Ich habe ihn!«



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Es regnete die ganze Nacht, und als der Morgen kam, regnete es noch immer.

Midwinter wartete, gegen seine Gewohnheit, bereits im Frühstückszimmer, als Allan in dasselbe eintrat. Er sah matt und abgespannt aus, aber sein Lächeln war milder und sein ganzes Wesen ruhiger, als gewöhnlich. Zu Allan’s großer Ueberraschung brachte er, sowie der Diener das Zimmer verlassen, den Gegenstand ihrer Unterhaltung vom gestrigen Abend selbst zur Sprache.

»Ich fürchte, Du hast mich gestern Abend sehr ungeduldig und gereizt gefunden«, sagte er. »Ich will dies heute Morgen wieder gut zu machen suchen. Ich bin Alles anzuhören bereit, was Du mir in Bezug auf Miß Gwilt sagen möchtest.«

»Ich möchte Dich nicht gern damit quälen«, sagte Allan. »Du siehst aus, als ob Du schlecht geschlafen hättest.«

»Schon seit einiger Zeit habe ich nicht gut geschlafen«, erwiderte Midwinter ruhig. »Es ist Etwas nicht in Ordnung mit mir. Aber ich glaube das Mittel entdeckt zu haben, mich, selbst ohne ärztlichen Beistand, wiederherzustellen. Ich werde nachher mit Dir darüber sprechen. Laß uns zuvor auf das zurückkommen, wovon Du gestern Abend sprachst. Du erwähntest einer Verlegenheit ——« Er stockte und endete den Satz mit so leiser Stimme, daß Allan ihn nicht hören konnte. »Es wäre vielleicht besser«, fuhr er fort, »wenn Du, anstatt mit mir zu sprechen, Dich an Mr. Brock wenden wolltest.«

»Ich möchte lieber mit Dir sprechen«, entgegnete Allan. »Doch sage mir zuvor, ob ich gestern Abend Recht oder Unrecht hatte, wenn ich dachte, Du mißbilligtest mein Interesse für Miß Gwilt?«

Midwinters hageren, nervösen Finger begannen das Brod auf seinem Teller zu zerkrümeln. Zum ersten Male wandte er den Blick von Allan ab.

»Wenn Du irgendeinen Einwand dagegen zu erheben hast, so möchte ich denselben hören«, fuhr Allan fort.

Midwinter blickte plötzlich mit leichenblassen Wangen wieder auf und heftete seine funkelnden schwarzen Augen fest auf Allanss Gesicht.

»Du liebst sie«, sagte er. »Liebt sie Dich?«

»Du wirst mich nicht für eingebildet halten?« erwiderte Allan. »Ich sagte Dir gestern Abend, daß ich Gelegenheit gehabt, sie heimlich zu sehen ——«

Midwinters Blicke senkten sich wieder zu den Brodkrumen auf seinem Teller nieder. »Ich verstehe«, unterbrach er ihn schnell. »Du hast Dich gestern Abend getäuscht. Ich hatte nichts einzuwenden.«

»Gratulierst Du mir nicht?« fragte Allan ein wenig unruhig. »Ein so,schönes, ein so gescheidtes Weib!«

Midwinter reichte ihm die Hand. »Ich bin Dir mehr als blose Glückwünsche schuldig«, sagte er. »Bei Allem, was zu Deinem Glücke beiträgt, bin ich Dir meinen Beistand schuldig« Er drückte Allan’s Hand mit nervöser Heftigkeit »Kann ich Dir behilflich sein?« fragte er immer mehr erbleichend.

»Mein lieber Junge!« rief Allan aus. »Was fehlt Dir nur? Deine Hand ist eiskalt.«

Midwinter lächelte matt. »Ich bewege mich stets in Extremen«, sagte er; »als Du mir im alten Dorfwirthshause jener westlichen Grafschaft zum ersten Male die Hand reichtest, war diese so heiß, wie Feuer. Laß mich von jener Schwierigkeit hören, über die Du Dich noch nicht ausgesprochen hast. Du bist jung, reich, Dein eigener Herr —— und sie liebt Dich. Was kann da noch im Wege liegen?«

Allan zögerte. »Ich weiß kaum, wie ich mich darüber ausdrücken soll«, erwiderte er. »Wie Du sagst —— ich liebe sie und sie liebt mich —— und dennoch ist etwas Fremdes zwischen uns. Man schwatzt ziemlich viel von sich selber, wenn man verliebt ist —— ich wenigstens thue dies. Ich habe ihr Alles von mir und meiner Mutter erzählt und wie ich zu diesen Gütern kam und alles Uebrige. Nun —— obgleich mir dies nicht ausfällt, solange wir beisammen sind —— kommt mir doch, wenn ich von ihr fort bin, hin und wieder der Gedanke, daß sie ihrerseits nicht viel sagt. Ja, ich weiß nicht mehr über sie, als Du von ihr weißt?«

»Meinst Du damit, daß Du nichts von Miß Gwilt’s Familie und Angehörigen weißt?«

»Das ist’s —— genau, was ich sagen will.«

»Hast Du sie nie darüber gefragt?«

»Ich sagte neulich etwas der Art«, erwiderte Allan, »und ich fürchte, daß ich es wie gewöhnlich falsch angefangen habe. Sie sah —— ich kann Dir’s nicht beschreiben, nicht gerade verdrossen aus, aber —— o, was vermögen nicht Worte! Ich gäbe die Welt darum, Mitwinter, wenn ich Deine Geschicklichkeit besäße im rechten Augenblicke das rechte Wort zu finden.«

»Sagte Miß Gwilt irgendetwas zur Erwiderung?«

»Das ist gerade, was ich Dir soeben mittheilen wollte. Sie sagte: »Ich werde Ihnen eines Tages eine traurige Geschichte von mir und meiner Familie zu erzählen haben, Mr. Armadale, aber Sie sehen so glücklich aus, und die Umstände sind von so trauriger Art, daß ich kaum den Muth besitze, jetzt davon zu sprechen.« Ach, sie weiß sich auszudrücken, mit Thränen in den Augen, mein lieber Junge, mit Thränen in den Augen? Ich gab natürlich dem Gespräch sofort eine andere Wendung, und jetzt ist die Schwierigkeit die, wie ich auf den Gegenstand zurückkommen kann, —— mit Zartgefühl, und ohne sie abermals weinen zu machen. Wir müssen darauf zurückkommen, wie Du einsehen wirst. Nicht etwa meinetwegen; ich bin es vollkommen zufrieden, sie zunächst zu heirathen und dann erst von ihren traurigen Familienverhältnissen zu hören, die Aermste! Aber ich kenne Mr. Brock. Wenn ich ihm bei Mittheilung der Geschichte, was ich natürlich thun muß, nicht über ihre Familie zufriedenzustellen im Stande bin, so wird er von Grund auf gegen die ganze Sache sein. Ich bin natürlich mein eigener Herr und kann thun, was mir beliebt. Aber der liebe alte Brock war ein so guter Freund meiner armen lieben Mutter und ist auch mir ein so guter Freund gewesen —— Du verstehst mich, nicht wahr?«

»Gewiß, Allan; Mr. Brock ist Dir ein zweiter Vater gewesen. Eine Differenz zwischen Euch in einer so ernsten Sache wie diese würde für Euch beide höchst schmerzlich sein. Du mußt ihn überzeugen, daß Miß Gwilt, und ich bezweifle nicht, daß sie dies beweisen wird, in jeder Beziehung würdig ist ——« Die Stimme versagte ihm wider seinen Willen und er ließ den Satz unbeendet.

»Ganz mein Gefühl in der Sache« unterbrach ihn Allan redselig. »Jetzt können wir zu dem kommen, worüber ich Dich besonders zu Rathe ziehen wollte. Wenn Du in meiner Lage wärest, Midwinter, so würdest Du ihr die rechten Worte sagen können —— Du würdest es zart thun, selbst wenn Du dabei völlig im Dunkeln tappen müßtest. Dies kann ich aber nicht. Ich bin ein fürchterlicher Pfuscher, ich habe eine schreckliche Angst,- daß ich, wenn ich nicht gleich zu Anfang einen Wink erhalte, der mir zur Wahrheit verhilft, etwas sagen dürfte, was sie betrüben würde. Familienkummer ist eine so delicate Angelegenheit, —— namentlich bei einem so zartfühlenden, weichherzigen Wesen, wie Miß Gwilt. Es mag irgendeinen schrecklichen Todesfall in der Familie gegeben haben —— irgendein Verwandter, der Schande auf sich geladen —— irgend eine niederträchtige Grausamkeit, die das arme Ding gezwungen hat, als Erzieherin in die Welt hinauszugehen. Nun, da ich der Sache nachdachte, fiel es mir ein, daß der Major mich vielleicht auf die rechte Spur leiten könne. Die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, daß er von Miß Gwilt’s Familienverhälnissen unterrichtet worden ist, ehe er sie als Erzieherin annahm —— meinst Du nicht?«

»Das ist allerdings möglich, Allan.«

»Abermals meine Ansicht! Ich denke daher, mit dem Major zu sprechen. Wenn ich die Geschichte zuvor von ihm erfahren könnte, würde ich dann so viel besser mit Miß Gwilt darüber sprechen können. Du räthst mir, es mit dem Major zu versuchen, nicht wahr?«

Eine Pause trat ein, ehe Midwinter antwortete. Als er endlich erwiderte, geschah dies mit einigem Widerstreben.

»Kaum weiß ich, was ich Dir rathen« soll, Allan«, sagte er. »Es ist dies eine sehr heikle Sache.«

»Ich glaube, daß Du es an meiner Stelle bei dem Major versuchen würdest«, entgegnete Allan, der ihm eigenen subjectiven Anschauung Worte leihend.

»Wohl möglich«, sagte Midwinter mit immer größerem Zögern. »Doch wenn ich wirklich mit dem Major spräche, würde ich mich an Deiner Stelle sehr in Acht nehmen, mich nicht in eine schiefe Stellung zu bringen —— ich würde sehr vorsichtig sein, um bei Niemandem der Niedrigkeit verdächtig zu werden, als ob ich hinter dem Rücken eines Weibes mich in dessen Geheimnisse eindrängen wolle.«

Allan wurde dunkelroth. »Gerechter Himmel, Midwinter«, rief er aus, »wer könnte solchen Argwohn gegen mich hegen?«

»Niemand, Allan, der Dich wirklich kennt.«

»Der Major kennt mich. Der Major ist der letzte Mensch in der Welt, der mich mißverstehen würde. Alles, was ich von ihm verlange, ist, daß er, wenn er es vermag, mir behilflich ist, über diesen delicaten Punkt mit Miß Gwilt sprechen zu können, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Kann es zwischen zwei Ehrenmännern wohl etwas Einfacheres geben?«

Anstatt hierauf zu antworten, richtete Midwinter noch mit gezwungenem Wesen eine. Frage an ihn. »Beabsichtigst Du, Major Milroy von dem in Kenntniß zu setzen, was in Wirklichkeit hinsichtlich Miß Gwilt’s Deine Absicht ist?« sagte er.

Allan’s Wesen veränderte sich augenblicklich. Er zögerte und sah verlegen aus.

»Ich habe daran gedacht«, sagte er, »und ich denke erst zu sondieren und es ihm dann entweder zu sagen oder zu verschweigen, je nachdem die Sache sich, anläßt.«

Ein so umsichtiges Verfahren stand mit Allan’s Charakter in zu auffallendem Widerspruch, um nicht Jeden, der ihn kannte, zu überraschen. Midwinter gab deutlich sein Erstaunen zu erkennen.

»Du vergissest jene alberne Courmacherei zwischen mir und Miß Milroy«, fuhr Allan immer verlegener werdend fort. »Der Major mag dieselbe vielleicht bemerkt und gedacht haben, ich beabsichtige —— nun, was ich eben nicht beabsichtigte. Es möchte etwas ungeschickt herauskommen, nicht wahr, wenn ich vor seinen Augen, anstatt seiner Tochter, seiner Erzieherin einen Antrag machte?«

Er wartete auf eine Antwort, doch keine erfolgte. Midwinter öffnete die Lippen, um zu sprechen, schloß dieselben jedoch plötzlich wieder. Allan, dem des Freundes Schweigen unbehaglich war, der sich aber durch gewisse Erinnerungen an die Majorstochter, welche durch das Gespräch hervorgerufen worden waren, bei diesem Schweigen doppelt unbehaglich fühlte, stand vom Tische auf und machte der Unterhaltung ein wenig ungeduldig ein Ende.

»Komm! komm!« sagte er; »mache kein so vielsagendes Gesicht —— mache nicht Berge aus Maulwurfshügeln Du trägst auf Deinen jungen Schultern ein so altes, altes Haupt, Midwinter.Laß uns endigen mit all diesem Dafür und Dawider. Willst Du mir mit deutlichen Worten gesagt haben, daß es nicht thunlich sei, mit dem Major zu reden?«

»Ich kann nicht die Verantwortlichkeit auf mich nehmen, Dir das zu sagen, Allan. Um noch deutlicher zu reden —— ich kann mich nicht darauf verlassen, daß ich Dir in unserer —— in unserer gegenwärtigen Beziehung zu einander irgendwelchen richtigen Rath zu geben im Stande wäre. »Das Einzige worüber ich mir sicher bin, ist, daß ich wohl nicht Unrecht thun kann, wenn ich Dich bitte, zwei Dinge zu thun.«

»Und diese sind?«

»Wenn Du mit Major Milroy sprichst, so erinnere Dich meiner Warnung! Ich bitte Dich, überlege wohl, ehe Du sprichst!«

»Ich will überlegen, fürchte nichts! Und dann?«

»Schreibe an Mr. Brock und sage ihm Alles, ehe Du irgendeinen ernsten Schritt in dieser Sache thust. Willst Du mir dies versprechen?«

»Von ganzem Herzen. Was weiter?«

»Weiter nichts. Ich habe mein letztes Wort gesprochen.«

Allan ging nach der Thür, »Komm auf mein Zimmer«, sagte er, »und ich will Dir eine Cigarre geben. Die Diener werden sogleich hier hereinkommen, um den Tisch abzuräumen, und ich möchte noch von Miß Gwilt sprechen.«

»Warte nicht aus mich«, sagte Midwinter, »ich folge Dir in wenigen Minuten.«

Er blieb e sitzen, bis Allan die Thüre geschlossen. —— Dann stand er auf und nahm aus einem Winkel des Zimmers einen fertig gepackten Mantelsack hinter einer Fenstergardine heraus, wo derselbe verborgen gelegen hatte. Wie er mit dem Mantelsack in der Hand sinnend am Fenster stand, schlich sich ein seltsam alter, sorgenvoller Ausdruck in sein Gesicht: er schien in einem Augenblicke den Rest seiner Jugend zu verlieren.

Was der schnellere Blick des Weibes schon seit mehreren Tagen entdeckt, hatte die langsamere Auffassung des Mannes sich erst in der vergangenen Nacht klar gemacht. Der Schmerz, der ihm bei Allan’s Bekenntnisse durchs Herz gezuckt, hatte Midwinter zum ersten Male die Wahrheit klar und deutlich vor die Seele geführt. Er war sich bewußt gewesen, Miß Gwilt bei der ersten Begegnung nach jener denkwürdigen Unterredung mit ihr in Major Milroy’s Garten mit neuen Blicken und neuen Empfindungen angesehen zu haben; er war sich seines zunehmenden Interesses an ihrer Gesellschaft, seiner immer größeren Bewunderung ihrer Schönheit bewußt gewesen —— aber er hatte bis jetzt nichts von der Leidenschaft gewußt, die sie in ihm erweckt hatte. Da er diese endlich erkannte und sich von ihr völlig in Besitz genommen fühlte, hatte er den Muth, den kein Mann mit glücklicheren Lebenserfahrungen besessen haben würde —— den Muth, an das zu denken, was Allan ihm gesagt, und nur durch seine dankbaren Erinnerungen an die Vergangenheit in die Zukunft hinaus zu blicken.

Während der schlaflosen Stunden der Nacht hatte er mit ruhigem, festem Vorsatze beschlossen, sich, um damit einen Theil des Dankes abzutragen, den er Allan schuldete, dem theuersten Wunsche dieses Freundes zu opfern. Mit festem Willen hatte er sich zu der Ueberzeugung gebracht, daß er um Allan’s Willen die Leidenschaft bezwingen müsse, die sich seiner bemächtigt, und daß er dies nur thun könne, wenn er fortginge. Als der Morgen gekommen war, hatte ihn kein nachträglicher Zweifel gequält, und auch jetzt war er von solchem frei. Die einzige Frage, die ihn zögern machte, war die, ob er Thorpe-Ambrose verlassen solle. Obgleich Mr. Brock’s Brief ihn aller Nothwendigkeit überhob, in Norfolk über ein Frauenzimmer zu wachen, das sich in Somersetshire befand —— obwohl die Pflichten des Administrationsbureaus dergestalt waren, daß sie mit Sicherheit in Mr. Bashwood’s erprobten und zuverlässigen Händen verbleiben durften, —— war doch sein Gemüth trotz alledem nicht ruhig bei dem Gedanken, Allan zu einer Zeit zu verlassen, wo eine Krisis in dessen Leben bevorstand.

Er warf den Mantelsack leicht über seine Schulter, und legte seinem Gewissen die Frage zum letzten male vor: »Kannst du dich getrauen, sie Tag für Tag zu sehen, wie du sie sehen mußt? —— Kannst du dich getrauen, ihn Stunde für Stunde von ihr reden zu hören, wie du dies hören mußt, wenn du in diesem Hause bleibst?« Die Antwort lautete genau so, wie sie während der ganzen Nacht gelautet hatte. Sein Herz mahnte ihn, im Interesse der Freundschaft, die ihm so heilig war, zu gehen, solange es noch Zeit sei, —— zu gehen, ehe das Weib, das sich seiner Liebe bemächtigt, auch von seiner Aufopferungskraft und seinem Dankbarkeitsgefühl Besitz genommen hätte.

Mechanisch sah er sich im Zimmer um, ehe er sich abwandte, dasselbe zu verlassen. Jede Erinnerung an die Unterhaltung, die soeben zwischen ihm und Allan stattgefunden, wies auf den gleichen Schluß hin und mahnte ihn, wie schon sein Gewissen ihn gemahnt, zu gehen. Hatte er ehrlich irgendeinen der Einwände erwähnt, die er, oder jeder andere Mensch wider Allan’s Neigung gesehen haben müßte? Hatte er —— wie seine Kenntniß von dem leichten Charakter seines Freundes ihn dies zu thun verpflichtete —— Allan vor seinen eigenen raschen Impulsen gewarnt und ihn gebeten, durch Zeit und Abwesenheit zu prüfen, ehe er zu der Ueberzeugung käme, daß sein ganzes Lebensglück an Miß Gwilt’s Besitze hänge? Nein. Der blose Zweifel, ob er bei der Berührung dieses Gegenstandes zu fühlen im Stande sein werde, daß er ohne alle Selbstsucht spreche, hatte seine Lippen geschlossen, und mußte ihm die Lippen schließen, bis die Zeit zum Reden verstrich. War der Mann, der die Welt darum gegeben hätte, an Allan’s Stelle zu stehen, wohl der rechte Mann gewesen, Allan zurückzuhalten? Es gab nur einen geraden Weg, welchen ein rechtschaffner und dankbarer Mensch in seiner Lage einschlagen durfte. Aller Möglichkeit, sie zu sehen oder Von ihr zu hören, weit entrückt —— allein mit seinem getreuen Gedächtniß dessen, was er Allan schuldig war —— durfte er hoffen, sein Herz zu bezwingen, wie er in der Kindheit bei den Schlägen seines Zigeunerherrn seine Thränen und die öde Verlassenheit seiner einsamen Jugendzeit im Buchhändlerladen bezwungen hatte. »Ich muß gehen«, sagte er, indem er sich schweren Herzens vom Fenster abwandte, »ehe sie wieder ins Haus kommt. Ich muß gehen, ehe noch eine Stunde verstreicht.«

Mit diesem Entschlusse verließ er das Zimmer und that damit den unwiderruflichen Schritt von der Gegenwart in die Zukunft.

Es regnete noch immer. Der Himmel hing ringsum immer drohender und düsterer über ihnen, als Midwinter reisefertig in Allans Zimmer trat.

»Gerechter Himmel« rief Allan, auf den Mantelsack deutend, »was soll das bedeuten?«

»Nichts Besonderes«, sagte Midwinter, »Es bedeutet blos —— Adieu.«

»Adieu!« rief Allan erstaunt aufspringend Midwinter schob ihn sanft in seinen Sessel zurück und zog einen Sitz für sich selber zu ihm heran.

»Als Du heute Morgen bemerktest, daß ich krank aussehe«, sprach er, »sagte ich Dir, daß ich bereits an ein Mittel gedacht, meine Gesundheit wiederherzustellen, und daß ich später mit Dir darüber reden werde. Der Augenblick ist jetzt gekommen. Ich bin seit einiger Zeit, wie man es nennt, verstimmt gewesen. Du hast dies selbst mehr als einmal bemerkt, Allan, und deshalb mit Deiner gewohnten Güte Manches in meinem Benehmen entschuldigt, was sonst selbst in Deinen Freundesaugen unverzeihlich gewesen wäre.«

»Mein lieber Junge«, unterbrach ihn Allan, »Du beabsichtigst doch nicht in diesem strömenden Regen eine Fußtour anzutreten?«

»Laß Dich den Regen nicht kümmern«, sagte Midwinter. »Der Regen und ich sind alte Freunde, Du weißt etwas von dem Leben, das ich geführt habe, ehe ich mit Dir zusammentraf, Man. Ich bin von Kindheit her an Mühsale und Entbehrungen gewöhnt gewesen. Ich habe monatelang Tag und Nacht kein Obdach gehabt. Mein Leben war jahrelang —— während Du zu Hause und glücklich warst —— das eines wilden Thieres, oder ich sollte vielmehr sagen, das eines Wilden. Ich habe die Hefen des Landstreicherthums noch immer in mir. Thut es Dir weh, mich in dieser Weise von mir selber sprechen zu hören? Ich will Dich nicht betrüben. Ich will nur noch sagen, daß der Luxus und Comfort unseres hiesigen Lebens mir zuweilen ein wenig zu viel für einen Mann erscheinen, dem Comfort und Luxus ursprünglich fremd sind. Ich bedarf nur der frischen Luft und kräftigen Körperbewegung, um mich ganz wiederherzustellen, weniger gute Frühstücke und Diners, mein lieber Freund, als ich hier genieße. Laß mich zu einigen jener Mühsale zurückkehren, welche fern zu halten dies behagliche Haus ausdrücklich angethan ist; laß mich wieder auf eine kleine Weile Ermüdung fühlen, ohne einen Wagen bei der Hand zu haben, der mich aufnimmt und weiter schafft; laß mich wieder Hunger empfinden, wenn die Nacht hereinbricht und noch viele Meilen zwischen mir und meinem Nachtessen liegen. Laß mich auf eine Woche oder zwei von Dir fort, Allan —— zu Fuße, nordwärts, nach den Haiden von Yorkshire —— und ich verspreche, als ein besserer Gesellschafter für Dich und Deine Bekannten nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren. Ich werde wieder hier sein, ehe Du noch Zeit gehabt hast, mich zu vermissen. Mr. Bashwood wird nach den Administrationsgeschäften sehen; es ist ja nur auf vierzehn Tage und zu meinem Besten —— laß mich gehen?«

»Es will mir nicht gefallen«, sagte Allan. »Es will mir nicht gefallen, daß Du mich so unerwartet verlässest. Es hat etwas so Seltsames und Trauriges. Warum versuchst Du’s nicht mit Reiten, wenn Du der Körperbewegung bedarfst; alle Pferde in den Ställen stehen Dir zu Diensten. Jedenfalls kannst Du unmöglich heute gehen. Sieh nur, wie es regnet!«

Midwinter sah nach dem Fenster und schüttelte leise den Kopf.

»Ich habe mir nichts aus dem Regen gemacht, als ich noch ein kleiner Bube war und mir mit meinen tanzenden Hunden mein Brod verdiente —— warum sollte ich mir wohl jetzt etwas daraus machen? Es ist ein großer Unterschied, ob ich naß werde, oder Du, Allan. Als ich noch ein Fischerjunge auf den Hebriden war, hatte ich oft wochenlang keinen trockenen Faden auf meinem Leibe.«

»Aber Du bist jetzt nicht aus den Hebriden«, sagte Allan, »und ich erwarte morgen Abend unsere Freunde vom Parkhäuschen. Du kannst erst übermorgen fortgehen. Miß Gwilt wird wieder etwas spielen, und Du weißt, daß Miß Gwilt’s Klavierspiel Dir sehr viel Vergnügen macht.«

Midwinter wandte sich ab, um die Riemen seines Mantellacks zu schnallen. »Wenn ich zurückkehre, gib mir wieder Gelegenheit, Miß Gwilt spielen zu hören«, sagte er gebückt mit seinen Riemen beschäftigt.

»Du hast einen Fehler, mein lieber Junge, und der nimmt immer mehr bei Dir überhand«, sagte Allan in vorstellendem Tone; »wenn Du Dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, bist Du her halsstarrigste Mensch von der Welt. Man kann Dich nicht bewegen, Vernunft anzunehmen. Wenn Du aber durchaus gehen willst«, fügte Allan plötzlich aufstehend hinzu, als Midwinter schweigend seinen Hut und Stock aufnahm, »so denke ich fast, daß ich mit Dir gehen und es ebenfalls mit ein wenig-Unbequemlichkeit und Beschwerde versuchen will.«

»Mit mir gehen«, wiederholte Midwinter mit einer momentanen Bitterkeit in seinem Tone, »und Miß Gwilt verlassen!«

Allan setzte sich wieder und räumte durch sein bedeutungsvolles Schweigen die Kraft dieses Einwandes ein. Midwinter hielt ihm, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, die Hand zum Abschiede hin. Sie waren Beide tief bewegt, und Jeder bemühte sich, dem Andern seine Bewegung zu verhehlen. Allan ergriff die letzte Zuflucht, die seines Freundes Festigkeit ihm noch übrig ließ: er versuchte den Abschiedsaugenblick durch einen Scherz zu erheitern.

»Ich will Dir etwas sagen«, sprach er; »ich beginne zu zweifeln, ob Du wirklich ganz von Deinem Glauben an den Traum geheilt bist. Ich habe Dich im Verdacht, daß Du doch noch von mir fortläufst!«

Midwinter sah ihn an —— ungewiß, ob Allan im Scherz oder im Ernst rede. »Was meinst Du damit?« fragte er.

»Was hast Du mir gesagt«, entgegnete Allan, »als Du mich neulich hier hereinführtest und mir Dein Bekenntniß ablegtest? Was hast Du von diesem Zimmer und von dem zweiten Traumgesicht gesagt? Beim Jupiter!« rief er abermals aufspringend, »jetzt, da ich darauf achte —— dies ist das zweite Traumgesicht! Dort schlägt der Regen ans Fenster —— dort ist der Rasen und der Garten draußen —— hier bin ich, wo ich im Traume stand —— und dort bist Du, wo der Schatten stand. Die ganze Scene vollständig —— draußen sowohl wie hier innen, und diesmal habe ich es herausgefunden.«

In die todten Träume von Midwinter’s Aberglauben kam für einen Augenblick wieder eine Spur von Leben. Er wechselte die Farbe und bekämpfte eifrig, fast zornig Allan’s Schlußfolgerung.

»Nein!« sagte er, indem er auf die kleine Marmorstatue auf der Console deutete, »die Scene ist nicht vollständig —— Du hast, wie gewöhnlich, etwas vergessen. Der Traum hat diesmal —— Gott sei’s gedankt! — Unrecht, völlig Unrecht. In Deinem Traumgesichte lag die Statuette zerbrochen am Boden und Du bücktest Dich ängstlich und zornig zu den Scherben herab. Dort steht die Statue, heil und unverletzt! —— und Du hast nicht die Spur von Zorn im Herzen, wie?« Er faßte Allan leidenschaftlich bei der, Hand. In demselben Augenblicke kam ihm das Bewußtsein, daß er so ernstlich spreche und handele, wie wenn er noch an den Traum geglaubt hätte. Eine schnelle Röthe stieg ihm ins Gesicht und er wandte sich mit verlegenem Schweigen ab.

»Was habe ich Dir gesagt?« sprach Allan mit einem etwas unbehaglichen Lachen. »Jene Nacht auf dem Wrack liegt Dir noch immer so schwer wie je auf dem Herzen.«

»Nichts liegt mir schwer auf dem Herzen«, entgegnete Midwinter ungeduldig; »aber der Ranzen liegt mir schwer auf dem Rücken, und ich verliere meine Zeit. Ich will hinausgehen und nachsehen, ob Aussicht vorhanden, daß es sich aufklärt.«

»Du wirst wiederkommen?« sagte Allan.

Midwinter öffnete die Gartenthür und trat hinaus.

»Ja«, sagte er in seiner gewöhnlichen milden Art, »ich will in vierzehn Tagen zurückkommen Adieu, Allan, und ich wünsche Dir Glück mit Miß Gwilt!«

Er stieß die Glasthür zu und war schon durch den Garten davongeeilt, ehe sein Freund die Thür wieder zu öffnen und ihm zu folgen im Stande war.

Allan stand auf und that einen Schritt dem Garten zu; dann blieb er stehen und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er kannte Midwinter hinlänglich, um einzusehen, daß es völlig nutzlos sein würde, ihm folgen oder ihn zurückbringen zu wollen. Er war fort, und es war keine Aussicht vorhanden, daß er ihn früher als in vierzehn Tagen wiedersehen würde. So verging etwa eine Stunde —— noch immer regnete es und der Himmel sah noch immer drohend aus. Ein immer drückenderes Gefühl der Einsamkeit und Niedergeschlagenheit —— das Gefühl von allen andern, das zu begreifen oder zu ertragen seine frühere Lebensweise ihn am allerwenigsten befähigt hatte —— bemächtigte sich Allan’s. In reinem Grausen vor seinem eigenen unwohnlichen einsamen Hause klingelte er nach Hut und Regenschirm und beschloß, im Häuschen des Majors Zuflucht zu suchen.

»Ich hätte wohl eine Strecke mit ihm gehen können«, dachte Allan, noch immer mit Midwinter beschäftigt, während er seinen Hut aufsetzte »Ich hätte dem lieben alten Jungen gern das gebührende Geleit gegeben.«

Er nahm den Regenschirm. Hätte er das Gesicht des Dieners beachtet, der ihm denselben reichte, so hätte er vielleicht einige Fragen an ihn gerichtet und Nachrichten von ihm erhalten, die ihn in seiner gegenwärtigen Gemüthsstimmung interessiert haben dürften.

So aber ging er hinaus, ohne den Mann anzusehen und ohne zu ahnen, daß seine Diener mehr von Midwinter’s letzten Augenblicken in Thorpe-Ambrose wußten, als er selber. Vor kaum zehn Minuten waren der Fleischer und der Gewürzkrämer dagewesen, um den Betrag ihrer Rechnungen in Empfang zu nehmen ——und beide hatten gesehen, wie Midwinter seine Reise begonnen hatte.

Der Gewürzkrämer hatte ihn unsern vom Hause zuerst getroffen, wie er mitten im Regengusse stehen geblieben war und mit einem zerlumpten kleinen Spitzbuben, der Plage der ganzen Nachbarschaft, gesprochen hatte. Die gewohnte Impertinenz des Buben war beim Anblick des Mantelsacks, den der Herr trug, noch frecher, als gewöhnlich hervorgetreten Und was hatte der Herr zur Erwiderung gethan? Er war stehen geblieben, hatte ein trauriges Gesicht gemacht und beide Hände sanft auf die Schultern des Knaben gelegt. Der Gewürzkrämer hatte dies mit eigenen Augen gesehen, und mit seinen eigenen Ohren hatte er ihn sagen hören: »Du armer kleiner Kerl! Ich weiß besser, als die meisten Leute, die einen guten Rock auf dem Leibe haben, wie der Wind und der Regen durch eine zerlumpte Jacke dringen.« Und bei diesen Worten hatte er in seine Tasche gegriffen und die Frechheit des Knaben mit einem Schilling belohnt. »Hier nicht ganz richtig«, sagte der Gewürzkrämer, seine Stirn berührend. »Das ist meine Meinung von Mr. Armadales Freund!«

Der Fleischer hatte ihn später am andern Ende der Stadt gesehen. Abermals war er im Regengusse stehen geblieben —— und zwar diesmal, um nichts Merkwürdigeres als einen alten halbverhungerten Hund zu betrachten, der auf einer Thürschwelle zitterte. »Ich behielt ihn im Auge«, sagte der Fleischer, »und was that er wohl? Er kam herüber in meinen Laden und kaufte ein Stück Fleisch, das für einen Christenmenschen gut genug gewesen wäre. Gut. Er sagt guten Morgen und geht wieder über die Straße und, auf mein Wort, er kniet auf der nassen Thürschwelle nieder, nimmt sein Messer aus der Tasche, zerschneidet das Fleisch und gibt es dem Hunde. Fleisch, sage ich Ihnen nochmals, das für einen Christenmenschen gut genug war, Madame«, schloß der Fleischer zur Köchin gewendet, »ich bin kein harter Mann, aber Fleisch ist Fleisch, und es wird dem Freunde Ihres Herrn recht geschehen, wenn er noch eines Tages Mangel leidet.«

In der Gesellschaft dieser unvergeßlichen alten Sympathien für die alte unvergeßliche Zeit hatte er seinen einsamen Weg angetreten, die Stadt hinter sich liegen lassen und war in dem dichten Regen verschwunden. Der Gewürzkrämer und der Fleischer hatten ihn zuletzt gesehen und ihn beurtheilt, wie alle großen Naturen vom Gewürzkrämer- und Fleischergesichtspunkte aus beurtheilt werden.



Kapiteltrenner

Zehntes Kapitel.

Zwei Tage nach Midwinter’s Abschied von Thorpe-Ambrose schellte Mrs. Milroy, nachdem sie ihre Morgentoilette beendet und ihre Wärterin entlassen, fünf Minuten später abermals auch dieser und fragte die Eintretende ungeduldig, ob die Briefe mit der Morgenpost angelangt seien.

»Briefe?« wiederholte die Wärterin. »Haben Sie nicht Ihre Uhr? Wissen Sie nicht, daß es noch eine gute halbe Stunde zu früh ist, um schon Ihre Briefe verlangen zu können?« Sie sprach mit der vertraulichen Dreistigkeit einer Dienerin, welche die Schwäche und Abhängigkeit ihrer Herrin zu mißbrauchen seit langer Zeit gewohnt war. Mrs. Milroy schien ihrerseits ebenso sehr an das Benehmen ihrer Wärterin gewöhnt. Gelassen ertheilte sie ihre Befehle, ohne von jenem Notiz zu nehmen.

»Wenn der Briefträger kommt«, sagte sie, »so geht Ihr und nehmt ihm die Briefe ab. Ich erwarte einen Brief, den ich schon vor zwei Tagen hätte haben sollen. Unbegreiflich. Ich fange an, die Dienstboten in Verdacht zu haben.«

Die Wärterin lächelte verächtlich. »Wen werden Sie demnächst beargwöhnen?« sagte sie. »So, so! Werden Sie nicht ärgerlich. Ich will heute Morgen ans Pförtchen gehen, sobald geschellt wird, und wir wollen sehen, ob ich Ihnen einen Brief bringen kann, wenn der Briefträger kommt.« Mit diesen Worten, die sie in einem Tone sprach, als ob sie ein eigensinniges Kind beruhige, verließ die Wärterin das Zimmer, ohne zu warten, bis man sie verabschiedete.

Als sie wieder allein war, wandte Mrs. Milroy sich langsam und matt aus ihrem Bette um und ließ das durchs Fenster hereinströmende Licht auf ihr Gesicht fallen.

Dies war das Gesicht eines Weibes, das einst schön gewesen und das hinsichtlich seiner Jahre noch in der Blüte des Lebens stand. Lang dauerndes Körperleiden und beständige Gemüthsbewegung hatten sie zu Haut und Knochen abgezehrt. Das völlige Wrack ihrer Schönheit ward durch ihre verzweifelten Bemühungen, dieses Wrack selbst vor sich selber, vor ihrem Gatten und ihrem Kinde wie vor dem Arzte zu verbergen, dessen Sache es war, die Wahrheit zu ergründen, zu einem entsetzlichen Anblicke gemacht Ihr Kopf, der den größeren Theil seines Haarschmucks verloren, würde weniger schauerlich anzusehen gewesen sein, als die scheußlich jugendliche Perücke, durch welche sie den Verlust zu verbergen suchte. Ihr schlechter Teint und ihre Runzeln hätten einen weniger widerwärtigen Anblick gewährt, als die dicke Kruste von Schminke, die auf ihren Wangen lag, und die weiße Emaille auf ihrer Stirn. Die schönen Spitzen und Stickereien an ihrem Nachtkleide, die Bänder an ihrem Häubchen und die Ringe an ihren hageren Fingern, die alle darauf berechnet waren, das Auge von der Veränderung abzuziehen, die mit ihr vorgegangen war, lenkten vielmehr erst die Aufmerksamkeit auf diese Veränderung, —— hoben sie noch mehr hervor und machten sie durch die Macht des Contrastes nur noch hoffnungsloser und fürchterlicher, als sie in Wirklichkeit war. Ein illustriertes Modejournal, in welchem Frauen durch den freien Gebrauch ihrer Gliedmaßen ihren Putz zur Schau trugen, lag auf dem Bette, von dem sie selbst seit Jahren sich ohne die Unterstützung ihrer Pflegerin nicht hatte bewegen können. Neben dem Journal lag ein Handspiegel so nahe, daß sie ihn leicht erreichen konnte. Nachdem die Wärterin sie verlassen, nahm sie diesen Spiegel in die Hand und betrachtete ihr Gesicht mit einem Interesse und einer Aufmerksamkeit, deren sie sich im achtzehnten Jahre würde geschämt haben.

»Immer älter und älter, immer magerer und magerer!« sagte sie. »Der Major wird bald ein freier Mann sein —— aber zuvor will ich diese rothköpfige Mamsell aus dem Hause schaffen!«

Sie ließ den Spiegel auf die Bettdecke fallen und ballte die Hand, die ihn gehalten hatte. Plötzlich hefteten sich ihre Augen auf ein mit Kreide gezeichnetes kleines Porträt ihres Gatten, das an der Wand ihr gegenüber hing, und betrachteten das Bildchen mit dem kalten, grausam funkelnden Blicke des Raubvogels. »Also Roth ist Dein Geschmack in Deinen alten Tagen, nicht wahr?« sagte sie zu dem Porträt. »Rothes Haar und ein scrophulöser Teint und eine ausgestopfte Figur, und der Gang einer Ballettänzerin und die leichten Finger einer Taschendiebin Miß Gwilt! Miß, mit solchen Augen und einem solchen Gange!« Sie wandte plötzlich den Kopf auf dem Kissen um und brach in ein schneidendes Hohngelächter aus. »Miß!« wiederholte sie einmal über das andere, mit dem giftigen Nachdruck der unbarmherzigsten aller Gestalten menschlicher Verachtung —— der Verachtung eines Weibes für das andere.

Die Zeit, in der wir leben, behauptet, daß kein menschliches Wesen völlig verdammenswerth ist. Giebt es eine Entschuldigung für Mrs. Milroy? Ihre Lebensgeschichte möge diese Frage beantworten.

In ungewöhnlich früher Jugend hatte sie den Major geheirathet und damit sich mit einem Manne vermählt, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können —— ein Mann, der zu jener Zeit, und zwar nicht mit Unrecht, in dem Rufe stand, seine gesellschaftlichen Gaben und die Vorzüge seiner persönlichen Erscheinung den Frauen gegenüber aufs Aeußerste ausgebeutet zu haben. Von mittelmäßiger Erziehung und in gesellschaftlicher Stellung ihrem Gatten untergeordnet, hatte sie unter dem Einflusse ihrer geschmeichelten Eitelkeit seine Bewerbungen angenommen und schließlich selbst den Zauber empfunden, den Major Milroy in früheren Tagen auf Frauen ausgeübt hatte, die ihr in geistiger Beziehung unendlich überlegen gewesen waren. Ihn, seinerseits, hatte ihre Hingebung gerührt und außerdem ihre Schönheit, Frische und Jugend angezogen. Bis zur Zeit, wo ihre kleine Tochter, die zugleich ihr einziges Kind blieb, ihr achtes Jahr zurückgelegt, war ihr eheliches Leben ein ungewöhnlich glückliches gewesen. Um diese Zeit traf sie der doppelte Schicksalsschlag, daß die Gesundheit der Gattin zu wanken begann und der Gatte fast sein ganzes Vermögen einbüßte —— und von diesem Augenblicke an hatte das häusliche Glück des Ehepaars in Wirklichkeit ein Ende genommen.

Da er das Alter erreicht, in welchem der Mensch in der Regel unter dem Druck des Schicksals eher zu resignieren, als ihm Widerstand zu bieten pflegt, hatte der Major den kleinen Rest seines Vermögens in Sicherheit gebracht, sich aufs Land zurückgezogen und geduldig in seinen mechanischen Beschäftigungen seinen Trost gesucht. Ein Weib, das ihm an Jahren näher gestanden, oder ein Weib von besserer Erziehung und duldsamerem Gemüthe, als seine Gattin, würde das Verhalten des Majors begriffen und in seiner Ergebung ihren eigenen Trost gefunden haben. Mrs. Milroy aber vermochte in nichts Trost zu finden. Weder ihre Natur noch ihre Erziehung halfen ihr das Unglück mit Ergebung zu ertragen, das sie in der Blüte ihrer Jugend, und in dem höchsten Glanze ihrer Schönheit getroffen hatte. Der Fluch einer unheilbaren Krankheit zerrüttete sie sofort und auf Lebenszeit.

Leiden entwickeln sowohl das verborgene Böse in der menschlichen Natur, wie das verborgene Gute. Das Gute in Mrs. Milroy’s Natur schrumpfte unter dem verderblichen Einflusse zusammen, unter dem das Böse wuchs und sich entfaltete! Von Monat zu Monat ward sie, wie sie physisch schwächer wurde, moralisch schlechter. Alles was niedrig, grausam und falsch in ihr war, wuchs in sicherem Verhältnisse zur Abnahme alles dessen, was einst großmüthig, liebenswerth und wahr an ihr gewesen. Der alte Argwohn, daß ihr Gatte gern wieder in die Unregelmäßigkeiten seines Junggesellenlebens zurückfallen möchte, den sie ihm zur Zeit ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit offen eingestanden, und dessen Grundlosigkeit sie früher oder später stets eingesehen hatte, kehrte ihr jetzt, da ihre Krankheit sie von ihm geschieden, in der Gestalt jenes niedrigen, eifersüchtigen Mißtrauens zurück, das sich so schlau versteckt, das den Zündstoff Atom für Atom zu einem Haufen zusammenträgt und das langsam brennende Feuer der Eifersucht im Herzen entflammt. Kein Beweis, den man Mrs. Milroy jetzt von ihres Gatten tadellosem und harmlosem Leben zu bringen vermochte; keine Berufung auf ihre Selbstachtung oder auf ihre Rücksicht auf ihr jetzt zum Weibe heranreifendes Kind hatte die Macht, die fürchterliche Selbsttäuschung zu verscheuchen, die aus ihrer hoffnungslosen Krankheit erwuchs uud mit derselben zunahm. Gleich allem andern Wahnsinn hatte jene ihre Zeiten der Ebbe und Flut, Zeiten krampfhaften Ausbruchs und Zeiten einer heuchlerischen Ruhe —— aber ob activ oder passiv vorhanden war der Wahn stets. Unschuldige Dienerinnen und tadellose Fremde waren dadurch verletzt worden. Sie hatte die ersten Thränen der Beschämung und des Kummers dadurch in die Augen ihrer Tochter gebracht und die tiefsten Linien damit in das Gesicht ihres Gatten gefurcht. Dies war seit Jahren das geheime Elend des kleinen Haushaltes gewesen —— jetzt sollte es die Schranken des Hauses überschreiten und die bevorstehenden Ereignisse in Thorpe-Ambrose beeinflussen, von welchen die Zukunft Allan’s und seines Freundes betroffen wurde.

Zum richtigen Verständnisse der ernsten Folgen, die Miß Gwilt’s Erscheinen herbeigeführt, bedarf es eines kurzen Hinblickes aus die Lage der Dinge im Parkhäuschen vor der Ankunft der neuen Erzieherin.

Als die Gouvernante, welche seit vielen Jahren in seiner Familie gelebt und deren Alter und Aussehen selbst Mrs. Milroy’s Eifersucht keinen Anhaltspunkt boten, sich verheirathet, hatte der Major die Frage, ob er seine Tochter einer Erziehungsanstalt anvertrauen solle, weit ernstlicher in Erwägung gezogen, als seine Gattin es vermuthete. Einerseits wußte er, daß in seinem Hause Auftritte stattfanden, denen ein so junges Mädchen nicht beiwohnen sollte. Auf der andern aber fühlte er ein unbezwingliches Widerstreben gegen die einzige wirksame Maßregel, seine Tochter sowohl während der Ferien, als während der Schulzeit aus dem Hause zu geben. Nachdem der hierüber in seinem Geiste erwachte Zwiespalt endlich durch den Entschluß, durch die Zeitungen sich eine Erzieherin zu suchen, beigelegt worden war, hatte Major Milroy’s angeborener Hang, Unannehmlichkeiten lieber zu meiden, als ihnen auf halbem Wege entgegen zu gehen, sich wieder in der gewohnten Weise offenbart. So ruhig wie immer hatte er die Augen gegen seine häuslichen Sorgen geschlossen und war, wie er dies schon bei Hunderten von früheren Gelegenheiten gethan, zu der tröstlichen Gesellschaft seiner alten Freundin, der Uhr, zurückgekehrt.

Anders verhielt es sich mit seiner Gattin. Die Möglichkeit, welche ihr Gatte gänzlich außer Acht gelassen, daß nämlich die erwartete neue Erzieherin eine jüngere und anziehendere Person sein könnte, als die alte Gouvernante, die sie verlassen hatte, war das Erste, was Mrs. Milroy vor die Seele trat. Sie hatte indeß nichts gesagt. Während sie im Stillen gewartet und im Stillen ihr eingewurzeltes Mißtrauen genährt, hatte sie ihrem Gatten und ihrer Tochter zugeredet, sie gelegentlich des Picknicks zu verlassen, mit dem ausdrücklichen Vorsatze, diese Abwesenheit zu benutzen, um die neue Erzieherin allein zu sehen. Die Erzieherin hatte sich vorgestellt und das glimmende Feuer von Mrs. Milroy’s Eifersucht war in dem ersten Augenblicke, da sie und die schöne Fremde einander erblickt, in hellen Flammen aufgelodert.

Sowie die Unterredung vorüber, war Mrs. Milroy’s Argwohn augenblicklich und unerschütterlich auf Major Milroy’s Mutter gefallen. Sie wußte sehr wohl, daß der Major sonst Niemanden in London kannte, den er mit den nothwendigen Erkundigungen beauftragen konnte, und daß Miß Gwilt sich als Fremde nur infolge der Aufforderung in der Zeitung um die Stelle beworben hatte. Obgleich sie indeß dies wußte, hatte sie mit der blinden Raserei der blindesten aller Leidenschaften hartnäckig vor allen offen vor ihr liegenden Thatsachen die Augen geschlossen und der letzten all’ der zahlreichen Differenzen zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter gedenkend, die damit geendet, daß sie die beiden Damen gänzlich auseinander gebracht hatte, war sie begierig auf den Schluß gefallen, daß sie Miß Gwilt’s Engagement dem rachsüchtigen Wunsche ihrer Schwiegermutter, in ihrem Hause Unheil zu stiften, zuzuschreiben habe. Die Folgerung, welche sogar die Dienstboten, die Zeugen des häuslichen Aergernisses waren, ganz richtig aus der Sache gezogen, daß nämlich die Mutter des Majors, indem sie ihrem Sohne die Dienste einer gut empfohlenen Erzieherin verschafft, es durchaus nicht als einen Theil ihrer Pflicht betrachtet habe, im rein eingebildeten Interesse seiner Gattin auf das Aeußere der Erzieherin Rücksicht zu nehmen —— zu ihr sich zu erheben, war Mrs. Milroy’s Geist einfach unmöglich. Der Entschluß, zu dem sie ihre Eifersucht nach dem Anblicke Miß Gwilt’s jedenfalls getrieben hatte, ward durch die Ueberzeugung, die sich ihrer jetzt bemächtigte, doppelt in ihr bestärkt. Kaum hatte Miß Gwilt die Thür des Schlafzimmers geschlossen, als Mrs. Milroy’s Lippen leise die Worte zischten, »Ehe noch eine Woche über Deinem Haupte verstrichen, wirst Du Deiner Wege gehen, Mylady!«

Von jenem Augenblicke an kannte die bettlägerige Frau die schlaflosen Nächte und langen Tage hindurch keinen anderen Lebenszweck, als aus die Entlassung der neuen Erzieherin hinzuarbeiten.

Sie sicherte sich den Beistand der Wärterin als Spionin —— wie sie sich von ihrer Bedienung schon andere Extradienste verschafft hatte, zu denen diese nicht verpflichtet war —— durch ein Geschenk aus ihrer Garderobe. Die Kleidungsstücke, welche jetzt für Mrs. Milroy nutzlos waren, hatten Stück für Stück in dieser Weise dazu dienen müssen, die Habgier der Wärterin —— die unersättliche Habgier eines häßlichen Weibes nach schönen Kleidern —— zu stillen. Durch das schönste Kleid bestochen, das sie noch bisher erlangt, hatte die Hausspionin ihre geheimen Instructionen entgegengenommen und sich mit einer feilen Freude an ihr geheimes Werk gemacht.

Die Tage vergingen, das Werk ward fortgesetzt —— doch es kam zu keinem Resultate. Herrin und Dienerin hatten es mit einem Weibe zu thun, das ihnen Beiden gewachsen war. Häufiges plötzliches Erscheinen im Wohnzimmer, wenn der Major sich mit der Erzieherin allein darin befand, hatte nicht die unbedeutendste Unschicklichkeit in Worten, Mienen oder Gebärden zwischen ihnen entdecken können. Durch verstohlenes Lauern und Lauschen an der Schlafkammerthür der Gouvernante spürte man auf, daß sie spät in der Nacht Licht brannte und im Schlafe ächzte und mit den Zähnen knirschte —— weiter aber nichts. Sorgfältiges Aufpassen am Tage verhalf zu der Entdeckung, daß sie ihre Briefe regelmäßig selbst auf die Post trug, anstatt dieselben der Hausmagd anzuvertrauen —— und wenn ihre Pflichten sie frei ließen, dann und wann plötzlich aus dem Garten verschwunden und später allein aus dem Park zurückgekehrt war. Ein einziges Mal nur hatte die Wärterin Gelegenheit gefunden, ihr zu folgen, als sie aus dem Garten trat, war aber im Park augenblicklich von Miß Gwilt entdeckt und von dieser mit der unerträglichsten Höflichkeit gefragt worden, ob sie Lust habe, sie auf ihrem Spaziergange zu begleiten. Unbedeutende Umstände dieser Art, die für eine eifersüchtige Frau hinlänglich verdächtig waren, entdeckte man in Hülle und Fülle. Umstände jedoch, die ihr zu einer Klage über den Major ausgiebigen Grund verliehen hätten, fehlten gänzlich. Ein Tag nach dem andern verging, und Miß Gwilt beharrte bei ihrem durchaus schicklichen Betragen und ihrem tadellosen Verhalten zum Major und ihrer Schülerin.

Da sie sich nach dieser Seite hin zurückgeschlagen sah, so versuchte Mrs. Milroy zunächst eine angreifbare Stelle in der Angabe zu finden, welche die Dame, die Miß Gwilt empfohlen, über den Charakter der Erzieherin gemacht hatte.

Nachdem Mrs. Milroy sich vom Major den umständlichen Bericht verschaffte, den er über diesen Gegenstand von seiner Mutter erhalten, las sie das Schreiben einmal über das andere sorgfältig durch, ohne jedoch in irgend einem Theile des Briefes jenen schwachen Punkt zu finden, den sie suchte. Alle die in dergleichen Fällen üblichen Fragen waren gethan und offen und gewissenhaft beantwortet worden. Die einzige Stelle, die möglicherweise einen Angriff zulässig machte, war, nachdem alle praktischen Fragen beseitigt, eine Stelle am Schlusse des Briefes.

»Ich war von Miß Gwilt’s Anmuth und seinem Wesen so sehr frappiert«, lautete diese Stelle, »daß ich, sowie sie das Zimmer verlassen, die erste Gelegenheit ergriff, mich zu erkundigen, wie sie dazu gekommen, Erzieherin zu werden. »Es ist die alte Geschichte«, sagte man mir. »Eine traurige Familiengeschichte, in der sie sich edel benahm. Sie ist eine sehr sensible Person, und es widerstrebt ihr, mit Fremden hierüber zu sprechen —— ein sehr natürliches Widerstreben, das mein Zartgefühl mir stets zu achten gebot. Natürlich hatte ich dasselbe Zartgefühl. Es gehörte ganz und gar nicht zu meiner Pflicht, mich in den geheimen Kummer des armen Geschöpfes einzudrängen, ich hatte nichts weiter zu thun, als das, was ich jetzt gethan habe, um mich zu versichern, daß ich eine fähige und achtbare Person als Erzieherin für meine Enkelin engagierte.«

Nach sorgfältiger Erwägung dieser Zeilen fand sie Mrs. Milroy —— da sie etwas Verdächtiges sehnlich zu finden wünschte —— natürlich verdächtig. Sie beschloß, das Geheimniß von Miß Gwilt’s geheimem Kummer zu ergründen, in der Hoffnung, daraus etwas zu entnehmen, was ihrem Zwecke dienen könnte. Zweierlei Wege standen ihr dabei offen. Sie konnte die Erzieherin direct befragen, oder sich um fernere Auskunft an die Dame wenden, welche Miß Gwilt empfohlen hatte. Die Erfahrung, die sie bei ihrer ersten Unterredung mit Miß Gwilt von deren Talent, mit unbequemen Fragen umzuspringen gemacht hatte, bestimmte sie, den letzteren Weg einzuschlagen. »Ich will mir die Einzelheiten zuerst von jener Dame verschaffen«, dachte Mrs. Milroy, »und dann das Geschöpf selber ausfragen und sehen, ob die beiden Geschichten mit einander übereinstimmen.«

Der um Auskunft bittende Brief hielt sich gewissenhaft an die Sache. Mrs. Milroy begann damit, ihrer Correspondentin mitzutheilen, wie ihr Gesundheitszustand es nothwendig mache, ihre Tochter gänzlich dem Einflusse und der Aufsicht der Erzieherin zu überlassen. Aus diesem Grunde sei ihr mehr noch als den meisten Müttern daran gelegen, sich in jeder Hinsicht gründliche Auskunft über eine Person zu verschaffen, der sie ihr einziges Kind so ausschließlich anvertrauen möchte, und in dieser Sorge hoffe sie, daß die Dame ihr eine Frage verzeihen werde, die nach der vortrefflichen Empfehlung, welche sie Miß. Gwilt gegeben, als eine überflüssige erscheinen dürfe. Nach dieser Vorrede kam Mrs. Milroy sofort zur Sache und ersuchte die Dame, sie von den Umständen zu unterrichten, welche Miß Gwilt genöthigt hatten, eine Gouvernantenstelle zu suchen.

Der also abgefaßte Brief ward noch am nämlichen Tage abgesandt. An dem Morgen, an dem die Antwort fällig war, erschien noch keine. Auch der nächste Morgen brachte keine Antwort. Als der dritte Morgen kam, hatte Mrs. Milroy alle Geduld verloren. Sie hatte ihre Pflegerin vor sich beschieden, wie bereits erzählt, und ihr befohlen, die Briefe der Morgenpost mit eigener Hand dem Postboten abzunehmen. So standen gegenwärtig die Dinge, und aus diesen häuslichen Verhältnissen erwuchs eine neue Reihe von Ereignissen zu Thorpe-Ambrose.

Eben hatte Mrs. Milroy nach ihrer Uhr gesehen und nochmals die Hand nach dem Glockenzuge ausgestreckt, als die Thür sich öffnete und die Wärterin ins Zimmer trat.

»Ist, der Briefträger dagewesen?« fragte Mrs. Milroy.

Ohne zu antworten, legte die Pflegerin einen Brief auf das Bett und wartete mit unverhohlener Neugier die Wirkung ab, welche derselbe auf ihre Herrin hervorbringen würde.

Mrs. Milroy riß das Couvert ab, sowie sie ihn in die Hand nahm. Ein gedrucktes Papier kam zu Tage, das sie schnell bei Seite warf; es enthielt einen Brief, den sie betrachtete, in ihrer eigenen Handschrift! Sie ergriff jetzt das gedruckte Papier. Es war die übliche postamtliche gedruckte Mittheilung, daß ihr Brief im Hause der Person präsentiert worden, an die derselbe adressiert, daß aber diese dort nicht zu finden gewesen sei.

»Etwas nicht in Ordnung?« fragte die Wärterin, eine Veränderung im Gesicht ihrer Herrin wahrnehmend.

Die Frage blieb unbeachtet Mrs. Milroy’s Schreibpult stand auf dem Tische an ihrem Bette. Sie suchte daraus den Brief hervor, den die Mutter des Majors an ihren Sohn geschrieben und wandte sich zu der Seite, welche den Namen und die Adresse der Dame angab, die Miß Gwilt empfohlen hatte. »Mrs. Mandeville, 18. Kingsdown Crescent, Bahswater", las sie mit begierigem Blicke für sich, und sah dann auf das Couvert ihres eigenen zurückgesandten Briefes. Sie hatte keine Versehen gemacht: beide Adressen waren genau dieselben.

»Etwas nicht in Ordnung?« wiederholte die Wärterin, einen Schritt näher ans Bett tretend.

»Gott sei’s gedankt —— ja!« rief Mrs. Milroy mit einem plötzlichen Ausbruche des Frohlockens. Sie warf der Wärterin das postamtliche Circulär zu und schlug im Entzücken ihres erwarteten Triumphes mit ihren beiden dürren Händen auf die Bettdecke »Miß Gwilt ist eine Betrügerin! Miß Gwilt ist eine Betrügerin! Und wenn es mein Tod ist, Rachel, so will ich mich ans Fenster tragen lassen, um sie von der Polizei abführen sehen.«

»Sie hinter ihrem Rücken eine Betrügerin nennen ist Eins, aber zu beweisen, daß sie dies ist, ist ein Anderes«, bemerkte die Wärterin. Während sie sprach hatte sie in ihre Schürzentasche gegriffen und mit einem bedeutungsvollen Blicke auf ihre Herrin einen zweiten Brief herausgenommen.

»Für mich?« fragte Mrs. Milroy.

»Nein«, sagte die Wärterin,, »für Miß Gwilt.

Die beiden Frauen sahen einander an und verstanden sich, ohne ein Wort zu sprechen.

»Wo ist sie?« fragte Mrs. Milroy.

Die Wärterin deutete nach dem Parke zu. »Wieder ausgegangen —— macht wieder einen einsamen Spaziergang vor dem Frühstück.«

Mrs. Milroy winkte der Wärterin, sich zu ihr herabzubeugen »Könnt Ihr ihn öffnen, Rachel?« flüsterte sie.

Rachel nickte.

»Könnt Ihr ihn wieder schließen, sodaß Niemand was davon sieht?«

»Können Sie sich ohne den Shawl behelfen, der zu Ihrem perlgrauen Kleide paßt?« fragte Rachel.

»Nehmt ihn!« sagte Mrs. Milroy ungeduldig.

Schweigend machte die Wärterin den Kleiderschrank auf, schweigend nahm sie den Shawl heraus und schweigend verließ sie das Zimmer. In weniger als fünf Minuten kehrte sie mit dem geöffneten Briefe an Miß Gwilt zurück.

»Ich danke Ihnen für den Shawl, Madam«, sagte Rachel, indem sie den Brief gelassen auf die Bettdecke legte.

Mrs. Milroy betrachtete das Couvert. Dasselbe war in der gewohnten Weise vermittelst Klebegummis geschlossen und durch Anwendung von heißem Wasserdampfe geöffnet worden. Als Mrs. Milroy den Brief herausnahm, zitterten ihre Hände heftig und die weiße Emaille zerbröckelte auf ihrer runzeligen Stirn.

»Meine Tropfen«, sagte sie. »Ich bin fürchterlich aufgeregt, Rachel. Meine Tropfen!«

Rachel reichte ihr die Tropfen und ging dann ans Fenster, um den Park zu überschauen »Uebereilen Sie sich nicht«, sagte sie. »Sie ist noch nirgends zu sehen.«

Mrs. Milroy zögerte noch immer und hielt das wichtige Blatt Papier in der Hand. Sie hätte Miß Gwilt das Leben nehmen können, aber sie zögerte Miß Gwilt’s Brief zu lesen.

»Fühlen Sie sich etwa durch Gewissensskrupel beunruhigt?« fragte die Wärterin in spöttischem Tone. »Erachten Sie es als eine Pflicht, die Sie Ihrer Tochter schulden.«

»Elendes Geschöpf« sagte Mrs. Milroy. Mit dieser Kundgebung ihrer Meinung öffnete sie den Brief.

Dieser war sichtlich in großer Eile geschrieben —— undatiert und nur mit Anfangsbuchstaben unterzeichnet. Er lautete folgendermaßen:

»Diana-Straße.

Meine liebe Lydia!

Der Fiaker wartet vor der Thür und es bleibt mir nur ein Augenblick, um Dir zu sagen, daß ich London auf drei oder vier Tage, vielleicht auf eine Woche, in Geschäftsangelegenheiten verlassen muß. Wenn Du mir schreibst, werden mir Deine Briefe nachgesandt werden. Ich habe den gestrigen empfangen und bin ganz Deiner Ansicht hinsichtlich dei Wichtigkeit, ihn über den heiklen Punkt Deiner persönlichen Geschichte und Familienverhältnisse so lange, wie Du dies mit Sicherheit zu thun im Stande bist, im Dunkeln zu lassen. Je besser Du ihn kennen lernst, desto besser wirft Du Dich für die Art von Geschichte entscheiden können, die Du ihm auftischen darfst. Sobald Du dieselbe einmal erzählt, wirst Du dabei bleiben müssen, —— und da Du dabei bleiben mußt, hüte Dich, sie nicht zu complicirt und zu eilig zu machen. Ich will Dir hierüber noch schreiben und meine Ideen mittheilen. Inzwischen riskiere keine zu häufigen Rendezvous mit ihm im Park. —— Die Deine,

M. O.«

»Nun?P« fragte die Wärterin, sich zum Bette umwendend. »Sind Sie mit dem Briefe fertig?«

»Rendezvous mit ihm im Park?« wiederholte Mrs. Milroy, die Augen auf den Brief heftend »Ihm! Rachel, wo ist der Major?«

»In seinem Zimmer.«

»Das glaube ich nicht!«

»Wie es Ihnen beliebt. Ich muß den Brief und das Couvert haben.«

»Könnt Ihr es wieder schließen, ohne daß sie etwas davon sieht?«

»Was ich öffnen kann, kann ich auch wieder schließen. Sonst noch etwas?«

»Weiter nichts.«

Mrs. Milroy war wieder allein und betrachtete ihren Angriffsplan in dem neuem Lichte, das jetzt auf Miß Gwilt geworfen war.

Die Auskunft, die sie aus dem Briefe an die Gouvernante genommen, wies deutlich aus den Schluß, daß sich eine Abenteuerin in ihr Haus eingeschlichen, und zwar vermittelst einer falschen Empfehlung. Da sie diese Nachricht aber durch eine unehrenhafte Handlung erlangt, die sie unmöglich bekennen durfte, so konnte Mrs. Milroy weder um den Major zu warnen, noch um Miß Gwilt bloßzustellen, Gebrauch von dieser Kenntniß machen. Die einzige brauchbare Waffe, die Mrs. Milroy in den Händen hielt, war ihr eigener zurückgesandter Brief —— und die Frage, welche sie jetzt zu entscheiden hatte, die, in welcher Weise sie diese ihre Waffe am wirksamsten und schleunigsten werde in Anwendung bringen können.

Je länger sie die Sache in Erwägung zog, desto voreiliger erschien ihr das Frohlocken, dem sie sich beim ersten Anblicke ihres zurückgesandten Briefes hingegeben. Daß eine Dame, die eine Erzieherin empfohlen, ihre Wohnung gewechselt, ohne eine Spur von sich oder selbst nur eine Adresse zu hinterlassen, nach der ihre Briefe nachgeschickt würden, war an sich verdächtig genug, um dem Major mitgetheilt zu werden. Aber wie verkehrt ihre Meinung von ihrem Gatten in einigen Beziehungen immer sein mochte —— Mrs. Milroy war mit seinem Charakter sattsam vertraut, um die Gewißheit zu fühlen, daß er, wenn sie ihn von dem Vorgefallenen unterrichtete, sich offen eine Erklärung von der Erzieherin ausbitten würde. Miß Gwilt’s gewandte Schlauheit würde ihr in diesem Falle auf der Stelle eine plausible Antwort in den Mund geben, welche die Parteilichkeit des Majors nur zu bereitwillig annehmen dürfen, und die Gouvernante würde ohne Zweifel keine Zeit verlieren, brieflich ihre Vorkehrungen für das pünktliche Eintreffen aller nothwendigen Bestätigung ihrer Angabe von Seiten ihrer Mitschuldigen in London zu treffen. Bei einem Mann, wie der Major, und einem Weibe, wie Miß Gwilt, bestand der einzig sichere Weg offenbar darin, daß sie für den Augenblick ein strenges Schweigen beobachtete und, ohne Vorwissen der Erzieherin, solche Nachforschungen anstellte, wie sie zur Entdeckung von unstreitbaren Beweisen nothwendig wären. Wem aber konnte Mrs. Milroy in ihrer eigenen Hilflosigkeit die schwierige und gefährliche Aufgabe dieser Nachforschungen anvertrauen? Die Wärterin konnte, selbst wenn sie sich auf dieselbe verlassen durfte, nicht sogleich entbehrt und nicht fortgeschickt werden, ohne daß dadurch Aufmerksamkeit erregt wurde. Gab es in Thorpe-Ambrose oder in London irgendeine andere fähige und zuverlässige Person, die sie dazu verwenden konnte? Mrs. Milroy warf sich in ihrem Bette hin und her und suchte in jedem Winkel ihres Geistes vergebens nach dem erforderlichen Hilfsmittel. »O, wenn ich doch nur eines Menschen habhaft werden könnte, dem ich trauen dürfte!« dachte sie Verzweifelnd. »Wenn ich nur wüßte, wo ich Hilfe suchen könnte!«

In demselben Augenblicke, da dieser Gedanke in ihrem Geiste auftauchte, hörte sie die Stimme ihrer Tochter vor ihrer Thür.

»Darf ich hereinkommen?« fragte Neelie.

»Was willst Du?« entgegnete Mrs. Milroy ungeduldig.

»Ich bringe Dir Dein Frühstück,Mama.«

»Mein Frühstück?« wiederholte Mrs. Milroy erstaunt. »Warum bringt Rachel es nicht, wie gewöhnlich?« sie überlegte einen Augenblick und rief dann in scharfem Tone: »Komm« herein!«



Kapiteltrenner

Elftes Kapitel.

Neelie trat mit dem Präsentirbrett herein, auf dem sie den Thee, die gerösteten Brodschnitten und das Stückchen Butter brachte, die das unveränderliche Frühstück der Kranken ausmachten.

»Was soll das heißen?« fragte Mrs. Milroy, indem sie aufsah und sprach, als ob die unrechte Dienerin in ihr Zimmer gekommen wäre.

Neelie setzte das Präsentirbrett auf den Tisch neben dem Bette nieder. »Ich wünschte so sehr, Dir auch einmal Dein Frühstück zu bringen, Mama«, erwiderte sie, »und bat Rachel, es mir zu überlassen.«

»Komm her«, sagte Mrs. Milroy, »und sage mir guten Morgen.«

Neelie gehorchte Wie sie sich bückte, um ihre Mutter zu küssen, faßte Mrs. Milroy sie am Arm und drehte sie schnell dem Lichte zu. Im Gesichte ihrer Tochter waren deutliche Spuren der Bekümmerniß zu lesen. Augenblicklich fühlte sich Mrs. Milroy von einer tödtlichen Angst durchschauert. Sie glaubte, Miß Gwilt habe entdeckt, daß ihr Brief geöffnet worden sei, und die Wärterin halte sich deshalb fern.

»Laß mich los, Mama«, sagte Neelie, vor dem Griffe ihrer Mutter zurückbebend. »Du thust mir weh.«

»Sage mir, warum Du mir heute Morgen mein Frühstück heraufgebracht hast?« fragte Mrs. Milroy nochmals.

»Ich habe es Dir schon gesagt, Mama!«

»Das hast Du nicht gethan! Du hast einen Vorwand gemacht —— ich sehe dies in Deinem Gesichte. Komm! Was ist’s?«

Neelie’s Entschlossenheit wich der ihrer Mutter. Sie blickte unruhig seitwärts auf die Sachen auf dem Präsentirbrett »Ich habe mich geärgert«, sagte sie mit Mühe, »und mochte nicht im Frühstückszimmer bleiben. Ich wollte zu Dir kommen und mit Dir reden.«

»Geärgert? Wer hat Dich geärgert? Was hat sich zugetragen? Hat Miß Gwilt etwas damit zu schaffen?«

Neelie blickte mit plötzlicher Neugierde und Bestürzung wieder ihre Mutter an. »Mama«, sagte sie. »Du liest meine Gedanken —— Du erschreckst mich förmlich. Es war in der That Miß Gwilt!«

Ehe Mrs. Milroy ihrerseits ein Wort zu sagen vermochte, öffnete sich die Thür und die Wärterin sah herein.

»Haben Sie alles, was Sie wünschen?« fragte sie so gelassen, wie immer. »Miß bestand darauf, heute Morgen Ihr Frühstück heraufzubringen. Hat sie etwas zerbrochen?«

»Geh’ ans Fenster —— ich habe mit Rachel zu reden«, sagte MS. Milroy.

Sowie ihre Tochter den Rücken gewendet, winkte sie die Wärterin ungeduldig zu sich heran. »Ist irgendetwas vorgefallen?« fragte sie flüsternd »Meint Ihr, sie habe uns im Verdacht?«

Die Wärterin wandte sich mit ihrem harten spöttischen Lächeln ab. »Ich sagte Ihnen, es solle geschehen«, erwiderte sie, »und es ist geschehen. Sie hat nicht die Spur von Argwohn» Ich wartete im Zimmer und sah sie den Brief in die Hand nehmen und öffnen.«

Mrs. Milroy athmete erleichtert auf. »Ich danke«, sagte sie laut genug, um von ihrer Tochter gehört zu werden. »Ich brauche weiter nichts.«

Die Wärterin ging, und Neelie kam vom Fenster zurück. Mrs. Milroy faßte ihre Hand und betrachtete sie aufmerksamer und liebevoller als gewöhnlich.

Ihre Tochter interessierte sie heute Morgen, denn ihre Tochter hatte etwas über Miß Gwilt zu sagen.

»Ich glaubte sonst, daß Du hübsch zu werden versprächst, Kind«, sagte sie, die unterbrochene Unterhaltung vorsichtig in der am wenigsten directen Weise wieder aufnehmend. »Aber Du scheinst Dein Versprechen nicht zu halten. Du siehst unwohl und niedergeschlagen aus, —— was fehlt Dir?«

Hätte zwischen Mutter und Kind irgendwelche Sympathie stattgefunden, so würde Neelie vielleicht die Wahrheit bekannt haben Sie hätte vielleicht erwidert: »Ich sehe elend aus, weil mir das Leben verkümmert wird. Ich liebe Armadale und Armadale hat bis vor kurzem mich geliebt. Wir hatten eine einzige kleine Differenz, in der ich zu tadeln war. Ich hätte ihm dies damals gern gesagt und möchte es ihm seitdem fortwährend sagen, aber Miß Gwilt drängt sich zwischen mich und ihn und hindert mich daran. Sie hat uns einander entfremdet —— sie hat ihn umgestimmt und mir entrissen. Er sieht mich nicht mehr an, wie früher, spricht nicht mehr zu mir, wie früher; ist nie mehr allein mit mir; ich kann nicht zu ihm sprechen, wie ich mich zu sprechen sehne, und ich kann nicht an ihn schreiben, denn das würde das Aussehen haben, als wollte ich ihn zu mir zurückbringen. Es ist Alles vorbei zwischen mir und Armadale —— und das ist die Schuld jenes Frauenzimmers. Den ganzen Tag ist Groll zwischen mir und Miß Gwilt, und was ich immer sagen oder thun mag —— sie weiß mich stets ihre Ueberlegenheit fühlen zu lassen und mir zu zeigen daß ich im Unrecht bin. Ehe sie kam, freute ich mich über Alles, was ich in Thorpe-Amhrose sah, und war glücklich. Jetzt macht mir nichts mehr Freude, ich bin über nichts mehr glücklich!« Wäre Neelie je gewöhnt gewesen, ihre Mutter um Rath zu fragen und sich der Liebe ihrer Mutter anzuvertrauen, so hätte sie vielleicht jetzt solche Worte zu ihr gesprochen. So aber füllten sich blos ihre Augen mit Thränen und sie ließ schweigend den Kopf aus die Brust sinken. »Komm!« sagte Mrs. Milroy, welche die Geduld zu verlieren begann. »Du hast mir etwas über Miß Gwilt zu sagen. Was ist es?«

Neelie drängte ihre Thränen zurück und machte eine Gewaltanstrengung um zu antworten. »Sie quält mich auf das unerträglichste Mama; ich kann’s nicht aushalten; ich werde etwas thun ——« Neelie stockte und stampfte zornig mit dem Fuße auf den Boden. »Ich werde ihr etwas an den Kopf werfen, wenn es noch lange in dieser Weise fortgeht! Ich würde ihr schon heute Morgen etwas an den Kopf geworfen haben, hätte ich nicht das Zimmer verlassen. O, bitte, sprich mit Papa! Bitte, erfinde irgendeinen Grund, um sie fortzuschicken! Ich will mich in eine Pension schicken lassen, will Alles in der Welt thun, um Miß Gwilt loszuwerdenl«

Um Miß Gwilt loszuwerden! Bei diesen Worten —— bei diesem Echo ihres Alles überwindenden geheimen Herzenswunsches von den Lippen ihrer Tochter —— richtete Mrs. Milroy sich langsam im Bette auf. Was sollte das heißen? Kam etwa die Hilfe, die sie suchte, gerade aus dem Viertel, wo sie dieselbe am wenigsten gesucht hatte?

»Warum möchtest Du sie loswerden?« fragte sie. »Worüber hast Du Dich zu beklagen?«

»Ueber nichts!« sagte Neelie. »Das ist das Aergerliche an der Sache. Miß Gwilt will mir keinen Grund zur Beschwerde geben. Sie ist ganz unausstehlich; sie bringt mich von Sinnen und ist dabei ein Bild alles Anstands Wahrscheinlich ist es Unrecht aber es ist mir einerlei —— ich hasse sie!«

Mrs. Milroy’s Augen prüften das Gesicht ihrer Tochter, wie sie dasselbe noch nie zuvor geprüft hatten. Augenscheinlich lag etwas unter der Oberfläche —— etwas, das für ihren eigenen Zweck in Erfahrung zu bringen von der allergrößten Wichtigkeit für Mrs. Milroy sein konnte —— das sich noch nicht zu erkennen gab. Sie sah sich sanft und allmählig immer tiefer und tiefer in Neelie’s Seele hineinstehlen und mit immer wärmerem Interesse Neelie’s Geheimniß ausforschen.

»Schenke mir eine Tasse Thee ein, mein Kind«, sagte sie, »und rege Dich nicht auf. Warum sprichst Du darüber mit mir? Warum wendest Du Dich nicht an Deinen Papa?«

»Ich habe mit Papa zu sprechen versucht«, sagte Neelie. »Aber es nützt nichts, er ist zu gut, um einzusehen, welch ein abscheuliches Geschöpf sie ist. Vor ihm nimmt sie stets das beste Betragen an; sie weiß sich ihm stets auf eine oder die andere Weise nützlich zu machen. Ich kann es ihm nicht auseinandersetzen, warum ich diese Abneigung gegen Miß Gwilt hege —— ich kann es auch Dir nicht begreiflich machen —— ich kann es nur selber begreifen.« Sie versuchte den Thee einzuschenken, vergoß denselben aber bei dem Versuche. »Ich will wieder hinunter geben«, rief Neelie in Thränen ausbrechend. »Ich tauge zu gar nichts —— ich kann selbst nicht einmal eine Tasse Thee einschenken!«

Mrs. Milroy ergriff ihre Hand und hielt sie fest. So unbedeutend solche gewesen, hatte doch Neelie’s Anspielung auf die Beziehungen zwischen dem Major und Miß Gwilt rasch die Eifersucht der Mutter erweckt. Der Zwang, den Mrs. Milroy sich bisher angethan, schwand augenblicklich —— schwand sogar in Gegenwart eines sechzehnjährigen Mädchens, das obendrein ihr eigenes Kind war.

»Bleib hier!« sagte sie heftig. »Du bist an den rechten Ort und zur rechten Person gekommen. Fahre fort, auf Miß Gwilt zu schimpfen. Ich höre dies gern —— denn auch ich hasse sie!«

»Du, Mama!« rief Neelie, erstaunt ihre Mutter anblickend.

Einen Augenblick zögerte Mrs. Milroy, ehe sie weiter sprach. Ein letzter Instinkt aus ihrem früheren ehelichen Leben mahnte sie, auf die Jugend und das Geschlecht ihres Kindes Rücksicht zu nehmen. Aber die Eifersucht nimmt auf nichts Rücksicht, weder im Himmel noch auf Erden, auf nichts, als auf sich selbst. Das langsame Feuer der Selbstqual, das Tag und Nacht in der Brust dieses unglücklichen Weibes glühte, schoß sein tödtliches Licht in ihre Augen, während die nächsten Worte langsam und giftig von ihren Lippen fielen.

»Wenn Du Augen im Kopf gehabt, würdest Du. nicht zu Deinem Vater gegangen sein«, sagte sie. »Dein Vater hat seine Gründe dafür, nichts anzuhören, was ihm von Dir oder sonst irgendjemand über Miß Gwilt gesagt wird.«

Manche Mädchen in Neelies Alter würden den geheimen Sinn dieser Worte nicht erkannt haben. Zum Unglück für die Tochter aber hatte diese hinlängliche Erfahrungen über die Mutter gemacht, um diese zu verstehen. Mit erglühendem Gesichte sah Neelie vom Bette zurück. »Mama!« sagte sie, »Du sprichst ganz abscheulich! Der Papa ist der beste, liebste, zärtlichste —— o, ich will’s nicht hören! —— ich will’s nicht hören.«

Mrs. Milroy’s Heftigkeit ließ augenblicklich alle Zügel fahren, und zwar um so mehr, als sie sich wider Willen bewußt war, Unrecht gethan zu haben.

»Du impertinente kleine Närrin!« rief sie wüthend, »meinst Du, ich bedürfe Deiner, damit Du mich an meine Pflichten gegen Deinen Vater erinnerst? Soll ich etwa von einer naseweisen kleinen Creatur, wie Du, lernen, wie ich von Deinem Vater sprechen, von Deinem Vater denken und Deinen Vater lieben und ehren soll? Ich kann Dir sagen, daß es eine große Enttäuschung für mich war, als Du geboren wardst —— ich wünschte mir einen Knaben, Du impertinentes Ding! Wenn Du je einen Mann findest, der einfältig genug ist, Dich zu heirathen, so mag er sich glücklich schätzen. wenn Du ihn nur halb so sehr, ein Viertel so sehr, ein Hunderttausendstel so sehr liebst, wie ich Deinen Vater geliebt habe. Ach, wenn’s zu spät ist, kannst Du weinen; Du kannst zu Deiner Mutter zurückgeschlichen kommen, nachdem Du sie beleidigt hast, und sie um Verzeihung bitten. Du plumpes, vierschrötiges kleines Geschöpf! Ich war weit schöner, als Du jemals werden kannst, zur Zeit, da ich Deinen Vater heirathete —— ich wäre durch Feuer und Wasser gegangen, um Deinem Vater zu dienen! Hätte er mich gebeten, einen meiner Arme abzuschneiden, so würde ich es gethan haben —— ihm zu gefallen, würde ich es gethan haben!« Sie wandte plötzlich ihr Gesicht der Wand, zu —— ihre Tochter, ihren Gatten, Alles vergessend, außer der marternden Erinnerung an ihre verlorene Schönheit. »Meine Arme.« wiederholte sie matt für sich. »Was für Arme ich hatte, als ich jung war!« Sie streifte verstohlen den Aermel ihres Nachtkleides auf und sagte schaudernd: »Und wenn ich sie jetzt ansehe! wenn ich sie jetzt ansehe!«

Neelie fiel am Bette auf die Kniee nieder und barg ihr Gesicht in der Decke. In reiner Verzweiflung, sonst irgendwo Trost und Hilfe zu finden, hatte sie sich ihrer Mutter in die Arme geworfen —— und das hatte so geendet!

»O, Mama«, flehte sie, »Du weißt, daß ich Dich nicht kränken wollte! Ich konnte nicht anders, als Du so von meinem Vater sprachst. O, bitte, bitte, vergib mir.«

Mrs. Milroy wandte sich auf ihrem Kissen wieder um und sah ihre Tochter mit ausdruckslosen, Blicke an. »Dir vergeben?« wiederholte sie, während ihr Geist noch in der Vergangenheit war und sich, wie im finsteren, zur Gegenwart zurück tastete.

»Ich bitte Dich um Verzeihung, Mama —— auf den Knieen bitte ich Dich um Verzeihung. Ich bin so unglücklich, ich sehne mich so sehr nach ein wenig Liebe! Willst Du mir nicht vergeben?«

»Warte ein wenig«, erwiderte Mrs. Milroy, »Ah«, sagte sie nach einer Pause, »jetzt weiß ich! Dir vergeben? Ja, ich will Dir unter einer Bedingung vergeben.« Sie hob Neelie’s Kopf auf und sah ihr prüfend ins Gesicht. »Sage mir, warum Du Miß Gwilt hassest? Du hast Deine Gründe dafür, daß Du sie hassest, und Du hast mir dieselben noch nicht eingestanden.«

Neelie ließ den Kopf wieder sinken. Die dunkle Glut, die sie versteckte, indem sie ihr Gesicht verbarg, theilte sich ihrem Nacken mit. Ihre Mutter sah es und ließ ihr Zeit.

»Sage mir«, wiederholte Mrs. Milroy in sanfterem Tone, »warum hassest Du sie?«

Die Antwort kam widerstrebend und in abgerissenen Worten.

»Weil sie versucht ——«

»Was versucht?«

»Weil sie Jemanden der viel ——«

»Viel was?«

»Der viel zu jung für sie ist ——«

»Gern heirathen möchte?«

»Ja, Mama.«

Mit athemlosen Interesse beugte Mrs. Milroy sich vorwärts und spielte liebkosend mit dem Haar ihrer Tochter.

»Wer ist dies, Neelie?« fragte sie flüsternd.

»Du wirst niemals weiter sagen, daß ich es Dir gesagt habe, nicht wahr nicht, Mama?«

»Niemals! Wer ist es?«

»Mr. Armadale.«

Wird. Milroy lehnte sich in tiefem Schweigen auf ihr Kissen zurück. Das klare Bekenntniß ihrer ersten Liebe, das ihre Tochter mit eigenen Lippen abgelegt, das sofort die ganze Aufmerksamkeit jeder andern Mutter in Anspruch genommen haben würde, beschäftigte sie keinen Augenblick. Ihre Eifersucht, die Alles verdrehte, um es ihren Schlußfolgerungen anzupassen, war eifrig beschäftigt, auch das zu verdrehen was sie soeben gehört hatte. »Eine Verstellung«, dachte sie, »die mein Kind getäuscht hat. Mich aber täuscht dieselbe nich. Ist es wahrscheinlich, daß Miß Gwilt dies gelingen wird?« fragte sie laut. »Zeigt Mr. Armadale irgendwelches Interesse für sie?«

Zum ersten Male sah Neelie zu ihrer Mutter auf. Der schwerste Theil ihres Bekenntnisses war jetzt worüber, sie hatte die Wahrheit von Miß Gwilt gesagt und offen Allan’s Namen ausgesprochen.

»Er legt das unerklärlichste Interesse für sie an den Tag«, sagte sie. »Es ist mir unbegreiflich; eine förmliche Verblendung ist es —— es empört mich, davon zu sprechen!«

»Wie kommst Du dazu, Mr. Armadale’s Geheimnisse zu wissen?« fragte Mrs. Milroy. »Hat er aus allen Leuten in der Welt Dich auserkoren, um sein Interesse für Miß Gwilt auszusprechen?«

»Mich!« rief Miß Neelie entrüstet. »Es ist wahrhaftig schlimm genug, daß er es dem Papa gesagt hat.«

Bei diesem Wiederauftreten des Majors in der Erzählung stieg Mrs. Milroy’s Interesse an der Unterhaltung aufs Höchste. Sie richtete sich abermals vom Kissen auf. »Nimm einen Sessel«, sagte sie. »Setze Dich, Kind, und erzähle mir die ganze Geschichte Jedes Wort, hörst Du? — jedes Wort!«

»Ich kann Dir nur erzählen, Mama, was der Papa mir erzählt hat.«

»Wann?«

»Am Sonnabend. Ich trug dem Papa sein Gabelfrühstück in die Werkstatt und er sagte: »Ich habe soeben einen Besuch von Mr. Armadale gehabt und möchte Dir eine Warnung geben, da ich eben daran denke." Ich sagte nichts, Mama, ich wartete blos. Dann fuhr der Papa fort und sagte mir, Mr. Armadale habe mit ihm von Miß Gwilt gesprochen und Fragen über sie an ihn gerichtet, zu denen Niemand in seiner Stellung berechtigt sei. Der Papa sagte, er habe sich genöthigt gesehen, Mr. Armadale in aller Freundschaft zu ermahnen, ein andermal ein wenig zartfühlender und vorsichtiger zu sein. Ich fühlte mich nicht sehr interessiert, Mama —— es lag mir durchaus gar nichts daran, was Mr. Armadale gesagt oder gethan. Was sollte ich mich darum kümmern!«

»Laß Dich dabei aus dem Spiele«, unterbrach ihre Mutter sie mit Schärfe. »Fahre mit dem fort, was Dein Vater sagte. Was that er, als er von Miß Gwilt sprach? Wie sah er aus?«

»Ziemlich wie gewöhnlich, Mama. Er ging in der Werkstatt auf und ab, und ich nahm seinen Arm und promenierte mit ihm.«

»Ich will nicht wissen, was Du gethan hast«, sprach Mrs. Milroy immer gereizter. »Sagte Dein Vater Dir, was für Fragen Mr. Armadale an ihn gerichtet, oder nicht?«

»Ja, Mama. Er sagte, Mr. Armadale begann mit der Bemerkung, daß er großes Interesse an Miß Gwilt nehme, und fragte dann, ob der Papa ihm irgendetwas über ihre Familienverhältnisse ——«

»Was!!« rief Mrs. Milroy. Das Wort brach fast wie ein Schrei heraus und die weiße Schminke auf ihrem Gesichte platzte in allen Richtungen. »Das sagte Mr. Armadale?« sprach sie, sich immer weiter aus dem Bette heraus beugend.

Neelie sprang auf und suchte ihre Mutter aufs Kissen zurückzulegen.

»Mama!« rief sie aus. »Hast Du Schmerzen? Bist Du krank? Du erschreckst mich!«

»Nichts, nichts, nichts«, sagte Mrs. Milroy. Sie war zu heftig, bewegt, um eine andere als die allergewöhnlichste Entschuldigung zu machen. »Meine Nerven sind heute Morgen sehr gereizt —— kehre Dich nicht daran. Ich will es auf der andern Seite des Kissens versuchen. Fahr’ fort, fahr’ fort! Ich höre Dich, wenn gleich ich Dich nicht ansehe.« Sie wandte ihr Gesicht der Wand zu und ballte ihre zitternden Hände krampfhaft unter der Bettdecke »Ich habe sie!« flüsterte sie für sich. »Ich habe sie endlich!«

»Ich fürchte, ich habe zu viel gesprochen«, sagte Neelie. »Ich fürchte, ich bin zu lange hier geblieben. Soll ich jetzt hinuntergehen, Mama, und später wiederkommen?«

»Fahr’ fort«, wiederholte Mrs. Milroy mechanisch.

»Was hat Dein Vater darauf gesagt? Noch sonst etwas über Mr. Armadale?«

»Nichts weiter, außer, was der Papa ihm zur Antwort gab«, erwiderte Neelie »Papa wiederholte mir seine eigenen Worte, als er mir davon erzählte. Er sagte: »In Ermangelung irgendwelcher freiwilligen Mittheilungen von der Dame selbst über diesen Gegenstand, Mr. Armadale, ist Alles, was ich weiß, oder zu wissen wünsche —— und Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich hinzufüge, Alles, was sonst irgendjemand zu wissen braucht, oder zu wissen wünschen sollte —— daß Miß Gwilt mir eine völlig befriedigende Empfehlung brachte, ehe sie in mein Haus kam? Das war streng, Mama, nicht wahr? Ich habe nicht das geringste Mitleid mit ihm —— er hat es vollkommen verdient. Dann kam des Papas Warnung an mich. Er hieß mich Mr. Armadales Neugier nicht befriedigen, wenn er sich nun etwa an mich wendete. Als ob es wahrscheinlich sei, daß er sich an mich wendete, und als ob ich ihn anhören würde! Das ist Alles, Mama. Nicht wahr, Du glaubst nicht, daß ich Dir alles dies gesagt habe, weil ich Mr. Armadale abhalten möchte, Miß Gwilt zu heirathen? Er mag sie heirathen, wenn es ihm beliebt —— mir ist es einerlei!« sagte Neelie mit einer Stimme, die ein wenig bebte, und mit einem Gesichte, das kaum ruhig genug war, um mit dieser Erklärung ihrer Gleichgültigkeit zu harmonieren. »Alles, was ich will, ist Befreiung von Miß Gwilt als meiner Erzieherin. Ich möchte lieber in, eine Pension geschickt werden. Ja, ich möchte in eine Erziehungsanstalt gehen. Meine Ansicht von Allem ist jetzt eine völlig andere, ich habe nur nicht den Muth, es dem Papa zu sagen. Ich weiß nicht, was mit mir vorgegangen ist —— mir ist, als ob ich zu nichts mehr Muth besäße —— und wenn der Papa mich abends auf den Schooß nimmt und sagt: »Laß uns Plaudern, Neelie", da macht er mich weinen. Wolltest Du ihn wohl darauf vorbereiten, Mama, daß ich andern Sinnes geworden bin und lieber in eine Pension gehen möchte?« Ihre Augen füllten sich mit schweren Thränen und sie bemerkte nicht, daß ihre Mutter sich nicht einmal auf ihrem Kissen umwandte, um sie anzusehen.

»Ja, ja«, « sagte Mrs. Milroy zerstreut. »Du bist ein gutes Mädchen; Du sollst in eine Pension geschickt werden.«

Die grausame Kürze der Erwiderung und der Ton, in dem sie gesprochen ward, sagten Neelie, daß die Aufmerksamkeit ihrer Mutter weit, weit von ihr sei und daß es nutzlos wäre, die Unterhaltung noch ferner fortzusetzen. Ruhig, ohne ein Wort des Vorwurfs wandte sie sich ab. Es war ihr nichts Neues, sich von der Theilnahme ihrer Mutter ausgeschlossen zu sehen. Sie sah ihre Augen im Spiegel an und badete dann ihr Gesicht in kaltem Wasser. »Miß Gwilt soll nicht sehen, daß ich geweint habe«, dachte Neelie, indem sie wieder an das Bett trat, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. »Ich habe Dich ermüdet, Mama«, sagte sie leise. »Laß mich jetzt gehen, und später wiederkommen, wenn Du ein wenig geruht haben wirst«

»Ja«, antwortete ihre Mutter noch ebenso mechanisch, wie zuvor, »ein wenig später, wenn ich etwas geruht haben werde.«

Neelie verließ das Zimmer. Sowie sie die Thüre hinter sich geschlossen, klingelte Mrs. Milroy, um« die Wärterin zu sich zu bescheiden. Der soeben gehörten Erzählung, jeder vernünftigen Schätzung der Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, klammerte sie sich noch immer so fest, wie je, an ihre eifersüchtigen Schlüsse »Mr. Armadale mag ihr glauben, und meine Tochter mag ihr glauben«, dachte das wüthende Weib. »Aber ich kenne den Major und mich kann sie nicht hintergehen!«

Die Wärterin trat ein. »Richtet Euch in die Höhe«, sagte Mrs. Milroy, »und gebt mir mein Schreibpult. Ich will schreiben.«

»Sie sind aufgeregt«, sagte die Wärterin »Sie sind nicht in einem Zustande, um zu schreiben.«

»Gebt mir das Pult«, wiederholte Mrs. Milroy.

»Sonst noch etwas?« fragte Rachel, ihre stereotype Phrase wiederholend indem sie den Schreibkasten aufs Bett stellte.

»Ja. Kommt in einer halben Stunde wieder. Ihr sollt einen Brief für mich nach dem Herrenhaus tragen.«

Die sardonische Gelassenheit der Wärterin versagt ihr für diesmal. »Gerechter Himmels« rief sie im Tone echten Erstaunens. »Was nun? Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie an ——«

»Ich werde an Mr. Armadale schreiben«, fiel ihr Mrs. Milroy ins Wort, »und Ihr werdet den Brief zu ihm tragen und auf die Antwort warten —— und, gebt wohl Acht, keine lebende Seele, außer uns beiden, darf hier im Hause das Geringste hiervon argwöhnen.«

»Warum schreiben Sie an Mr. Armadale?« fragte Rachel. »Und warum darf außer uns beiden Niemand etwas davon wissen?«

»Wartet«, erwiderte Mrs. Milroy, »und Ihr werdet es sehen.«

Die Neugier der Wärterin, die Neugier eines Weibes, hatte keine Lust zu warten.

»Ich will Ihnen mit offenen Augen helfen«, sagte sie, »blindlings aber helfe ich Ihnen nicht.«

»O, wenn ich nur den Gebrauch meiner Glieder hätte!« stöhnte Mrs. Milroy. »Ihr abscheuliches Geschöpf, wenn ich nur ohne Euch fertig werden könnte!«

»Sie haben den Gebrauch Ihres Kopfes«, entgegnete. die unerschütterliche Wärterin, »und Sie sollten es besser wissen, als mir nur zur Hälfte zu trauen.«

Es war eine brutale Antwort, aber eine wahre eine doppelt wahre, nachdem sie Miß Gwilt’s Brief geöffnet. Mrs. Milroy gab nach.

»Was wollt. Ihr wissen?« fragte sie. »Sagt mir das und dann geht.«

»Ich möchte wissen, was Sie an Mr. Armadale schreiben wollen?«

»Von Miß Gwilt.«

»Was hat Mr. Armadale mit Miß Gwilt zu schaffen?«

Mrs. Milroy hielt den Brief empor, der ihr durch das Postamt zurückgesandt worden.

»Bückt Euch«, sagte sie. »Miß Gwilt mag vielleicht an der Thür lauschen. Ich will’s Euch ins Ohr flüstern.«

Die Wärterin bückte sich, indem sie das Auge auf die Thür heftete.

»Ihr wißt, daß der Postbote diesen Brief nach Kingstown Crescent getragen hat?« sagte Mrs. Milroy. »Und Ihr wißt, daß er Mrs. Mandeville nicht mehr dort fand und daß ihm Niemand zu sagen wußte, wohin sie gegangen?«

»Nun?« flüsterte Rachel. »Was dann?«

»Dies. Wenn Mr. Armadale den Brief erhält, den ich ihm zu schreiben im Begriff bin; wird er denselben Weg einschlagen, welchen der Briefträger gegangen ist —— und wir wollen sehen, was sich ereignet, wenn er an Mrs. Mandeville’s Hausthür klopft.«

»Wie bringen Sie ihn bis an die Thür?«

»Ich gebe ihm den Rath, die Dame aufzusuchen, die Miß Gwilt empfohlen hat.«

»Ist er in Miß Gwilt verliebt?«

»Ja.«

»Ach!« sagte die Wärterin, »ich verstehe!«



Kapiteltrenner

Vierter Band

Erstes Kapitel.

Der Morgen, an dem die Unterredung zwischen Mrs. Milroy und ihrer Tochter im Parkhäuschen stattfand, war für den Squire im Herrenhause ein Morgen ernstlicher Ueberlegung.

Selbst Allan’s leichtherzige Natur war von dem beunruhigenden Einflusse der Ereignisse während der letzten drei Tage nicht unberührt geblieben. Midwinter’s unerwartete Abreise hatte ihn verdrossen, und die Art und Weise; wie Major Milroy seine Erkundigungen in Bezug auf Miß Gwilt aufgenommen hatte, erhöhte nur sein Unbehagen. Seit seinem Besuche im Parkhäuschen war er zum ersten Male in seinem Leben gegen Jeden, der mit ihm in Berührung kam, gereizt und verdrießlich gewesen; gereizt über den jungen Pedgift, der am vorigen Abend erschienen »war, um ihm seine folgenden Tags bevorstehende Abreise nach London zu melden und seinem Clienten seine Dienste zur Verfügung zu stellen; verdrießlich Miß Gwilt gegenüber bei einer geheimen Zusammenkunft, die er am Morgen mit ihr im Park gehabt hatte; Verdrießlich in seiner eigenen Gesellschaft, währender rauchend in seinem Zimmer allein saß. »Diese Art von Leben kann ich nicht lange mehr ertragen«, dachte Allan »Wenn mir Niemand behilflich sein will, Miß Gwilt diese unangenehme Frage vorzulegen, so muß ich irgend einen Weg ausfindig machen, wie ich es selber thun kann.«

Welchen Weg? Die Antwort auf diese Frage war so schwer wie nur je eine. Allan versuchte seine träge Phantasie durch einen Spaziergang im Zimmer aufzustacheln, in welchem er, als er zum ersten Male das Ende des letzteren erreicht hatte, durch das Eintreten des Dieners unterbrochen ward.

»Nun, was gibt’s?« fragte er ungeduldig.

»Ein Brief, Sir; der Ueberbringer wartet auf Antwort.«

Allan betrachtete die Adresse Sie war von fremder Hand. Er öffnete den Brief, und ein in denselben eingelegtes kleines Billet fiel auf den Boden. Das Billet war in derselben fremden Handschrift an »Mrs. Mandeville, 18 Kingsdown-Crescent, Bayswater. Durch Güte des Mr. Armadale« adressiert. In immer größerer Verwunderung suchte Allan nach der Unterschrift des Briefes. Sie lautete: »Anna Milroy.«

»Anna Milroy!« wiederholte er. »Das muß die Frau des Majors sein. Was in aller Welt kann sie von mir wollen?«

Um sich darüber aufzuklären, that Allan schließlich, was er gleich zu Anfange hätte thun können. Er setzte sich hin, den Brief zu lesen.

»Parkhäuschen. Montag.
( Privatim.)

Geehrter Herr! Der Name am Schlusse dieser Zeilen wird Sie, wie ich fürchte, an eine große Unhöflichkeit erinnern, mit der ich vor kurzem eine große Freundlichkeit Ihrerseits zurückwies. Ich kann zu meiner Entschuldigung nur sagen, daß ich schwer leidend bin und, wenn ich unter dem Einflusse heftiger Schmerzen in einem Augenblicke von Gereiztheit und übler Laune Ihr gütiges Obstgeschenk zurücksandte, dies seitdem von Herzen bereut habe. Ich bitte Sie, diesen Brief meinem aufrichtigen Wunsche zuzuschreiben, jene Unhöflichkeit wieder gut zu machen und womöglich unserm geschätzten Freunde und Hauswirthe einen Dienst zu leisten.

Ich weiß, welche Frage Sie vorgestern hinsichtlich Miß Gwilt’s an meinen Gatten gerichtet haben. Nach Allem, was mir von Ihnen bekannt ist, bin ich fest überzeugt, daß Ihr Verlangen, etwas Näheres über diese anziehende Person zu erfahren, als Sie bis jetzt von ihr wissen, nur den ehrenvollsten Beweggründen zugeschrieben werden muß. In dieser Ueberzeugung fühle ich ein frauenhaftes Interesse —— wiewohl ich eine unheilbare Kranke bin —— Ihnen behilflich zu sein. Wenn Sie Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten kennen lernen wollen, ohne sich deshalb direct an sie selbst zu wenden, so liegt es nur an Ihnen, sich diese Auskunft zu verschaffen, und ich will Ihnen sagen, wie Sie dabei zu Werke gehen müssen.

Der Zufall hat es gefügt, daß ich vor wenigen Tagen über diesen selben Gegenstand an die Dame geschrieben, die Miß Gwilt empfohlen hatte. Ich hatte längst die Bemerkung gemacht, daß Miß Gwilt ein eigenthümliches Widerstreben verrieth, von ihrer Familie und ihren Angehörigen zu sprechen, und ohne ihr Schweigen etwas Anderem als den schicklichsten Beweggründen zuzuschreiben, hielt ich es doch meiner Tochter gegenüber für meine Pflicht, einige fernere Erkundigungen darüber einzuziehen. Die Antwort, die ich erhalten, ist so weit befriedigend. Meine Correspondentin unterrichtet mich, daß Miß Gwilt’s Geschichte eine sehr traurige und ihr Benehmen bei all ihrem Mißgeschick im höchsten Grade lobenswerth gewesen sei. Die Umstände —— häuslicher Art, wie ich entnehme —— seien sämtlich in einer Reihe von Briefen auseinandergesetzt, die sich augenblicklich im Besitze der Dame befanden, welche Miß Gwilt empfohlen. Diese Dame sei vollkommen bereit, mir die Briefe zu zeigen, doch da sie keine Abschriften derselben besitze und für die Sicherheit der Documente persönlich verantwortlich sei, würde sie dieselben nur ungern der Post anvertrauen, und sie bittet mich deshalb zu warten, bis entweder sie oder ich eine zuverlässige Person finden könne, welche das Paket aus ihren Händen empfange, um es in die meinigen zu geben.

Unter diesen Umständen ist mir der Gedanke gekommen, daß Sie, bei Ihrem persönlichen Interesse an der Sache, vielleicht bereit sein würden, die Papiere für mich in Empfang zu nehmen. Sollte ich mich in dieser meiner Annahme täuschen und Sie nach dem, was ich Ihnen mitgetheilt, nicht geneigt sein, sich der Mühe und den Kosten einer Reise nach London zu unterziehen, so brauchen Sie nur meinen Brief und dessen Einlage zu verbrennen und nicht weiter an die Sache zu denken. Entschließen Sie sich aber, als mein Abgesandter zu handeln, so versehe ich Sie mit Vergnügen mit dem nothwendigen Einführungsbillet für Mrs. Mandeville. Sie haben nichts weiter zu thun, als die Briefe in einem versiegelten Paket entgegenzunehmen, dies bei Ihrer Rückkehr nach Thorpe-Ambrose mir zu übersenden und dann einer baldigen Mittheilung von mir über das Ergebniß gewärtig zu sein.

Zum Schlusse will ich nur noch hinzufügen, daß ich in dem Verfahren, welches ich Ihnen vorschlage, nichts erblicke, was Ihnen als unschicklich ausgelegt werden könnte. Die Art und Weise, in der Miß Gwilt Winke aufgenommen, wie ich sie hinsichtlich ihrer Familienverhältnisse habe fallen lassen, hat es mir peinlich gemacht und würde es Ihnen geradezu unmöglich machen, die Auskunft zuerst bei ihr selbst zu suchen. Gewiß bin ich gerechtfertigt, wenn ich mich an die Dame wende, die sie empfohlen hat, und sicherlich kann es Ihnen nicht zum Vorwurf gereichen, wenn Sie die Beförderung einer versiegelten Correspondenz von einer Dame zur andern vermitteln. Finde ich in dieser Correspondenz Familiengeheimnisse, die ehrenhaftenweise keiner dritten Person mitgetheilt werden können, so werde ich Sie natürlich warten lassen müßten, bis ich zuvor mit Miß Gwilt gesprochen habe. Entdecke ich dagegen nichts Anderes darin, als was ihr Ehre macht und sie in Ihrer Achtung nur noch höher stellen kann, so erzeige ich ihr unzweifelhaft einen Dienst, wenn ich Sie in mein Vertrauen ziehe. Dies ist meine Ansicht von der Sache, doch bitte ich Sie, sich nicht von mir beeinflussen zu lassen.

Jedenfalls muß ich eine Bedingung stellen, die Sie, wie ich überzeugt bin, als unerläßlich betrachten werden. Die harmlosesten Handlungen sind in dieser bösen Welt oft den übelsten Auslegungen ausgesetzt. Ich muß Sie deshalb ersuchen, diese Mittheilung als eine ganz vertrauliche ansehen zu wollen. Was ich Ihnen geschrieben, muß durchaus unter uns bleiben, bis die Umstände nach meinem Dafürhalten ein weiteres Bekanntmachen desselben rechtfertigen.

Aufrichtig die Ihre
Anna Milroy.«

Das war die verlockende Form, in welcher die Gattin des Majors ihre Falle gelegt hatte. Wie gewöhnlich, folgte Allan, ohne einen Augenblick zu zögern, seinem Impulse, indem er gerade auf die Sache losging und sofort seine Antwort schrieb, wobei er sich in höchst charakteristischer Aufregung seinen eigenen Gedanken überließ.

»Beim Jupiter, das ist außerordentlich freundlich von Mrs. Milroy!« (»Verehrte Frau!«) »Gerade, was mir noth that und zwar in dem Augenblicke, wo mir am meisten. daran gelegen wart« (»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre Güte ausdrücken soll, wenn nicht durch die Versicherung, daß ich mit dem größten Vergnügen nach London reisen werde, um die Briefe zu holen.«) »Sie soll den ganzen Sommer hindurch regelmäßig jeden Tag einen Korb mit frischem Obst haben« (»Ich werde sofort abreisen, verehrte Frau, und morgen wieder hier sein.«) »Ah, nichts wie die Frauen, wenn man verliebt ist und der Hilfe bedarf! Genau so würde meine liebe Mutter an Mrs. Milroy’s Stelle gehandelt haben.« (»Ich gebe Ihnen mein feierliches Ehrenwort, daß ich hinsichtlich der Briefe mit der größten Vorsicht zu Werke gehen Und die Sache streng geheim halten werde, wie Sie es wünschen.«) »Mit Vergnügen hätte ich Jedem, der mir den rechten Weg gezeigt, wie ich mit Miß Gwilt zu sprechen habe, fünfhundert Pfund gegeben, und diese liebe herrliche Frau hier thut es umsonst.« (»Ich verbleibe, verehrte Frau, dankbarst der Ihre, Allan Armadale.«)

Nachdem er seine Antwort Mrs. Milroy’s Boten hatte behändigen lassen, blieb Allan in momentaner Verlegenheit stehen. Er hatte mit Miß Gwilt verabredet, sie andern Morgens im Park zu treffen. Es war also durchaus nothwendig, sie wissen zu lassen, daß er abgehalten sei, sich einzustellen; sie hatte ihm zu schreiben verboten und er keine Aussicht, sie an diesem Tage noch allein zu sprechen. In dieser Verlegenheit beschloß er, sie auf indirectem Wege, durch ein Billet an den Major, von dieser Abhaltung in Kenntniß zu setzen, indem er diesem seine in Geschäften beabsichtigte Reise nach London meldete und anfragte, ob irgend ein Mitglied seiner Familie ihm Aufträge für die Stadt zu geben habe. Sowie er in dieser Weise das einzige Hinderniß aus dem Wege geräumt, das sich seiner Abreise entgegenstellte, zog Allan den Eisenbahnfahrplan zu Rathe und fand zu seinem Verdrusse, daß er bis zum Abgang des nächsten Zuges noch eine gute Stunde übrig habe. In seiner augenblicklichen Gemüthsverfassung würde er es bei weitem vorgezogen haben, schleunigst nach London aufzubrechen.

Als der Augenblick endlich kam, trommelte Allan, an dem Verwaltungsbureau vorbeikommend, an die Thür desselben und rief Mr. Bashwood zu: »Reise nach London —— komme morgen zurück.« Keine Antwort erfolgte drinnen und der Diener theilte seinem Herrn mit, daß Mr. Bashwood, da er heute nichts Besonderes daselbst zu thun gehabt, das Bureau geschlossen habe und schon vor einigen Stunden fortgegangen sei.

Als Allan auf dem Bahnhof anlangte, war die erste Person, die er hier traf, der junge Pedgift, der, wie er am vorigen Abend im Herrenhause gemeldet, in Geschäftsangelegenheiten nach London reiste. Nach gegenseitigem Austausch der nothwendigen Erklärungen beschlossen beide zusammen zu reisen. Allan war froh, einen Gefährten zu haben, und Pedgift, wie immer entzückt, sich seinem Clienten nützlich machen zu können, eilte, die Billets zu nehmen und das Gepäck zu besorgen. Auf dem Perron auf und ab gehend und die Rückkunft seines getreuen Anhängers abwartend, stieß Allan plötzlich auf keine geringere Person als Mr. Bashwood, der in einem Winkel dem Schaffner des Zuges heimlich einen Brief übergab, welchem er, allem Anscheine nach, ein Geldgeschenk beifügte.

»Hollah!« rief Allan in seiner herzlichen Art und Weise. »Etwas Wichtiges da, nicht wahr, Mr. Bashwood?«

Wäre Mr. Bashwood bei einem Mord ertappt worden, so hätte er kaum eine größere Bestürzung verrathen können, als er jetzt über Allan’s Entdeckung an den Tag legte. Seinen abgetragenen alten Hut vom Kopfe ziehend, verbeugte er sich tief, wobei er an allen Gliedern zitterte. »Nein, Sir, nein; nichts als ein kleiner Brief —— ein kleiner Brief —— ein kleiner Brief«, sagte der Mann, hinter der Wiederholung seiner Worte seine Verlegenheit verbergend und eiligst rückwärts aus der Nähe seines Herrn retirirend.

Allan wandte sich gleichgültig um. »Ich wollte, ich könnte den Menschen leiden«, dachte er, »aber ich kanns nicht; er ist ein gar zu serviles Geschöpf! Weshalb, zum Henker, brauchte er so zu zittern? Glaubt er etwa, ich wolle mich in seine Gheimnisse eindrängen?«

Mr. Bashwoods Geheimniß berührte Allan diesmal näher, als dieser es ahnte. Der Brief, den er so eben dem Schaffner übergeben hatte, war nichts Anderes als eine Warnung für Mrs. Oldershaw, geschrieben von Miß Gwilt.

»Wenn Du Dein Geschäft beschleunigen kannst«, schrieb die Erzieherin des Majors, »so thue dies und kehre augenblicklich nach London zurück. Die Sachen gehen hier nicht, wie sie sollten, und Miß Milroy ist die Urheberin des Unheils. Sie bestand heute Morgen darauf, ihrer Mutter das Frühstück selbst hinaufzutragen, das sonst stets von der Wärterin gebracht wird. Dann hatten sie eine lange geheime Unterredung mit einander, und eine halbe Stunde später sah ich die Pflegerin mit einem Briefe hinausschlüpfen und den Weg nach dem Herrenhause einschlagen. Der Uebersendung dieses Schreibens folgte Mr. Armadale’s plötzliche Abreise nach London trotz einer verabredeten Zusammenkunft, die er morgen mit mir im Park haben wollte. Das sieht ernsthaft aus. Das Mädchen ist offenbar verwegen genug, für die Stellung der Mrs. Armadale auf Thorpe-Anibrose einen Kampf zu wagen, und hat irgend ein Mittel ausfindig gemacht, um sich den Beistand ihrer Mutter zu verschaffen. Denke nicht etwa, daß ich im mindesten ängstlich oder entmuthigt bin, und nimm nichts eher vor, als bis Du wieder von mir gehört hast. Kehre nur nach London zurück, denn es kann wohl kommen, daß ich im Verlauf der nächsten Tage Deines Beistandes ernstlich bedarf.

Um Zeit zu gewinnen, sende ich diesen Brief durch den Schaffner mit dem Mittagszuge ab. Da Du darauf bestehst, von jedem meiner Schritte in Thorpe-Ambrose unterrichtet zu werden, so will ich zugleich hinzufügen, daß mein Bote —— denn ich kann nicht selbst nach der Station gehen —— jenes merkwürdige alte Geschöpf ist, dessen ich in meinem ersten Briefe erwähnt habe. Er hat sich seitdem beständig hier herumgetrieben, um mich zu sehen. Ich weiß nicht gewiß, ob ich ihn ängstige oder bezaubere —— vielleicht thue ich Beides. Alles, was Du zu wissen brauchst, ist, daß ich ihm mit Sicherheit meine kleinen Aufträge und möglicherweise nach und nach sogar noch Weiteres anvertrauen kann.

L. G.«

Inzwischen hatte der Zug die Station Thorpe-Ambrose verlassen, und der Scuire befand sich mit seinem Gefährten auf dem Wege nach London.

Wohl Mancher, der sich unter den obwaltenden Umständen in Allan’s Gesellschaft gesehen, würde vielleicht neugierig gewesen sein, was denselben nach London führe. Pedgift junior in seiner Eigenschaft als Weltmann durchschaute mit untrüglichem Instinct das Geheimniß ohne die geringste Mühe. »Die alte Geschichte«, dachte das schlaue alte Haupt, sich still auf den rüstigen jungen Schultern wiegend »Wie immer handelt es sich um ein Weib. Jedes andere Geschäft wäre mir übertragen worden.« Mit dieser Schlußfolgerung vollkommen zufrieden, begann Mr. Pedgift, sein geschäftliches Interesse im Auge habend, sich, wie gewöhnlich, seinem Clienten angenehm zu machen. Er nahm sämtliche Reiseangelegenheiten auf sich, wie er schon die ganze Administration des Picknicks in den Breiten übernommen hatte. Auf dem Bahnhofe in London angelangt, war Allan bereit, nach jedwedem Hotel zu gehen, das man ihm empfehlen würde. Sein unschätzbarer Rechtsanwalt führte ihn unverzüglich nach einem Gasthofe, in dem die Familie Pedgift schon seit drei Generationen abgestiegen war.

»Sie haben doch keine Antipathie gegen Gemüse, Sir?« sagte der heitere Pedgift, als der Fiaker vor einem Hotel auf dem Covent-Garden-Markte hielt. »Sehr gut, das Uebrige dürfen Sie meinem Großvater, meinem Vater und mir überlassen. Ich weiß, welcher von den Dreien in diesem Hause am beliebtesten und geschätztesten ist. Wie geht’s, William? —— Unser Oberkellner, Mr. Armadale —— Ist Ihre Frau von ihrem Rheumatismus geheilt, und macht Ihr Kleiner Fortschritte in der Schule? Ihr Herr ist ausgegangen, nicht wahr? Thut nichts, Sie werden schon für uns sorgen. Das hier, William, ist Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose. Ich habe Mr. Armadale bewogen, es mit unserm Hause zu versuchen. Haben Sie das Schlafzimmer bereit, das ich bestellte? Sehr gut. Dann geben Sie es nicht mir, sondern Mr. Armadale. —— Das Lieblingszimmer meines Großvaters, Sir; Nummer fünf in der zweiten Etae. Bitte, nehmen Sie es; ich kann in jedem beliebigen Zimmer schlafen. Wünschen Sie die Matratze über dem Federbette? —— Hören Sie, William? Sagen Sie Mathilden, daß sie die Matratze oben aufs Federbett legt. Wie geht es Mathilden? Hat sie wie gewöhnlich Zahnschmerzen? —— Das Stubenmädchen oben, Mr. Armadale, und ein ganz außerordentliches Frauenzimmer; sie will sich durchaus nicht von einem hohlen Zahne in ihrer unteren Kinnlade trennen. Mein Großvater sagt ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen"; mein Vater sagt ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen; und ich sage ihr: »Lassen Sie ihn ausziehen —— Mathilde ist taub gegen alle drei. —— Ja wohl, William, ja; wenn es Mr. Armadale genehm, so ist mir dies Wohnzimmer recht. —— Was das Diner betrifft, Sir, so möchten Sie Ihr Geschäft wohl erst abmachen und dann zum Speisen zurückkommen. Wollen wir also sagen: um halb acht Uhr? —— William, um halb acht Uhr. —— Durchaus nicht nöthig, etwas zu bestellen, Mr. Armadale. Der Oberkellner braucht nur dem Koche meine Empfehlung zu machen, und pünktlich auf die Minute wird unfehlbar das beste Diner in ganz London zu uns heraufgesandt werden. —— Bitte, sagen Sie: Mr. Pedgift junior, William. —— Sonst, Sir, dürfte man meines Großvaters oder meines Vaters Diner herrichten, und diese möchten für Sie und mich ein wenig zu schwer und altmodisch ausfallen —— Und den Wein anlangend, William, beim Essen Champagner und den Sherry, den mein Vater abscheulich findet. Zum Nachtisch den Rothwein mit dem blauen Siegel —— ein Wein, von dem mein unschuldiger Großvater behauptete, die Flasche sei keinen Sixpence werth. Ha, ha! der arme alte Junge! —— Sie werden wie gewöhnlich die Abendzeitungen und Theaterzettel herausschicken und —— das ist Alles, glaube ich, für jetzt, William. —— Ein unschätzbarer Diener, Mr. Armadale; die Diener in diesem Hause sind alle unschätzbar. Es ist hier vielleicht nicht vornehm, Sir, aber beim Lord Harry, es ist gemüthlich! Einen Fiaker? Sie wünschen einen Fiaker? Bemühen Sie sich nicht! Ich habe zweimal geschellt; das bedeutet: Schnell einen Fiaker. Darf ich fragen, Mr Armadale, nach welcher Richtung Ihr Geschäft sie führt? Nach Bayswater? Hatten Sie nichts dagegen, mich im Park abzusetzen? Ich Pflege jedes mal, wenn ich in London bin, unter der Aristokratie die frische Luft zu genießen. Ihr ergebener Diener versteht sich auf ein schönes Weib und ein schönes Pferd, und wenn er in Hyde-Park ist, befindet er sich in seinem Element.« In dieser Weise plauderte der gewandte Pedgift weiter und empfahl sich durch diese kleinen Künste der guten Meinung seines Clienten.

Als die Speisestunde die Reisegefährten wieder in ihrem Wohnzimmer im Hotel zusammengeführt, hätte ein weit minder scharfer Beobachter als der junge Pedgift die auffallende Veränderung wahrnehmen müssen, die sich in Allan’s Wesen zeigte. Er sah ärgerlich und consternirt aus und saß, mit den Fingern auf die Tafel trommelnd, ohne ein Wort zu sagen, da.

»Ich fürchte, es hat sich, seitdem wir im Parke von einander schieden, etwas ereignet, was Ihnen Verdruß verursacht, Sir? sagte Pedgift junior. »Verzeihen Sie die Frage; ich thue sie nur für den Fall, daß ich Ihnen irgendwie von Nutzen sein könnte.«

»Allerdings ist etwas passiert, was ich nicht im entferntesten erwartet habe«, erwiderte Allan; »ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Ich möchte gern Ihre Ansicht hören«, fügte er nach einigem Zögern hinzu, »das heißt, vorausgesetzt, Sie entschuldigten, wenn ich nicht in Einzelheiten eingehe?«

»Ganz gewiß!« erwiderte der junge Pedgift. »Skizzieren Sie mir die Sache nur in leichten Umrissen, Sir. Der kleinste Wink genügt; ich bin ja nicht von gestern.« Im Stillen aber sprach er zu sich! »O, diese Weiber!«

»Nun«, begann Allan, »Sie wissen, was ich sagte, als wir hier im Hotel anlangten; ich sagte; ich müsse nach Bayswater gehen« —— Pedgift machte sich im Geiste eine Notiz: Vorstadtfall Bayswater —— »und nach einer —— das heißt —— nein —— wie ich schon sagte, mich nach einer Person erkundigen.« Pedgift notierte den nächsten Punkt: Person in Frage. Weibliche oder männliche Person? Weibliche Person, sonder Zweifel. —— »Also, ich begab mich nach dem Hause, und als ich nach ihr fragte —— ich meine die Person —— war sie —— das heißt, die Person —— o zum Henker! ich werde noch verrückt und Sie ebenfalls, wenn ich die Geschichte so weitschweifig erzähle. Da haben Sie die Sache mit zwei Worten. Ich fuhr nach Nummer 18 Kingsdown-Crescent, um dort eine Dame Namens Mandeville aufzusuchen, und als ich nach ihr fragte, sagte mir das Mädchen, Mrs. Mandeville sei ausgegangen, ohne irgend Jemand zu sagen, wohin, und ohne selbst nur eine Adresse zu hinterlassen, unter welcher ihr Briefe nachgesandt werden könnten. So, jetzt ist es endlich heraus. Was meinen Sie dazu?«

»Sagen Sie mir zuvor, Sir«, antwortete der kluge Pedgift, »welche Fragen Sie thaten, als Sie fanden, daß die bewußte Dame verschwunden war?«

»Fragen?« wiederholte Allan. »Ich war gänzlich consternirt; ich sagte gar nichts. Welche Fragen hätte ich thun sollen?«

Der junge Pedgift räusperte sich und schlug vollkommen geschäftsmäßig die Beine über einander.

»Ich will durchaus nicht Ihre Angelegenheit bei Mrs. Mandeville ausforschen, Mr. Armadale«, begann er.

»Nein«, unterbrach ihn Allan ohne alle Umstände, »ich hoffe, Sie werden dies nicht versuchen. Meine Angelegenheit bei Mrs. Mandeville muß ein Geheimniß bleiben.«

»Aber«, fuhr Pedgift fort, indem er in richterlicher Weise den Zeigefinger der einen in die ausgestreckte Fläche der andern Hand legte, »Sie werden mir vielleicht im Allgemeinen zu fragen gestatten, ob Ihre Angelegenheit bei Mrs. Mandeville der Art ist, daß Sie es der Mühe werth erachten, ihre Spur von Kingsdow-Crescent nach ihrem gegenwärtigen Aufenthalte zu verfolgen?«

»Gewiß!« sagte Allan. »Ich habe ganz besondere Gründe, sie sehen zu wollen.«

»Ja dem Falle, Sir«, erwiderte Pedgift junior, »waren es zwei bestimmte Fragen, die Sie hätten thun sollen, nämlich, an welchem Tage Mrs. Mandeville abreiste, und wie. Hiervon unterrichtet, hätten Sie sich zunächst erkundigen sollen, in welchen häuslichen Verhältnissen sie fortging, ob sie mit irgend Jemand eine Differenz gehabt, etwa eine Differenz is Geldsachen; ferner, ob sie allein oder in Begleitung irgend einer andern Person abreiste; sodann, ob das Haus ihr eigenes war, oder ob sie nur dort wohnte. In letzterem Falle ——«

»Halt! Halt! Sie machen mir den Kopf schwindeln«, rief Allan. »Ich verstehe mich nicht auf alle diese Mittel und Wege, mit dergleichen bin ich nicht vertraut.«

»Ich meinerseits bin seit meiner Kindheit damit vertraut, Sir«, bemerkte Pedgift »Und wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, so bitte ich Sie nur, es zu sagen.«

»Sie sind sehr freundlich«, erwiderte Allan, »Wenn Sie mir helfen könnten, Mrs. Mandeville zu finden, und wenn es Ihnen nichts ausmacht« die Sache dann gänzlich in smeinen Händen zu lassen ——«

»Mit dem größten Vergnügen von der Welt werde ich sie in Ihren Händen lassen, Sir«, sagte Pedgift junior, zu selbst aber: »Und ich Will fünf gegen eins wetten, daß Du, wenn der Augenblick kommt, sie in den meinigen lassen wirst! —— Wir wollen morgen früh zusammen nach Bayswater fahren, Mr. Armadale. Inzwischen —— kommt hier die Suppe. Der Fall, der augenblicklich vor Gericht schwebt, ist: Vergnügen gegen Geschäft. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Sir, aber ich gebe mein Urtheil, ohne nur einen Augenblick zu zögern, zu Gunsten des Klägers ab. Lassen Sie uns die Rosen pflücken, eh’ sie verblühen. Entschuldigen Sie meine Heiterkeit, Mr. Armadale Obgleich in der Provinz begraben, ward ich doch zum Londoner Leben geschaffen.« Mit diesem Bekenntnisse reichte der unwiderstehliche Pedgift seinem Gönner einen Stuhl und ertheilte munter seine Befehle an seinen Vicekönig, den Oberkellner »Punsch in Eis, William, nach der Suppe. —— Ich bürge für den Punsch, Mr. Armadale; er wird nach einem Recept meines Großonkels gebraut. Er hielt eine Taverne und war der Gründer des Glücks unserer Familie. Ich mache mir nichts daraus, Ihnen zu sagen, daß die Pedgifts einen Schenkwirth in ihrer Familie gehabt haben; es ist keine Spur von falschem Stolze an mir. Der Werth macht den Mann, wie Pope sagt. Ich cultivire die Poesie sowohl als die Musik, Sir, in meinen Mußestunden; in der That, ich stehe mit allen neun Musen auf mehr oder minder vertraulichem Fuße. Aha! Da ist der Punsch! Das Andenken meines Großonkels, des Schenkwirths, Mr. Armadale —— ein Toast, den wir in feierlicher Stille trinken wollen!«

Allan gab sich alle Mühe, der Heiterkeit und guten Laune seines Gefährten nachzueifern, jedoch nur mit mittelmäßigem Erfolge. Während der ganzen Mahlzeit und während all der Ergötzlichkeiten, zu denen ihn sein Gefährte später am Abend hinführte, kam ihm fortwährend sein Besuch in Kingsdown-Crescent ins Gedächtniß zurück. Als Pedgift junior in der Nacht sein Licht auslöschte, schüttelte er sein kluges Haupt und apostrophierte zum zweiten Male bedauernd die Weiber.

Andern Morgens um zehn Uhr befand sich der unermüdliche Pedgift bereits auf dem Schauplatze. Zu Allan’s großer Erleichterung schlug er vor, die Erkundigungen in Kingsdown-Crescent in eigener Person einzuziehen, während sein Client in der Droschke, die sie vom Hotel gebracht, in der Nähe wartete. In wenig mehr als fünf Minuten war er im Besitz aller erreichbaren Einzelheiten wieder bei Allan. Das Erste, was er that, war, daß er Allan ersuchte, auszusteigen und den Kutscher zu bezahlen. Dann bot er ihm höflich den Arm und führte ihn um die Ecke des Crescent über einen Square und in eine kleine Nebengasse, die durch eine Fiakerstation ausnahmsweise belebt wurde. Hier blieb er stehen und fragte scherzend, ob Mr. Armadale jetzt seinen Weg vor sich sehe, oder ob es nothwendig sein werde, seine Geduld durch eine Erörterung auf die Probe zu stellen.

»Ob ich meinen Weg vor mir sehe?« wiederholte Allan. »Ich sehe nichts als die Fiakerstation.«

Pedgift der Jüngere lächelte mitleidsvoll und begann seine Erklärung. Er müsse zuerst bemerken, daß das Haus in Kingsdon-Crescent ein Kosthaus sei. Er habe darauf bestanden, die Hauswirthin selbst zu sprechen. Eine charmante Person, mit allen Anzeichen, daß sie vor fünfzig Jahren ein hübsches Mädchen gewesen; ganz Pedgift’s Genre Aber Mr. Armadale ziehe vielleicht vor, etwas über Mrs. Mandeville zu hören. Unglücklicherweise gebe es nichts zu erzählen. Keine Differenz habe stattgefunden und kein Heller sei unbezahlt geblieben. Die Dame sei fortgegangen, ohne daß sich nur ein Schatten von Erklärung dafür finden lasse. Entweder sei es Mrs. Mandevilles Art und Weise zu verschwinden, oder etwas für jetzt noch völlig Unentdeckbares sei dabei mit im Spiele. Pedgift hatte sich von Datum, Tageszeit und der Art und Weise ihrer Abreise in Kenntniß gesetzt. Möglicherweise könne diese letztere ihnen auf die Spur helfen. Sie war in einem Cab fortgefahren, welches dass Mädchen von der nächsten Station geholt hatte. Diese Station liege eben vor ihren Augen, und der Wassermann sei die erste Person, an die sie sich wenden müßten; sie gingen —— Mr. Armadale möge ihm den Scherz verzeihen —— damit direct an die Quelle. In dieser lustigen Weise behandelte Pedgift die Geschichte, sagte Allan, er wolle in einem Augenblicke wieder bei ihm sein, schlenderte nachlässig die Straße hinunter und winkte den Wassermann vertraulich in die nächste Restauration.

In einer kleinen Weile kamen beide wieder heraus, und der Wassermann führte Pedgift der Reihe nach zu dem ersten, zweiten, dritten, vierten und sechsten Fiakerkutscher, deren Wagen sich auf der Station befanden. Die längste Unterredung fand mit dem sechsten Manne statt und endete damit, daß der Fiaker plötzlich der Stelle zufuhr, wo Allan wartete.

»Steigen Sie ein, Sir«, sagte Pedgift, die Wagenthür öffnend. »Ich habe den Mann gefunden. Er erinnert sich der Dame, und obgleich er den Namen der Straße vergessen, glaubter doch das Haus, nach dem er sie gefahren, wiederfinden zu können, sowie er in dessen Nachbarschaft kommt. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß wir bis hierher vom Glück begünstigt gewesen sind, Mr. Armadale Ich bat den Wassermann, mir die regelmäßigen Droschkenkutscher der Station anzugeben, und es zeigte sich, daß eines derselben Mrs. Mandeville gefahren hatte. Der Wassermann steht für ihn; er ist eine Ausnahme von der Regel, ein respectabler Fiakerkutscher, fährt mit seinem eigenen Pferd und ist nie in Ungelegenheiten gewesen. Das ist der Schlag von Leuten, Sir, der unsern Glauben an die menschliche Natur lebendig erhält. Ich habe mir unsern Freund angesehen und bin mit dem Wassermanne einverstanden —— ich denke, wir dürfen ihm trauen.«

Die Nachforschungen erforderten anfangs einige Geduld. Erst nachdem die Strecke zwischen Bayswater und Pimlico zurückgelegt war, begann der Kutscher langsamer zu fahren und sich umzublicken. Nachdem er ein- oder zweimal wieder umgekehrt, bog er in eine stille Nebenstraße ein, an deren Ende sich eine blinde Mauer mit einer Thür befand, und hielt dann vor dem letzten Hause auf der linken Seite still, das der Mauer zunächst stand.

»Hier ist’s, meine Herren«, sagte der Mann, die Wagenthür öffnend.

Allan und sein Rathgeber stiegen aus und betrachteten beide mit demselben Gefühle des Mißtrauens das Haus. Häuser haben ihre Physiognomie, namentlich Häuser in großen Städten, und das Gesicht dieses Hauses hatte in seinem Ausdruck etwas wesentlich Verstohlenes. Die Fenster der Fronte waren sämtlich geschlossen und die Jalousien heruntergelassen. Von vorn gesehen, erschien es nicht größer als alle andern Häuser der Straße, aber es zog sich arglistig nach der Hinterseite hinaus und gewann durch seine Tiefe an räumlicher Bequemlichkeit. Es that so, als sei es im Erdgeschoß ein Laden, allein es zeigte durchaus gar nichts in dem Zwischenraume vom Fenster bis zu einem rothen Vorhange, der das ganze Innere den Blicken entzog. Auf der einen Seite befand sich die Ladenthür, deren Glasfenster aus der Hinterseite ebenfalls mit rothen Vorhängen versehen war und auf deren Holzwerk ein Messingschild mit der Inschrift: Mrs. Oldershaw angebracht war. Auf der andern Seite war die Thür des Privateingangs mit einer Klingel, unter der geschrieben stand: Geschäftlich und noch ein Messingschild welches anzeigte, daß diese Seite des Hauses von einem Arzte bewohnt werde, denn der Name auf demselben lautete: Doktor Downward. Haben jemals Ziegel und Mörtel gesprochen, so sagten Ziegel und Mörtel hier deutlich: »Wir haben drinnen unsere Geheimnisse und wollen sie für uns behalten.«

»Dies kann nicht das Haus sein«, sagte Allan. »Hier muß ein Irrthum obwalten.«

»Sie wissen es am besten, Sir«, versetzte Pedgift mit seiner sardonischen Gemessenheit. »Sie kennen Mrs. Mandeville’s Gewohnheiten.«

»Ich!« rief Allan »Sie werden es vielleicht mit Erstaunen hören, aber Mrs. Mandeville ist mir durchaus fremd.«

»Das überrascht mich nicht im geringsten, Sir; die Wirthin in Kingsdown-Crescent theilte mir mit, daß Mrs. Mandeville eine alte Frau sei. Ich denke, wir erkundigen uns«, setzte der unerschütterliche Pedgift hinzu, während er die rothen Vorhänge mit dem starken Argwohn betrachtete, Mrs. Mandeville’s Enkelin möge hinter denselben versteckt sein.

Zuerst ward die Ladenthür versucht. Sie war verschlossen. Man klingelte. Ein hageres und gelbliches junges Frauenzimmer, mit einem zerlesenen französischen Romane in der Hand, öffnete.

»Guten Morgen, Miß«, sagte der junge Pedgift. »Ist Mrs. Mandeville zu Hause?«

Das gelbe junge Frauenzimmer stierte ihn verwundert an. »Hier wohnt keine Person dieses Namens«, antwortete sie mit fremdem Accent.

»Man kennt sie vielleicht am Privateingange«, meinte Pedgift Junior.

»Kann sein«, sagte die gelbe Person und schlug ihm die Thür vor der Nase zu.

»Ein etwas reizbares junges Wesen das, Sir«, sagte Pedgift. »Ich wünsche Mrs. Mandeville Glück, daß sie nicht mit ihr bekannt ist.« Mit diesen Worten ging er Allan voran nach Doctor Downwards Seite des Hauses und klingelte.«

Diesmal ward die Thür von einem Manne in einer schäbigen Livree geöffnet. Auch er stierte, als Mrs. Mandeville’s Name genannt wurde, und auch er wußte von keiner solchen Person im Hause.

»Seht merkwürdig«, sagte Pedgift zu Allan.

»Was ist merkwürdig?« fragte ein leise austretender, leise sprechender Herr in Schwarz, der plötzlich aus der Schwelle der Stubenthür erschien.

Pedgift junior erklärte höflich, um was es sich handle, und bat um die Erlaubniß, fragen zu dürfen, ob er das Vergnügen habe, mit Doctor Downward zu sprechen.

Der Doctor verbeugte sich. Er war —— wenn man den Ausdruck verzeihen will —— einer von jenen sorgsam construirten Aerzten, in welche das Publikum —— namentlich das weibliche —— ein unbedingtes Zutrauen zu setzen pflegt. Er hatte den erforderlichen kahlen Kopf, die erforderliche doppelte Lorgnette, den erforderlichen schwarzen Anzug und das erforderliche freundliche Benehmen. Seine Stimme war einnehmend, sein Wesen ruhig und sein Lächeln vertraulich. Welchem besonderen Zweige seines Berufs Doctor Downward sich widmete, war auf dem Messingschilde nicht angegeben; war er aber kein Damenarzt, so hatte er seinen Beruf ganz verfehlt.

»Sind Sie ganz sicher, daß Sie sich nicht im Namen irren?« fragte der Doctor mit lauernder Besorgniß in seinem Wesen. »Ich habe sehr ernstliche Unannehmlichkeiten aus Irrthümern in Namen entstehen sehen. Also wirklich kein Versehen? In dem Falle, meine Herren, kann ich nur wiederholen, was mein Diener Ihnen bereits gesagt. Bitte, keine Entschuldigung. Guten Morgen.« Der Doctor verschwand ebenso geräuschlos wieder, wie er erschienen war; der Mann in der schäbigen Livree öffnete schweigend die Thür, und Allan und sein Gefährte sahen sich wieder auf der Straße.

»Mr. Armadale«, sagte Pedgift, »ich weiß nicht, was Sie fühlen. Ich fühle mich consternirt.«

»Das ist sehr fatal«, sagte Allan. »Eben wollte ich Sie fragen, was wir nun anfangen sollen.«

»Mir gefällt weder das Aussehen des Hauses, noch das der Ladenmamsell, noch das des Doctors«, fuhr der Andere fort. »Und dennoch kann ich nicht sagen, daß ich glaube, sie hintergehen uns; ich kann nicht sagen, daß ich glaube, sie kennen dennoch Mrs. Mandevilles Namen.«

Pedgift’s Eindrücke täuschten ihn selten, und auch diesmal hatten sie ihn nicht irre geleitet. Die Vorsicht, welche Mrs. Oldershaw zu ihrem spurlosen Verschwinden aus Bayswater bestimmt, war der Art, die sich meistens selbst beträgt. Dieselbe hatte sie bewogen, Niemand in Pimlico den Namen anzuvertrauen, unter dem sie Miß Gwilt empfohlen, ohne sie im geringsten auf die Eventualität vorzubereiten, welche nun wirklich eingetreten war. Mit einem Worte, Mrs. Oldershaw hatte für Alles ihre Maßregeln getroffen, nur, nicht für die rein undenkbare Möglichkeit einer späteren Erkundigung über Miß Gwilt’s Charakter.

»Irgend etwas muß geschehen«, sagte Allan; »es scheint mir nutzlos, hier noch länger zu warten.«

Noch Niemand hatte Pedgift’s Auskunftsmittel erschöpft gesehen, auch Allan sah ihn jetzt noch nicht am Ende derselben. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Sir«, sagte er. »Wir müssen etwas thun. Wir wollen den Kutscher ins Kreuzverhör nehmen.«

Der Kutscher erwies sich unerschütterlich. Da man ihn beschuldigte, sich im Hause geirrt zu haben, deutete er auf das leere Ladenfenster. »Ich weiß nicht, was Sie vielleicht gesehen haben, meine Herren«, bemerkte er, »aber das ist das einzige Ladenfenster, das ich je gesehen habe, worin nichts zur Schau gestellt war. Dieser Umstand prägte mir das Haus fest ins Gedächtniß, und ich erkenne es daher wieder, so wie ich es sehe.« Eines Irrthums betreffs der Person oder des Tags oder des Hauses beschuldigt, aus dem er erstere abgeholt, zeigte der Mann sich abermals unangreifbar. Das Dienstmädchen, das ihn geholt, war eine auf der Fiakerstation wohlbekannte Person. Der Tag war ihm als der unglücklichste Arbeitstag im ganzen Jahre erinnerlich und die Dame durch den Umstand, daß sie zu rechter Zeit seinen Fahrlohn bereit gehabt, was unter Hunderten kaum eine ältliche Dame gewöhnlich habe, und nicht mit ihm über denselben gestritten, was ebenfalls unter Hunderten kaum eine ältliche Dame unterlasse. »Nehmen Sie meine Nummer, meine Herren«, schloß der Kutscher, »und bezahlen Sie mir meine Zeit, dann will ich, was ich angegeben, beschwören, wo Sie wollen.«

Pedgift notierte sich die Nummer des Mannes in seinem Taschenbuche. Nachdem er zu derselben noch den Namen der Straße und die Namen auf den beiden Messingplatten hinzugefügt, öffnete er ruhig den Wagenschlag. »So weit befinden wir uns völlig im Dunkeln«, sagte er. »Wollen wir nach dem Hotel zurückkehren?«

Er sprach und sah ernster aus als gewöhnlich. Der bloße Umstand, daß Mrs. Mandeville ihre Wohnung verändert, ohne eine Adresse zu hinterlassen, nach der man ihr etwaige Briefe nachsenden könne —— ein Umstand, den Mrs. Milroy’s eifersüchtige Bosheit als an sich unzweifelhaft verdächtig ausgelegt —— hatte auf das unparteilichere Urtheil von Allan’s Rechtsfreund keinen großen Eindruck gemacht. Gar manche Leute verlassen ihre Wohnungen ganz ebenso und zwar mit völlig triftigen Gründen dafür. Aber das Aussehen des Hauses, nach dem der Kutscher Mrs. Mandeville gefahren zu haben beharrlich behauptete, ließ den Charakter und das Benehmen dieser geheimnißvollen Dame für Pedgift in einem neuen Lichte erscheinen. Sein persönliches Interesse an den Nachforschungen wuchs plötzlich, und er begann hinsichtlich der wirklichen Natur von Allan’s Angelegenheit eine Neugierde zu fühlen, von der er bisher unberührt geblieben.

»Es ist mir gar nicht klar, Mr. Armadale«, sagte er, während sie nach dem Hotel zurückführen, »was unser nächster Schritt sein muß. Denken Sie, daß Sie mir noch einige weitere Einzelheiten anvertrauen könnten?«

Allan zögerte, und Pedgift junior sah, daß er etwas zu weit gegangen sei. »Ich darf es nicht erzwingen«, dachte er; »ich muß ihm Zeit und ihn von selbst damit herauskommen lassen. —— Was meinen Sie dazu, Sir, wenn ich in Ermangelung anderer Auskunft einige Nachforschung über jenen merkwürdigen Laden und über die Namen auf den Thürschildern anstellte? Mein Geschäft in London ist juristischer Art und führt mich, wenn ich Sie verlassen werde, in das rechte Viertel für derlei Nachforschungen, wenn diese überhaupt thunlich sind.«

»Es kann wohl kein Arg darin liegen, wenn wir weiter nachforschen«, erwiderte Allan.

Auch er sprach ernster als gewöhnlich, auch er begann eine Alles üherwältigende Neugier, mehr zu erfahren, zu empfinden. Eine unbestimmte Verbindung, deren Spur er nicht zu folgen vermochte, zwischen der Schwierigkeit, sich über Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten zu unterrichten, und der Schwierigkeit, der Dame zu nahen, die sich für Miß Gwilt verbürgt hatte, schien ihm obzuwalten. »Ich will aussteigen und zu Fuße weiter gehen und Sie Ihren Geschäften überlassen«, sagte er. »Ich muß mir die Sache ein wenig überlegen, und ein Spaziergang und eine Cigarre werden mir dabei behilflich sein.«

»Mein Geschäft wird zwischen ein und zwei Uhr abgemacht sein, Sir«, sagte Pedgift, als das Cab gehalten hatte und Allan ausgestiegen war. »Wollen wir um zwei Uhr wieder im Hotel zusammentreffen?«

Allan nickte und der Wagen fuhr von dannen.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Zwei Uhr kam heran und Pedgift junior stellte sich pünktlich ein. Seine Lebhaftigkeit vom Morgen hatte sich gänzlich verloren; er begrüßte Allan mit seiner gewohnten Höflichkeit, doch ohne sein gewohntes Lächeln, und als der Oberkellner erschien, sich seine Instructionen zu erbitten, ward er augenblicklich mit Worten entlassen, wie sie in diesem Hotel noch nie von Pedgift’s Lippen gehört worden: »Nichts für jetzt.«

»Sie scheinen nicht bei Laune zu sein«, sagte Allan »Können wir keine Auskunft erlangen? Kann Ihnen Niemand etwas über das Haus in Pimlico mittheilen?«

»Drei verschiedene Personen haben mir darüber Mittheilungen gemacht, Mr. Armadale, und alle drei haben sie dasselbe gesagt«

Allan schob begierig seinen Sessel näher an den seines Gefährten heran. Die Reflexionen, die er seit seinem Scheiben von Pedgift gemacht, hatten nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Jene seltsame Verbindung, so leicht fühlbar und so schwer zu verfolgen, zwischen der Schwierigkeit, sich von Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten zu unterrichten, und der Schwierigkeit, die Dame aufzufinden, die sich für Miß Gwilt verbürgt, welche bereits seine Gedanken beschäftigt, hatte sich nach und nach darin immer fester gesetzt. Er fühlte sich von Zweifeln gequält, die er weder zu begreifen noch auszudrücken im Stande war. Eine Neugier erfüllte ihn, welche zu befriedigen er sich halb sehnte, halb fürchtete.

»Ich muß Sie leider mit ein paar Fragen behelligen, Sir, ehe ich zur Sache kommen kann«, sagte Pedgift junior. »Ich möchte mich nicht in Ihr Vertrauen eindrängen, ich möchte nur in einer scheinbar sehr unangenehmen Sache den Weg klar vor mir sehen. Haben Sie nichts dawider, mir zu sagen, ob außer Ihnen noch Andere bei diesen Nachfragen betheiligt sind?«

»In der That sind noch Andere dabei betheiligt«, erwiderte Allan. »Ich sehe keinen Grund, Ihnen dies zu verhehlen.«

»Ist außer dieser Mrs. Mandeville noch eine andere Person Gegenstand Ihrer Nachforschungen?« fuhr Mr. Pedgift fort, sich noch etwas tiefer in das Geheimniß einschleichend.

»Ja; dieselben betreffen allerdings noch eine andere Person«, antwortete Allan mit einigem Widerstreben.

»Ist diese Person eine junge Dame, Mr. Armadale?«

Allan erschrak. »Wie kommen Sie dazu, das zu errathen?« begann er; dann schwieg er plötzlich, als es bereits zu spät war. »Legen Sie mir keine weiteren Fragen vor«, sagte er dann. »Ich verstehe mich schlecht darauf, einem schlauen Menschen, wie Sie, auszumachen, und ich bin gegen Andere in Ehren verpflichtet, die Einzelheiten der Sache für mich zu behalten«

Pedgift junior hatte offenbar für seinen Zweck´genug gehört. Er zog seinerseits seinen Sessel näher zu Allan heran. Er war sichtlich aufgeregt und verlegen, aber die Macht der Gewohnheit ließ sein geschäftsmäßiges Wesen bald wieder die Oberhand gewinnen. »Ich bin mit meinen Fragen zu Ende, Sir, und habe jetzt meinerseits etwas zu sagen. In Abwesenheit meines Vaters sind Sie vielleicht freundlichst geneigt, mich als Ihren rechtlichen Rathgeber zu betrachten. Wenn Sie meinem Rathe folgen wollen, so thun Sie keinen Schritt weiter in diesen Nachforschungen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« unterbrach ihn Allan.

»Es ist wohl möglich, Mr. Armadale, daß der Fiakerkutscher trotz seiner entschiedenen Behauptung sich geirrt hat. Ich empfehle Ihnen sehr, diesen Irrthum als ausgemacht anzunehmen und damit die Sache fallen zu lassen.«

Diese Warnung war gut gemeint, kam aber zu spät. Allan that dasselbe, was an seiner Stelle neunundneunzig von hundert Leuten gethan haben würden —— er wies den Rath von der Hand.

»Nun, Sir«, sagte Pedgift junior; »wenn Sie darauf bestehen, so müssen Sie es hören.«

Er beugte sich zu Allan hin und flüsterte ihm das, was er von dem Hause in Pimlico und den darin wohnenden Leuten gehört, ins Ohr.

»Machen Sie mir keinen Vorwurf, Mr. Armadale«, setzte er, nachdem die Worte gesprochen worden,«hinzu. »Ich wollte Sie schonen.«

Allan ertrug den Schlag, wie alle großen Schläge ertragen werden —— stillschweigend. Sein erster Impuls hätte ihn seine Zuflucht zu der Ansicht über die Aussage des Kutschers nehmen lassen, die ihm so eben anempfohlen worden war, wenn ihm nicht ein erschwerender Umstand unerbittlich in den Weg getreten wäre. Miß Gwilt’s unzweifelhaftes Widerstreben, sich über ihr vergangenes Leben auszulassen, stieg unabweislich in seiner Erinnerung auf, als indirecte, aber fürchterliche Bestätigung des Zeugnisses, welches die Person, die sich für Miß Gwilt verbürgt, mit dem Hause in Pimlico in Verbindung brachte. Nur ein Schluß drängte sich seinem Geiste auf, der Schluß, zu dem Jeder hätte kommen müssen, nachdem er gehört, was Allan so eben vernommen, und wenn er nicht mehr wußte, als Allan bekannt war. Ein elendes gefallenes Weib, das in seiner äußersten Noth nach der Hilfe von schändlichen Geschöpfen gegriffen hat, die in verbrecherischen Heimlichkeiten bewandert sind, das sich vermittelst einer gefälschten Empfehlung wieder in anständige Gesellschaft und eine achtbare Beschäftigung eingeschmuggelt hat und dessen Stellung ihm jetzt die fürchterliche Nothwendigkeit beständiger Verheimlichung und beständigen Betrugs hinsichtlich seiner Vergangenheit auferlegte —— so stellte sich die schöne Erzieherin zu Thorpe-Ambrose Allan’s Augen dar.

Falsch oder wahr? Hatte sie sich durch gefälschte Empfehlung wieder in anständige Gesellschaft und achtbare Beschäftigung eingeschmuggelt? Ja. Legte ihre. Stellung ihr die fürchterliche Nothwendigkeit beständiger Verheimlichung und beständigen Betrugs hinsichtlich ihres frühem Lebens auf? Ja. War sie das beklagenswerthe Opfer eines unbekannten Mannes, für das Allan sie hielt? Nein, ein solches beklagenswerthes Opfer war sie nicht. Der Schluß, den Allan zog, der Schluß, der sich ihm nach den ihm vorliegenden Thatsachen aufdrängte, war nichtsdestoweniger von allen Schlüssen derjenige, welcher der Wahrheit am fernsten lag. Die wahre Geschichte von Miß Gwilt’s Beziehungen zu dem Hause in Pimlico und den Leuten, die dasselbe bewohnten, einem Hause, von dem ganz richtig angegeben worden, daß es schändliche Geheimnisse barg, und Leuten, die mit Recht als solche bezeichnet waren, welche sich in beständiger Gefahr befinden, den Arm des Gesetzes zu fühlen, war eine Geschichte, die erst durch die bevorstehenden Ereignisse an den Tag kommen sollte, eine Geschichte, bei weitem weniger empörend und dennoch bei weitem entsetzlicher, als Allan oder Allan? Gefährte sich träumen ließ.

»Ich wollte Sie gern schonen, Mr. Armadale«, wiederholte Pedgift. »Vor allem lag mir daran, Ihnen, wenn es irgendwie zu vermeiden sei, nicht weh zu thun.«

Allan sah auf und machte eine Anstrengung, sich zu fassen. »Sie haben mir entsetzlich weh gethan«, sagte er. »Sie haben mich förmlich zu Boden geschmettert. Aber das ist nicht Ihre Schuld. Ich sollte vielmehr fühlen, daß Sie mir einen Dienst geleistet haben, und ich werde es fühlen, sobald ich mich wieder etwas erholt habe. Doch eins«, fügte er nach einem kurzen schmerzlichen Nachsinnen hinzu, »muß sofort zwischen uns abgemacht werden. Der Rath, den Sie mir so eben ertheilten, war sehr freundlich gemeint, und es war der beste, den Sie mir geben konnten. Ich will denselben dankbar annehmen. Wenn Sie mir die Liebe erzeigen wollen, reden wir nie wieder davon, und ich bitte Sie, auch nie irgend einer andern Person davon zu sagen. Wollen Sie mir das versprechen?«

Pedgift gab das Versprechen mit ersichtlicher Aufrichtigkeit, doch ohne seine gewohnte Sicherheit. Die Bekümmerniß in Allan’s Gesicht schien ihm zu Herzen zu gehen. Nach einem Augenblicke ihm sonst sehr wenig eigenthümlichen Zögerns verließ er rücksichtsvoll das Zimmer.

Als sich Allan allein sah, ließ er sich Schreibmaterialien bringen und nahm den von der Majorin erhaltenen verhängnißvollen Empfehlungsbrief an Mrs. Mandeville aus seinem Taschenbuche.

Ein Mann, der die Folgen zu bedenken und mit Ueberlegung zu handeln gewohnt gewesen, hätte sich in Allan’s gegenwärtiger Lage gewiß einigermaßen im Unklaren befunden, welches Verfahren jetzt das für ihn mindeste, schwierige und gefährliche sein möchte. Doch Allan, der sich bei jeder Gelegenheit vom Impulse des Moments leiten ließ, handelte auch in dieser kritischen Lage nach demselben. Obgleich seine Zuneigung zu Miß Gwilt nichts mit dem tiefen Gefühle gemein hatte, für das er sie in aller Ehrlichkeit gehalten, so hatte jene doch in ungewöhnlichem Grade seine Bewunderung gewonnen, und es war kein gewöhnlicher Kummer, mit dem er ihrer jetzt gedachte. Sein einziger alles Andere überwiegender Wunsch in diesem kritischen Augenblicke war der männliche, barmherzige Wunsch, die unglückliche, die seine Achtung verloren, ohne darum ihre Ansprüche auf schonende Nachsicht und schützendes Mitleid einzubüßen, vor Bloßstellung und Untergang zu bewahren.

»Ich kann nicht nach Thorpe-Ambrose zurückkehren; ich getraue mich nicht, sie wiederzusehen oder zu sprechen. Aber ich kann ihr trauriges Geheimniß, bewahren, und ich will’s!« Mit diesem Gedanken im Herzen machte Allan sich an die erste Pflicht, die ihm jetzt oblag, die Pflicht, an Mrs. Milroy zu schreiben. Hätte er eine höhere geistige Begabung und einen klarem Blick besessen, so würde dieser Brief ihm nicht leicht geworden sein. So aber berechnete er die Folgen nicht und sah deshalb keine Schwierigkeiten. Sein Instinct mahnte ihn, sofort die Stellung aufzugeben, die er augenblicklich der Majorin gegenüber einnahm, und was dieser Instinkt ihm unter den obwaltenden Umständen eingab, schrieb er so schnell nieder, als seine Feder es nur auf dass Papier zu tragen vermochte.

»Dunn’s Hotel, Convent-Garden.
Dienstag.

Verehrte Frau! Entschuldigen Sie mich, wenn ich nicht, wie ich versprach, schon heute nach Thorpes-Ambrose zurückkehre. Unvorhergesehene Umstände nöthigen mich, noch in London zu bleiben. Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß es mir nicht gelungen, Mrs. Mandeville zu sehen, aus welchem Grunde ich Ihren Auftrag nicht auszuführen im Stande bin; deshalb stelle ich Ihnen mit vielen Entschuldigungen den mir gegebenen Empfehlungsbrief wieder zu. Ich hoffe, Sie werden mir zum Schlusse zu sagen gestatten, daß ich Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden bin und diese nicht weiter in Anspruch zu nehmen wage.

Aufrichtig der Ihre

Allan Armadale.«

Mit diesen arglosen Worten gab Allan der Frau, in welche er noch immer kein Mißtrauen setzte, die Waffe in die Hand, die sie gesucht.

Sobald der Brief mit seiner Einlage einmal versiegelt und adressiert war, hatte Allan volle Muße, an sich selbst und seine Zukunft zu denken. Während er müßig dasaß und mit seiner Feder auf dem Löschpapier zeichnete, füllten sich seine Augen zum ersten Male mit Thränen, Thränen, an denen das Weib, das ihn hintergangen, keinen Antheil hatte. Sein Herz war zu seiner verstorbenen Mutter zurückgekehrt. »Wäre sie am Leben gewesen«, dachte er, »ihr hätte ich vertrauen können und sie würde mich getröstet haben.« Es war nutzlos, bei dem Gedanken zu verweilen; er wischte sich also die Thränen aus den Augen und wandte seine Gedanken mit der krankhaften Resignation, die wir alle kennen, lebenden und gegenwärtigen Dingen zu.

Mit ein paar Zeilen setzte er Mr. Bashwood in Kenntniß, daß seine Abwesenheit von Thorpe-Ambrose wahrscheinlich etwas länger dauern werde und daß er alle etwaigen Instructionen, die unter den gegenwärtigen Umständen nothwendig sein dürften, durch den älteren Pedgift erhalten solle. Als dies geschehen und die Briefe zur Post gegeben waren, kehrten seine Gedanken nochmals zu ihm selbst zurück. Die Zukunft lag abermals leer vor ihm und harrte der Ausfüllung, und sein Herz wandte sich abermals widerstrebend von ihr ab und suchte seine Zuflucht in der Vergangenheit.

Diesmal tauchten außer dem Bilde seiner Mutter noch andere in seinem Geiste auf. Lebendig und heftig erwachte das eine prädominirende Interesse seiner ersten Jugendzeit in ihm: er dachte ans Meer; er dachte an seine Yacht, welche müßig in dem Fischerhafen seiner westlichen Heimat lag. Die alte Sehnsucht erfaßte ihn, wieder das Plätschern der Wellen zu hören, das Schwellen der Segel zu sehen und das Schiff, das er mit eigenen Händen erbaut, wieder unter sich schaukeln zu fühlen. Mit seinem gewohnten Ungestüm erhob er sich, um sich den Eisenbahnfahrplan bringen zu lassen und mit dem nächsten Zuge nach Sommersetshire abzureisen, als die Furcht vor den Fragen, die Mr. Brock ihm verlegen, und die Ahnung von der Veränderung, die dieser an ihm wahrnehmen dürfte, ihn wieder auf seinen Sessel zwang. »Ich will schreiben«, dachte er, »und die Yacht neu auftakeln und herrichten lassen, und dann warten, bis Midwinter mit mir kommen kann« Er seufzte, indem er seines abwesenden Freundes gedachte. Noch nie hatte er die Leere, die Midwinters Abwesenheit in sein Leben gebracht, so schmerzlich empfunden wie jetzt in der trostlosesten aller menschlichen Einsamkeiten, der Einsamkeit eines Fremden in London, der in einem Hotel allein sitzt.

Nach einer Weile sah Pedgift herein, sich wegen der Störung entschuldigend. Allan fühlte sich zu verlassen und zu freundlos, um die Rückkunft seines Gefährten nicht dankbar willkommen zu heißen. »Ich werde nicht sogleich nach Thorpe-Ambrose heimreisen«, sagte er. »Ich denke eine kleine Weile in London zu bleiben. Hoffentlich werden Sie bei mir bleiben können?« Pedgift war, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, durch die vereinsamte Lage, in welcher der Besitzer der großen Güter von Thorpe-Ambrose in diesem Augenblicke vor ihm erschien, gerührt. Während seines ganzen Verkehrs mit Allan hatte er seine Geschäftsinteressen noch nie so sehr aus den Augen verloren wie jetzt.

»Sie thun vollkommen recht, Sir, hier zu bleiben. London ist der rechte Ort, Sie zu zerstreuen«, sagte Pedgift heiter. »Alle Geschäftssachen sind mehr oder weniger elastisch, Mr. Armadale; ich werde die meinigen etwas ausdehnen und Ihnen mit dem größten Vergnügen Gesellschaft leisten. Wir befinden uns beide auf der richtigen Seite der Dreißig, Sir —— lassen Sie uns davon profitieren. Was meinen Sie dazu, wenn wir zeitig zu Mittag speisten, dann ins Theater gingen und uns morgen nach dem Frühstück die große Industrieausstellung im Hyde-Park ansehen? Wenn wir nur wie Kampfhähne leben und uns unausgesetzt den öffentlichen Ergötzlichkeiten widmen, werden wir in größter Geschwindigkeit das mens sanna in corpore sano der Alten erreichen. Erschrecken Sie nicht über das Citat, Sir. Nach den Geschäftsstunden schäkere ich gern ein wenig mit meinem Latein und erhöhe meine Sympathien dafür durch gelegentliches Studium der heidnischen Schriftsteller unter dem Beistande eines Lehrers. —— William, wir speisen um fünf Uhr, und da die Sache heute besonders wichtig, so will ich selber mit dem Koch reden.«

Der Abend verging, der folgende Tag verging, der Donnerstag kam und brachte Allan einen Brief. Die Aufschrift zeigte Mrs. Milroy’s Handschrift, und schon die Form der Anrede ließ Allan ahnen, daß etwas nicht war, wie es sein sollte.

»Parkhäuschen, Thorpe-Ambrose.
Mittwoch.

»Sir, so eben habe ich Ihr geheimnißvolles Schreiben erhalten. Dasselbe hat mich nicht nur überrascht, es hat mich wirklich beunruhigt Nachdem ich Ihnen in der freundschaftlichsten Weise entgegengekommen, sehe ich mich plötzlich aus das unbgreiflichste und, wie ich hinzufügen muß, aus das unhöflichste von Ihrem Vertrauen ausgeschlossen. Es ist mir völlig unmöglich, die Sache da ruhen zu lassen, wo Sie dieselbe haben fallen lassen. Der einzige Schluß, den ich aus Ihrem Briefe zu ziehen vermag, ist der, daß irgendwie mein Vertrauen mißbraucht worden ist und daß Sie weit mehr wissen, als Sie mir mitzutheilen geneigt sind. Im Interesse meiner Tochter ersuche ich Sie, mich von den Umständen in Kenntniß zu setzen, die Sie verhindert, Mrs. Mandeville zu sehen, und Sie bewogen haben, das unbedingte Versprechen Ihres Beistandes zurückzunehmen, welches Sie mir in Ihrem Briefe vom letzten Montag gaben.

Bei dem Zustande meiner Gesundheit ist es mir nicht möglich, mich in eine lange Correspondenz einzulassen. Ich muß jedem etwaigen Einwande von Ihrer Seite vorbeugen und Alles, was ich überhaupt zu sagen habe, in meinem gegenwärtigen Briefe sagen. Für den Fall, den ich nur höchst ungern in Betracht ziehe, daß Sie sich weigern sollten, die Bitte zu erfüllen, die ich so eben an Sie gerichtet habe, muß ich Sie benachrichtigen, daß ich es für meine Pflicht gegen meine Tochter halte, mir eine vollständige Aufklärung über diese unangenehme Geschichte zu verschaffen. Höre ich nicht mit umgehender Post und zu meiner völligen Befriedigung von Ihnen, so sehe ich mich genöthigt, meinem Gatten mitzutheilen, daß sich Dinge ereignet haben; die uns rechtfertigen, wenn wir die Achtbarkeit der Person, die uns Miß Gwilt empfohlen hat, einer sofortigen Prüfung unterwerfen. Und wenn er mich nach meiner Quelle fragt, werde ich ihn an Sie beweisen.

Ihre gehorsame Dienerin

Anne Milroy.«

Also ließ die Majorin die Maske fallen und ihr Opfer mit Muße die Schlinge betrachten, in der sie es gefangen hatte. Allan hatte so unbedingt und aufrichtig an Mrs. Milroy’s Ehrlichkeit geglaubt, daß ihr Brief ihn einfach verblüffte. Er hatte das vage Bewußtsein, daß man ihn in irgend einer Weise hintergangen habe und daß Mrs. Milroy’s nachbarliches Interesse an ihm durchaus nicht das gewesen sei, als was es auf seiner Oberfläche erschienen war; weiter sah er nichts. Die Drohung, sich an den Major zu wenden, von der Mrs. Milroy in frauenhafter Unkenntniß der Männernatur den größten Effect erwartet hatte, war die einzige Stelle des Briefes, die Allan mit einiger Genugthuung laß anstatt Beunruhigung gewährte sie ihm Erleichterung. »Wenn es durchaus einen Streit geben muß«, dachte er, »so wird es jedenfalls ein Trost sein, ihn mit einem Manne auszufechten.«

Fest in seinem Entschlusse, die unglückliche zu schützen, deren Geheimnis er entdeckt zu haben wähnte, setzte Allan sich hin, um der Majorin seine Entschuldigungen zu machen. Nachdem er drei höfliche Erklärungen in dichter Marschordnung hinter einander aufgestellt hatte, zog er sich vom Schlachtfelde zurück.

»Er bedaure außerordentlich, Mrs. Milroy beleidigt zu haben. Jegliche Absicht, Mrs. Milroy beleidigen zu wollen, liege ihm ganz fern. Er habe die Ehre, Mrs. Milroy’s ergebenster Diener zu sein.« Allan’s übliche Kürze in der Briefstellerei hatte ihm noch nie bessere Dienste geleistet als bei dieser Gelegenheit. Hätte er im Gebrauch der Feder nur etwas größere Geschicklichkeit besessen, so würde er dem Feinde jedenfalls noch größere Macht gegen sich in die Hände gegeben haben, als derselbe bereits hatte.

Der Zwischentag verging, aber schon der folgende Morgen brachte die Verwirklichung von Mrs. Milroy’s Drohung in Gestalt eines Briefes von ihrem Gatten. Der Major schrieb weniger förmlich, als seine Gemahlin geschrieben hatte, doch waren seine Fragen unbarmherzig direct.

»Parkhäuschen. Thorpe-Ambrose.
Freitag, den 11. Juli 1851.

»Werther Herr! Als Sie mir vor einigen Tagen die Ehre Ihres Besuchs schenkten, richteten Sie hinsichtlich meiner Erzieherin, Miß Gwilt, eine Frage an mich, die mir damals etwas seltsam erschien und, wie Sie sich vielleicht erinnern, eine momentane Verlegenheit zwischen uns herbeiführte.

Heute Morgen bin ich an unser Gespräch über Miß Gwilt wieder in’ einer Weise erinnert worden, die mich in das größte Erstaunen versetzt hat. Um mich deutlich auszudrücken, Mrs. Milroy unterrichtet mich, daß Miß Gwilt verdächtig ist, uns durch eine gefälschte Empfehlung hintergangen zu haben. Als ich über eine so außerordentliche Mittheilung meine Verwunderung zu erkennen gab und um unverzügliche Beweise für dieselbe bat, vernahm ich zu meinem noch größeren Erstaunen, daß ich mich wegen aller Einzelheiten an Niemand anders als an Mr. Armadale zu wenden hätte. Vergebens habe ich Mrs. Milroy um weiteren Aufschluß ersucht; sie beharrt bei ihrem Schweigen und verweist mich an Sie.

Unter diesen außerordentlichen Umständen sehe ich mich, um allen Parteien gerecht zu werden, genöthigt, gewisse Fragen an Sie zu richten, die ich so klar wie möglich zu stellen suchen will und von denen ich nach meiner bisherigen Bekanntschaft mit Ihnen überzeugt bin, daß Sie dieselben Ihrerseits offen beantworten werden.

Ich bitte erstens um Erlaubniß, Sie fragen zu dürfen, ob Sie Mrs. Milroy’s Behauptung, daß Sie sich von gewissen Einzelheiten unterrichtet haben, die Miß Gwilt oder die Dame betreffen, welche Miß Gwilt empfahl, und über die ich in vollkommener Unwissenheit bin, als richtig anerkennen. Zweitens, wenn Sie die Wahrheit von Mrs. Milroy’s Angabe zugeben, ersuche ich Sie, mir mitzutheilen, wie Sie diese Einzelheiten erfahren haben. Zum Dritten und Letzten erlaube ich mir, Sie zu fragen, worin diese Einzelheiten bestehen.

Wenn es irgend einer Rechtfertigung für diese Fragen bedarf, was ich einzig und allein als eine Sache der Höflichkeit Ihnen gegenüber einräumen will, so muß ich Sie daran erinnern, daß das Kostbarste, was ich besitze, meine Tochter, Miß Gwilt’s Obhut anvertraut ist und daß Mrs. Milroy’s Angabe Sie allem Anscheine nach in die Lage setzt, mir sagen zu können, ob unser Vertrauen gerechtfertigt ist oder nicht.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich, da bis jetzt nichts geschehen ist, was den geringsten Argwohn in mir gegen Miß Gwilt oder die Dame begründet, die sie empfahl, warten werde, bis ich Ihre Antwort, der ich mit umgehender Post entgegensehe, erhalten, ehe ich gegen Miß Gwilt ein Wort von der Sache erwähne.

Getreu der Ihre

David Milroy.«

Dieser durchsichtig offene Brief machte sofort der Verwirrung, die bisher in Allan’s Geiste geherrscht, ein Ende; er erkannte die Schlinge, in der er gefangen worden, wie er sie bisher noch nicht erkannt hatte. Mrs. Milroy hatte ihn offenbar zwischen zwei Alternativen gestellt, die Alternative, sich in eine falsche Stellung zu bringen, wenn er sich weigerte, die Fragen ihres Gatten zu beantworten, und jene andere, feigerweise seine Verantwortlichkeit durch die eines Weibes zu decken, wenn er dem Major geradezu gestand, daß seine eigene Gattin ihn hintergangen habe. Wie immer handelte Allan auch in dieser heiklen Lage, ohne zu zögern. Sein Versprechen, die Correspondenz zwischen Mrs. Milroy und ihm geheim zu halten, band ihn noch immer, wie schmachvoll sie selbst dasselbe auch mißbraucht hatte. Und sein Entschluß, sich durch keine Rücksicht von der Welt dazu verleiten zu lassen, Miß Gwilt zu verrathen, stand so fest wie je. »Vielleicht habe ich wie ein Narr gehandelt«, dachte er, »aber mein Wort werde ich nicht brechen, und nicht die Ursache sein, daß das unglückliche Geschöpf wieder in die Welt hinausgestoßen wird.«

Er schrieb einen ebenso ungekünstelten und kurzen Brief an den Major, wie er schon an dessen Gattin geschrieben hatte. Er versicherte ihm, wie schwer es ihm ankomme, einem Freunde und Nachbar eine Enttäuschung zu bereiten. Doch bleibe ihm diesmal keine andere Wahl. Die Fragen, die der Major ihm vorlege, seien der Art, daß er sie nicht beantworten könne. Ersei nicht sehr gewandt in Erklärungen und hoffe, der Major werde ihn deshalb entschuldigen, wenn er sich solchergestalt ausdrücke und weiter nichts hinzufüge.

Die Post am Montag brachte die Erwiderung des Majorin welche die Correspondenz schloß.

»Parkhäuschen. Thorpe Ambrose.
Sonntag.

»Sir! Ihre Weigerung, auf meine Fragen zu antworten, die selbst nicht einmal von einem Schatten einer Entschuldigung für ein solches Benehmen begleitet ist, kann nur in einer Weise gedeutet werden. Sie ist nicht nur eine stillschweigende Anerkennung der Richtigkeit von Mrs. Milroy’s Angabe, sondern auch ein stillschweigender Vorwurf für den Charakter meiner Erzieherin. Aus Gerechtigkeit gegen eine Dame, die sich unter dem Schutze meines Daches befindet und die mir nicht die geringste Veranlassung zu einem Verdachte gegeben, werde ich jetzt Miß Gwilt unsern Briefwechsel zeigen und ihr die Unterhaltung, die ich über diesen Gegenstand mit Mrs. Milroy gehabt habe, in deren Gegenwart wiederholen.

Noch ein Wort hinsichtlich unserer zukünftigen gegenseitigen Beziehungen und ich bin zu Ende. Meine Ansichten über gewisse Dinge sind wahrscheinlich die Ansichten eines altmodischen Mannes. Zu meiner Zeit hatten wir ein Ehrengesetz, nach dem wir unsere Handlungen regulierten. Diesem Gesetz zufolge unterlag ein Mann, der heimliche Nachfragen über eine Dame anstellte, zu der er nicht in der Beziehung eines Vaters, Gatten oder Bruders stand, der Verpflichtung, sein Benehmen vor Andern zu rechtfertigen, und wenn er dieser Verpflichtung auswich, verzichtete er damit auf die Stellung eines Gentleman. Es ist sehr wohl möglich, daß diese alterthümliche Ansicht nicht mehr existiert, aber in meinen Jahren ist es zu spät, sich noch zu neumodischern Ansichten zu bekehren. Da wir in einem Lande und zu einer Zeit leben, wo das einzige Ehrengericht das Polizeigericht ist, so liegt mir ganz besonders daran, mich in diesem Punkte unseres Verkehrs mit der größten Mäßigung auszudrücken. Gestatten! Sie mir deshalb blos die Bemerkung, daß unsere Ansichten von dem Benehmen, das einem Gentleman geziemt, ernstlich von einander abweichen, und erlauben Sie mir deshalb noch die Bitte hinzuzufügen, daß Sie sich in Zukunft für mich und meine Familie als einen Fremden betrachten wollen.

Ihr gehorsamster Diener

David Milroy.«

Der Montagmorgen, an dem sein Client den Brief des Majors erhielt, war der schwärzeste, der noch in Pedgift’s Kalender vermerkt stand. Als Allan’s erster Zorn über den verächtlichen Ton verraucht war, in dem sein Freund und Nachbar ihn verurtheilt hatte, verharrte er dennoch in einem Zustande der Niedergeschlagenheit, aus dem keine Bemühungen seines Gefährten ihn für den Rest des Tages herauszureißen vermochten. Da er sich sehr natürlicherweise jetzt, wo seine Verbannung ausgesprochen, seinen frühem Verkehr mit den Bewohnern des Parkhäuschens vergegenwärtigte, so gedachte er Neelie’s schmerzlicher und reuiger, als er es bisher noch gethan. »Hätte sie, anstatt ihres Vaters, mir die Thür verschlossen«, war der bittere Gedanke, mit dem Allan jetzt in die Vergangenheit zurückblickte, »so hätte ich kein Wort dagegen sagen können; ich würde gefühlt haben, daß mir Recht geschehe.«

Der nächste Tag brachte abermals einen Brief, diesmal einen willkommenem und zwar von Mr. Brock.

Allan hatte vor einigen Tagen wegen der Neutakelung der Yacht nach Sommersetshire geschrieben. Beim Empfange des Briefes war der Pfarrer —— wie er sich in seiner Unschuld einbildete —— beschäftigt gewesen, seinen ehemaligen Zögling vor dem Weibe zu schützen, das er in London beobachtet hatte und das, wie erwähnte, ihm jetzt bis in seine Heimat gefolgt sei. Mrs. Oldershaw’s Stubenmädchen hatte, nach den ihr ertheilten Instructionen handelnd, Mr. Brock vollständig mystificirt. Alle fernere Besorgniß des Pfarrers hatte sie eingeschläfert, indem sie ihm —— als Miß Gwilt —— ein schriftliches Versprechen gegeben hatte, sich niemals, weder persönlich noch schriftlich, an Mr. Armadale zu wenden! Fest überzeugt, daß er endlich den Sieg errungen, beantwortete der arme Mr. Brock Allan’s Brief in der heitersten Stimmung, drückte einige begreifliche Verwunderung darüber aus, daß Allan Thorpe-Ambrose verlassen wolle, versprach jedoch mit größter Bereitwilligkeit die Neutakelung der Yacht anzuordnen und bot auf das herzlichste die Gastfreiheit seines Pfarrhauses an.

Dieser Brief heiterte Allan wunderbar auf. Er gab ihm ein neues Interesse, das mit seinem seitherigen Leben in Norfolk gar nichts gemein hatte. Schon begann Allan die Tage zu zählen, die bis zu der Rückkehr seines Freundes noch verstreichen mußten. Es war jetzt Dienstag. Kehrte Midwinter, wie er versprochen hatte, in vierzehn Tagen von seiner Fußreise zurück, so mußte er am Sonnabend in Thorpe-Ambrose anlangen. Wenn er dem Reisenden dorthin einen Brief entgegensandte, so konnte Midwinter noch an demselben Abend in London sein, und ging Alles gut, so waren sie schon, ehe noch eine Woche verlief, wieder zusammen in der Yacht auf dem Wasser.

Der folgende Tag verging, ohne, zu Allan’s Erleichterung, irgend welche Briefe zu bringen. Die Stimmung des jungen Pedgift verbesserte sich mit der seines Clienten. Um die Essenszeit spielte er auf das mens sana in corpore sano der Alten an und ertheilte dem Oberkellner königlichere Befehle denn je.

Der Donnerstag kam und mit ihm der unglückselige Briefträger mit ferneren Neuigkeiten aus Norfolk. Nunmehr erschien ein Correspondent auf dem Schauplatze, der sich bisher noch nicht darauf gezeigt hatte, und Allan’s Pläne wegen seines Besuche in Sommersetshire waren augenblicklich über den Haufen geworfen.

Zufällig war an diesem Morgen Pedgift junior zuerst am Frühstückstische. Als Allan hereintrat, verfiel er wieder in seine Geschäftsmanier und überreichte seinem Gönner mit einer in schauerlichem Schweigen ausgeführten Verbeugung einen Brief.

»Für mich?« fragte Allan, instinctmäßig vor einem neuen Correspondenten zurückweichend.

»Für Sie, Sir, von meinem Vater«, antwortete Pedgift, »einem Schreiben an mich eingelegt. Vielleicht gestatten Sie mir, um Sie auf etwas ein wenig Unangenehmes vorzubereiten, den Vorschlag zu machen, daß wir ein besonders gutes Diner bestellen und, wenn man nicht etwa heute Abend eine neue deutsche Oper gibt, den Abend melodiös in der Oper beschließen.«

»Ist in Thorpe-Ambrose etwas passiert?« fragte Allan.

»Ja, Mr. Armadale; es ist etwas in Thorpe-Ambrose passiert.«

Mit Ergebung setzte sich Allan nieder und las den Brief.

»Hochstraße, Thorpe-Ambrose.
Den 17. Juli 1851.

(In Ptivatsachen und im Vertrauen)

Geehrtester Herr! Ich kann es mit meiner Sorge für Ihre Interessen nicht vereinigen, wenn ich Sie noch länger in Unwissenheit lasse über gewisse in der Stadt und der Umgegend in Umlauf gesetzte Gerüchte, die, wie ich zu sagen bedaure, Sie betreffen.

Die erste Andeutung von einer Unannehmlichkeit drang am vorigen Montag zu mir. Es hieß in der ganzen Stadt, daß im Hause des Majors Milroy mit der neuen Gouvernante etwas passirt sei, worein Mr. Armadale verwickelt sei. Ich achtete nicht weiter darauf, weil ich es für eine jener Klätschereien hielt, an denen wir hier beständig Ueberfluß haben und die den Bewohnern dieses höchst respectabeln Ortes so unentbehrlich sind wie die Luft, welche sie athmen.

Am Dienstag aber erschien die Sache in einem neuen Lichte. Aus untrüglichster Quelle wurden die interessantesten Einzelheiten verbreitet. Am Mittwoch erfuhr die umwohnende Gentry die Sache und nahm allgemein die Ansicht an, welche die Stadt darüber ausgesprochen hatte. Heute hat die öffentliche Meinung ihren Höhepunkt erreicht, und ich sehe mich genöthigt, Sie von dem zu unterrichten, was sich zugetragen hat.

Um von vorn zu beginnen, so wird behauptet, daß vorige Woche zwischen Ihnen und Major Milroy eine Correspondenz stattgefunden, in der Sie einen starken Verdacht gegen Miß Gwilt’s Achtbarkeit ausgesprochen, ohne Ihre Beschuldigung deutlich zu erklären und, obschon dazu aufgefordert, Beweise für Ihre Beschuldigung beizubringen. Hierauf scheint es der Major für seine Pflicht erachtet zu haben, seiner Erzieherin unter Versicherung seiner eigenen festen Ueberzeugung von ihrer Achtbarkeit von dem Geschehenen Mittheilung zu machen, damit sie sich in Zukunft nicht beklagen könne, daß er ihr in einer ihren Ruf betreffenden Sache irgend etwas verheimlicht habe. Sehr großmüthig von dem Major; aber Sie werden sogleich sehen, daß Miß Gwilt noch großmüthiger war. Nachdem sie dem Major in der bescheidensten Weise ihren Dank ausgedrückt, bat sie ihn um die Erlaubniß, seinen Dienst verlassen zu dürfen.

Ueber die Gründe, welche die Gouvernante zu diesem Schritte hatte, erzählt man sich Verschiedenes.

Die autorisierte, von den umwohnenden Honoratioren angenommene Version ist die, daß Miß Gwilt erklärt habe, sie könne aus Gerechtigkeit gegen sich selbst und gegen die höchst achtbare Dame, die sie empfohlen, sich nicht herablassen, ihren Ruf wider die vagen Verunglimpfungen eines Mannes zu vertheidigen, der ihr verhältnißmäßig fremd sei. Zu gleicher Zeit könne sie unmöglich so verfahren, wenn sie nicht eine Freiheit ihres Thuns und Lassens besitze, wie diese mit ihrer abhängigen Stellung als Erzieherin völlig unvereinbar sei. Aus diesem Grunde fühle sie sich gezwungen, ihre Stelle aufzugeben. Indem sie dies thue, sei sie indeß ebenso entschlossen, nicht etwa durch ein Fortgehen aus der Gegend zu Mißdeutungen ihrer Beweggründe Anlaß zu geben. Wie unbequem ihr dies immer sein möge, sie wolle so lange in Thorpe-Ambrose bleiben, bis die Beschuldigungen ihres Charakters klarer ausgesprochen worden seien, und diese dann, sowie sie eine deutliche Gestalt angenommen, öffentlich zu widerlegen.

Dies die Haltung, welche die hochherzige Dame mit vortrefflichem Effect auf die öffentliche Meinung unserer Gegend angenommen hat. Offenbar liegt es aus irgend einem Grunde in ihrem Interesse, aus ihrer Stellung, nicht aber aus der Gegend hier zu scheiden. Am vorigen Montag hat sie ein billiges Logis in der Vorstadt bezogen und am selben Tage schrieb sie vermuthlich an die Dame, die sich für sie verbürgt hat, denn gestern lief von dieser ein Brief an den Major ein, der voll tugendhafter Entrüstung war und die umständlichsten Nachforschungen forderte. Dieser Brief ist öffentlich gezeigt worden und hat Miß Gwilt’s Stellung außerordentlich befestigt. Sie wird jetzt als eine wahre Heldin betrachtet. Der »Mercur von Thorpe-Ambrose" hat einen Leitartikel über sie, worin er sie mit der Jungfrau von Orleans vergleicht. Man hält es für wahrscheinlich, daß ihrer am nächsten Sonntag in der Predigt Erwähnung geschieht. Wir zählen fünf starkgeistige Damen in der Umgegend und alle fünf haben ihr ihren Besuch gemacht. Ein Ehrenzeugniß ward vorgeschlagen, auf Miß Gwilt’s eigenes Ersuchen indeß wieder aufgegeben, und jetzt werden allseitige Versuche gemacht, ihr Beschäftigung als Musiklehrerin zu verschaffen. Schließlich habe ich die Ehre eines Besuchs von der Dame selbst genossen, bei welcher Gelegenheit sie mir mit dem lieblichsten Wesen von der Welt zu wissen that, daß sie Mr. Armadale nicht tadle und ihn nur als unschuldiges Werkzeug in den Händen übelwollender Leute betrachte. Ich war ihr gegenüber wohl auf meiner Hut, denn ich traue Miß Gwilt nicht besonders und ich habe meinen Advocatenverdacht über den Beweggrund, der ihrem augenblicklichen Verhalten zu Grunde liegt.

Bis hierher habe ich ohne Anstand, ohne Verlegenheit geschrieben, mein lieber Herr. Die Sache hat aber unglücklicherweise sowohl eine ernste als eine lächerliche Seite, und ich muß, ehe ich meinen Brief schließe, so ungern ich es thue, von jener reden.

Es scheint mir ganz unmöglich zu sein, daß Sie in einer Weise von sich reden lassen, wie man jetzt von Ihnen spricht, ohne persönlich etwas in der Sache zu thun. Leider haben Sie sich hier zahlreiche Feinde gemacht, und unter diesen steht mein College Mr. Darch obenan. Ueberall hat er einen von Ihnen etwas unvorsichtig abgefaßten Brief in Betreff der Vermiethung des Parkhäuschens an Major Milroy, anstatt an ihn selbst, umhergezeigt, und dieser Brief hat dazu beigetragen, die öffentliche Meinung noch mehr gegen Sie zu stimmen. Es wird geradezu behauptet, daß Sie aus den unehrenhaftesten Beweggründen nach Miß Gwilt’s Familienangelegenheiten spioniert, daß Sie aus einem Ihnen nicht zum Lobe gereichenden Zwecke ihren Ruf zu beflecken und ihr den Schutz zu entziehen gesucht hätten, den sie unter Major Milroy’s Dache genossen, und daß Sie, aufgefordert, den Verdacht, den Sie auf den Ruf eines schutzlosen Weibes geworfen, durch Beweise zu rechtfertigen, ein Schweigen beobachtet hätten, das Sie in der Achtung aller Ehrenmänner verdamme.

Ich hoffe, es bedarf durchaus keiner Versicherung von meiner Seite, daß ich diesen schändlichen Gerüchten nicht den mindesten Glauben schenke. Doch sind dieselben zu weit verbreitet und werden zu allgemein als wahr angenommen, als daß wir sie mit Verachtung behandeln dürften. Ich ersuche Sie deshalb dringend, unverzüglich hierher zurückzukehren und mit mir, als Ihrem Rechtsfreunde, die nothwendigen Maßregeln zur Vertheidigung Ihres guten Namens zu treffen. Ich habe mir seit meiner Unterredung mit Miß Gwilt über diese Dame meine eigene Ansicht gebildet, die ich nicht dem Papiere anvertrauen will. Es genüge, wenn ich sage, daß ich zur Beschwichtigung der verleumderischen Zungen Ihrer Nachbarn ein Mittel vorzuschlagen habe, für dessen Erfolg ich mit meinem Rufe als Sachwalter einzustehen bereit bin, wenn Sie mich nur durch Ihre Anwesenheit und Ihre Autorität unterstützen wollen.

Vielleicht trägt es dazu bei, Ihnen die Nothwendigkeit Ihrer Rückkehr darzuthun, wenn ich erwähne, was von Jedermann über Sie gesagt wird. Ihre Abwesenheit wird —— ich erröthe, es auszusprechen —— dem niedrigsten aller Beweggründe zugeschrieben. Es heißt, Sie blieben in London, weil Sie in Thorpe-Ambrose sich zu zeigen fürchteten.
Ich verbleibe,

mein werther Herr,
Ihr ergebenster Diener

A. Pedgift Senior.

Allan war alt genug, um den Stachel zu fühlen, der in dem letzten Satze des Briefes lag. In einem Grade von Entrüstung der Pedgift junior einen ganz neuen Einblick in seinen Charakter verschaffte, sprang er auf.

»Wo ist der Fahrplan?« schrie er. »Mit dem nächsten Zuge muß ich nach Thorpe-Ambrose zurück! Geht dieser nicht sogleich ab, so werde ich einen Extrazug nehmen. Ich muß und will zurückfahren und frage nicht nach den Kosten!«

»Gesetzt, wir schickten meinem Vater eine telegraphische Depesche, Sir?« sagte der verständige Pedgift. »Das ist die schnellste Art und Weise, Ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, und zugleich die wohlfeilste.«

»Das ist wahrt« sagte Allan. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnert. Telegraphiren Sie! Sagen Sie Ihrem Vater, er möge Jeden in Thorpe-Ambrose in meinem Namen einen Lügner heißen. Mit großen Buchstaben, Pedgift, schreiben Sie’s mit großen Buchstaben!«

Pedgift lächelte und schüttelte den Kopf. Wäre er auch mit keiner andern Sorte der menschlichen Natur bekannt gewesen, mit der, welche in kleinen Provinzialstädten wohnt, war er vollkommen vertraut.

»Das wird nicht den geringsten Eindruck auf sie machen, Mr. Armadale«, bemerkte er ruhig. »Sie werden darum nur noch ärger lügen. Wenn Sie die ganze Stadt in Aufruhr bringen wollen, so wird eine einzige Zeile dazu genügen. Für fünf Schillinge menschlicher Arbeit und elektrischen Fluidums —— ich beschäftige mich nach den Geschäftsstunden ein wenig mit den Wissenschaften —— soll eine Bombe in Thorpe-Ambrose platzen!« Er zeigte die Bombe bei diesen Worten auf einem Streifen Papier: »A. Pedgift junior an A. Pedgift Senior. — Verbreite im ganzen Orte das Gerücht, daß Mr. Armadale mit dem nächsten Zuge kommt!«

»Mehr Worte«, sagte Allan, ihm über die Schulter blickend. »Machen Sie’s stärker.«

»Ueberlassen Sie das meinem Vater, Sir«, entgegnete der kluge Pedgift »Mein Vater ist am Orte, und die Gewalt seiner Rede ist etwas ganz Erstaunliches.« Er klingelte und sandte die Depesche ab.

Jetzt, da etwas gethan war, begann Allan allmälig seine Fassung wiederzugewinnen. Nochmals durchlief er Mr. Pedgift’s Brief und überreichte ihn dann dessen Sohne.

»Können Sie errathen, wie mich Ihr Vater in den Augen der Nachbarschaft zu rechtfertigen gedenkt?« fragte er.

Pedgift der Jüngere schüttelte sein weises Haupt. »Mir scheint, daß sein Plan so oder so mit seiner Meinung von Miß Gwilt zusammenhängt, Sir.«

»Ich möchte wissen, wie er von ihr denkt«,sagte Allan.

»Es sollte mich nicht überraschen, Mr. Armadale«, erwiderte Pedgift junior, »wenn seine Ansicht, sobald Sie dieselbe hören, Sie einigermaßen in Erstaunen setzte. Mein Vater hat große juristische Erfahrungen bezüglich der Schattenseiten des weiblichen Geschlechts und seinen Beruf in Old-Bailey studirt.«

Allan fragte nicht weiter. Er schien dem Gegenstande, nachdem er ihn selbst zur Sprache gebracht, jetzt auszuweichen. »Lassen Sie uns etwas thun, um die Zeit zu tödten«, sagte er. »Wir wollen einpacken und die Rechnung bezahlen.«

Sie packten ein und bezahlten die Rechnung. Die Stunde kam und der Zug, fuhr endlich nach Norfolk ab.

Während die Reisenden sich auf der Rückfahrt befanden, ward ein etwas längeres Telegramm als das Allan’s in der entgegengesetzten Richtung auf den Drähten an ihnen vorbei von Thorpe-Ambrose nach London geblitzt. Es war in Chiffern abgefaßt und lautete verdolmetscht folgendermaßen:

»Lydia Gwilt an Maria Oldershaw.

Gute Nachrichten! Er kommt zurück. Ich denke eine Zusammenkunft mit ihm zu haben. Alles läßt sich vortrefflich an. Liegt, da ich das Parkhäuschen verlassen, habe ich keine spionierenden Frauenaugen zu fürchten und kann gehen und kommen, wie mir’s beliebt. Glücklicherweise ist Mr. Midwinter aus dem Wege. Noch verzweifle ich nicht daran, Mrs. Armadale zu werden. Was sich immer ereignen mag, verlaß Dich darauf, daß ich mich von London fern halten werde, bis ich die Gewißheit habe, nicht von Spionen bis zu Deinem Hause verfolgt zu werden. Ich habe durchaus keine Eile, Thorpe-Ambrose zu verlassen. Zuvor will ich an Miß Milroy Vergeltung üben.«

Bald nachdem diese Depesche in London in Empfang genommen war, langte Allan wieder zu Hause an. Es war Abend. Pedgift junior hatte ihn soeben verlassen, und Pedgift Senior sollte in einer halben Stunde in Geschäften bei ihm erscheinen.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Nachdem er die Ankunft seines Sohnes abgewartet, um eine vorläufige Besprechung mit ihm zu halten, verfügte sich Mr. Pedgift der Aeltere zu einer Unterredung mit Allan nach dem Herrenhause.

Den Unterschied im Alter abgerechnet, war der Sohn so genau das Abbild des Vaters, daß eine Bekanntschaft mit einem der beiden Pedgifts fast so gut war wie die Bekanntschaft mit beiden. Wenn man der Größe des jüngeren Pedgift etwas hinzusetzte, seinem Humor etwas mehr Breite und Entschiedenheit und seinem Selbstvertrauen etwas mehr Solidität und Ruhe gab, so hatte man im Großen und Ganzen die Persönlichkeit und den Charakter des älteren Pedgift vor sich.

Das Vehikel, welches den Advocaten nach Thorpe-Ambrose brachte, war sein eigenes nettes Gig, das von seinem berühmten, schnell trabenden Pferde gezogen ward. Es war übrigens seine Gewohnheit, selbst zu fahren. Eine der unbedeutenden äußern Eigenthümlichkeiten, in denen Vater und Sohn sich von einander unterschieden, bestand in der Vorliebe des ersteren für einen Anflug vom Sportsmann in seiner Kleidung. Die gelblich-grauen Beinkleider des älteren Pedgift lagen eng an; seine Stiefeln hatten bei trockenem oder nassem Wetter stets dieselben dicken Sohlen; sein Rock war auf den Hüften mit großen Taschen versehen und seine Lieblings-Sommercravatte von hellem geflecktem Musselin, die er in die zierlichste und kleinste Schleife band. Gleich seinem Sohne war ihm der Tabak, jedoch in einer andern Form, Bedürfniß Während der jüngere Mann rauchte, nahm der ältere seine Prise und zwar in reichlichem Maße, und seine vertrauteren Bekannten bemerkten, daß er, wenn er im Begriff stand, ein gutes Geschäft zu machen oder etwas Gutes zu sagen, die Prise immer zögernd zwischen Dose und Nase hielt.

Wer in den niederen Zweigen der Rechtsgelehrsamkeit reussiren will, muß ein gut Stück Diplomat sein. Mr. Pedgift’s Diplomatie war sein ganzes Leben lang die nämliche gewesen, überall, wo er gefunden, daß seine Ueberredungskunst bei einer persönlichen Besprechung mit Andern erforderlich war. Sein stärkstes Argument oder seinen kühnsten Vorschlag sparte er stets bis zuletzt auf und erinnerte sich desselben immer erst nach bereits geschehener Verabschiedung an der Thür, als wäre es ein ganz zufälliger Gedanke, der ihm so eben erst eingefallen sei. Scherzhafte Freunde, die diese Gewohnheit aus Erfahrung kannten, hatten sie Pedgift’s Postscriptum getauft. In ganz Thorpe-Ambrose gab es Wenige, die nicht wußten, was es zu bedeuten hatte, wenn der Advocat plötzlich an der geöffneten Thür stehen blieb, sachte zu seinem Platze zurückging und, seine Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe haltend, sagte: »Beiläufig, es fällt mir eben ein ——« und damit die Sache abmachte, die er vor einer Minute noch als eine hoffnungslose aufgegeben hatte.

So war der Mann, den der Lauf der Ereignisse in Thorpe-Ambrose jetzt launenhafterweise in erste Linie gestellt hatte. Er war der einzige Freund, an den Allan sich in der Stunde seiner Noth und in seiner gesellschaftlichen Vereinsamung um Rath und Beistand wenden konnte.

»Guten Abend, Mr. Armadale. Besten Dank für Ihre schnelle Berücksichtigung meines sehr unangenehmen Briefes«, sagte Pedgift Senior, heiter die Unterhaltung eröffnend, sowie er in das Haus seines Clienten eintrat. »Ich hoffe, Sie sehen ein, Sir, daß mir unter den Verhältnissen nichts Anderes übrig blieb, als zu schreiben, wie ich geschrieben habe.«

»Ich habe sehr wenige Freunde, Mr. Pedgift,« erwiderte Allan einfach, »und ich bin überzeugt, daß Sie einer dieser wenigen sind.«

»Sehr verbunden, Mr. Armadale. Ich habe stets gesucht, mich Ihrer guten Meinung würdig zu machen, und denke sie, wenn es mir möglich, auch jetzt zu verdienen. Sie befanden sich doch behaglich in Ihrem Hotel in London, Sir? Wir nennen es unser Hotel. Man hat dort einen seltenen alten Wein im Keller, den ich Ihnen hätte vorsetzen lassen, wenn ich die Ehre genossen, in Ihrer Gesellschaft dort zu sein. Mein Sohn ist leider ganz und gar kein Weinkenner.«

Allan fühlte seine falsche Stellung in der Umgegend viel zu tief, um zu irgend etwas Anderem als dem Hauptgeschäfte des Abends aufgelegt zu sein. Die höflich umständliche Manier, in der sein Advocat sich dem peinlichen Gegenstande näherte, trug eher dazu bei, ihn zu reizen, als zu beruhigen. In der ihm eigenen unumwundenen Art und Weise ging er sofort auf die Sache los.

»Das Hotel war sehr comfortabel, Mr. Pedgift, und Ihr Sohn sehr freundlich und aufmerksam gegen mich. Aber wir sind jetzt nicht in London, und ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wie ich am besten den Lügen begegnen soll, die man hier über mich ausstreut. Nennen Sie mir nur einen Menschen«, rief Allan mit erhobener Stimme und erglühendem Gesicht, »nur einen einzigen Menschen, der behauptet, ich fürchte mich, mich sehen zu lassen, und ich will ihn, ehe noch ein Tag über seinem Haupte verstreicht, öffentlich auspeitschen!«

Pedgift Senior nahm eine Prise und hielt sie auf halbem Wege zwischen Dose und Nase ruhig in der Schwebe.

»Sie können wohl einen Menschen auspeitschen, Sir, nicht aber eine ganze Nachbarschaft«, sagte der Advocat in seiner höflich epigrammatischen Weise. »Wenn es Ihnen beliebt, wollen wir unsern Kampf kämpfen, doch unter keiner Bedingung unsere Waffen vom Kutscher entlehnen.«

»Aber wie sollen wir’s anfangen?« fragte Allan ungeduldig. »Wie soll ich die Schändlichkeiten, die man von mir spricht, widerlegen?«

»Es gibt zwei Wege, Sir, auf denen Sie aus Ihrer gegenwärtigen unangenehmen Lage herauskommen können, einen langen Weg und einen kurzen«, erwiderte Pedgift Senior. »Der kurze Weg, immer der beste, ist mir eingefallen, seitdem ich durch meinen Sohn von Ihrem Verhalten in London erfuhr. Ich höre, daß Sie ihm nach Empfang meines Briefes gestattet haben, mich ins Vertrauen zu ziehen. Aus dem, was er mir mitgetheilt, habe ich nun verschiedene Schlüsse gezogen, mit denen ich Sie binnen kurzem werde behelligen müssen. Inzwischen möchte ich wissen, unter was für Umständen Sie nach London gereist sind, um diese unglückseligen Erkundigungen über Miß Gwilt einzuziehen. War der Besuch bei Mrs. Mandeville Ihre eigene Idee, oder handelten Sie unter dem Einflusse irgend einer andern Person?«

Allan zögerte. »Ich kann Ihnen nicht in Wahrheit sagen, daß es mein eigener Gedanke war«, erwiderte er und sagte weiter nichts.

»Das habe ich mir wohl gedacht!« bemerkte Pedgift senior triumphierend. »Der kurze Weg aus dieser Verlegenheit, Mr. Armadale, führt gerade durch jene Person, unter deren Einflusse Sie handelten. Jene andere Person muß sofort vor die Oeffentlichkeit gebracht werden und ihre richtige Stellung einnehmen. Zuerst also gefälligst den Namen, Sir; dann wollen wir von den Umständen reden.«

»Ich bedaure, sagen zu müssen, Mr. Pedgift, daß wir, wenn Sie nichts dawider haben, den langen Weg versuchen wollen«, erwiderte AlIan ruhig. »Denn der kurze Weg ist zufällig derjenige, den ich diesmal nicht einschlagen darf.«

Der geschäftsgewandte Jurist läßt sich mit keinem Nein abfertigen. Mr. Pedgift senior war ein solcher und ließ sich diesmal mit keinem Nein abfertigen. Aber alle Hartnäckigkeit, selbst die des Juristen nicht ausgenommen, findet früher oder später ihre Grenzen, und Mr. Pedgift fand diese, trotz seiner doppelten Stärke vermöge langer Erfahrung und zahlreicher Prisen, schon beim Beginne der Unterredung. Unmöglich konnte Allan das Zutrauen ehren, das Mrs. Milroy ihm zu schenken so arglistig geheuchelt hatte, aber als redlicher Mann achtete er sein eigenes gegebenes Wort, und Mr. Pedgifts äußerste Hartnäckigkeit vermochte ihn nicht um ein Haarbreit aus dieser Position zu vertreiben. »Nein« ist das kräftigste Wort der englischen Sprache im Munde eines Mannes, der hinreichenden Muth besitzt, um es oft genug zu wiederholen, und diesen Muth hatte Allan bei der gegenwärtigen Gelegenheit.

»Sehr gut, Sir«, sagte der Advocat, ohne sich durch diese Niederlage im geringsten aufbringen zu lassen. »Sie haben die Wahl, und Sie haben gewählt. Schlagen wir den langen Weg ein. Er geht, ich muß es Ihnen sagen, von meiner Expedition aus und führt, wie ich stark vermuthe auf einer sehr schmutzigen Straße zu Miß Gwilt.«

Allan sah seinen Rechtsanwalt in sprachlosem Erstaunen an.

»Wenn Sie die Person nicht bloßstellen wollen, die eigentlich für die Nachforschungen verantwortlich ist, zu denen Sie sich unglücklicherweise hergegeben haben, Sir«, fuhr Pedgift Senior fort, »so bleibt in Ihrer gegenwärtigen Lage nichts weiter übrig, als diese Nachforschungen selbst zu rechtfertigen.«

»Und wie kann dies geschehen» fragte Allan.

»Dadurch daß wir der ganzen Nachbarschaft beweisen, Mr. Armadale, was ich entschieden für die Wahrheit halte, daß nämlich die Person, die den Lieblingsgegenstand der öffentlichen Protection bildet, eine Abenteurerin von der schlechtesten Sorte, ein unzweifelhaft verworfenes, gefährliches Frauenzimmer ist. Um noch deutlicher zu sprechen, Sir —— dadurch daß wir Zeit und Geld genug daran wenden, die Wahrheit über Miß Gwilt zu entdecken.«

Ehe Allan noch ein Wort erwidern konnte, wurden sie gestört. Es klopfte und gleich darauf erschien ein Diener.

»Ich habe Euch doch gesagt, daß ich nicht gestört sein wolle«, sprach Allan ärgerlich. »Mein Himmel! Soll ich denn noch immer nicht genug davon haben! Noch ein Brief!«

»Ja, Sir«, sagte der Mann, denselben überreichend. »Und«, fügte er mit Worten böser Vorbedeutung für das Ohr seines Herrn hinzu, »man wartet auf Antwort.«

In der begreiflichen Erwartung, den Schriftzügen der Majorin zu begegnen, sah Allan die Adresse an. Er hatte sich getäuscht Offenbar war es die Handschrift einer Dame, doch nicht die Mrs. Milroy.

»Wer kann es sein?« sagte er, indem er, das Couvert erbrechend, mechanisch Pedgift Senior anblickte.

Pedgift Senior klopfte leise auf seine Schnupftabaksdose und sagte, ohne einen Augenblick zu zögern: »Miß Gwilt.«

Allan öffnete den Brief. Die beiden ersten Worte darin waren ein Echo der beiden Worte, die der Advocat so eben ausgesprochen. Es war in der That Miß Gwilt!

Allan sah seinen Rechtsanwalt in sprachlosem Erstaunen an.

»Ich habe ihrer in meinem Leben eine ziemliche Menge kennen gelernt, Sir«, erklärte Pedgift Senior mit einer Bescheidenheit, wie sie bei einem Manne in seinem Alter ebenso selten wie wohlanständig ist. »Nicht so schön wie Miß Gwilt, das gebe ich zu, aber wahrscheinlich ganz ebenso schlecht. Lesen Sie Ihren Brief, Mr. Armadale, lesen Sie Ihren Brief!«

Allan las folgende Zeilen:

»Miß Gwilt’s Empfehlungen an Mr. Armadale und sie ersucht ihn, sie zu benachrichtigen, ob es ihm convenirt, ihr entweder heute Abend oder morgen früh eine Unterredung zu gestatten. Miß Gwilt will sich wegen dieses Gesuchs nicht entschuldigen. Sie ist überzeugt, Mr. Armadale werde die Erfüllung desselben als einen Art der Gerechtigkeit gegen ein freundloses Weib betrachten, das er unbewußterweise mit verletzt hat und dem ernstlich daran gelegen ist, sich in seinen Augen zu rechtfertigen.«

In schweigender Bestürzung und Bekümmerniß reichte Allan seinem Advocaten den Brief hin.

Das Gesicht des Rechtsgelehrten, nachdem er den Brief gelesen und dann dem Empfänger wieder eingehändigt hatte, drückte nur ein Gefühl aus, ein Gefühl der tiefsten Bewunderung. »Welch ein Advocat hätte sie sein können«, rief er aus, »wäre sie ein Mann gewesen.«

»Ich kann es nicht so leicht nehmen wie Sie, Mr. Pedgift«, sagte Allan. »Die Sache ist mir im höchsten Grade unangenehm. Ich hatte sie so lieb«, setzte er mit leiserer Stimme hinzu. »Ich hatte sie einst so lieb.«

Mr. Pedgift Senior ward seinerseits plötzlich ernst.

»Wollen Sie etwa sagen, Sir, daß Sie wirklich daran denken, Miß Gwilt zu sehen?« fragte er mit einem Ausdrucke wahrer Bestürzung.

»Ich kann sie nicht grausam behandeln«, erwiderte Allan. »Ich bin, ohne es zu wollen, das weiß Gott! das Mittel gewesen, ihr zu schaden, darum kann ich sie nicht grausam behandeln!«

»Mr. Armadale«, sagte der Advocat, »vor einer kleinen Weile erzeigten Sie mir die Ehre, mich Ihren Freund zu nennen. Ich darf mir in dieser Stellung anmaßen, Ihnen ein paar Fragen vorzulegen, ehe ich Sie gerade in Ihr Verderben rennen lasse?«

»So viele Fragen, wie Sie wollen«, versetzte Allan, die Blicke wieder auf den Brief werfend, den einzigen, den er von Miß Gwilt erhalten hatte.

»Man hat Ihnen schon eine Schlinge gelegt, Sir, und Sie sind in dieselbe gefallen. Wollen Sie sich nochmals in einer Schlinge fangen lassen?«

»Sie wissen die Antwort auf diese Frage eben so gut wie ich, Mr. Pedgift.«

»Ich will’s noch einmal versuchen, Mr. Armadale; wir Advocaten lassen uns nicht leicht entmuthigen. Glauben Sie nach dem, was Sie und mein Sohn in London entdeckt haben, daß irgend eine Angabe, die Miß Gwilt Ihnen macht, als zuverlässig zu betrachten sein dürfte?«

»Sie könnte das, was wir in London entdeckt, erklären«, meinte Allan, noch immer den Brief betrachtend und an die Hand denkend die denselben geschrieben hatte.

»Könnte es erklären! Mein bester Herr, sie wird es ganz sicherlich erklären! Ich will ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: ich halte sie für fähig, einen Fall zu erdichten, an dem von Anfang bis zu Ende nichts Unrechtes zu entdecken sein würde.«

Diese letztere Antwort zog Allan’s Aufmerksamkeit gewaltsam von dem Briefe ab. Der unerbittliche gesunde Menschenverstand des Rechtsanwalts zeigte kein Erbarmen.

»Wenn Sie das Frauenzimmer wiedersehen, Sir«, fuhr Pedgift senior fort, »so begehen Sie damit die thörichtste Uebereilung, die mir noch in meiner gesamten Praxis vorgekommen ist. Wenn sie hierher kommt, kann sie nur einen Zweck im Auge haben, nämlich Ihre Schwäche für sie zu benutzen. Es ist gar nicht zu berechnen, zu welchem falschen Schritte Sie die Person verleiten kann, wenn Sie ihr die Gelegenheit dazu geben. Sie räumen selbst ein, daß Sie ihr zugethan gewesen sind, Ihre Aufmerksamkeiten gegen sie haben in der That den Gegenstand allgemeiner Beobachtung gebildet, wenn Sie ihr nicht wirklich die Aussicht eröffnet haben, Mrs. Armadale zu werden, so sind Sie doch sehr nahe daran gewesen —— und obschon Sie alles dies wissen, denken Sie doch noch daran, sie zu sehen und sich der Macht ihrer teuflischen Schönheit und ihrer teuflischen Schlauheit auszusetzen, wenn sie in der Rolle Ihres interessanten Opfers zu Ihnen kommt! Sie, der Sie eine der besten Partien in England sind! Sie, die natürliche Beute aller hungrigen unverheiratheten Weiber in der ganzen Umgegend. So etwas habe ich nie gehört; während meiner ganzen langjährigen Praxis habe ich so etwas nie gehört! Wenn Sie durchaus darauf bestehen, sich in Gefahr zu begeben, Mr. Armadale«, schloß Pedgift Senior, die ewige Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe haltend, »so kommt nächste Woche eine Menagerie in unsern Ort. Lassen Sie die Tigerin zu sich herein, Sir, aber nicht Miß Gwilt!«

Zum dritten Male sah Allan seinen Rathgeber an, und dieser erwiderte den Blick zum dritten Male, ohne die geringste Verlegenheit zu verrathen.

»Sie scheinen eine sehr schlechte Meinung von Miß Gwilt zu haben«, sagte Allan.

»Die allerschlechteste Meinung von der Welt«, entgegnete Pedgift Senior trocken. »Wir wollen darauf zurückkommen, sobald wir den Boten abgefertigt haben werden. Wollen Sie meinen Rath befolgen? Wollen Sie ablehnen, sie zu sehen?«

»Ich möchte es sehr gern ablehnen, es würde für uns beide so unendlich peinlich sein«, sagte Allan. »Sehr gern würde ich ablehnen, wenn ich nur wüßte wie.«

»Du mein Himmel, Mr. Armadale, das ist leicht genug! Compromittiren Sie sich nicht durch etwas Geschriebenes. Lassen Sie dem Ueberbringer sagen, es sei keine Antwort.«

Dieses kurze Verfahren einzuschlagen, weigerte sich Allan entschieden. »Das hieße sie ganz brutal behandeln«, sagte er, »und das kann und will ich nicht.«

Die Beharrlichkeit Pedgift des Aeltern fand abermals ihre Schranken und der weise Mann ließ sich wiederum auf das liebenswürdigste zu einem Vergleiche bereit finden. Da ihm sein Client versprochen hatte, Miß Gwilt nicht sehen zu wollen, so willigte er ein, daß Allan sich durch etwas Geschriebenes compromittire nach dem Dictate seines Rechtsanwalts. Der also fabricirte Brief war nach Allan’s eigenem Muster abgefaßt; er begann und endete in einem einzigen Satze: »Mr. Armadales Empfehlung an Miß Gwilt, und er bedauert, daß er nicht das Vergnügen haben kann, Miß Gwilt in Thorpe-Ambrose zu sehen.« Allan hatte flehentlich um einen zweiten Satz gebeten, indem er gern erklärt hätte, daß er Miß Gwilt’s Gesuch nur in der Ueberzeugung abschlage, daß die Unterredung für beide unnöthig peinlich sein würde. Aber sein Rechtsfreund verwarf diesen Zusatz mit Festigkeit. »Wenn Sie nein zu einem Weibe sagen, Sir«, bemerkte Pedgift Senior, »so sagen Sie es stets in einem einzigen Worte. Geben Sie ihm Gründe an, so glaubt es stets, Sie meinen ja.«

Nachdem er dieses kleine Weisheitsjuwel aus den reichen Schatzgruben seiner Praxis aufgetischt hatte, sandte Pedgift Senior die Antwort an Miß Gwilt zu deren Boten hinaus und empfahl dem Diener, dem Kerl, wer er immer sei, wohl aufzupassen, bis er sich aus der Nähe des Hauses entfernt habe.

»Jetzt, Sir«, sagte der Advocat, »wollen wir auf meine Ansicht von Miß Gwilt zurückkommen, wenn’s Ihnen beliebt. Dieselbe, fürchte ich, stimmt durchaus nicht mit der Ihrigen überein. Sie halten sie für einen Gegenstand des Mitleids —— bei Ihrem Alter ganz natürlich. Ich denke, sie wäre in der Zelle eines Gefängnisses ganz an ihrem rechten Platze —— in meinem Alter eine sehr natürliche Ansicht. Sie sollen sogleich hören, worauf ich meine Meinung gründe. Erlauben Sie mir, Ihnen zu beweisen, daß ich es ernstlich meine, indem ich zuvörderst diese Meinung selbst einer Prüfung unterwerfe. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Miß Gwilt nach der Antwort, die Sie ihr gesandt haben, noch darauf bestehen wird, Sie zu besuchen?«

»Ganz unmöglich!« rief Allan mit Wärme. »Miß Gwilt ist eine fein fühlende Dame; nach dem Briefe, den ich ihr gesandt habe, wird sie mir nie mehr zu nahe kommen.«

»Da weichen wir von einander ab, Sir«, rief Pedgift Senior. »Ich sage vielmehr, sie wird sich keinen Pfifferling um Ihren Brief kümmern, was einer meiner Gründe dafür war, daß ich wünschte, Sie sollten überhaupt nicht schreiben. Ich sage, sie erwartet in Ihren Anlagen oder in der Nähe derselben in diesem Augenblicke die Rückkehr ihres Boten. Ich sage, daß sie, noch ehe vierundzwanzig Stunden vergangen sind, sich mit Gewalt hier einzudrängen versuchen wird. Wahrhaftig, Sir,« fuhr Mr. Pedgift nach seiner Uhr sehend fort, »es ist jetzt erst sieben Uhr. Sie ist dreist und schlau genug, um Sie noch heute Abend zu überrumpeln. Erlauben Sie mir zu klingeln; gestatten Sie mir, Sie zu ersuchen, daß Sie augenblicklich den Befehl geben, zu sagen, Sie seien nicht zu Hause. Sie brauchen nicht zu zögern, Mir. Armadale Haben Sie hinsichtlich Miß Gwilt’s Recht, so ist es eben eine bloße Formel, habe ich dagegen Recht, so ist es eine weise Vorsichtsmaßregel. Handeln Sie nach Ihrer Meinung, Sir«, setzte Mr. Pedgift hinzu, indem er klingelte, »ich bleibe bei der Meinigen.«

Allan war, als er das Klingeln hörte, gehörig aufgestachelt, um zu dem Befehl bereit zu sein. Als aber der Diener kam, fühlte er sich von den Erinnerungen an die Vergangenheit überwältigt und die Worte blieben ihm im Halse stecken. »Geben Sie den Befehl«, sagte er zu Mr. Pedgift und trat schnell ans Fenster. »Du bist ein guter Junge!« dachte der alte Advocat, ihm nachsehend und augenblicklich seinen Beweggrund durchschauend. »Die Klauen jener Teufelin sollen Dich nicht kratzen, falls ich es verhindern kann.«

Der Diener wartete unerschütterlich auf seine Instructionen.

»Wenn Miß Gwilt, sei es heute Abend oder zu irgend einer andern Zeit, hierher kommt«, sagte Pedgift Senior, »so ist Mr. Armadale niemals zu Hause. Warten Sie! Fragt sie, wann Mr. Armadale zurückkehrt, so wissen Sie es nicht. Warten Sie! Will sie hereinkommen und warten, so haben Sie den Befehl, Niemand eintreten und warten zu lassen, der nicht auf vorhergegangene Verabredung mit Mr. Armadale kommt. So!« rief der alte Pedgift, sich froh die Hände reibend, sowie der Diener das Zimmer verlassen, »jetzt habe ich sie abgefertigt! Alle Befehle sind ertheilt, Mr. Armadale Wir können nun unsere Unterhaltung fortsetzen.«

Allan kam vom Fenster zurück. »Die Unterhaltung ist keine sehr angenehme«, sagte er. »Ohne Sie beleidigen zu wollen, ich wollte, sie wäre vorüber.«

»Wir wollen sie so schnell wie möglich zu Ende bringen, Sir«, sagte Pedgift Senior, indem er, wie dies nur Advocaten und Frauen können, noch immer darauf beharrte, sich allmälig seinem Ziele zu nähern. »Lassen Sie uns, wenns gefällig, auf den praktischen Vorschlag zurückkommen, den ich Ihnen machte, als der Diener mit Miß Gwilt’s Billet hereinkam. Wie ich Ihnen wiederholen muß, Mr. Armadale, gibt es nur einen Weg aus Ihrer gegenwärtigen unangenehmen Lage. Sie müssen Ihre Nachforschungen über dieses Frauenzimmer bis zum Schlusse fortsetzen, in der Aussicht, die ich fast für Gewißheit halte, daß dieser Schluß Sie in der Meinung der Nachbarschaft rechtfertigen wird.«

»Ich wollte, ich hätte überhaupt gar keine Nachforschungen angestellt!« sagte Allan. »Nichts soll mich bewegen, noch ferner weitere anzustellen, Mr. Pedgift.«

»Warum?«

»Können Sie mich, nachdem Ihr Sohn Ihnen mitgetheilt, was wir in London entdeckt haben, noch fragen, warum?« entgegnete Allan hitzig »Selbst wenn ich weniger Ursache hätte, Miß Gwilt zu —— zu bedauern, selbst wenn es sich um eine ganz andere Person handelte, glauben Sie, daß ich mich noch ferner in die Geheimnisse eines armen betrogenen Geschöpfes einzudrängen suchen oder gar es in der Nachbarschaft bloßzustellen im Stande sein würde? Könnte ich irgend etwas der Art thun, so würde ich mich für einen ebenso großen Schurken halten, wie es der Mann sein muß, der sie zuerst hilflos in die Welt hinausgestoßen hat. Es nimmt mich Wunder, daß Sie die Frage an mich richten können; auf Ehre, es nimmt mich Wunder, daß Sie die Frage an mich richten können.«

»Geben Sie mir Ihre Hand, Mr. Armadale!« rief Mr. Pedgift Senior mit Wärme; »ich ehre Sie dafür, daß Sie so zornig auf mich sind. Die Nachbarschaft mag sagen, was ihr beliebt; Sie sind ein Gentleman, Sir, und zwar im besten Sinne des Worts. Jetzt«, fuhr dann der Advocat fort, indem er Allan’s Hand losließ und augenblicklich vom Gefühl zum Geschäft zurückkehrte, »hören Sie an, was ich zu meiner Vertheidigung zu sagen habe. Gesetzt, Miß Gwilt’s wahre Lage ist weit entfernt, das zu sein, wofür Sie dieselbe so großmüthig zu halten entschlossen sind?«

»Wir haben keinen Grund, dies anzunehmen«, sagte Allan bestimmt.

»Das ist Ihre Ansicht, Sir«, erwiderte Mr. Pedgift. »Die meinige, die sich auf das gründet, was hier öffentlich von Miß Gwilt’s Benehmen bekannt ist, und auf das, was ich selbst von Miß Gwilt gesehen habe, ist die, daß sie alles Andere eher ist als das sentimentale Opfer, welches Sie gern aus ihr machen möchten. Gemach, Mr. Armadale! Erinnern Sie sich, daß ich meine Meinung einer praktischen Prüfung unterworfen habe, und warten Sie, ehe Sie dieselbe ohne weiteres verdammen, bis die Ereignisse Sie darin rechtfertigen. Lassen Sie mich meine Gründe vorbringen, Sir —— entschuldigen Sie mich als Advocaten, und lassen Sie mich meine Gründe vorbringen. Sie und mein Sohn sind junge Leute, und ich leugne nicht, daß die Umstände die Deutung zu rechtfertigen scheinen, die Sie, als junge Leute, denselben gegeben haben. Ich bin ein alter Mann; ich weiß, daß wir die Umstände nicht immer für das annehmen dürfen, als was sie uns auf der Oberfläche erscheinen, und ich habe den großen Vortheil vor Ihnen voraus, daß ich in meinem Berufe jahrelange Erfahrungen unter einigen der schlechtesten Weiber gemacht habe, die es je auf dieser Erde gab.«

Allan öffnete die Lippen, um zu protestieren, doch schloß er dieselben wieder, da er daran verzweifelte, den geringsten Eindruck zu machen. Pedgift Senior verbeugte sich in höflicher Anerkennung der Selbstbeherrschung seines Clienten und benutzte sie augenblicklich.

»Miß Gwilt’s Benehmen«, fuhr er fort, »seit Ihrer unglücklichen Correspondenz mit dem Major beweist mir, daß sie eine geübte Betrügerin ist. Sowie sie sich mit Bloßstellung bedroht sieht —— Bloßstellung irgend einer Art, daran ist nach dem, was Sie in London entdeckt haben, nicht zu zweifeln —— zieht sie aus Ihrem ehrenvollen Schweigen den bestmöglichen Nutzen und gibt die Stelle bei dem Major, die Märtyrerin spielend, auf. Was thut sie dann, sowie sie aus dem Hause ist? Frech bleibt sie in der Nachbarschaft und dient damit vortrefflich drei Zwecken. Erstens zeigt sie Jedem, daß sie sich nicht fürchtet, einem weiteren Angriffe auf ihren Ruf zu begegnen. Zweitens ist sie zur Hand, um Sie um ihren kleinen Finger zu winden und den Umständen zum Trotze Mrs. Armadale zu werden, wenn Sie und ich ihr dazu Gelegenheit bieten. Drittens ist sie, wenn Sie und ich klug genug sind, um ihr zu mißtrauem ihrerseits ebenfalls klug genug, um uns nicht die Chance zu geben, ihr nach London zu folgen und sie dort mit ihren Mitschuldigen in Verbindung zu bringen. Ist dies das Benehmen eines unglücklichen Weibes, das in einem Augenblicke der Schwachheit ihren guten Namen verloren und sich zu einer ihr Widerstrebenden Täuschung hat hinreißen lassen, um jenen wiederzugewinnen?«

»Sie entwickeln die Sache sehr geschickt,« sagte Allan mit offenbarem Widerstreben. »Ich kann nicht leugnen, daß Sie die Sache sehr geschickt darstellen.«

»Ihr eigener gesunder Menschenverstand beginnt Ihnen zu sagen, Mr. Armadale, daß ich sie richtig charakterisiere«, sagte Pedgift Senior. »Ich maße mir noch nicht an, zu sagen, welcher Art die Beziehungen sein mögen, in denen die Person, zu jenen Leuten in Pimlicon steht. Alles, was ich behaupte, ist, daß diese Beziehungen nicht der Art sind, wie Sie vermuthen. Nachdem ich so weit das Thatsächliche erörtert, habe ich nur noch von meinem eigenen persönlichen Eindrucke von Miß Gwilt zu sprechen. Ich will Sie nicht verletzen, wenn ich es vermeiden kann, ich will vielmehr versuchen, ob ich die Sache nicht abermals geschickt darzustellen vermag. Sie kam auf meine Expedition, wie ich Ihnen in meinem Briefe mittheilte, ohne Zweifel, um sich wo möglich mit Ihrem Rechtsanwalte zu befreunden, sie kam, um mir in der allerchristlichsten, versöhnlichsten Weise zusagen, daß sie Ihnen keinen Vorwurf mache.«

»Trauen Sie überhaupt jemals irgend einem Menschen, Mr. Pedgift?« unterbrach ihn Allan.

»Zuweilen, Mr. Armadale«, antwortete der ältere Pedgift so gelassen wie immer. »Ich traue so oft, als dies einem Advocaten möglich ist. Um jedoch fortzufahren, Sir. Als ich noch im Criminalfache arbeitete, war es oft mein Loos, die Instructionen für die Vertheidigung gefänglich eingezogener Frauenzimmer von deren eigenen Lippen entgegenzunehmen. Welcher sonstige Unterschied auch zwischen ihnen stattfinden mochte, mit der Zeit ward ich bei denjenigen, die besonders verdorben und zweifellos schuldig waren, auf einen Punkt aufmerksam, in dem sie alle einander glichen. Ob sie nun groß oder klein, alt oder jung, schön oder häßlich waren, alle besaßen sie eine gewisse Geistesgegenwart, die nichts erschüttern. Aeußerlich waren sie so verschieden wie möglich von einander. Einige waren in einem Zustande der Entrüstung, andere schwammen in Thränen, wieder andere waren voll frommer Zuversicht und noch andere zum Selbstmorde entschlossen, ehe noch die Nacht vergangen sein werde. Aber sowie man mit dem Finger die schwache Stelle der Geschichte berührte, die sie erzählten, hatten ihre Muth, ihre Thränen, ihre Frömmigkeit, ihre Verzweiflung plötzlich ein Ende und das wahre Weib kam zum Vorschein, im vollen Besitz all seiner Ressourcen, mit einer netten kleinen Lüge, die genau den Verhältnissen angepaßt war. Miß Gwilt schwamm in Thränen, Sir, kleidsamen Thränen, die ihre Nase nicht roth machten, da berührte ich plötzlich mit meinem Finger die schwache Stelle ihrer Geschichte. Das rührende Taschentuch sank von den schönen blauen Augen herunter und das wahre Weib kam mit seiner netten kleinen Lüge zum Vorschein, die genau den Verhältnissen angepaßt war. Auf der Stelle fühlte ich mich um zwanzig Jahre jünger, Mr. Armadale. Es war mir wahrlich, als sei ich wieder, mit meinem Notizbuche in der Hand, in Newgate, um meine Instructionen für die Vertheidigung entgegenzunehmen.«

»Nächstens können Sie noch behaupten, daß Miß Gwilt schon im Gefängniß gesessen hat, Mr. Pedgift!« sagte Mr. Allan aufgebracht.

Pedgift Senior klopfte ruhig auf seine Dose und war sofort mit seiner Antwort bereit.

»Reichlich mag sie verdient haben, das Innere eines Gefängnisses zu sehen, Mr. Armadale, aber in der Zeit, in welcher wir leben, gibt es einen vortrefflichen Grund, daß sie mit einem solchen Orte noch nie nähere Bekanntschaft gemacht hat. Bei dem jetzigen zarten Gefühle des Publikums das Gefängniß für eine reizende Dame wie Miß Gwilt! Mein bester Herr, hätte sie mich oder Sie zu ermorden versucht und ein unmenschliches Geschworenengericht sie zum Kerker verurtheilt, die erste Aufgabe unserer heutigen Gesellschaft würde dahin gehen, den Vollzug dieses Verdicts zu verhindern, und wäre dies nicht thunlich, so würde der nächste Versuch sein, sie womöglich wieder in Freiheit zu setzen. Lesen Sie die Zeitungen, Mr. Armadale, und Sie werden sehen, daß wir für die schwarzen Schafe der Heerde in herrlichen Zeiten leben, wenn sie nur schwarz genug sind. Ich bleibe bei meiner Behauptung, Sir, daß wir es in unserm Falle mit einem der allerschwärzesten zu thun haben. Ich bleibe bei meiner Behauptung, daß Sie bei diesen unglückseligen Nachforschungen das seltene Glück gehabt haben, an ein Frauenzimmer zu gerathen, das im Interesse der öffentlichen Sicherheit zufälligerweise ein passender Gegenstand für solche Nachforschungen ist. Weichen Sie von meiner Ansicht ab, so sehr Sie wollen, aber fassen Sie keine endgültige Meinung von Miß Gwilt, bis die Ereignisse unsere beiden entgegengesetzten Ansichten aus die von mir vorgeschlagene Probe gestellt haben. Nichts kann billiger sein. Ich stimme mit Ihnen überein, daß keine Dame, die dieses Namens würdig, nach dem Empfange Ihres Briefes sich noch hier einzudrängen suchen kann, aber ich bestreite eben, daß Miß Gwilt dieses Namens würdig ist, und ich sage, daß sie sich trotz Ihres Briefes mit Gewalt einzudrängen suchen wird.«

»Und ich sage, daß sie dies nicht thun wird!« entgegnete Allan fest.

Pedgift Senior lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte. Beide schwiegen ein paar Augenblicke, während dieses Schweigens ward draußen geklingelt.

Advocat und Client sahen erwartungsvoll nach der Eingangshalle hin.

»Nein«, rief Allan zorniger denn je.

»Ja!« sagte Pedgift Senior, ihm mit größter Höflichkeit widersprechend.

Sie warteten, was geschehen würde. Sie hörten, wie die Hausthür geöffnet wurde, doch war das Zimmer zu weit von derselben entfernt, als daß auch die Stimme bis zu ihnen hätte dringen können. Nach einer langen Pause der Erwartung hörte man endlich, wie die Hausthür geschlossen wurde. Allan stand ungestüm auf und klingelte Mr. Pedgift Senior saß in erhabener Ruhe da und ergötzte sich in stillem Behagen an der größten Prise, die er noch bisher genommen.«

»Hat Jemand mich sprechen wollen?« fragte Allan, als der Diener eintrat.

Der Mann warf einen Blick unaussprechlicher Verehrung auf Pedgift Senior und antwortete:

»Miß Gwilt.«

»Ich will nicht über Sie frohlocken, Sir«, sagte Pedgift Senior, sobald der Diener wieder hinausgegangen, »aber was sagen Sie jetzt zu Miß Gwilt?«

Allan schüttelte in stummer Bekümmerniß und mit Mienen der Entmuthigung den Kopf.

»Die Zeit ist kostbar, Mr. Armadale. Haben Sie nach dem, was sich so eben zugetragen, noch immer etwas gegen das Verfahren einzuwenden, das ich Ihnen vorzuschlagen die Ehre gehabt habe?«

»Ich kann’s nicht, Mr. Pedgift. Ich kann mich nicht dazu hergeben, sie in der Nachbarschaft zu compromittiren. Ich will lieber selbst compromittirt sein —« wie ich es bin.«

»Lassen Sie mich’s Ihnen in einer andern Weise vorstellen, Sir. Sie sind sehr gütig gegen mich und meine Familie gewesen, und ich nehme außer dem geschäftlichen auch noch ein großes persönliches Interesse an Ihnen. Wollen Sie, wenn Sie sich nicht entschließen können, den Charakter dieses Frauenzimmers in seinen wahren Farben zu zeigen, wenigstens die gewöhnlichsten Vorsichtsmaßregeln dagegen treffen, daß es noch weiteres Unheil stiftet? Wollen Sie gestatten, daß ich sie heimlich beobachten lasse, solange sie in der Gegend hier bleibt?«

Allan schüttelte zum zweiten Male den Kopf.

»Ist das Ihr letzter Entschluß, Sir?«

»Ja, Mr. Pedgift; aber ich bin Ihnen dessen ungeachtet sehr verbunden für Ihren Rath.«

Pedgift Senior stand mit stiller Resignation auf und nahm seinen Hut. »Gute Nacht, Sir«, sagte er und wandte sich kummervoll der Thür zu. Allan erhob sich seinerseits in der arglosen Vermuthung, daß die Unterredung zu Ende sei.

Wer mit den diplomatischen Gewohnheiten seines Rechtsfreundes besser vertraut war, würde ihm den Rath gegeben haben, sitzen zu bleiben. Der Augenblick war gekommen für Pedgift’s Postscriptum; der Advocat hielt seine bedeutungsvolle Schnupftabaksdose in der einen Hand, während er mit der andern die Thür öffnete.

»Gute Nacht«, sagte Allan.

Pedgift Senior öffnete die Thür, blieb stehen, überlegte, schloß die Thür wieder, kam geheimnißvoll mit der Prise zwischen Dose und Nase in der Schwebe zurück und nahm, die unveränderliche Formel wiederholend: »Beiläufig, es fällt mir eben ein —— den so eben verlassenen Sessel wieder ein.

Verwundert ließ sich Allan seinerseits wieder nieder. Sachwalter und Client sahen einander nochmals an, und die unerschöpfliche Unterredung ward von neuem wieder aufgenommen.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

»Ich sagte, es sei mir etwas eingefallen, Sir«, bemerkte Pedgift Senior.

»Ja Wohl«, versetzte Allan.

»Möchten Sie hören, was es ist, Mr. Armadale?«

»Wenn Sie so gütig sein wollen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir! Die Sache ist die. Ich lege ganz besonderen Werth darauf, daß Miß Gwilt, wenn weiter nichts geschehen soll, während ihres Bleibens in Thorpe-Ambrose heimlich beobachtet wird. Eben an der Thür fiel mir ein, Mr. Armadale, daß Sie das, was Sie für die eigene Sicherheit zu thun abgeneigt sind, vielleicht für die Sicherheit einer andern Person zu thun bereit sein würden.«

»Welcher andern Person?«

»Einer jungen Dame, die eine nahe Nachbarin von Ihnen ist, Sir. Soll ich Ihnen im Vertrauen Ihren Namen sagen? Miß Milroy.«

Allan erschrak und wechselte die Farbe.

»Miß Milroy!« wiederholte er. »Kann sie in diese leidige Geschichte verwickelt sein? Das hoffe ich nicht, Mr. Pedgift; ich hoffe es wahrhaftig nicht.«

»Ich machte heute Morgen in Ihrem Interesse einen Besuch im Parkhäuschen, Sir«, fuhr Pedgift Senior fort. »Sie sollen hören, was dort geschah, und sich dann Ihr eigenes Urtheil bilden. Major Milroy hat seine Meinung von Ihnen ziemlich unumwunden ausgesprochen und es schien mir hohe Zeit, ihn zu warnen. So geht es immer mit jenen stillen, halbverrückten Leuten: wenn sie einmal aufwachen, ist mit ihrer Halsstarrigkeit gar nicht zu sprechen und ihre Heftigkeit nicht zu mäßigen. Also Sir, ich ging heute Morgen nach dem Parkhäuschen. Der Major und Miß Neelie waren beide im Wohnzimmer, Miß nicht so hübsch, wie gewöhnlich, blaß, wie mir schien, traurig und abgehärmt. Der halb verrückte Major —— ich gebe keinen Heller für das Gehirn eines Mannes, der sich seine halbe Lebenszeit mit dem Bau einer Uhr beschäftigen kann! —— springt auf und sucht in der hochmüthigsten Weise mich zu Boden zu blicken. Hahaha! Als ob ich mich in meinem Alter von irgend einem Menschen zu Boden blicken ließe! Ich benahm mich wie ein Christ; ich nickte dem alten Wie-viel-Uhr freundlich zu. »Schöner Morgen, Major", sag’ ich. »Haben Sie mir etwas zu sagen?" fragt er. »Eben nur ein Wort", sag’ ich. Miß Neelie, die ein verständiges Mädchen ist, steht auf, um aus dem Zimmer zu gehen, und was thut ihr lächerlicher alter Vater? Er hält sie"zurück. »Du brauchst nicht zu gehen, mein Kind; ich habe Mr. Pedgift nichts zu sagen«, spricht der militärische alte Dummkopf, wendet sich zu mir und versucht nochmals, mich zu Boden zu blicken. »Sie sind Mr. Armadale’s Sachwalter", sagt er; »kommen Sie in irgend welchen Angelegenheiten, die Mr. Armadale betreffen, so verweise ich Sie an meinen Sachwalter." Sein Anwalt ist Darch, und Darch hat in Geschäften von mir genug gehabt, kann ich Ihnen sagen. »Mein Erscheinen betrifft allerdings Mr. Armadale, Major", sage ich, »aber nicht Ihren Advocaten, wenigstens für jetzt noch nicht. Ich möchte Sie Warnen, damit Sie Ihr Urtheil über meinen Clienten noch suspendieren, oder, wenn Sie das nicht wollen, daß Sie sich wenigstens hüten, demselben öffentlichen Ausdruck zu geben. Ich sage Ihnen zur Warnung, daß auch an uns die Reihe kommen wird und daß diese skandalöse Geschichte mit Miß Gwilt noch nicht zu Ende ist.« Es erschien mir wahrscheinlich, daß er, in dieser Weise gefaßt, in Wuth gerathen würde, und er rechtfertigte meine Muthmaßung in reichlichem Maße. Er wurde förmlich heftig in seiner Sprache —— armes schwaches Geschöpf! —— förmlich heftig gegen mich! Abermals benahm ich mich dagegen wie ein Christ; ich nickte ihm freundlich zu und wünschte ihm guten Morgen. Als ich mich umwandte, um Miß Neelie ebenfalls guten Morgen zu wünschen, war sie verschwunden. Sie scheinen unruhig, Mr. Armadale«, bemerkte Pedgift Senior, als Allan, den Stachel der alten Erinnerungen fühlend, plötzlich aufsprang und im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich will Ihre Geduld sticht mehr lange auf die Probe stellen, Sir; ich komme zur Sache.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Pedgift«, sagte Allan, zu seinem Sessel zurückkehrend und versuchend, den Advocaten durch das vermittelnde Bild Neelie’s, welches dieser heraufbeschworen, mit Fassung anzusehen.

»Nun, Sir, ich verließ das«Parkhäuschen«, fuhr Pedgift Senior fort. »Gerade als ich um die Ecke des Gartens in den Park einb.og, traf ich Miß Neelie, die dort offenbar auf mich wartete. »Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mr. Pedgift", sagte sie. »Glaubt Mr. Armadale, daß ich etwas mit dieser Geschichte zu thun habe?" Sie war außerordentlich aufgeregt, hatte Thränen in den Augen, Sir, von der Art, wie ich sie in meiner Praxis nicht zu sehen gewohnt war: Ich vergaß mich ganz, ich bot ihr den Arm und führte sie sanft unter den Bäumen dahin —— eine hübsche Situation für mich, wenn ich von irgend einem Klätscher unserer Stadt gesehen worden wäre! »Meine liebe Miß Milroy", sage ich, »warum sollte Mr. Armadale glauben, daß Sie etwas mit der Sache zu thun gehabt haben?«

»Sie hätten ihr sogleich sagen sollen, daß ich durchaus nichts dergleichen glaube!« rief Allan mit Entrüstung »Warum haben Sie Miß Milroy nur einen Augenblick darüber im Zweifel gelassen?«

»Weil ich ein Advocat bin, Mr. Armadale«, erwiderte Pedgift Senior trocken. »Selbst in Gefühlsmomenten, unter schützenden Bäumen und an der Seite eines hübschen Mädchens, kann ich mich nicht ganz meiner amtlichen Vorsicht entschlagen. Sehen Sie nicht so traurig aus, Sir, ich bitte Sie! Im Verlaufe unserer Unterredung brachte ich Alles in Ordnung. Ehe ich Miß Milroy verließ, sagte ich ihr in klarsten Worten, daß ein solcher Gedanke Ihnen gar nicht in den Kopf gekommen sei.«

»Schien dies ihr einige Erleichterung zu gewähren?« fragte Allan.

»Sie konnte sich danach ohne die Stütze meines Arms behelfen, Sir«, erwiderte Mr. Pedgift so trocken wie immer, »und sie nahm mir das Gelübde unverbrüchlichen Schweigens über den Gegenstand unserer Unterhaltung ab. Sie wünschte ganz besonders, daß Sie nichts davon erfuhren. Ist Ihnen Ihrerseits daran gelegen, zu wissen, warum ich sie jetzt verrathe, so unterrichte ich Sie hiermit, daß ihre vertraute Mittheilung sich auf Niemand anders als auf die Dame bezog, die Sie so eben mit ihrem Besuche beehrt hat —— Miß Gwilt.«

Allan, der von neuem unruhig im Zimmer auf und ab geschritten war, blieb stehen und kehrte dann an seinen Platz zurück.

»Sprechen Sie im Ernste?« fragte er.

»Im höchsten Ernst, Sir«, erwiderte Pedgift Senior. »Ich verrathe Miß Neelie’s Geheimniß nur in ihrem eigenen Interesse. Lassen Sie uns auf jene vorsichtige Frage zurückkommen, die ich an sie richtete. Es fiel ihr etwas schwer, dieselbe zu beantworten, denn ihre Erwiderung nöthigte sie zu einer Schilderung ihrer letzten Unterredung mit Miß Gwilt. Das Wesentliche derselben ist Folgendes. Sie waren allein mit einander, als Miß Gwilt von ihrer Schülerin Abschied nahm; erstere sagte bei dieser Gelegenheit —— Miß Neelie hat mir die Worte wiederholt —: »Ihre Mutter hat mir meine Bitte, Abschied von ihr nehmen zu dürfen, abgeschlagen. Weisen Sie mich ebenfalls ab?« Miß Neelie’s Antwort war für ein Mädchen ihres Alters außerordentlich verständig. »Wir sind keine guten Freundinnen gewesen«, sprach sie, »und ich glaube, daß wir beide gleich froh sind, von einander zu scheiden. Aber ich weigere mich durchaus nicht, von Ihnen Abschied zu nehmen.« Mit diesen Worten reichte sie ihr die Hand. Miß Gwilt stand, sie fest ansehend und ohne die Hand zu ergreifen, da und sagte: »Sie sind noch nicht Mrs. Armadale.« Sachte, Sir! Bleiben Sie ruhig! Es kann durchaus nicht Wunder nehmen, daß ein Frauenzimmer, das sich seiner eigenen eigennützigen Absichten auf Sie bewußt ist, einer jungen Dame, Ihrer Nachbarin, ähnliche Absichten zuschreibt.«Gestatten Sie mir fortzufahren Miß Neelie war, wie sie mir selbst gestand und wie mir dies ganz natürlich scheint, im höchsten Grade entrüstet. Sie gesteht, daß sie ihr antwortete: »Sie schamloses Geschöpf, wie können Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Miß Gwilt’s Entgegnung war ziemlich bemerkenswerth; ihr Zorn scheint von der kalten, stillen, giftigen Sorte gewesen zu sein. »Noch Niemand hat mir je weh gethan, Miß Milroy", sagte sie, »der es nicht seither oder später bitter zu bereuen gehabt hätte. Sie werden es noch bitter bereuen.« Sie sah ihre Schülerin einen Augenblick schweigend an und verließ dann das Zimmer. Miß Neelie scheint die Beschuldigung in Bezug auf Sie weit tiefer empfunden zu haben als die Drohung. Sie hatte vorher erfahren, was dem ganzen Hause bekannt war, daß gewisse Schritte von Ihrer Seite in London Miß Gwilt’s freiwilliges Aufgeben ihrer Stelle herbeigeführt hätten. Und sie schloß jetzt aus den so eben an sie gerichteten Worten, daß Miß Gwilt sie beargwöhnte, Sie zu jenen Schritten veranlaßt zu haben, um ihre Erzieherin in Ihrer Achtung herabzusetzen und selbst in derselben zu steigen. Gemach, Sir!, gemach, ich bin noch nicht ganz zu Ende. Sowie Miß Neelie ihre Fassung wiedergewonnen, ging sie zu Mrs. Milroy hinauf. Miß Gwilt’s abscheuliche Beschuldigung hatte sie überrascht, und sie wandte sich deshalb zuerst um Aufklärung und Rath an ihre Mutter. Sie fand weder das Eine noch das Andere. Mrs. Milroy erklärte, sie sei zu krank, um sich mit der Sache plagen zu lassen, und ist seitdem noch immer zu krank geblieben. Hierauf wandte sich Miß Neelie an ihren Vater. Der Major hieß sie schweigen, sowie sie Ihren Namen ausgesprochen hatte; er erklärte, er wolle von keinem Mitgliede seiner Familie je Ihren Namen wieder nennen hören. Seitdem ist sie in der Ungewißheit geblieben; sie weiß nicht, wie falsch sie von Miß Gwilt dargestellt sein mag, oder welche Lügen diese Sie zu glauben bewogen hat. In meinem Alter und bei meinem Berufe mache ich keine besonderen Ansprüche auf Weichherzigkeit, aber es scheint mir in der That, Mr. Armadale, daß Miß Neelie unsere Theilnahme verdient.«

»Ich will Alles thun, um ihr zu helfen!« rief Allan aufgeregt. »Sie wissen nicht, Mr. Pedgift, welche Ursache ich habe ——« Er hielt plötzlich inne und wiederholte seine ersten Worte. »Ich will Alles thun, um ihr zu helfen!«

»Ist das wirklich Ihr Ernst, Mr. Armadale? Verzeihen Sie mir die Frage, aber Sie können Miß Neelie sehr wesentlich helfen, wenn Sie wollen.«

»Wie?« fragte Allan. »Sagen Sie mir nur wie?«

»Indem Sie mich bevollmächtigen, Sie gegen Miß Gwilt zu schützen Sir.«

Nachdem er diesen Schuß auf seinen Clienten abgefeuert, wartete der kluge Advocat ein wenig, ehe er noch etwas hinzufügte.

Allan’s Gesicht umwölkte sich und er bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her.

»Es ist schwer genug, mit Ihrem Sohne fertig zu werden, Mr. Pedgift«, sagte er, »aber mit Ihnen noch weit schwerer.«

»Danke, Sir«, erwiderte der schlagfertige Pedgift, »im Namen meines Sohnes sowohl als in meinem eigenen für das schöne Compliment, welches Sie der Firma machten. Wenn Sie wirklich Miß Neelie von Nutzen sein wollen«, fuhr er ernster fort, »so habe ich Ihnen den Weg dazu gezeigt. Um ihre Besorgniß zu heben, können Sie nichts thun, was ich nicht bereits gethan habe. Sobald ich ihr die Versicherung gegeben hatte, daß Sie keine irrige Meinung von ihr gefaßt, ging sie befriedigt von dannen. Die Drohung ihrer Erzieherin scheint sie nicht zu beunruhigen. Ich kann Ihnen indessen sagen, Mr. Armadale, daß diese mich beunruhigt! Sie kennen meine Meinung von Miß Gwilt und wissen selbst, was Miß Gwilt heute Abend gethan hat, um diese Meinung in Ihren Augen zu rechtfertigen. Darf ich Sie nach Allem, was passiert ist, fragen, ob Sie die Gouvernante für die Art von einem Weibe halten, von dem anzunehmen ist, daß es sich mit leeren Drohungen begnügen werde?«

Diese Frage war eine furchtbare. Durch die unwiderstehliche Macht klarer Thatsachen aus der Stellung zurückgetrieben, die er beim Beginn der Unterredung eingenommen hatte, zeigte Allan zum ersten Male Symptome des Nachgebens hinsichtlich Miß Gwilt’s. »Gibt es keine andere Art und Weise, Miß Milroy zu beschützen, als die von Ihnen erwähnte?« fragte er mit sichtlichem Mißbehagen.

»Meinen Sie, daß der Major Sie anhören würde, wenn Sie ihn sprechen wollten, Sir?« fragte Mr. Pedgift sarkastisch; »ich fürchte fast, daß er mir die Ehre seiner Aufmerksamkeit verweigern würde. Oder würden Sie vielleicht vorziehen, Miß Neelie zu ängstigen, indem Sie ihr mit deutlichen Worten sagten, daß wir beide sie in Gefahr glauben? Oder gesetzt, Sie ließen Miß Gwilt mittheilen, daß sie ihrer Schülerin bitteres Unrecht angethan hätte? Die Frauen sind ja sprichwörtlich bereit, Vernunft anzunehmen, und so durchaus geneigt, ihre gegenseitige Meinung nach Wunsch zu wechseln, namentlich wenn die eine glaubt, daß die andere ihre Aussicht auf eine gute Partie zerstört hat! Denken Sie nicht an mich; ich bin blos ein alter Advocat und fühle mich wasserdicht gegen einen zweiten Schauer von Miß Gwilt? Thränen!«

»Zum Henker, Mr. Pedgift, sagen Sie mir mit deutlichen Worten, was zu thun ist!« rief Allan, endlich die Geduld verlierend.

»Mit deutlichen Worten, Mr. Armadale: ich wünsche also Miß Gwilt? Schritte, solange sie in dieser Gegend bleibt, heimlich beobachten zu lassen. Ich mache mich verbindlich, einen Menschen zu schaffen, der sie mit Discretion und Zartgefühl im Auge behalten wird. Und ich bin bereit, sogar diese harmlose Bewachung ihrer Handlungen aufzugeben, wenn sich nicht binnen einer Woche Gründe zu ihrer Fortsetzung zeigen, die selbst Sie überzeugen. Ich mache diesen billigen Vorschlag in Miß Milroy’s Interesse, Sir, und erwarte Ihre Antwort —— Ja oder Nein.«

»Können Sie mir nicht Zeit lassen zum Ueberlegen?« fragte Allan, seine letzte Zuflucht im Verzuge suchend.

»Gewiß, Mr. Armadale. Vergessen Sie indessen nicht, daß Miß Milroy, während Sie überlegen, ihrer Gewohnheit nach allein in Ihrem Park spazieren gehen wird, ohne an Gefahr zu denken, und daß Miß Gwilt die vollkommene Freiheit hat, von diesem Umstande jeden ihr beliebigen Gebrauch zu machen.«

»Thun Sie, was Sie wollen« rief Allan in Verzweiflung »Nur bitte ich Sie um Gotteswillen, quälen Sie mich nicht länger!«

Das volksthümliche Vorurtheil mag es leugnen, aber die Jurisprudenz ist wenigstens in einer Hinsicht von praktischem Christenthum erfüllt. In der ganzen Sammlung passender Antworten, die der Menschheit aus den Lippen eines Rechtsgelehrten auflauern, ist keine in beständigerer Bereitschaft, als »die sanfte Antwort, welche dem Zorne wehret«. Pedgift senior erhob sich mit der Lebhaftigkeit der Jugend in den Gliedern und der weisen Mäßigung des Alters auf der Zunge. »Besten Dank, Sir«, sagte er, »für die Aufmerksamkeit, die Sie mir geschenkt haben. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Entscheidung und zugleich einen guten Abend.« Diesmal war seine bedeutungsvolle Schnupftabaksdose nicht in seiner Hand, als er die Thür öffnete, und er verschwand, ohne mit einem zweiten Postscriptum zurückzukehren.

Allan ließ den Kopf aus die Brust sinken, sobald er sich allein sah. »Wenn doch nur schon die Woche herum wäret« dachte er sehnsuchtsvoll »Wenn ich nur Midwinter wieder hier hätte!«

In dem Augenblicke, da dieser Wunsch den Lippen seines Clienten entschlüpfte, sprang der Advocat fröhlich in sein Gig »Vorwärts, alte Jungfer«, rief Pedgift Senior, sein schnell trabendes Pferd leicht mit dem Peitschenstiele antreibend. »Ich lasse nie eine Dame warten, und heute Abend habe ich mit einer Deiner Gattung ganz besonders zu thun!«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Die unmittelbare Umgebung der kleinen Stadt Thorpe-Ambrose auf der dem Herrenhause zunächst gelegenen Seite hat sich als die hübscheste Vorstadt der Art in Ost-Norfolk einige lokale Berühmtheit erworben. Die Villen und Gärten sind hier meistens in vortrefflichem Geschmack angelegt; die Bäume grünen in schönster Jugendfrische und der Wiesengrund hinter den Häusern hebt und senkt sich in malerischem und gefälligem Wechsel. Die vornehme und schöne Welt des Städtchens hat diesen Ort zu ihren Abendspaziergängen gewählt, und wenn ein Fremder eine Spazierfahrt macht und die Richtung dem Kutscher überläßt, so fährt dieser ihn selbstverständlich nach jenen Wiesen.

Auf der entgegengesetzten Seite, das heißt auf der dem Herrenhause am fernsten gelegenen, war im Jahre 1851 die Vorstadt allen Leuten, denen der gute Name des Städtchens am Herzen lag, ein Gegenstand des Aergernisses.

Hier war die Natur uneinladend; die Leute waren arm, und der sociale Fortschritt, soweit er sich in der Architektur zu erkennen gibt, machte hier Halt. Je weiter sich die Straßen vom Mittelpunkte der Stadt entfernten, desto kleiner wurden die Häuser, um endlich auf dem öden offenen Felde in elenden Hüttengerippen zu enden. Die Architekten schienen samt und sonders hier ihr Werk in seinem ersten Stadium aufgegeben zu haben. Grundbesitzer pflanzten auf armseligem Terrain Pfähle auf und verkündeten darauf klagend, daß Grund und Boden zum Bauen zu verpachten sei, während sie inzwischen bis sich ein Käufer fand, auf dem ausgebotenen Grundstück eine kränkliche kleine Kornernte versuchten. Es schien, als ob alles alte Papier des ganzen Oertchens sich zu diesem öden Orte sympathisch hingezogen fühle, und eigensinnige Kinder weinten und schrien hier unter der Obhut aller der unordentlichen Wärterinnen, die den Ort verunzierten. Hatte Jemand in Thorpe-Ambrose sein Pferd zum Tode verurtheilt, so harrte der arme Gaul sicherlich auf dieser Seite der Stadt seines Schicksals. In diesen wüsten Regionen gedieh nichts als steriler Kehricht, und kein menschliches Wesen freute sich hier seines Daseins, nur die Geschöpfe der Nacht das heißt allerlei Ungeziefer.

Die Sonne war untergegangen und das Sommerzwielicht begann dunkler zu werden. Die eigensinnigen Kinder schrien in ihren Wiegen; das zum Tode verurtheilte Pferd schlummerte einsam auf dem Felde seiner Gefangenschaft; die Ratzen warteten schleichend in Ecken und Winkeln auf den Einbruch der Nacht. Nur eine lebende Gestalt erschien in der einsamen Vorstadt —— die Gestalt von Mr. Bashwood. Nur ein schwacher Schall störte die grausige Stille —— der Schall von Mr. Bashwood’s leise fallenden Fußtritten.

Mr. Bashwood kam vom freien Felde her, langsam an den hier und dort am Wege liegenden Bausteinen vorüber und vorsichtig um die alten Eisenstücke und zerbrochenen Ziegel herumgehend, einer der unvollendeten Straßen der Vorstadt zugeschritten. Dem Anscheine nach hatte er einige Sorgfalt auf sein persönliches Aussehen verwendet. Seine falschen Zähne waren glänzend weiß, seine Perücke sorgfältig gebürstet, sein Traueranzug, durchaus erneut, hatte den häßlichen schleimigen Glanz wohlfeilen schwarzen Tuches. Er bewegte sich mit nervöser Munterkeit und blickte mit nichtssagendem Lächeln umher. Am ersten der Hüttenskelette angelangt, heftete er seine wässerigen Augen zum ersten Male fest auf die Perspective der vor ihm liegenden Straße. Im nächsten Augenblicke zuckte er zusammen; sein Athem kam schneller und heiß, und zitternd lehnte er sich an die halb fertige Mauer, neben der er stand. In einiger Entfernung kam eine Dame die Straße zu ihm heran. »Sie kommt!« flüsterte er mit einer seltsamen Mischung Von Entzücken und Furcht, während die Farbe in seinem hageren Gesichte abwechselnd kam und ging. »Ich wollte, ich wär’ der Boden, auf dem ihr Fuß wandelt! Ich wollte, ich wär’ der Handschuh an ihrer Hand!« Begeistert brach er in diese überschwenglichen Worte aus und das Entzücken, das sie ihm verursachten, ließ seine schwache Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen erbeben.

Leicht und anmuthig schwebte die Dame näher und näher heran, bis sie Mr. Bashwood’s Augen zeigte, was Mr. Bashwood’s Instinct sogleich erkannt hatte: Miß Gwilt’s Antlitz.

Sie war mit ausgesuchter Bescheidenheit gekleidet. Ihren Kopf bedeckte der schlichteste Strohhut mit der sparsamsten Garnitur von weißem Bande. In der makellosen Sauberkeit und den anspruchslosen Verhältnissen ihres hellen Kattunkleides und der kleinen dünnen schwarzseidenen Mantille, die mit einer schmalen Ruthe von demselben Stoffe besetzt war, drückte sich eine anspruchslose und geschmackvolle Armuth aus. Der Glanz ihres fürchterlichen rothen Haares präsentierte sich ungeniert in den Flechten über ihrer Stirn und fiel in einer vollen Locke auf ihre Schulter herab. Ihre Handschuhe, die sich wie ihre eigene Haut an ihre Hände schmiegten, waren von jenem nüchternen Braun, das am spätesten die Spuren des Gebrauchs zeigt. Mit der einen Hand hob sie den Rock zierlich über die Unsauberkeiten der Straße, die andere hielt einen kleinen Strauß von den gewöhnlichsten Gartenblumen, während der Abendwind sanft mit der langen Locke spielte; den Kopf ein wenig gesenkt, die Augen auf den Boden heftend —— in Gang, Miene und Wesen, in jeder zufälligen Bewegung jenes feine Gemisch der Sinnlichkeit und der Bescheidenheit, das von allen anziehenden Extremen, die sich im Weibe begegnen, in den Augen der Männer das unwiderstehlichste ist.

»Mr. Bashwood!« rief sie im lauten festen Tone des größten Erstaunens. »Welch eine Ueberraschung, Sie hier zu sehen! Ich glaubte, Niemand als die elenden Bewohner wagte sich je nach dieser Seite der Stadt. Bst!« fügte sie schnell flüsternd hinzu. »Sie täuschten sich nicht, als Sie zu hören glaubten, daß Mr. Armadale mich wolle beobachten lassen. Hinter einem jener Häuser versteckt sich ein Mann. Wir müssen laut von gleichgültigen Dingen sprechen und thun, als seien wir einander zufällig begegnet. Fragen Sie mich, womit ich mich beschäftige Laut! Augenblicklich! Sie sollen mich nie wiedersehen, wenn Sie nicht augenblicklich zu zittern aufhören und thun, was ich Ihnen sage!«

Sie sprach mit erbarmungsloser Tyrannei in Blick und Stimme, mit einer erbarmungslosen Anwendung ihrer Macht über das schwache Geschöpf, an das sie die Worte richtete. Mr. Bashwood gehorchte ihr mit einer Stimme, die vor innerer Erregung bebte, und mit Blicken, die wie bezaubert mit dem Ausdrucke von Angst und Entzücken ihre Schönheit verschlungen.

»Ich suche mir durch Musikunterricht etwas zu verdienen«, sagte sie in einem Tone, der darauf berechnet war, bis zum Ohre des Spions zu dringen. »Können Sie mir einige Schülerinnen empfehlen, Mr. Bashwood, so werden Sie mich durch Ihre Fürsprache sehr verpflichten. Waren Sie heute im Park?« fuhr sie dann mit leiserer Stimme fort. »Ist Mr. Armadale nach dem Parkhäuschen gegangen? Hat Miß Milroy sich außerhalb ihres Gartens sehen lassen? Nein? Sind Sie dessen gewiß? Passen Sie ihnen morgen und übermorgen und den nächsten Tag auf. Sie werden sicherlich zusammenkommen und sich wieder aussöhnen, und ich muß und will dies wissen. Bst! Fragen Sie mich nach den Bedingungen meiner Lectionen. Worüber ängstigen Sie sich? Der Mann lauert mir auf, nicht Ihnen. Lauter, als Sie mich so eben fragten, womit ich mich beschäftige; lauter, oder ich will Ihnen nicht mehr trauen; ich will mich an Jemand anders wenden!«

Mr. Bashwood gehorchte abermals. »Seien Sie nicht böse mit mir«, murmelte er schwach, nachdem er die nothwendigen Worte gesprochen. »Mir pocht das Herz so —— Sie tödten mich noch!«

»Sie armes liebes altes Geschöpf» erwiderte sie flüsternd mit plötzlich verändertem Wesen, mit leichter ironischer Zärtlichkeit »Was haben Sie in Ihrem Alter mit einem Herzen zu schaffen! Seien Sie morgen um dieselbe Zeit hier, um mir Bericht zu erstatten über das, was Sie im Park gesehen haben. Meine Bedingungen sind nur fünf Schillinge die Stunde«, fuhr sie mit lauterer Stimme fort; »das ist doch gewiß nicht theuer, Mr. Bashwood. Ich gebe solche lange Stunden und liefere meinen Schülerinnen die Noten um den halben Preis.« Plötzlich senkte sie wieder die Stimme und zwang ihn mit einem funkelnden Blicke zur Unterwürfigkeit. »Lassen Sie Mr. Armadale morgen nicht aus den Augen! Wenn es jenem Mädchen gelingt mit ihm zu sprechen und ich dies nicht erfahre, so will ich Sie zu Tode ängstigen.

Werde ich aber davon unterrichtet, so will ich Sie küssen! St! Wünschen Sie mir gute Nacht und setzen Sie Ihren Weg nach der Stadt fort, während ich die entgegengesetzte Richtung verfolge. Ich bedarf Ihrer nicht; ich fürchte mich nicht vor dem Manne hinter den Häusern. Sagen Sie gute Nacht und dann will ich Ihnen die Hand geben. Sagen Sie es lauter und dann sollen Sie eine von meinen Blumen haben, wenn Sie mir versprechen wollen, sich nicht in dieselbe zu verlieben.« Hierauf sprach sie wieder lauter: »Gute Nacht, Mr. Bashwood! Vergessen Sie meine Bedingungen nicht. Fünf Schillinge für eine volle Stunde und alle Noten um den halben Preis, was ein ungeheurer Vortheil ist, nicht wahr, Mr. Bashwood?« Sie ließ ihm eine Blume in die Hand gleiten, blickte ihn mit zorniger Stirn an, damit er ihr gehorche, und belohnte ihn dann durch ein Lächeln, hob wieder zierlich den Rock auf und ging mit der selbstgefälligen indolenten Ruhe einer Katze weiter, die so eben im Vergnügen geschwelgt hat, eine Maus zu ängstigen.

Sowie er wieder allein war, wandte sich Mr. Bashwood der niedrigen Hausmauer zu, neben der er gestanden hatte, lehnte sich müde über sie und betrachtete die Blume in seiner Hand. Sein vergangenes Leben hatte ihn geschult, Unglück und Schmach zu ertragen, wie wohl wenig glücklichere Menschen dies vermocht hätten, doch hatte dasselbe ihn nicht darauf vorbereitet, an dem trüben Ende seines Daseins in dem hoffnungslosen Verfall seiner Mannheit, die unter dem doppelten Fluche ehelicher Enttäuschung und väterlichen Kummers verdorrt war, zum ersten Male die Meisterleidenschaft des Menschen zu empfinden. »O wenn ich nur wieder jung wäre!« murmelte das arme Geschöpf, die Arme auf die Mauer stützend und mit heimlichem Entzücken die Blume mit seinen trockenen, fieberglühenden Lippen berührend. »Sie hätte mich vielleicht geliebt, als ich zwanzig Jahre alt war!« Plötzlich richtete er sich wieder empor und stierte in leerer Verwirrung und Angst um sich. »Sie hat mir befohlen, heim zu geben«, sagte er mit erschrockener Miene. »Warum bleibe ich hier?« Er wandte sich um und eilte der Stadt zu, in solcher Furcht vor ihrem Zorne, wenn sie sich umsähe und ihn erblickte, daß er sich nicht einmal nach der Richtung hin umzuschauen wagte, in der sie fortgegangen war, und den Spion gar nicht gewahr wurde, welcher ihr hinter den unbewohnten Häusern und den Steinhaufen folgte, die am Wege lagen.

Leicht und anmuthig, sorgfältig die makellose Sauberkeit ihres Kleides hütend, ohne ihre Schritte zu beschleunigen oder sich rechts oder links umzusehen, setzte Miß Gwilt ihren Weg ins freie Feld fort. Die Straße der Vorstadt lief am Ausgange der letzteren in zwei verschiedenen Richtungen weiter. Zur Linken führte der Pfad durch ein struppiges kleines Gebüsch zur Weide eines benachbarten Gehöftes, zur Rechten über einen kleinen brachliegenden Hügel nach der Landstraße hin. Indem sie einen Augenblick stehen blieb, um zu überlegen, jedoch den Spion durch kein Zurückblicken ahnen ließ, daß er ihr verdächtig schien, solange er sich innerhalb des Bereichs eines Verstecks befand, entschied Miß Gwilt sich für den Pfad über den Hügel. »Dort will ich ihn fangen«, sprach sie bei sich, ruhig die gerade Linie der unbelebten Landstraße hinab sehend. Sowie sie sich einmal auf dem Felde befand, das sie zu ihrem Zwecke ausersehen hatte, begegnete sie den Schwierigkeiten der Position mit vollkommenem Takt und ruhiger Selbstbeherrschung. Nachdem sie etwa dreißig Schritte weiter gegangen war, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen, wandte sich, um ihn wieder aufzuheben, halb um, sah den Mann in demselben Augenblicke hinter sich stehen bleiben und ging augenblicklich weiter, allmälig ihre Schritte beschleunigend, bis sie die größte Schnelligkeit erreichten. Der Spion fiel in die ihm gelegte Schlinge. Da er die Nacht hereinbrechen sah und sie in der Dunkelheit aus dem Gesichte zu verlieren fürchtete, eilte er, die Entfernung zwischen sich und ihr zu verringern. Miß Gwilt ging immer schneller und schneller, bis sie seine Schritte deutlich hinter sich hörte; dann blieb sie stehen und befand sich im nächsten Augenblicke dem Manne dicht gegenüber.

»Macht Mr. Armadale meine Empfehlung und sagt ihm, ich hätte Euch daraus ertappt, wie Ihr mich beobachtetet.«

»Ich beobachte Sie nicht, Miß«, entgegnete der Spion, durch die kühne Deutlichkeit ihrer Worte unvorsichtig gemacht.

Miß Gwilt’s Augen maßen ihn verachtungsvoll vom Kopfe bis zu den Füßen. Er war ein schwächlicher kleiner Mann. Sie war die Größere und möglicherweise auch die Stärkere. »Nehmt den Hut ab, Ihr Flegel, wenn Ihr mit einer Dame sprecht«, sagte sie und schlug ihm den Hut vom Kopfe, daß derselbe über einen Graben, neben dem sie standen, und in eine Schmutzlache jenseits desselben flog.

Diesmal war der Spion auf seiner Hut. Er wußte ebenso gut wie Miß Gwilt, wie nützlich die kostbaren Minuten angewendet werden könnten, wenn er ihr den Rücken zukehrte und über den Graben stiege, um seinen Hut wieder zu suchen. »Es ist ein Glück für Sie, daß sie ein Frauenzimmer sind«, sagte er, in der schnell hereinbrechenden Nacht barhäuptig dastehend und sie mit drohenden Blicken betrachtend.

Miß Gwilt warf einen Seitenblick auf die sich vor ihr öffnende Perspective der Straße und gewahrte in der zunehmenden Dunkelheit die einsame Gestalt eines Mannes, der sich langsam ihnen nahte. Manche Frauen würden das Herannahen eines Mannes zu solcher Stunde und an einem solchen Orte mit einiger Besorgniß gesehen haben. Miß Gwilt hatte zu großes Zutrauen zu ihrer Ueberredungsgabe, um nicht im voraus auf den Beistand eines Mannes zu rechnen, wer derselbe auch sein mochte, und zwar weil er ein Mann war. Mit verdoppelter Zuversicht blickte sie nach dem Spion zurück und maß ihn zum zweiten Male mit Verachtung im Auge vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ob ich wohl stark genug wäre, Euch Eurem Hute nachzuwerfen?« sagte sie. »Ich will ein paar Schritte thun und es mir überlegen.«

Sie schlenderte eine kleine Weile in der Richtung weiter, in welcher die Gestalt auf der Landstraße daherkam. Der Spion folgte hart hinter ihr drein. »Versuchen Sie es doch«, sagte er grob. »Sie sind ein schönes Frauenzimmer, und es soll mir Vergnügen machen, wenn Sie mich mit Ihren Armen umfassen wollen.« Während er diese Worte sprach, erblickte auch er den Fremden. Er that einen Schritt rückwärts und wartete. Miß Gwilt that ihrerseits einen Schritt vorwärts und wartete ebenfalls.

Der Fremde nahte sich mit dem leichten Schritte eines geübten Fußgängers, einen Stock in den Händen schwingend und auf dem Rücken einen Mantelsack tragend.

Als er noch einige Schritte näher gekommen, ließ sich sein Gesicht erkennen. Es war ein dunkler Mann, sein schwarzes Haar mit Staub bepudert, und seine schwarzen Augen blickten fest vor sich hin.

Mit den ersten Anzeichen von Gemüthsbewegung, die sie noch bisher verrathen hatte, trat ihm Miß Gwilt entgegen. »Ist es möglich?« sagte sie sanft. Sind Sie es wirklich?«

Es war Midwinter, auf der Heimkehr von den Haiden von Yorkshire nach Thorpe-Ambrose.

Er blieb stehen und sah sie in athemlosem Erstaunen an. Das Bild dieses Weibes hatte in demselben Augenblicke, wo es ihn anredete, sein Herz erfüllt.

»Miß Gwilt!« rief er aus und reichte ihr mechanisch die Hand.

Sie nahm dieselbe und drückte sie leise. »Zu jeder Zeit würde ich mich gefreut haben, Sie wiederzusehen«, sprach sie, »wie sehr ich mich aber in diesem Augenblicke freue, das können Sie sich nicht denken. Darf ich Sie bitten, mit dem Manne da zu sprechen? Er hat mich den ganzen Weg von der Stadt her verfolgt und belästigt.«

Ohne ein Wort schritt Midwinter an ihr vorüber. So dunkel es war, sah doch der Spion augenblicklich in seinem Gesichte, was kommen solle, und sprang, sich schnell umwendend, über den Graben am Wege. Ehe Midwinter ihm folgen konnte, lag Miß Gwilt’s Hand auf seiner Schulter.

»Nein«, sagte sie. »Sie wissen nicht, in wessen Dienste er steht.«

Midwinter blieb stehen und sah sie an.

»Es haben sich seltsame Dinge ereignet, seit Sie uns verließen«, fuhr sie fort. »Ich bin gezwungen gewesen, meine Stelle aufzugeben, und werde von einem gedungenen Spion verfolgt und beobachtet Fragen Sie nicht, wer mich gezwungen hat, meine Stelle zu verlassen, und wer den Spion gedungen. wenigstens jetzt noch nicht. Ich kann mich nicht entschließen, Ihnen dies zu sagen, bevor ich ein wenig ruhiger geworden bin. Lassen Sie den Elenden gehen. Wollten Sie wohl die Güte haben, mich nach meiner Wohnung zu begleiten? Sie liegt auf Ihrem Wege. Darf ich Sie um den Beistand Ihres Arms bitten? Mein kleiner Vorrath von Muth ist gänzlich erschöpft.« Sie nahm seinen Arm und schmiegte sich fest an ihn an. Das Weib, das Mr. Bashwood tyrannisiert und den Hut des Spions in den Schmutz geworfen, war verschwunden. Ein furchtsames, zitterndes, interessantes Wesen war an seine Stelle getreten. Sie führte ihr Taschentuch an die Augen. »Man sagt, Noth kennt kein Gebot«, murmelte sie leise. »Ich behandle Sie wie einen alten Freund. Gott weiß, ich bedarf eines solchen.«

So gingen sie zusammen der Stadt zu. Mit einer rührenden Entschlossenheit ermannte sie sich, steckte das Taschentuch wieder in die Tasche und bestand darauf, die Unterhaltung auf Midwinter’s Fußreise zu lenken. »Es ist schon schlimm genug, Ihnen zur Last zu fallen«, sagte sie, leise seinen Arm drückend; »ich darf Sie nicht außerdem noch betrüben. Erzählen Sie mir, wo Sie waren und was Sie gesehen haben. Interessieren Sie mich für Ihre Reise; helfen Sie mir, mich mir selbst zu entreißen.«

Sie langten bei der bescheidenen kleinen Wohnung in der garstigen kleinen Vorstadt an. Miß Gwilt seufzte und zog den Handschuh aus, ehe sie Midwinter die Hand reichte. »Hierher habe ich mich geflüchtet«, sagte sie einfach. »Es ist sauber und ruhig, ich bin zu arm, um mehr zu bedürfen oder zu verlangen. Wir müssen wohl Abschied nehmen, wenn Sie ——« sie stockte bescheiden und überzeugte sich durch einen schnellen Blick rings um sich her, daß sie unbeobachtet waren —— »wenn Sie nicht mit hereinkommen und ein wenig ausruhen wollen. Ich fühle mich Ihnen so dankbar verpflichtet, Mr. Midwinter! Meinen Sie, daß ein Arg darin läge, wenn ich Sie zu einer Tasse Thee einlüde?«

Der magnetische Einfluß ihrer Berührung durchzuckte ihn, als sie sprach. Wechsel und Abwesenheit, wodurch er ihre Macht über ihn zu vermindern gehofft, hatten diese im Gegentheil noch verstärkt. Ein ausnahmsweise gefühlvoller, in seinem bisherigen Leben ausnahmsweise reiner Mann, stand er in der verführerischen Heimlichkeit der Nacht Hand in Hand mit dem ersten Weibe da, das ihn den alles Andere in den Hintergrund drängenden Einfluß ihres Geschlechts fühlen ließ. Wer hätte wohl in seinem Alter und in seiner Lage es über sich vermocht, sie zu verlassen? Es lebt kein Mann mit dem Temperament eines Mannes, der dies zu thun im Stande gewesen wäre. Midwinter ging mit hinein.

Ein dummer schläfriger Junge öffnete die Hausthür. Selbst er —— er war ja ein männliches Geschöpf —— empfand Miß Gwilt’s Einfluß. »Die Theemaschine, John«, sagte sie freundlich, »und noch eine Tasse. Ich will Euer Licht borgen, um meine Kerze oben anzuzünden, und dann will ich Euch heute Abend nicht mehr bemühen.« John war augenblicklich wach und munter. »Keine Mühe, Miß«, sagte er mit ungeschickter Höflichkeit. Miß Gwilt nahm lächelnd sein Licht. »Wie gut die Leute gegen mich sind!« flüsterte sie Midwinter unschuldsvoll zu, indem sie ihm die Treppe hinauf und in das kleine Wohnzimmer der ersten Etage voranging.

Sie zündete die Kerze an und hielt, sich schnell umwendend, ihren Gast zurück, als sich dieser anschickte, den Tornister vom Rücken zu nehmen. »Nein«, sagte sie sanft. »Ja der guten alten Zeit gab es gewisse Gelegenheiten, bei denen die Damen ihre Ritter entwaffneten. Ich fordere das Vorrecht, den meinigen zu entwaffnen.« Ihre geschickten Finger kamen den seinigen bei den Riemen und Schnallen zuvor und sie hatte ihm den staubigen Ranzen abgenommen, ehe er sich ihr widersetzen konnte.

Sie ließen sich an dem einzigen kleinen Tische des Zimmers nieder. Letzteres war sehr ärmlich möbliert, aber es herrschte darin etwas von der sauberen Zierlichkeit des Weibes, das es bewohnte, in der Art und Weise, in der die wenigen Schmuckstücke des Kaminsimses aufgestellt waren, in den paar hübsch gebundenen Büchern auf der Chiffonniere, den Blumen auf dem Tische und dem bescheidenen kleinen Arbeitskörbchen im Fenster. »Wir Frauen sind nicht alle Koketten«, sagte sie, Hut und Mantille abnehmend und sorgfältig auf einen Sessel legend. »Ich will nicht in mein Zimmer gehen, um in meinen Spiegel zu sehen und mich hübsch zu machen, Sie sollen mich ganz so nehmen, wie ich bin.« Mit sanfter geräuschloser Geschäftigkeit bewegten sich ihre Hände unter dem Theeservice umher. Ihr prachtvolles Haar funkelte glutroth im Kerzenlicht, als sie, aus dem Präsentierbrett nach diesem oder jenem Gegenstande suchend, den Kopf hierhin und dorthin wandte. Die Bewegung in der freien Luft hatte ihr die schönste Farbe gegeben und den Wechsel des Ausdrucks in ihren Augen lebhafter gemacht: jetzt das köstliche Schmachten, während sie zuhörte oder nachsann, dann das klare Verständniß das aus ihnen blitzte, wenn sie sprach. In dem unbedeutendsten Worte, das sie sagte, in dem Geringsten, was sie that, lag ein Etwas, das das Herz des Mannes, der neben ihr saß, mild erregte. Durchaus bescheiden in ihrem Wesen, die anmuthige Zurückhaltung und Feinheit einer wohlgebildeten Dame bis zur Vollendung besitzend, gebot sie zugleich über alle die Verlockungen, die das Auge entzücken, alle die Sirenenkünste, welche die Sinne berücken.

»Irrte ich mich«, fragte sie, plötzlich die Unterhaltung abbrechend, die sie bis dahin beharrlich auf Midwinter’s Fußreise beschränkt hatte, »wenn ich riethe, daß Sie etwas auf dem Herzen haben, etwas, das weder mein Thee noch meine Unterhaltung fortzubannen im Stande ist? Sind die Männer ebenso neugierig? wie die Frauen. Wäre dieses Etwas vielleicht ich?«

Midwinter kämpfte mit dem Reize, der in ihrem Anblicke und ihrer Stimme lag. »Es liegt mir sehr am Herzen, zu hören, was sich während meiner Abwesenheit zugetragen hat«, sagte er, »aber noch mehr daran, Miß Gwilt, Sie nicht unangenehm zu berühren, wenn ich von einem Gegenstande rede, der Ihnen peinlich ist.«

Sie sah ihn dankbar an. »Ich habe den peinlichen Gegenstand um Ihretwillen gemieden«, sagte sie, mit dem Löffel in der leeren Tasse spielend. »Aber Sie werden durch Andere davon hören, wenn Sie es nicht von mir erfahren; und Sie sollen wissen, warum Sie mich in jener seltsamen Lage fanden und warum Sie mich hier sehen. Bitte, behalten Sie gleich im Anfange eins im Auge: ich mache Ihrem Freund, Mr. Armadale, keinen Vorwurf, nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

Midwinter erschrak. »Ist es möglich«, begann er, »daß Allan in irgend einer Weise verantwortlich ——« Er stockte und schaute Miß Gwilt mit schweigendem Erstaunen an.

Sie legte sanft ihre Hand auf die seinige. »Werden Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen nur die Wahrheit sage. Ihr Freund ist für Alles verantwortlich, was mir zugestoßen ist, unschuldigerweise dafür verantwortlich, Mr. Midwinter, wie ich fest glaube. Wir sind beide Opfer. Er ist das Opfer seiner Stellung als der reichste unverheirathete Mann der ganzen Umgegend, und ich bin das Opfer von Miß Milroy’s Entschlusse, ihn zu heirathen.«

»Miß Milroy! wiederholte Midwinter immer erstaunter. »Wie, Allan sagte mir selbst ——« Er stockte abermals.

»Er sagte Ihnen, ich sei der Gegenstand seiner Bewunderung? Der arme Junge! Er bewundert alle Welt; sein Kopf ist fast so leer wie das da«, sagte Miß Gwilt, bedeutungsvoll in ihre leere Theetasse hineinlächelnd. Sie ließ den Löffel fallen, seufzte und ward wieder ernst. »Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, ihm gestattet zu haben, mich zu bewundern«, fuhr sie reuig fort, »ohne die Entschuldigung zu haben, meinerseits des flüchtigen Interesses für ihn fähig zu sein, das er mir schenkte. Ich unterschätze seine vielfachen vortrefflichen Eigenschaften ebenso wenig wie die schöne Stellung, die er einer Gattin zu bieten hat, aber ein Frauenherz läßt sich nicht commandiren, Mr. Midwinter, nein, selbst nicht durch den glücklichen Besitzer von Thorpe-Ambrose, dem sonst Alles zu Befehl steht.«

Sie sah ihm, während sie diesem hochherzigen Gefühle Worte lieh, gerade ins Gesicht. Er schlug die Augen vor den ihrigen nieder und sein dunkles Gesicht erglühte. Er hatte gefühlt, wie sein Herz aufhüpfte, als sie ihre Gleichgültigkeit gegen Allan erklärte. Zum ersten Male, seit sie einander gekannt, standen seine Interessen als den Interessen seines Freundes direct entgegengesetzt vor ihm.

»Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, Mr. Armadale gestattet zu haben, mich zu bewundern, und ich habe dafür gebüßt«, fuhr Miß Gwilt fort. »Hätte zwischen meiner Schülerin und mir das geringste Vertrauen bestanden, so hätte ich sie leicht darüber beruhigen können, daß sie Mrs. Armadale werden dürfe, wenn es ihr gelänge, ohne dabei irgend welche Nebenbuhlerschaft von meiner Seite fürchten zu müssen. Aber Miß Milroy konnte mich von Anfang an nicht leiden und mißtraute mir. Ohne Zweifel faßte sie ihre eigene eifersüchtige Meinung von Mr. Armadale’s unbedachten Aufmerksamkeiten gegen mich. In ihrem Interesse lag es, mich der Stelle, wie dieselbe eben war, die ich in seiner Meinung einnahm, zu berauben, und es ist sehr wohl möglich, daß ihre Mutter ihr dabei behilflich war. Mrs. Milroy hatte ebenfalls ihren Beweggrund, den ich mich wirklich anzugeben schäme, mich aus dem Hause zu vertreiben. Jedenfalls ist ihnen ihr Anschlag gelungen. Ich bin mit Mr. Armadale’s Hilfe gezwungen worden, die Stelle aufzugeben. Erzürnen Sie sich nicht, Mr. Midwinter! Ziehen Sie keine übereilten Schlüsse! Miß Milroy hat vielleicht ihre guten Eigenschaften, obgleich ich diese nicht habe entdecken können, und ich gebe Ihnen einmal über das andere die Versicherung, daß ich Mr. Armadale keinen Vorwurf mache, sondern nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

»In welcher Weise ist er ihr Werkzeug? Wie kann er das Werkzeug irgend eines Ihrer Feinde sein?« fragte Midwinter »Bitte, entschuldigen Sie meinen Eifer, Miß Gwilt —— Allan’s guter Name ist mir ebenso theuer wie mein eigener!«

Miß Gwilt’s Augen hefteten sich abermals fest auf ihn und ihr Herz gab sich unschuldsvoll einem Ausbruche der Begeisterung hin. »Wie sehr ich Ihren Eifer bewundere!« sagte sie. »Wie mir Ihre Besorgniß um ihren Freund gefällt! O daß doch die Frauen solcher Freundschaften fähig wären! O Sie glücklichen, glücklichen Männer!« Ihre Stimme bebte und sie versenkte sich zum dritten Male in die bequeme Theetasse. »Alle Schönheit, die ich besitze, wollte ich darum geben«, sagte sie, »wenn ich einen solchen Freund zu finden vermöchte, wie Mr. Armadale einen in Ihnen gefunden hat. Doch den finde ich nimmer, Mr. Midwinter, nimmermehr. Lassen Sie uns auf das zurückkommen, wovon wir eben sprachen. Nur indem ich Ihnen zuerst etwas über mich selbst mittheile, kann ich Ihnen erzählen, in welcher Weise Ihr Freund an meinem Mißgeschick mit schuld ward. Ich theile mit vielen andern Erzieherinnen das Loos, daß ich das Opfer trauriger Familienverhältnisse bin. Es mag dies eine Schwäche von mir sein, aber es widerstrebt mir unendlich, Fremden davon zu sprechen. Mein Schweigen über meine Familie und meine Angehörigen setzt mich in meiner abhängigen Lage mancherlei Mißdeutungen aus. Hat es mir auch in Ihrer Meinung geschadet, Mr. Midwinter?«

»Das verhüte Gott!« sagte Midwinter mit Wärme. »Es lebt kein Mensch«, fuhr er an seine eigene Familiengeschichte denkend fort, »der mehr Ursache hätte, Ihr Schweigen zu achten, als ich.«

Miß Gwilt ergriff leidenschaftlich seine Hand.

»O«, sagte sie, »ich wußte es in dem ersten Augenblicke, da ich Sie sah! Ich wußte, daß auch Sie gelitten, daß auch Sie manchen Kummer gehabt haben, den Sie heilig halten! Seltsam, unerklärliche Sympathie! Ich glaube an Magnetismus —— glauben Sie daran?« Sie besann sich plötzlich und schauderte. »O was habe ich gethan! Was müssen Sie von mir denken!« rief sie aus, als er, von dem magnetischen Zauber ihrer Berührung überwältigt, Alles vergaß, außer der Hand, die in der seinigen lag, sich über dieselbe beugte und sie. küßte. »Schonen Sie mich!« sagte sie matt, als sie seine glühenden Lippen fühlte. »Ich bin so freundlos, bin so vollständig in Ihrer Gewalt!«

Er wandte sich von ihr ab und barg sein Gesicht in der Hand —— er zitterte, und sie bemerkte es. Sie sah ihn, während er sein Gesicht bedeckte, mit verstohlenem Interesse und mit Verwunderung an. »Wie dieser Mensch mich liebt!« dachte sie. »ob es wohl einst eine Zeit gegeben, wo ich ihn hätte lieben können?«

Einige Minuten lang schwiegen beide. Er hatte ihr Flehen um Schonung empfunden, wie sie dies durchaus nicht erwartet oder beabsichtigt hatte —— er wagte es nicht, sie wieder anzusehen oder zu ihr zu sprechen.

»Soll ich in meiner Erzählung fortfahren P« fragte sie. »Wollen wir beide vergeben und vergessen?« Das in dem Weibe wurzelnde Verlangen nach jedem Ausdrucke der Bewunderung von Seiten des Mannes, solange derselbe sich innerhalb der Schranken der Achtung hält, kräuselte ihre Lippen zu einem reizenden Lächeln. Sie sah nachdenklich auf ihr Kleid herab und strich mit einem unsicheren kleinen Seufzer ein Krümchen von ihrem Schooße. »Ich erzählte Ihnen eben«, fuhr sie fort, »von meinem Widerstreben, Fremden gegenüber etwas von meinen traurigen Familienverhältnissen zu erwähnen. Und so kam es, wie ich später entdeckt habe, daß ich mich Miß Milroy’s Bosheit und Argwohn aussetzte. Es wurden bei der Dame, die mich empfohlen, heimliche Erkundigungen angestellt und zwar, wie ich nicht bezweifle, zuerst auf Miß Milroy’s Anrathen. Ich bedaure sagen zu müssen, daß dies noch nicht das Schlimmste ist. Mr. Armadale’s Unbefangenheit ward auf irgend eine Art, über die ich in Unwissenheit bin, getäuscht, und als bei der Dame, die sich für mich verbürgt, in London geheime Nachforschungen angestellt wurden, geschah dies durch Ihren Freund, Mr. Midwinter.«

Midwinter sprang plötzlich auf und sah sie an. Der Zauber, den sie über ihn ausübte, hörte, so mächtig er war, momentan auf, als endlich die deutliche Enthüllung von ihren Lippen fiel. Er sah sie an und setzte sich dann, ohne ein Wort zu sagen, wie verblüfft wieder nieder.

»Bedenken Sie, wie schwach er ist«, sagte Miß Gwilt mit sanfter Bitte, »und entschuldigen Sie ihn, wie ich es thue. Der unbedeutende Zufall, daß es ihm nicht gelang, die Dame unter der ihm bezeichneten Adresse aufzufinden, scheint —— ich kann mir nicht erklären, warum —— Mr. Armadale mit Argwohn erfüllt zu haben. Jedenfalls blieb er in London. Was er dort gethan, kann ich unmöglich angeben. Ich war ganz im Dunkeln, ich wußte von nichts; ich beargwöhnte Niemand; ich war im kleinen Kreis meiner Pflichten so glücklich, wie ich dies mit einer Schülerin sein konnte, deren Zuneigung ich nicht zu gewinnen vermochte, als Major Milroy mir eines Morgens, zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen einen Briefwechsel zwischen ihm und Mr. Armadale zeigte. Er sprach mit mir in Gegenwart seiner Gemahlin. Das arme Geschöpf! Ich beklage mich nicht über sie —— solches Leiden wie das ihrige entschuldigt Alles. Ich wollte, ich könnte Ihnen eine Vorstellung von den Briefen geben, die Major Milroy und Mr. Armadale mit einander wechselten, aber mein Kopf ist leider nur ein Weiberkopf, und ich fühlte mich damals bestürzt und gekränkt! Ich kann Ihnen blos sagen, daß es Mr. Armadale beliebte, über sein Verfahren in London ein Schweigen zu beobachten, das unter den obwaltenden Verhältnissen einen Vorwurf für meinen guten Namen enthielt. Der Major war außerordentlich gütig; sein Zutrauen zu mir blieb unerschüttert; aber vermochte sein Zutrauen mich auch gegen das Vorurtheil seiner Gemahlin und seiner Tochter Uebelwollen zu schützen? O wie hart die Frauen gegen einander sind! Ach welche Demüthigung für uns, sähen die Männer nur einige von uns so, wie wir wirklich sind! Was konnte ich thun? Gegen bloße Andeutungen konnte ich mich nicht vertheidigen, und meine Stelle mußte ich aufgeben, nachdem man einen Makel auf meinen Namen geworfen hatte. Mein Stolz der Himmel sei mir gnädig, ich habe die Erziehung einer Dame genossen und die Gefühle eines gebildeten Weibes, die selbst jetzt noch nicht abgestumpft sind —— mein Stolz übermannte mich, und ich gab meine Stelle auf. Lassen Sie sich das nicht leid sein, Mr. Midwinter Das Bild hat auch feine Lichtseite. Die Damen der Umgegend haben mich mit Freundlichkeiten überschüttet; ich habe Aussicht, Schülerinnen zu bekommen, und so wird mir der Kummer erspart, zu meinen Angehörigen zurückkehren und ihnen zur Last fallen zu müssen. Die einzige Klage, die ich erhebe, ist wie mich dünkt, eine wohlbegründete Mr. Armadale ist seit einigen Tagen nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt. Ich habe ihn brieflich inständig gebeten, mir eine Unterredung mit ihm zu gestatten, mir zu sagen, welchen fürchterlichen Verdacht er gegen mich hegt, und mir Gelegenheit zu geben, mich in seiner Meinung zu rechtfertigen. Sollten Sie es wohl glauben, er hat sich geweigert, mich zu sehen, natürlich unter dem Einflusse Anderen nicht aus eigenem freien Antriebe, dessen bin ich sicher! Grausam, nicht wahr? Aber er hat mich sogar noch grausamer behandelt. Er bleibt dabei, mich zu beargwöhnen, und er ist es, der mich beobachten läßt. O Mr. Midwinter, hassen Sie mich nicht darum, weil ich Ihnen etwas mittheile, das Sie jedenfalls erfahren müssen! Der Mann, den Sie heute mich verfolgen und ängstigen sahen, verdient nur sein Brod als Mr. Armadale’s Spion.«

Midwinter sprang abermals auf, und diesmal machten seine Gedanken sich in Worten Luft.

»Ich kanns nicht glauben, ich will’s nicht glauben!« rief er entrüstet. »Wenn der Mann Ihnen das gesagt, hat er gelogen. Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; ich bitte Sie aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Bitte, glauben Sie —— glauben Sie nicht, daß ich in Ihre Worte Zweifel setze; ich sage nur, irgendwo waltet ein abscheulicher Irrthum ob. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Alles, was Sie mir mitgetheilt, richtig verstanden habe, aber diese letzte schmachvolle Gemeinheit, deren Sie Allan für fähig halten, verstehe ich. Ich schwöre Ihnen, daß er derselben unfähig ist! Irgend ein Schurke hat ihn hintergangen, irgend ein Bösewicht hat sich seines Namens bedient. Ich will Ihnen dies beweisen, wenn Sie mir nur Zeit dazu geben wollen. Lassen Sie mich gehen und die Sache sofort aufklären. Eher kann ich nicht ruhen; ich kann den Gedanken nicht ertragen; ich kann mich selbst nicht dem Vergnügen hingeben, hier zu sein. O«, rief er im Tone der Verzweiflung, »ich bin überzeugt, daß Sie nach dem, was Sie gesagt haben, für mich fühlen —— ich fühle so sehr für Sie!«

Er schwieg verwirrt. Miß Gwilt’s Augen waren wieder auf ihn geheftet und ihre Hand hatte nochmals den Weg in die seinige gefunden.

»Sie sind der großmüthigste Mensch, den es in der Welt gibt«, sagte sie sanft; »ich will glauben, was Sie mich glauben heißen. Gehen Sie«, fügte sie flüsternd hinzu, indem sie plötzlich seine Hand losließ und sich von ihm wandte, »um unser beider willen, gehen Sie!«

Sein Herz pochte wild; er sah sie an, wie sie, das Tuch vor die Augen haltend, in einen Sessel sank. Einen Augenblick zögerte er, dann riß er seinen Ranzen vom Boden auf und verließ sie plötzlich ohne einen Rückblick oder ein Abschiedswort.

Als die Thür sich hinter ihm schloß, stand sie auf. Sowie sie allein war, ging eine Veränderung mit ihr vor. Die Farbe wich aus ihren Wangen; der Glanz erlosch in ihren Augen; ihre Züge wurden hart und drückten stumme Verzweiflung aus. »Es ist viel schändlicher, als ich geglaubt«, sagte sie, »wenn ich ihn täusche.« Nachdem sie einige Minuten im Zimmer auf und ab gegangen, blieb sie wie zerschlagen vor dem Spiegel über dem Kamine stehen. »Du merkwürdiges Geschöpf« murmelte sie, die Ellbogen auf den Kaminsims stützend und zu ihrem Bilde im Spiegel sprechend. »Hast du etwa noch einen Rest von Gewissen? Und sollte dieser Mensch denselben erweckt haben?«

Das Spiegelbild veränderte sich langsam. Die Farbe kehrte in die Wangen zurück, ein köstliches Schmachten schwamm wieder in ihren Augen. Ihre Lippen theilten sich leicht und ihr schneller Athem überzog die Oberfläche des Spiegels mit einem Nebel. Nachdem sie sich einen Augenblick in ihre Gedanken vertieft hatte, fuhr sie jählings schaudernd zurück. »Was beginne ich?« fragte sie sich plötzlich mit Entsetzen und Erstaunen. »Bin ich so wahnsinnig, in dieser Weise an ihn zu denken?«

Sie brach in ein spöttisches Lachen aus und öffnete ihre Schreibschatulle mit lautem Geklapper »Es wird Zeit, daß ich mich wieder mit Mutter Isabelle unterhalte«, sagte sie und setzte sich, um an Mrs. Oldershaw zu schreiben.

»Ich habe Mr. Midwinter getroffen, und zwar unter sehr glücklichen Umständen, und mir diese Gelegenheit zu Nutze gemacht. So eben hat er mich verlassen, um zu seinem Freunde Armadale zu gehen, und morgen wird sich eins von zwei guten Dingen ereignen. Wenn sie sich nicht veruneinigen, werden mir durch Midwinters Vermittlung die Thore von Thorpe-Ambrose wieder geöffnet werden. Gibt es aber einen Streit, so werde ich die unglückliche Ursache desselben sein, und dann werde ich mir in der rein christlichen Absicht, sie wieder auszusöhnen, den Eingang erzwingen.«

Beim nächsten Satze zögerte sie, schrieb die ersten Worte desselben nieder, strich sie wieder aus, riß den Brief in kleine Stücke und schleuderte die Feder in eine Ecke des Zimmers Sich schnell auf ihrem Sessel umdrehend, sah sie auf den Sitz, den Midwinter eingenommen, während ihr Fuß unruhig auf den Boden klopfte und sie sich das Taschentuch wie einen Knebel zwischen die Zähne klemmte. »Wie jung du immer sein magst«, dachte sie, im Geiste sein Bild in dem leeren Sessel erblickend, »hat es doch in deinem Leben schon etwas Ungewöhnliches gegeben, und dies muß und will ich erfahren!«

Die Hausuhr schlug die Stunde und riß sie aus ihrem Sinnen. Sie seufzte, ging an den Spiegel zurück und fing müde ihr Kleid zu lösen an, nahm die Knöpfe aus der Chemisette und legte sie auf den Kaminsims. Während sie ihr Haar aufflocht und es in einer einzigen großen Flechte über ihre Schultern zurückfallen ließ, warf sie nachlässig einen Blick auf die Schönheit ihres Nackens und ihres Busens. »Wenn er mich jetzt sähe!« dachte sie. Sie kehrte zum Tische zurück und seufzte abermals, indem sie die eine der Kerzen auslöschte und die andere in die Hand nahm. »Midwinter?« sagte sie, als sie durch die Flügelthür vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging. »Ich glaube schon gar nicht an seinen Namen.«

Die Nacht war um mehr als eine Stunde vorgerückt, ehe Midwinter im Herrenhause anlangte.

Obgleich er den Weg ganz genau kannte, war er zweimal irre gegangen. Die Ereignisse des Abends, die Begegnung mit Miß Gwilt selbst, nachdem er vierzehn Tage lang still mit dem Gedanken an sie beschäftigt gewesen war, die große Veränderung, die in ihrer Lage eingetreten, seit er sie zuletzt gesehen, und die überraschende Behauptung, daß Allan an derselben schuld sei, alles dies hatte sich vereinigt, um sein Gemüth in die wildeste Verwirrung» zu stürzen. Die Dunkelheit der Nacht trug noch zur Erhöhung dieser Verwirrung bei. Selbst die wohlbekannten Thore von Thorpe-Ambrose erschienen ihm fremd. Als er daran zu denken versuchte, war es ihm unbegreiflich, wie er überhaupt dort angelangt sei.

Die Vorderseite des Hauses war finster und verschlossen. Midwinter ging nach der Hinterseite herum. Wie er weiter schritt, schlug der Schall von Männerstimmen an sein Ohr. Er unterschied dieselben bald als die des ersten und zweiten Bedienten, und den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete ihr Herr.

»Ich wette eine halbe Krone, daß er aus der Umgegend vertrieben wird, ehe noch eine Woche vergeht«, sagte der erste Diener.

»Abgemacht!« sagte der zweite. »Er läßt sich nicht so leicht vertreiben, wie Du glaubst.«

»Nicht?« entgegnete der andere. »Er wird vom Pöbel beschimpft werden, wenn er bleibt! Ich sage Dir nochmals, er ist mit der Patsche, in die er sich bereits hineingearbeitet, noch nicht zufrieden. Ich weiß es gewiß, daß er die Erzieherin beobachten läßt.«

Bei diesen Worten blieb Midwinter mechanisch stehen, ehe er ins Haus hineinging. Plötzlich überfiel ihn der erste Zweifel an dem Erfolge der beabsichtigten Ansprache an Allan. Der Einfluß, den die Stimme öffentlicher Verleumdung ausübt, ist eine Gewalt, die in einer den gewöhnlichen Gesetzen der Mechanik entgegengesetzten Weise wirkt. Er wird am stärksten nicht durch Concentration, sondern durch Zerstreuung. Gegen den ersten Laut mögen wir die Ohren schließen, aber das Echo desselben ist unwiderstehlich. Midwinter war auf dem Heimwege von dem Wunsche erfüllt gewesen, Allan noch aufzufinden und unverzüglich mit ihm zu sprechen. Jetzt war seine einzige Hoffnung die, Zeit zu gewinnen, um mit seinen neuen Zweifeln zu kämpfen und seine bösen Ahnungen zu beschwichtigen, sein einziger Wunsch, zu hören, daß Allan zur Ruhe gegangen sei. Er bog um die Ecke des Hauses und zeigte sich den Männern, die im Hintergarten ihre Pfeife rauchten. Sobald ihr Erstaunen ihnen zu sprechen gestattete, erboten sie sich, ihren Herrn zu wecken. Allan hatte die Ankunft seines Freundes für diesen Abend nicht mehr erwartet und war seit etwa einer halben Stunde schlafen gegangen.

»Der Herr gab den besonderen Befehl, Sir«, sagte der erste Bediente, »daß es ihm gemeldet würde, sowie Sie kämen.«

»Es ist mein besonderer Wunsch«, erwiderte Midwinter, »daß er nicht gestört wird.«

Die beiden Diener sahen einander verwundert an, als er die Kerze nahm und sie verließ.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Bestimmte Stunden für die verschiedenartigen häuslichen Vorkommnisse des Tages waren in Thorpe-Ambrose unbekannt. Unregelmäßig in allen seinen Gewohnheiten, band sich Allan mit Ausnahme des Diners weder tags noch nachts an eine feste Stunde. Er ging entweder früh oder spät zur Ruhe und stand früh auf oder spät, wie es ihm eben beliebte. Den Dienern war es verboten, ihn zu Wecken, und Mrs. Gripper war gewöhnt, das Frühstück von dem Augenblicke an, da das Küchenfeuer angezündet ward, bis zur Zeit, wo die Küchenuhr die Mittagsstunde verkündete, so gut sie konnte, zu improvisieren.

An dem Morgen nach seiner Rückkehr klopfte Midwinter gegen neun Uhr an Allan’s Thür und fand bei seinem Eintritt das Zimmer leer. Auf Erkundigung bei der Dienerschaft ergab sich, daß Allan ausgestanden war, ehe noch der Mann, der ihm gewöhnlich aufwartete, sein Lager verlassen, und daß eins der Stubenmädchen, das von Midwinter’s Heimkehr nichts wußte, ihm sein heißes Wasser an die Thür gebracht hatte. Zufällig hatte Niemand den Herrn gesehen, weder auf der Treppe noch im Hausflur, und auch Niemand ihn wie gewöhnlich nach Frühstück schellen hören. Kurz, Niemand wußte etwas von ihm, ausgenommen, was Allen klar war, daß er nicht im Hause sei.

Midwinter trat auf den großen Porticus hinaus. Oben aus den Stufen blieb er stehen und überlegte, in welcher Himmelsgegend er seinen Freund suchen solle. Allan’s unerwartete Abwesenheit trug noch zur Vergrößerung seiner Gemüthsunruhe bei. Er befand sich in einer Stimmung, in welcher uns Kleinigkeiten reizen und die Einbildung allmächtig ist, um uns glücklich oder traurig zu machen.

Der Himmel war bewölkt und der Wind kam in heftigen Stößen aus Süden; wetterkundige Augen sahen, daß Regen im Anzuge war. Während Midwinter noch immer in Ungewißheit dastand, kam einer der Reitknechte die Rampe herauf an ihm vorbei. Fragen thaten dar, daß dieser Mann besser über seinen Herrn unterrichtet war als die Hausbedienten. Vor mehr als einer Stunde hatte er Allan mit einem Blumenstrauße in der Hand hinter dem Parke an den Ställen vorbeikommen sehen.

Mit einem Blumenstrauße in der Hand? Der Blumenstrauß lag Midwinter unbegreiflich störend im Sinne, während er, in der Hoffnung, Allan zu treffen, nach der Hinterseite ging. »Was soll der Blumenstrauß bedeuten?« fragte er sich mit einem unerklärlichen Gefühle der Gereiztheit und ärgerlich einen ihm im Wege liegenden Stein fortstoßend.

Das Bouquet bedeutete, daß Allan wie immer seiner augenblicklichen Eingebung gefolgt war. Der einzige angenehme Eindruck, den seine Unterredung mit Pedgift ihm hinterlassen, war der Eindruck, welchen der Bericht des Advocaten über seine Unterhaltung im Park mit Miß Neelie auf ihn gemacht hatte. Die Besorgniß, welche die Majorstochter so ernstlich zu erkennen gegeben, von ihm falsch beurtheilt zu werden, hatte sie Allan’s Augen in einem unwiderstehlich anziehenden Lichte erscheinen lassen, in dem Lichte des einzigen Wesens unter all seinen Nachbarn, das noch einigen Werth auf seine gute Meinung legte. Seine gesellschaftliche Vereinsamung jetzt, da er in dem öden Hause selbst Midwinter’s Gesellschaft vermißte, tief empfindend, in seiner Verlassenheit nach einem gütigen Worte und freundlichen Blicke hungernd und dürstend, begann er immer reuiger und immer sehnsüchtiger an das hübsche junge Gesicht zu denken, das in die Erinnerung an seine ersten glücklichen Tage in Thorpe-Ambrose so angenehm verwoben war. Sich eines solchen Gefühls bewußt werden hieß bei einem Menschen von Allan’s Charakter kopfüber nach demselben handeln, wohin dies auch immer führen mochte. Mit einem Sühneopfer von Blumen war er gestern Morgen ausgegangen, ohne sich indeß eine klare Vorstellung von dem zu machen, was er zu ihr sagen solle, wenn er ihr begegnete, um Miß Neelie zu suchen, und da er sie auf ihrem gewohnten Spaziergange nicht gefunden, hatte er am nächsten Morgen, mit einem noch größeren Sühneopfer ausgerüstet, mit charakteristischer Beharrlichkeit einen abermaligen Versuch gemacht. Von der Rückkehr seines Freundes noch nichts wissend, befand er sich jetzt in einiger Entfernung vom Hause und durchstreifte den Park in einer Richtung, an die er bisher noch nicht gedacht hatte.

Nachdem er ein paar hundert Schritte über die Ställe hinausgegangen und keine Spur von Allan entdeckt hatte, kehrte Midwinter wieder um und wartete in dem kleinen Gartenflecke, an der Hinterseite des Hauses langsam auf und ab gehend, auf die Zurückkunft seines Freundes.

Im Vorübergehen sah er von Zeit zu Zeit zerstreut in das Gemach hinein, das einst Mrs. Armadale’s Zimmer gewesen und jetzt durch seine Vermittlung der gewöhnliche Aufenthalt ihres Sohnes war, das Zimmer mit der Statuette auf der Console und den in das Gärtchen führenden Fensterthüren, welches ihn einst an das zweite Gesicht seines Traums gemahnt hatte. Der Schatten des Mannes, dem Allan an dem langen Fenster gegenüberstand, die Aussicht auf Rasen und Blumengartem das Geräusch des Regens an den Fensterscheiben; der ausgestreckte Arm des Schattens und die fallende und in Scherben am Boden liegende Statuette, diese Gegenstände und Ereignisse des Traumgesichts, die seinem Gedächtnisse einst so lebhaft eingeprägt gewesen, waren jetzt durch spätere Erinnerungen samt und sonders verdrängt worden und verschwammen in dem nebligen Hintergrunde der Zeit. Allein und sorgenvoll, konnte er zu wiederholten Malen an dem Zimmer vorübergehen, ohne ein einziges Mal an das Boot zu denken, das im Mondscheine dahintrieb, oder an die nächtliche Gefangenschaft auf dem Wrack.

Gegen zehn Uhr ließ sich plötzlich Allan’s wohlbekannte Stimme von den Ställen her vernehmen. Im nächsten Augenblicke ward er Vom Garten aus sichtbar. Sein zweites Suchen nach Neelie war, allem Anscheine nach, jedenfalls gescheitert. Der Strauß war noch in seiner Hand und resigniert schenkte er ihn einem der Kinder seines Kutschers.

Midwinter that schnell einen Schritt ihm entgegen und blieb dann plötzlich wieder stehen. Das Bewußtsein, daß seine Stellung seinem Freunde gegenüber durch seine Beziehungen zu Miß Gwilt bereits eine andere sei, erfüllte ihn beim ersten Anblicke Allan’s mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Einfluß, den die Gouvernante auf ihn gewonnen hatte, welches fast ein Mißtrauen gegen sich selbst war. Er wußte, daß er seine Heimreise aus den Mooren nach Thorpe-Ambrose mit dem Entschlusse angetreten hatte, die Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt, zu bekennen und, wenn dies nothwendig, auf einer zweiten und längeren Abwesenheit im Interesse des Opfers zu bestehen, welches er dem Glücke seines Freundes zu bringen entschlossen war. Was war jetzt aus diesem Entschlusse geworden? Die Entdeckung von Miß Gwilt’s veränderter Lage und ihre freiwillige Erklärung der Gleichgültigkeit gegen Allan hatten jenen in alle Winde gestreut. Die ersten Worte, mit denen er seinem Freunde entgegengekommen sein würde, wäre ihm auf seinem Heimwege nichts begegnet, waren Worte, die er bereits gänzlich von seinen Lippen verbannt hatte. Er wich zurück, als er dies fühlte, und versuchte mit instinktmäßiger Treue gegen Allan sich noch im letzten Augenblicke von dem Einflusse Miß Gwilt’s zu befreien.

Nachdem er über seinen nutzlosen Strauß verfügt, schritt Allan dem Garten zu, und sowie er in demselben eintrat, erkannte er Midwinter mit einem lauten Schrei der Ueberraschung und der Freude.

»Wache ich oder träume ich?« rief er, in großer Aufregung beide Hände seines Freundes ergreifend. »Du lieber alter Midwinter, bist Du aus der Erde aufgetaucht oder aus den Wolken herabgefallen?«

Nicht eher, als bis Mitwinter in jeder Einzelheit das Räthsel seines unerwarteten Erscheinens erklärt hatte, ließ Allan sich bewegen, ein Wort von sich selbst zu sagen. Als er aber endlich sprach, schüttelte er kläglich den Kopf und mäßigte die laute Herzlichkeit seiner Stimme, nachdem er sich zuvor umgesehen hatte, ob die Diener sich innerhalb Hörweite befänden.

»Seit Du mich verließest, habe ich vorsichtig zu sein gelernt«, sagte Allan. »Mein lieber Junge, Du hast keine Ahnung, was für Dinge inzwischen hier geschehen sind und in welcher fürchterlichen Patsche ich mich in diesem Augenblicke befinde.«

»Du irrst Dich, Allan. Ich habe von dem, was sich zugetragen, mehr gehört, als Du denkst.«

»Wie! Von der schrecklichen Klemme, in die ich mit Miß Gwilt gerathen? Von dem verdammten Skandal in der Umgegend? Du meinst doch nicht ——«

»«Ja«, unterbrach ihn Midwinter, »ich habe von Allem gehört«

»Gerechter Himmel! Wie denn? Hast Du Dich auf Deinem Rückwege in Thorpe-Ambrose aufgehalten? Warst Du etwa im Gasthofe? Bist Du Pedgift begegnet? Bist Du ins Lesezimmer gerathen, hast kennen lernen, wie das Lokalblatt die Pressefreiheit versteht?«

Midwinter wartete etwas, ehe er antwortete, und sah zum Himmel auf. Die Wolken hatten sich von ihnen unbemerkt über ihren Häuptern zusammengezogen und eben fielen die ersten Regentropfen.

»Komm’ hier herein«, sagte Allan. »Wir wollen auf diesem Wege zum Frühstück gelangen.« Er führte Midwinter durch die offene Glasthür in sein Wohnzimmer. Der Wind, der von dieser Seite kam, trieb den Regen ihnen hinter nach ins Zimmer. Midwinter der zuletzt kam, wandte sich um und schloß die Fensterthür.

Allan war zu neugierig auf die Antwort, die das Wetter unterbrochen hatte, um zu warten, bis sie das Frühstückszimmer erreichten. Er blieb am Fenster stehen und fügte noch zwei Fragen zu den bereits gethanen hinzu.

»Wie kannst Du nur etwas über Miß Gwilt und mich gehört haben? Wer hat Dir’s erzählt?«

»Miß Gwilt selbst«, erwiderte Midwinter ernst.

Sowie der Name der Gouvernante seinem Freunde über die Lippen kam, veränderte sich Allan’s Wesen.

»Ich wollte, Du hättest meine Geschichte zuerst gehört«, sagte er. »Wo hast Du Miß Gwilt getroffen?«

Eine kurze Pause trat ein. In das Interesse des Augenblicks versunken, standen sie beide am Fenster. Beide vergaßen sie, daß sie vor dem Wetter ins Frühstückszimmer hatten flüchten wollen.

»Ehe ich Deine Frage beantworte«, sagte Midwinter ein wenig gezwungen, »möchte ich Dich meinerseits etwas fragen. Ist es wirklich wahr, daß Du irgendwie an Miß Gwilt’s Abgang aus ihrer Stelle bei Milroy mit schuld bist?«

Eine neue Pause folgte. Allan’s Verlegenheit stieg merklich.

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, begann er. »Ich bin hintergangen worden, Midwinter. Ich bin von einer Person betrogen worden —— ich kann nicht umhin, dies zu sagen —— die mich zu einem Versprechen verleiten, das ich nicht hätte geben, und mich etwas thun ließ, das ich lieber nicht hätte thun sollen. Wenn ich es Dir erzähle, breche ich mein Wort nicht. Ich kann mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen, nicht wahr? Du wirst nie ein Wort davon verrathen, wie?«

»Halt!« rief Midwinter. »Vertraue mir keine Geheimnisse an, die nicht Dein Eigenthum sind. Hast Du ein Versprechen gegeben, so spiele nicht damit, selbst nicht, wenn Du mit einem so vertrauten Freunde sprichst, wie ich bin.« Er legte sanft und liebevoll seine Hand auf Allan’s Schulter. »Ich sehe wohl, daß ich Dich ein wenig in Verlegenheit gesetzt habe«, fuhr er fort, »und daß meine Frage nicht so leicht zu beantworten ist, wie ich gehofft und erwartet hatte. Wollen wir vielleicht etwas warten? Wollen wir etwa zuvor hinaufgehen und frühstücken?«

Allan lag viel zu sehr daran, dem Freunde sein Benehmen im rechten Lichte darzustellen, als daß er dessen Vorschlag hätte berücksichtigen können. Ohne vom Fenster zurückzutreten, antwortete er hastig und voll Eifer:

»Mein lieber Junge, die Frage ist ganz leicht zu beantworten. Sie erfordert nur ——« Er stockte. »Sie erfordert nur etwas, wozu ich sehr wenig Talent habe —— eine Auseinandersetzung.«

»Willst Du damit sagen«, fragte Midwinter ernster, doch nicht minder sanft als zuvor, »daß Du Dich erst rechtfertigen mußt, ehe Du meine Frage beantwortest?«

»Ganz recht!« erwiderte Allan mit einer Miene der Erleichterung. »Du hast wie gewöhnlich den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Midwinters Gesicht begann sich zu verfinsteren. »Es thut mir leid, das zu hören«, sagte er, indem seine Stimme leiser ward und seine Blicke den Boden suchten.

Der Regen wurde heftiger. Er zog über den Garten hin und schlug in schweren Tropfen gegen die Scheiben der geschlossenen Glasthür.

»Leid!« wiederholte Allan »Mein lieber Junge, Du kennst die Einzelheiten noch nicht. Watte, bis ich Dir die Sache erklärt habe.«

»Du bist ein schlechter Erklärer«, sagte Midwinter, Allan’s Ausdruck wiederholend. »Stelle Dich nicht in Nachtheil. Erkläre es nicht.«

Allan sah ihn mit stummer Ueberraschung und Verwunderung an.

»Du bist mein Freund, mein bester und theuerster Freund«, fuhr Midwinter fort. »Ich kann es nicht ertragen, daß Du Dich vor mir rechtfertigst, als ob ich Dein Richter wäre oder an Dir zweifelte.« Bei diesen Worten blickte er wieder offen und liebevoll zu Allan auf. »Und übrigens«, fuhr er fort, »glaube ich, wenn ich mein Gedächtniß zu Hilfe nehme, zu wissen, was Deine Erklärung ist. Ehe ich fortging, hatten wir eine kurze Unterredung über gewisse sehr delicate Fragen, die Du an Major Milroy richten wolltest. Ich erinnere mich, daß ich Dich warnte; ich erinnere mich auch, daß ich dabei meine Bedenken hatte. Hätte ich Recht, wenn ich riethe, daß jene Fragen Dich auf eine oder die andere Art in eine falsche Stellung gebracht haben? Wenn es wahr ist, daß Du damit zu thun gehabt hast, Miß Gwilt zu einem Aufgeben ihrer Stelle zu veranlassen, ist es nicht mehr als billig, anzunehmen, daß Du irgend welches Unheil, für das Du verantwortlich bist, unschuldig angerichtet hast?«

»Ja«, sagte Allan seinerseits zum ersten Male etwas gezwungen. »Es ist nicht mehr als billig, dies anzunehmen.« Er schwieg und begann mit dem Finger auf die angelaufene Fensterscheibe zu zeichnen. »Du bist nicht wie andere Leute, Midwinter«, sagte er plötzlich mit Anstrengung, »und ich wollte dennoch, daß Du Alles genau erfahren hättest.«

»Ich will es hören, wenn Du es wünschest«, erwiderte Midwinter. »Aber ohne ein weiteres Wort, davon bin ich überzeugt, daß Du nicht geflissentlich Ursache wurdest, Miß Gwilt um ihre Stelle zu bringen. Sobald dies zwischen uns beiden festgestellt ist, braucht nichts weiter gesagt zu werden, wie mir scheint. Ueberdies habe ich Dir noch eine weit wichtigere Frage vorzulegen, eine Frage, zu der ich durch etwas, das ich gestern Abend, mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört, gezwungen bin.«

Er schwieg, wider Willen vor der Frage zurückbebend. »Sollen wir erst hinaufgehen ?« fragte er, plötzlich der Thür zuschreitend um Zeit zu gewinnen.

Es half nichts. Noch einmal wurden sie in dem Zimmer, das beiden zu verlassen frei stand, dem Zimmer, das der eine von ihnen schon zweimal hatte verlassen wollen; festgehalten, als wären sie Gefangene gewesen.

Ohne zu antworten, ohne selbst, wie es schien, Midwinter’s Vorschlag gehört zu haben, folgte Allan ihm mechanisch an die Thür. Dort blieb er stehen. »Midwinter!« rief er von einem plötzlichen Erstaunen und Grausen ergriffen aus, »es kommt mir vor, als sei. etwas Fremdes zwischen uns getreten! Du bist nicht mehr der Alte. Was ist das?«

Midwinter, dessen Hand auf der Thürklinke ruhte, wandte sich um und sah ins Zimmer zurück. Der Augenblick war gekommen. Die ihn gespenstisch verfolgende Furcht, seinem Freunde Unrecht zu thun, hatte sich in einer Gezwungenheit der Sprache, der Mienen und des Benehmens zu erkennen gegeben, die deutlich genug waren, um selbst Allan aufzufallen. Das Einzige, was er im Interesse der Freundschaft, die sie vereinte, jetzt noch thun konnte und thun durfte, war, daß er unverzüglich und unverhohlen sprach.

»Etwas Fremdes ist zwischen uns getreten«, rief Allan nochmals aus. »Sage mir um Gottes Willen, was es ist?«

Midwinter ließ die Thürklinke los und ging wieder ans Fenster, Allan ihm nach. Nothwendigerweise stand der erstere jetzt da, wo noch eben Allan gestanden hatte, an der Seite des Fensters, wo sich die Statuette befand. Die kleine Figur stand auf der vorspringenden Console dicht hinter ihm zu seiner Rechten. An dem regnerischen Himmel zeigte sich noch keine Veränderung. Noch immer strich der Regen schräg über den Garten her und schlug in schweren Tropfen an das Fenster.

»Gib mir die Hand, Allan.«

Allan reichte sie ihm und Mtdwinter hielt sie fest.

»In der That«, sagte er, »ist etwas Fremdes zwischen uns getreten. Etwas, das Dich nahe betrifft, muß ins Klare kommen, und das ist noch nicht geschehen. Du hast mich soeben gefragt, wo ich Miß Gwilt getroffen habe. Ich begegnete ihr auf meinem Heimwege, auf der Landstraße jenseits der Stadt. Sie bat mich, sie gegen einen Mann zu schützen, der sie verfolgte und ängstigte. Ich habe den Schurken mit meinen eigenen Augen gesehen und würde Hand an ihn gelegt haben, hätte Miß Gwilt selbst mich nicht daran verhindert. Sie gab einen sehr seltsamen Grund für diese ihre Einmischung an. Sie sagte nämlich, ich wisse nicht, in wessen Auftrag er handle.«

Allan’s Gesicht überzog sich plötzlich mit einer tiefen Glut. Rasch sah er seitwärts durchs Fenster auf den herabströmenden Regen. In demselben Augenblicke lösten sich ihre Hände und beide schwiegen. Midwinter nahm zuerst wieder das Wort.

»Am späteren Abend«, fuhr er fort, »sprach sich Miß Gwilt deutlich aus. Zweierlei theilte sie mir mit. Sie erklärte, daß der Mann, welcher sie verfolgt, ein gedungener Spion sei. Ich war überrascht, aber ich konnte es nicht bestreiten. Dann sagte sie mir etwas, von dem ich aus tiefstem Herzen überzeugt bin, daß es eine Lüge ist, die man ihr als eine Wahrheit dargestellt hat; sie sagte mir, daß der Spion in Deinen Diensten stehe!«

Augenblicklich wandte sich Allan vom Fenster weg und sah Midwinter wieder gerade ins Gesicht. »Ich muß es jetzt erklären!« sagte er entschlossen. Auf Midwinters Wangen legte sich jene aschfarbene Blässe, die ihn in Fällen heftiger Gemüthsbewegung überkam.

»Noch mehr Erklärungen! sagte er und trat einen Schritt zurück, während seine Augen sich erschrocken und forschend auf Allans Gesicht hefteten.

»Du weißt nicht, was ich weiß, Midwinter. Du weißt nicht, daß das, was ich gethan habe, aus gutem Grunde gethan worden ist. Und mehr noch, ich habe mich nicht auf mich selbst verlassen —— ich bin gut berathen gewesen.«

»Hast Du gehört, was ich so eben sagte?« fragte Midwinter ungläubig; »Du kannst —— ach, unmöglich kannst Du mich verstanden haben !«

»Ich habe kein Wort davon verloren«, erwiderte Allan. »Ich sage Dir nochmals, Du weißt nichts von dem, was mir von Miß Gwilt bekannt ist. Sie hat Miß Milroy gedroht. Miß Milroy befindet sich in Gefahr, solange ihre Erzieherin hier in der Umgegend bleibt.«

Mit einer verachtungsvollen Handbewegung schloß Midwinter die Majorstochter aus ihrer Unterredung aus.

»Will nichts von Miß Milroy hören«, sagte er. »Bringe nicht Miß Milroy mit —— gerechter Gott, Allan, willst Du mir etwa zu verstehen geben, daß der Spion; der Miß Gwilt aufzulauern gedungen war, sein schändliches Werk mit Deiner Bewilligung that?«

»Ein- für allemal, mein lieber Junge, frage ich Dich, ob Du mich die Sache erklären lassen willst oder nicht?«

»Erklären!« rief Midwinter mit flammensprühenden Augen und einem Gesichte, in dem sein heißes Creolenblut glühte. »Die Mithilfe eines Spions erklären? Wie! Nachdem Du Miß Gwilt durch Deine Einmischung in ihre Privatangelegenheiten aus ihrer Stelle vertrieben, bedienst Du Dich des schändlichsten aller Mittel, bedienst Du Dich eines Spions, um Dich noch ferner in ihre Angelegenheiten zu mischen? Du läßt dem Weibe auflauern, von dem Du mir vor kaum vierzehn Tagen selbst sagtest, daß Du es liebtest, einem Weibe, das Du zu Deiner Gattin machen wolltest! Ich glaube es nicht! Ich wills nicht glauben! Läßt mein Verstand mich im Stich? Spreche ich mit Allan Armadale? Ist es Allan Armadale’s Gesicht, das mich anblickt? Halt! Du handelst aus falschen Scrupeln. Irgend ein gemeiner Geselle hat sich in Dein Vertrauen eingeschlichen und in Deinem Namen gehandelt, ohne Dir etwas davon zu sagen.

Mit bewunderungswürdiger Geduld und Nachsicht für die Heftigkeit seines Freundes beherrschte sich Allan.

»Wenn Du mich durchaus nicht anhören willst«, sagte er, »so muß ich eben warten, so gut ich kann, bis die Reihe an mich kommt.«

»Sage mir, daß Du mit der Beschäftigung jenes Mannes nichts zu schaffen hast, und dann will ich Dich gern anhören.«

»Gesetzt, es wäre eine Notwendigkeit, welche Du nicht kennst, vorhanden, daß ich mich seiner bediente?«

»Die feige Verfolgung eines hilflosen Weibes erkenne ich als keine Nothwendigkeit an.«

Eine wichtige, doch nur ganz flüchtige Zornesglut glitt über Allan’s Gesicht. »Wenn Du die Wahrheit wüßtest«, sagte et, »so dürftest Du sie nicht für so hilflos halten.«

»Bist Du der Mann, der mir die Wahrheit sagen kann?« entgegnete der Andere. »Du, der ihre Vertheidigung nicht hat anhören wollen, Du, der ihr die Thüren dieses Hauses hat verschließen lassen!«

Noch immer beherrschte sich Allan, aber sichtlich begann es ihm Mühe zu kosten.

»Ich weiß, daß Du ein hitziges Temperament hast«, sagte er; Dessen ungeachtet aber überrascht mich Deine Heftigkeit. Ich kann mir’s nicht erklären, außer ——« er stockte einen Augenblick und schloß den Satz dann mit seiner gewohnten geraden Offenheit: »außer Du wärest selbst in Miß Gwilt verliebt.«

Diese letzten Worte gossen Oel ins Feuer. Sie streiften der Wahrheit sofort alle Verstellung und Verkleidung ab und stellten sie nackt vor das Auge hin. Allan’s Instinkt hatte richtig gerathen und die Triebfeder von Midwinter’s Interesse für Miß Gwilt lag klar vor Augen.

»Welches Recht hast Du zu dieser Behauptung?« fragte er mit erhobener Stimme und drohenden Blicken.

»Ich habe es Dir gesagt«, entgegnete Allan einfach, »als ich selbst in sie verliebt zu sein glaubte. Geh, geh,es scheint mir etwas stark, daß Du, selbst wenn Du in sie verliebt bist, Alles glaubst, was sie Dir sagt, und mich kein Wort sagen lassen willst. Ist das die Art und Weise, wie Du zwischen uns richtest?«

»Ja!« rief Midwinter, wüthend über Allan’s wiederholte Erwähnung der Gouvernante. »Wenn ich aufgefordert werde, zwischen dem Manne, der sich eines Spions bedient, und dem Opfer eines Spions zu wählen, so trete ich. auf die Seite des Opfers!«

»Stelle mich nicht zu sehr auf die Probe, Midwinter, ich könnte ebenso wie Du die Geduld verlieren.«

Er schwieg, im Kampfe mit sich selbst. Die Marter der Leidenschaft in Midwinters Gesicht, vor der eine weniger einfache und weniger edle Natur mit Entsetzen zurückgeschaudert wäre, erfüllte Allan plötzlich mit ungeheuchelter Betrübniß, die in diesem Auge an das Göttliche grenzte. Mit feuchten Blicken und ausgestreckter Hand trat er einen Schritt näher. »Du hast mich soeben um meine Hand gebeten«, sagte er, »und ich habe sie Dir gegeben. Willst Du an alte Zeiten denken und mir die Deinige geben, ehe es zu spät ist?«

»Nein!« rief Midwinter wüthend. »Ich begegne Miß Gwilt vielleicht noch einmal und kann dann meine Hand brauchen, um Deinen Spion abzufertigen!«

Er war, als Allan ihm näher getreten, an die Wand zurückgewichen, bis die Console mit der Statuette sich, anstatt hinter ihm, vor ihm befand. seiner blinden Leidenschaft nichts sehend als Allan’s Gesicht, während er antwortete, und die rechte Hand drohend erhebend, schlug er an die vergessene Console und im nächsten Augenblicke lag die Statuette in Scherben am Boden.

Der Regen strich schräg über den Blumengarten und Rasen und schlug in schweren Tropfen an die Fensterscheiben, und die beiden Armadales standen am Fenster, wie die beiden Schatten in dem Traumgesichte dagestanden hatten, und zwischen ihnen lagen die Trümmer der kleinen Figur.

Allan bückte sich zu den Scherben derselben herab und sammelte sie einen nach dem andern vom Boden auf. »Verlaß mich«, sagte er, ohne aufzublicken, »oder wir werden es beide bereuen.« Zum zweiten Male stand Midwinter mit der Hand auf der Thürklinke da und warf zum letzten Male einen Blick ins Zimmer zurück. Das Grausen jener Nacht auf dem Wrack hatte ihn wieder gepackt und die Glut seiner Leidenschaft war augenblicklich erloschen.

»Der Traum!« flüsterte er mit verhaltenem Athem. »Wiederum der Traum!«

Von außen ward an die Thür gegriffen und ein Diener erschien mit einer trivialen Meldung hinsichtlich des Frühstücks.

Midwinter sah den Mann mit einem Blicke an, in welchem sich die vollkommenste Hilflosigkeit abspiegelte

»Führt mich hinaus«, sagte er. »Es ist finster, und das Zimmer dreht sich mit mir herum.«

Der Diener nahm seinen Arm und führte ihn schweigend hinaus.

Als die Thür sich hinter ihnen schloß, nahm Allan eben die letzten Scherben vom Boden auf. Er setzte sich allein an den Tisch und barg sein Gesicht in den Händen. Die Selbstbeherrschung, die er so wiederholt und so tapfer gegen die Aufreizung bewahrt hatte, verließ ihn endlich in der freundlosen Einsamkeit seines Zimmers, und in der ersten Bitterkeit des Gefühls, daß auch Midwinter sich gegen ihn gewendet habe, brach er in Thränen aus.

Minute auf Minute verrann und die Zeit verstrich langsam. Allmälig erschienen Anzeichen eines neuen Aufruhrs der Elemente. Der Schatten einer schnell zunehmenden Dunkelheit zog über den Himmel. Mit dem nachlassenden Winde nahm auch der Regen ab. Eine momentane Stille trat ein. Dann goß es plötzlich wieder in Strömen herab und die ersterbenden Lüfte trugen das dumpfe Rollen des Donners daher.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

1. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.

Thorpe-Ambrose, den 20» Juli 1851.

»Verehrtes. Fräulein! Durch einen Privatboten empfing ich Ihr werthes Schreiben, in dem Sie mir befohlen, nur durch die Post mit Ihnen zu verkehren, solange Grund zu glauben vorhanden, daß der bei Ihnen vorsprechende Besuch beobachtet werde. Darf ich mir die Freiheit nehmen, zu sagen, daß ich mit respectvoller Sehnsucht der Zeit entgegensehe, wenn ich wieder die einzige wahre Seligkeit genießen darf, die ich je gekannt habe, das Glück, persönlich zu Ihnen reden zu können?

Ihrem Wunsche zufolge, daß ich nämlich diesen Tag —— Sonntag —— nicht vorübergehen lassen solle, ohne mich im geheimen von dem zu unterrichten, was sich im Herrenhause zutrüge, nahm ich heute Morgen die Schlüssel und begab mich nach der Administrationskanzlei. Den Dienern erklärte ich meine Anwesenheit dadurch, daß ich ihnen sagte, ich hätte eine gewisse Arbeit vor, deren schleunigste Vollendung von größter Wichtigkeit sei. Dieselbe Entschuldigung würde, wenn ich Mr. Armadale begegnet wäre, auch ihm gegenüber ausgereicht haben, doch fand keine solche Begegnung statt.

Obwohl ich meiner Ansicht nach sehr zeitig in Thorpe-Ambrose anlangte, kam ich doch zu spät, um selbst etwas von einem sehr ernstlichen Zerwürfniß zu sehen oder zu hören, welches zwischen Mr. Armadale und Mr. Midwinter vorgefallen war. Das Wenige, was ich Ihnen darüber mittheilen kann, habe ich von einem der Diener erfahren. Der Mann sagte mir, er habe sehr laute Stimmen —— die der beiden Herren —— in Mr. Armadale’s Wohnzimmer gehört. Bald darauf war er hineingegangen um zu melden, daß das Frühstück serviert sei, und fand Mr. Midwinter in einem Zustande so fürchterlicher Aufregung, daß derselbe sich aus dem Zimmer führen lassen mußte. Der Lakai wollte ihn auf sein Zimmer bringen, damit er sich still auf sein Bett lege und beruhige. Doch Mr. Midwinter widersetzte sich dem und sagte, er wolle erst in einem Zimmer des Erdgeschosses einen Augenblick bleiben, und bat allein gelassen zu werden. Kaum war der Mann wieder im Souterrain angelangt, als er hörte, wie die Hausthür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er lief zurück und bemerkte, daß Mr. Midwinter fortgegangen sei. Es regnete zur Zeit in Strömen und bald darauf brach das Gewitter los. Jedenfalls ein entsetzliches Wetter zum Ausgehen! Der Diener meint, Mr. Midwinter sei nicht recht bei Sinnen gewesen. Ich hoffe von Herzen, daß dies nicht der Fall war. Mr. Midwinter ist einer von den Wenigen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, die mich freundlich behandelt haben.

Da ich hörte, daß Mr. Armadale noch immer in seinem Wohnzimmer sei, begab ich mich in die Expedition, die, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, aus derselben Seite des Hauses gelegen ist, und ließ die Thür und das Fenster ein wenig offen, um auf Alles lauschen zu können, was passieren würde. Verehrtestes Fräulein, es gab eine Zeit, wo ein solches Verfahren im Hause meines Prinzipals mir als kein sehr ziemliches erschienen sein würde. Lassen Sie mich Ihnen indessen die Versicherung geben, daß ich weit entfernt bin, jetzt eine solche Ansicht zu hegen. Ich bin stolz auf Alles, wodurch ich Ihnen dienstbar werde.

Das Wetter schien sich der Wiederannäherung Mr. Armadale’s und Miß Milroys, die Sie so zuversichtlich erwarten und von der Sie von Allan unterrichtet werden möchten, hoffnungslos in den Weg zu stellen Seltsamerweise aber bin ich gerade wegen des Wetters in der Lage, Ihnen die verlangte Auskunft zu ertheilen. Vor etwa einer Stunde trafen sich Mr. Armadale und Miß Milroy unter folgenden Umständen. Gleich beim Ausbruche des Gewitters sah ich einen der Reitknechte vom Stalle herüberlaufen und hörte ihn an das Fenster seines Herrn klopfen. Mr. Armadale öffnete das Fenster und fragte, was der Bursche wolle. Der Reitknecht sagte, die Frau des Kutschers sende ihn mit einer Bestellung. Sie habe von ihrem Zimmer über dem Stalle, das auf den Park hinausgeht, Miß Milroy ganz allein im Schutze der Bäume stehen sehen. Da dieser Theil des Parks ziemlich entfernt von des Majors Wohnung sei, habe sie gemeint, ihr Herr werde vielleicht wünschen, daß man Jemand zu der jungen Dame hinaus sende und sie ins Haus zu kommen bitte, namentlich da sie sich an eine Stelle geflüchtet, die bei einem Gewitter sehr gefährlich sein dürfte.

Sowie Mr. Armadale den Mann gehört, ließ er wasserdichte Mäntel und Regenschirme bringen und lief, anstatt dies der Dienerschaft zu überlassen, selber in das Wetter hinaus.

Von einem der Stubenmädchen, das die junge Dame aus ein Schlafzimmer geführt und dort mit den trockenen Kleidern versehen hatte, deren sie bedurfte, erfuhr ich dann, daß Miß Milroy später in den Salon hinabgeleitet worden und daß Mr. Armadale dort bei ihr sei. Die einzige Möglichkeit, Ihre Instructionen zu befolgen und von dem, was zwischen ihnen vorging, Kenntniß zu erlangen, war, daß ich mitten im strömenden Regen ums Haus herum und durch die äußere Thür nach dem Gewächshause ging, das, wie Sie wissen, mit dem Salon in Verbindung steht. In Ihrem Dienste schrecke ich vor nichts zurück, theures Fräulein Ihnen zu Gefallen ließe ich mich mit Vergnügen jeden Tag durchnässen Und wenngleich man mich auf den ersten Blick vielleicht für einen ältlichen Mann halten möchte, so macht mir ein solches Bad doch nicht eben viel aus. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht so alt, wie ich aussehe, und habe eine kräftigere Constitution, als es den Anschein haben mag.

Mich im Gewächshause nahe genug heranzuwagen, um, ohne selbst gesehen zu werden, zu sehen, was im Salon vorging, war mir unmöglich. Doch drang der größere Theil ihrer Unterhaltung bis zu mir, ausgenommen wenn sie flüsternd mit einander sprachen. Folgendes ist das Wesentliche von dem, was ich hörte. Ich entnahm, daß Miß Milroy sich wider Willen hatte bewegen lassen, in Mr. Armadales Hause vor dem Gewitter Schutz zu suchen. Wenigstens sagte sie dies und gab zwei Gründe dafür an. Der erste war, daß ihr Vater allen Verkehr zwischen dem Parkhäuschen und dem Herrenhause untersagt habe. Mr. Armadale begegnete diesem Einwande durch die Versicherung, daß ihr Vater diesen Befehl in einer völlig irrthümlichen Meinung ertheilt habe, und bat sie, ihn nicht ebenso grausam zu behandeln wie ihr Vater. Vermuthlich ließ er sich hierbei in Erklärungen ein; da er aber die Stimme senkte, bin ich nicht im Stande zu sagen, welcher Art dieselben waren. Seine Sprache, wenn ich dieselbe hören konnte, war verwirrt und unbeholfen. Indessen schien sie verständlich genug, um Miß Milroy zu überzeugen, daß ihr Vater nach einer falschen Auslegung der Umstände gehandelt habe. Wenigstens nehme ich dies an; denn als ich wieder etwas von der Unterhaltung verstehen konnte, sah die junge Dame sich auf ihren zweiten Einwand zurückgedrängt, der darin bestand, Mr. Armadale habe sich sehr garstig gegen sie benommen und reichlich verdient, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Dagegen versuchte Mr. Armadale sich gar nicht zu vertheidigen. Er stimmte mit ihr darin überein, daß er sich schlecht gegen sie benommen und wohl verdient habe, daß sie nie wieder mit ihm spräche. Zugleich aber bat er sie zu bedenken, daß er seine Strafe bereits erlitten. Er sei in der Nachbarschaft discreditirt und sein liebster Freund, sein einziger vertrauter Freund in der Welt, habe sich diesen Morgen wie alle Andern gegen ihn gewandt. Weder in der Nähe noch in der Ferne gebe es ein einziges lebendes Wesen, das er lieb habe, ihn zu trösten, ihm ein freundliches Wort zu sagen. Er sei einsam und elend und sein Herz sehne sich nach ein wenig Freundlichkeit, und dies sei seine einzige Entschuldigung dafür, wenn er jetzt Miß Milroy bitte, zu vergessen und zu vergeben.

Die Wirkung dieser Worte auf die junge Dame sich zu denken muß ich leider Ihnen überlassen, denn trotz der größten Anstrengung konnte ich nicht hören, was sie sagte. Ich glaube indeß fast sicher, daß ich sie weinen und Mr. Armadale sie anflehen hörte, ihm nicht das Herz zu brechen. Sie flüsterten sehr viel mit einander, was mich außerordentlich verdroß. Nachher hatte ich eine große Angst auszustehen. Mr. Armadale kam nämlich ins Gewächshaus, um einige Blumen zu pflücken, glücklicherweise aber nicht bis dahin, wo ich mich versteckt hatte, sondern er ging in den Salon zurück und das Geplauder begann von neuem, wahrscheinlich in engster Vertraulichkeit, wovon ich zu meinem großen Bedauern nichts hören konnte. Halten Sie mir es nicht für übel, daß ich Ihnen so wenig zu berichten habe. Ich kann nur hinzufügen, daß Miß Milroy, sowie das Gewitter nachließ, mit den Blumen in der Hand und von Mr. Armadale aus dem Hause begleitet fortging. Meine eigene bescheidene Ansicht ist die, daß er in der Zuneigung, welche die junge Dame zu ihm hegt, den mächtigsten Fürsprecher besaß.

Dies ist Alles, was ich heute mitzutheilen habe, eins ausgenommen, was ich hörte und zu erwähnen mich schäme. Aber Ihr Wort ist mir Gesetz, und Sie haben mir befohlen, Ihnen nichts zu verheimlichen.

Einmal fiel die Rede auf Sie, theures Fräulein. Ich glaube gehört zu haben, daß Miß Milroy das Wort Geschöpf aussprach, und ganz gewiß weiß ich, daß Mr. Armadale, während er eingestand, wie er Sie einstmals bewundert habe, hinzusetzte, daß die Umstände ihn seitdem seine Thorheit hätten einsehen lassen. Ich wiederhole seinen eigenen Ausdruck, der mich vor Entrüstung zittern machte. Der Mann, welcher Miß Gwilt bewundert, lebt, wenn ich dies zu sagen wagen darf, im Paradiese. Die Achtung, wenn sonst nichts Anderes, hätte wenigstens Mr. Armadale’s Lippen schließen sollen. Er ist mein Brodherr, ich weiß es wohl, aber jetzt, wo er Bewunderung für Sie eine Thorheit genannt hat, muß ich ihn, obwohl nur sein Untergebener, aus tiefstem Herzen verachten.

In der Hoffnung, daß ich so glücklich bin, Sie soweit zufrieden gestellt zu haben, und mit dem aufrichtigen Wunsche, die Ehre Ihres fortgesetzten Vertrauens zu verdienen, verbleibe ich,

theuerstes Fräulein,

Ihr dankbarer und ergebener Diener

Felix Bashwood.«

2. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street. Montag den 21. Juli.

Meine liebe Lydia! Ich muß Dich mit diesen wenigen Zeilen belästigen. Ich schreibe sie bei unserm gegenwärtigen Beziehungen zu einander aus Pflichtgefühl gegen mich selbst.

Mit dem Tone Deiner beiden letzten Briefe bin ich ganz und gar nicht zufrieden, noch weniger aber damit, daß ich heute Morgen keinen Brief von Dir erhalten, und dies, nachdem wir übereingekommen, daß ich während unserer gegenwärtigen zweifelhaften Aussichten täglich von Dir hören solle! Ich kann mir Dein Benehmen nur in einer Weise erklären; ich kann nur annehmen, daß die Geschichte in Thorpe-Ambrose ganz verpfuscht ist und verkehrt geht.

Dir Vorwürfe zu machen ist nicht die Absicht dieser Zeilen, denn wozu sollte ich wohl Zeit, Worte und Papier verschwenden? Ich möchte Dich nur an gewisse Erwägungen erinnern, die Du zu vergessen geneigt zu sein scheinst. Soll ich sie mit deutlichen Worten nennen? Ja, denn ungeachtet all meiner Fehler bin ich doch die personificirte Offenheit.

Erstens habe ich ebenso wohl wie Du ein Interesse daran, daß Du Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose wirst. Zweitens habe ich Dich, meiner gut Rathschläge gar nicht zu gedenken, mit dem Gelde versehen dessen Du zur Ausführung Deines Zweckes bedurftests. Drittens habe ich Deine Schuldverschreibungen auf, kurze Fristen für jeden Heller, den ich Dir so geliehen, in Händen. Viertens und letztens lasse ich, obgleich ich als Freundin gegen Fehler nachsichtig bin, als Geschäftsfrau nicht mit mir spielen. Damit genug Lydia, wenigstens für jetzt.

Bitte, denke nicht, daß ich im Zorne schreibe; ich bin nur bekümmert und entmuthigt. Mein Gemüthszustand gleicht dem des Königs David. Hätt’ ich die Flügel einer Taube, so wollt’ ich fortfliegen und Ruhe finden.

Herzlich die Deine

Maria Oldershaw.«

3. Mr. Bashwood an Miß Gwilt.

»Thorpe-Ambrose, den 21. Juli.

Theuerstes Fräulein! Sie werden diese Zeilen wahrscheinlich einige Stunden nach dem Empfange meines gestrigen Briefes erhalten. Ich habe den ersten Brief gestern Abend auf die Post gegeben und werde diesen heute noch vor Mittag absenden.

Der Zweck. meines gegenwärtigen Schreibens ist, Ihnen noch fernere Neuigkeiten aus diesem Hause mitzutheilen Ich habe die Unaussprechliche Freude, Ihnen anzukündigen, daß Mr. Armadale’s schmachvolle Bewachung Ihrer Person zu Ende ist. Die Beobachtung Ihrer Handlungen soll mit diesem Tage aufhören. Ich schreibe, verehrtes Fräulein, mit Thränen in den Augen, Freudenthränen, welche durch Gefühle hervorgerufen werden, die ich in meinem letzten Briefe auszusprechen gewagt habe. Verzeihen Sie mir diese persönliche Bemerkung. Ich kann, ich weiß nicht warum, mich viel besser schriftlich als mündlich gegen Sie aussprechen.

Ich muß mich zu fassen suchen und dann mit meinem Briefe fortfahren.

Eben war ich diesen Morgen auf das Bureau gekommen, als Pedgift der ältere mir in das Herrenhaus folgte, um auf Wunsch Mr. Armadale aufzuwarten. Es ist unnöthig zu sagen, daß ich sofort alle kleinen Geschäfte, die es dort für mich gab, verschob, da ich fühlte, es handle sich vielleicht um Ihre Interessen. Zu meiner außerordentlichen Freude kann ich Ihnen mittheilen, daß die Umstände mich diesmal begünstigten Unter dem offenen Fenster stehend konnte ich die ganze Unterredung mit anhören.

Mr. Armadale sprach sofort in den deutlichsten Worten. Er ertheilte Befehl, daß die zu Ihrer Beobachtung gedungene Person unverzüglich entlassen würde. Ersucht, diese plötzliche Sinnesänderung zu erklären, machte er kein Geheimniß daraus, daß dieselbe dem Eindrucke beizumessen sei, den das gestern zwischen ihm und Mr. Midwinter Vorgefallene auf ihn gemacht habe. Mr. Midwinter’s Worte, wie höchst ungerecht dieselben immer gewesen, hätten ihn dessen ungeachtet überzeugt, daß keine Nothwendigkeit ein an sich so niedriges Mittel wie die Benutzung eines Spions entschuldigen könne, und nach dieser Ueberzeugung sei er jetzt zu handeln entschlossen.

Hätten Sie mir nicht Ihre strengen Befehle ertheilt, Ihnen von dem, was hier vorgeht und was sich irgendwie auf Sie bezieht, nichts zu verheimlichen, so würde ich mich wirklich schämen, Ihnen zu berichten, was Mr. Pedgift seinerseits erwiderte. Allerdings hat er gütig an mir gehandelt. Aber selbst wenn er mein eigener Bruder wäre, vermöchte ich ihm nimmer den Ton, in dem er von Ihnen sprach, und die Hartnäckigkeit zu vergeben, mit welcher er Mr. Armadale umzustimmen versuchte.

Er begann mit einem Angriffe auf Mr. Midwinter. Mr. Midwinter’s Ansicht, meinte er, sei die schlechteste, die man überhaupt fassen könne, denn es liege am Tage, daß Sie, theuerstes Fräulein, ihn um die Finger gewunden hätten. Da er mit dieser unzarten Bemerkung, der Niemand, der Sie kennt, nur einen Augenblick Glauben schenken könnte, keinen Eindruck machte, so erwähnte Mr. Pedgift zunächst Miß Milroy’s und fragte Mr. Armadale, ob er es gänzlich aufgegeben habe, sie zu beschützen Was er damit meinte, begreife ich nicht; ich kann es Ihnen nur zur eigenen Erwägung berichten. Mr. Armadale erwiderte kurz, er habe seinen eigenen Plan zu Miß Milroy’s Schutze gefaßt, und die Verhältnisse hätten sich in dieser Beziehung verändert, oder etwas der Art. Mr. Pedgift aber blieb hartnäckig Er wurde, ich erröthe, es zu schreiben, sogar immer verbissener. Er wollte Mr. Armadale zunächst bereden, einen oder den andern seiner Gutsnachbarn, die sich gegen sein Betragen am entschiedensten ausgesprochen hätten, gerichtlich zu belangen, und zwar einzig und allein zu dem Zwecke —— ich weiß wirklich kaum, wie ich es ausdrücken soll —— um Sie als Zeugin vorladen zu können. Noch mehr. Da Mr. Armadale abermals nein sagte, kehrte Mr. Pedgift, der, dem Klange seiner Stimme nach zu urtheilen, nur an die Thür gegangen zu sein schien, wieder um und schlug vor, man solle einen geheimen Polizisten aus London kommen lassen, damit dieser Sie blos einmal ansehe. »Das ganze Geheimniß, das Miß Gwilt umgibt", sagte er, »ist vielleicht eine einfache Frage der Identität Es wird nicht viel kosten, einen Mann aus London kommen zu lassen, und es verlohnt sich wohl des Versuchs, zu erfahren, ob ihr Gesicht im Hauptbureau der Polizei bekannt ist oder nicht.« Von neuem wiederhole ich Ihnen, theuerste Dame, daß ich diese abscheulichen Worte nur aus Pflichtgefühl gegen Sie berichte, und erkläre Ihnen, daß ich an allen Gliedern zitterte, als ich dieselben hörte.

Ich will jedoch fortfahren, denn ich habe Ihnen noch mehr mitzutheilen.

Mr. Armadale sagte noch immer nein, das muß ich zu seiner Ehre eingestehen, obgleich ich ihn nicht leiden kann. Er schien über Mr. Pedgift’s Hartnäckigkeit ärgerlich zu werden und sprach in etwas gereiztem Tone. »Als wir uns das letzte Mal über diesen Gegenstand unterhielten«, sagte er, »haben Sie mich zu einer Handlungsweise beredet, deren ich mich seitdem herzlich geschämt habe. Sie sollen mich nicht zum zweiten Male zu etwas Aehnlichem überreden, Mr. Pedgift.« Das waren genau seine Worte. Mr. Pedgift schien hierauf seinerseits gereizt und erwiderte hastig: »Erscheint Ihnen mein Rath in diesem Lichte, Sir, so bedienen Sie sich desselben für die Zukunft lieber so wenig wie möglich. Ihr Ruf und Ihre Stellung sind in der Angelegenheit zwischen Ihnen und Miß Gwilt öffentlichen Angriffen ausgesetzt, und in einem höchst kritischen Augenblicke bestehen Sie darauf, Ihren eigenen Weg einzuschlagen, der meiner Ansicht nach nur zu einem schlimmen Ziele führen wird. Nach Allem, was ich in dieser sehr ernsten Sache bereits gesagt und gethan habe, kann ich mich nicht dazu verstehen, dieselbe mit gebundenen Händen weiter zu verfolgen, und solange ich öffentlich als Ihr Rechtsanwalt bekannt bin, kann ich sie auf Ehre nicht fallen lassen. Sie lassen mir keine andere Wahl, Sir, als der Ehre zu entsagen, Ihnen als gesetzlicher Rathgeber zu dienen« —— »Das bedaure ich zu hören", versetzte Mr. Armadale, »aber durch meine Einmischung in Miß Gwilt’s Angelegenheiten habe ich bereits genug zu leiden gehabt. Ich kann und will nichts weiter in der Sache thun.« —— »Sie mögen vielleicht nichts weiter darin thun, Sir", sagte Mr. Pedgift, »und ich werde gewiß nichts weiter darin unternehmen, denn ich nehme ferner kein Interesse an der Sache. Aber merken Sie auf meine Worte, Mr. Armadale: Sie sind mit dieser Geschichte noch nicht am Ende. Es ist sehr möglich, daß die Neugierde einer andern Person die Sache da, wo Sie und ich dieselbe fallen lassen, wieder aufnimmt und schließlich noch ein helles Licht aus Miß Gwilt wirft.«

Wie ich glaube, theile ich Ihnen ihr Gespräch Wort für Wort mit, theures Fräulein. Dasselbe hat einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich gemacht, mich, ich weiß kaum warum, mit einer gewaltigen Angst erfüllt. Ich kann es mir durchaus nicht erklären, und noch viel weniger, was unmittelbar darauf geschah.

Mr. Pedgift’s Stimme schien, als er jene Worte sprach, mir fürchterlich nahe. Er muß am offenen Fenster gesprochen und, wie ich besorge, mich unter demselben erblickt haben. Ehe er das Haus verließ, hatte ich indeß Zeit, mich leise aus den Lorbeerbüschen zu schleichen, doch nicht um auf mein Bureau zurückzukehren. Ich ging deshalb die Auffahrt entlang, dem Parkwärterhäuschen zu, als wenn ich dort in Geschäftsangelegenheiten zu thun hätte.

Mr. Pedgift in seinem Gig holte mich bald ein und hielt still. »Sie sind also neugierig in Betreff Miß Gwilt’s?« sagte er. »Befriedigen Sie aus alle Fälle Ihre Neugierde, ich habe nichts dagegen.« Dies ängstigte mich natürlich, aber es gelang mir dennoch, ihn zu fragen, was er meine. Er antwortete nicht; er sah blos aus seinem Gig auf mich herab und lachte. »In meiner Praxis sind mir schon noch seltsamere Sachen vorgekommen als das!« sagte er plötzlich für sich und fuhr weiter.

Ich habe Sie mit diesem letzteren Ereignisse zu behelligen gewagt, in der Hoffnung, Ihr überlegener Scharfblick dürfte dasselbe, obgleich es Ihnen als völlig unwichtig erscheinen mag, sich erklären können. Meine schwachen Fähigkeiten —— das bekenne ich —— vermögen nicht zu ergründen, was Mr. Pedgift meint. Ich weiß nur, daß er nicht das Recht hat, mich einer solchen Impertinenz wie der Neugierde hinsichtlich einer Dame zu zähen, für die ich eine so glühende Achtung und Bewunderung hege. Ich wage nicht, mich wärmer auszudrücken.

Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich, wenn Sie es wünschen, mich in der Lage befinde, Ihnen hier noch ferner von Nutzen zu sein. So eben kam Mr. Armadale auf das Bureau und theilte mir kurz mit, daß ich bis auf Weiteres während Mr. Midwinters fortgesetzter Abwesenheit die Verwalterstelle zu versehen habe.

Ich verbleibe, theuerstes Fräulein,
voll Sorge und inniger Ergebenheit
der Ihre

Felix Bashwood.«

4. Allan Armadale an Se. Ehrwürden Deminus Brock.

« »Thorpe-Ambrose. Dienstag.

Mein lieber Mr. Brock! Ich befinde mich in trauriger Verlegenheit Midwinter hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, mein Advocat hat sich mit mir gezankt und mich verlassen, und die liebe kleine Miß Milroy ausgenommen, die mir verziehen, hat die ganze Umgegend mir den Rücken gewandt. Ich bin sehr unglücklich hier allein in meinem Hause. Bitte, kommen Sie und besuchen Sie mich! Sie sind der einzige Freund, der mir noch bleibt, und ich sehne mich so sehr, Ihnen Alles zu erzählen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß die Schuld nicht an mir liegt. Von Herzen

der Ihre

Allan Armadale.

N. S. Ich würde zu Ihnen kommen, denn dieser Ort hier ist mir förmlich verhaßt geworden, aber ich habe Gründe, mich für jetzt nicht zu weit von Miß Milroy zu entfernen.«

5. Robert Stapelton an Allan Armadale Esquire.

»Boscombe, Pfarrhaus.
Donnerstag Morgen.

Hochgeehrter Herr! Unter den Briefen auf dem Tische sehe ich auch einen von Ihrer Hand, den zu öffnen mein Herr, wie ich sagen zu müssen bedaure, nicht wohl genug ist. Er liegt an einer Art schleichenden Fiebers darnieder. Der Arzt sagt, dasselbe sei die Folge von Sorgen und Aengsten, die mein Herr zu ertragen nicht kräftig genug sei. Dies ist sehr wohl möglich, denn ich begleitete ihn, als er vorigen Monat nach London reiste, und seine eigenen Geschäfte, verbunden mit der Bewachung der Person, die uns später entwischte, erhielten ihn während der ganzen Zeit in einem Zustande banger Aufregung. Mir selbst erging es in dieser Beziehung nicht besser.

Noch vor ein paar Tagen sprach mein Herr von Ihnen. Er schien es nicht zu wünschen, daß Sie von seiner Krankheit unterrichtet würden, außer wenn sich sein Zustand verschlimmerte Aber ich denke, Sie sollten davon in Kenntniß gesetzt werden. Zugleich muß ich bemerken, daß es nicht schlechter mit ihm geht, im Gegentheil, vielleicht eine Kleinigkeit besser. Der Arzt sagt, er müsse sich vollkommen ruhig halten und dürfe um keinen Preis irgendwie aufgeregt werden. Deshalb bitte ich Sie, dies wohl zu beachten, das heißt, wenn Sie noch hierher zukommen denken. Ich habe vom Arzte Befehl, Ihnen zu sagen, daß es nicht nothwendig sei und meinen Herrn in dem Zustande, in dem er sich gegenwärtig befindet, nur aufregen würde.

Wenn Sie es wünschen, will ich bald wieder schreiben. Genehmigen Sie die Versicherung meiner Hochachtung und gestatten Sie mir, zu zeichnen als

Ihr ergebenster Diener

Robert Stapelton.

N. S. Die Yacht liegt neu betakelt und angestrichen, Ihrer Befehle gewärtig. Sie nimmt sich herrlich aus.«

6. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street, den 24. Juli.

Miß Gwilt! Drei Tage hintereinander ist die Stunde der Morgenpost verstrichen, ohne mir eine Antwort auf meinen Brief zu bringen. Sind Sie durchaus darauf erpicht, mich zu insultiren? Oder haben Sie Thorpe-Ambrose verlassen? Wie dem immer sei, ich will mir Ihr Betragen nicht länger gefallen lassen. Das Gesetz soll Sie zur Rechenschaft ziehen, wenn ich es nicht vermag.

Ihr erster Wechsel (auf dreißig Pfund Sterling) ist am nächsten Dienstag, den 29., fällig. Hätten Sie sich nur mit der gewöhnlichsten Rücksicht gegen mich benommen, so würde ich denselben mit Vergnügen haben prolongieren lassen. So aber werde ich den Wechsel präsentieren und, wenn derselbe nicht bezahlt wird, meinem Anwalte Instructionen ertheilen, das übliche Verfahren einzuschlagen.

Die Ihre

Maria Oldershaw.«

7. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»Thorpe-Ambrose, Paradiesplatz Nr. 5.
Den 25. Juli.

Mrs. Oldershaw! Da die Zeit Ihres Anwalts ihm ohne Zweifel kostbar ist, schreibe ich Ihnen diese Zeile, um ihm behilflich zu sein, sobald er das übliche Verfahren einschlägt Er wird mich, des Arrestes’ gewärtig, im ersten Stock der obigen Adresse vorfinden. In meiner gegenwärtigen Lage und bei meinen gegenwärtigen Gedanken können Sie mir wahrscheinlich keinen bessern Dienst leisten, als indem Sie mich einsperren lassen.

L. G.«

8. Mrs. Oldershaw an Miß Gwilt.

»Diana-Street, den 26. Juli.

Meine Herzens-Lydia! Je länger ich in dieser gottlosen Welt lebe, desto deutlicher sehe ich ein, daß die Frauen keine schlimmeren Feinde besitzen als ihre eigenen Launen. In welch wahrhaft beklagenswerthen Briefstil wir verfallen sind! Welch ein trauriger Mangel an Selbstbeherrschung von Deiner Seite sowohl, meine Liebe, als von der meinigen!

Laß mich als die Aelteste die ersten Entschuldigungen machen, laß mich zuerst über meinen Mangel an Selbstbeherrschung erröthen Deine grausame Vernachlässigung, Lydia, trieb mich dazu, Dir zu schreiben, wie ich es that. Ich bin so empfindlich gegen schlechte Behandlung, wenn diese mir von einem Wesen geboten wird, das ich liebe und bewundere, und obgleich bereits über sechzig, bin ich im Herzen doch leider noch so jung! Nimm meine Entschuldigungen dafür an, daß ich mich meiner Feder bediente, anstatt meine Zuflucht zu meinem Taschentuche zunehmen. Vergib Deiner liebenden Maria dafür, daß sie im Herzen noch so jung ist!

Aber o, meine Liebe, wie hart von Dir, mich, obgleich ich Dir drohte, sogleich beim Worte zu nehmen. Wie grausam von Dir, mich, selbst wenn Deine Schuld sich auf das Zehnfache belaufen hätte, der schändlichen Unmenschlichkeit fähig zu halten, eine Busenfreundin hinsetzen zu lassen! Allgütiger Himmel! Habe ich es wohl verdient, nach der jahrelangen zärtlichen Vertraulichkeit, die uns mit einander vereint hat, so unbarmherzigerweise beim Worte genommen zu werden? Aber ich beklage mich nicht; ich traure nur über die Schwachheit unserer gemeinschaftlichen menschlichen Natur. Laß uns so wenig wie möglich von einander erwarten, meine Liebe; wir sind beide Frauen und können es nicht ändern. Wenn ich an den Ursprung unseres unglückseligen Geschlechts denke, wenn ich in Betracht ziehe, daß wir alle ursprünglich aus nichts Besserem als der Rippe eines Mannes und zwar einer Rippe von so geringem Werthe für ihn, daß er sie gar nicht vermißt zu haben scheint, gemacht worden sind, so bin ich über unsere Tugenden förmlich erstaunt und verwundere mich nicht im geringsten über unsere Fehler.

Ich schweife ein wenig ab, ich verirre mich in ernste Gedanken, wie jene charmante Persönlichkeit in Shakespeare, deren Phantasie losgelassen war. Noch ein letztes Wort, Theuerste, um Dir zu versichern, daß meine Sehnsucht nach einer Antwort auf diese Zeilen einzig und allein aus dem Wunsche entspringt, wieder in Deinem alten freundschaftlichen Tone von Dir zu hören, und gar nichts mit einer etwaigen Neugierde über Dein Thun und Treiben in Thorpe-Ambrose zu schaffen hat, die Neugierde ausgenommen, die Du selbst billigst Brauche ich noch hinzuzufügen, daß ich Dich, als um eine persönliche Gefälligkeit gegen mich, nach den gewohnten Bedingungen zu prolongieren bitte? Ich meine den kleinen Wechsel vom nächsten Dienstag und erlaube mir den Vorschlag, ihn auf Dienstag über sechs Wochen zu stellen.

Mit wahrhaft mütterlicher Liebe
die Deine

Maria Oldershaw.«

9. Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw.

»Paradiesplatz, den 27. Juli.

So eben habe ich Deinen letzten Brief erhalten. Die schamlose Frechheit desselben hat mich empört. Wie, ich soll mich wie ein Kind behandeln, soll mir zuerst drohen und, wenn das nicht glückt, schmeicheln lassen? Du sollst mir schmeicheln, Du sollst erfahren, meine mütterliche Freundin, mit welch einer Art von Kind Du es zu thun hast.

Ich hatte Grund zu dem Schweigen, welches Dich so tief verletzt hat, Mrs. Oldershaw. Ich fürchtete mich, ja fürchtete mich förmlich, Dir das Geheimniß meiner Gedanken mitzutheilen. Jetzt aber bin ich von jeder solchen Furcht frei. Heute Morgen liegt mir nur daran, Dir meine Erkenntlichkeit auszudrücken für die Art und Weise, wie Du an mich geschrieben hast. Nachdem ich es mir wohl überlegt, denke ich Dir keinen schlimmeren Gefallen thun zu können, als wenn ich Dir das mittheile, was Du so sehnsüchtig zu erfahren verlangst. Demzufolge sitze ich hier an meinem Schreibpulte, entschlossen, Dich aufzuklären. Du sollst erfahren, was sich in Thorpe-Ambrose zugetragen hat, Du sollst meine Gedanken lesen, so deutlich, wie ich sie selbst erkenne. Wenn Du nach Lesung dieses Briefes nicht bitterlich bereust, Deinem ersten Entschlusse, mich einsperren zu lassen, solange Du noch die Macht dazu besaßest, nicht gefolgt zu sein, so heiße ich nicht Lydia Gwilt.

Womit schloß mein letzter Brief? Es ist mir entfallen und mir auch gleichgültig. Unterrichte Dich davon, so gut Du kannst, ich werde nicht weiter als auf die letzten acht Tage zurückgehen, das heißt bis auf vorigen Sonntag.

Wir hatten am Vormittage ein Gewitter, das sich gegen Mittag zu verziehen begann. Ich ging nicht aus, ich wartete ab, ob ich Midwinter sehen oder von ihm hören werde. (Ueberrascht es Dich, daß ich seinem Namen kein Mr. vorsetze? Wir sind jetzt so vertraut mit einander, meine Liebe, daß Mr. durchaus nicht am Orte sein würde.) Am Abende vorher hatte er mich unter sehr interessanten Verhältnissen verlassen. Ich hatte ihm gesagt, daß sein Freund Armadale mich vermittelst eines gedungenen Spions verfolge. Er hatte das nicht glauben wollen und war unverzüglich nach Thorpe-Ambrose gegangen, um die Sache aufzuklären. Ich hatte ihm meine Hand zum Kusse gereicht, ehe er fortging. Er hatte mir versprochen, am nächsten Tage, einem Sonntage, wiederzukommen. Ich fühlte, daß ich meinen Einfluß auf ihn gesichert hatte, und glaubte, daß er Wort halten werde.

Nun, wie gesagt, das Gewitter verzog sich. Der Himmel hellte sich auf; die Leute erschienen in ihren Sonntagskleidern, die Braten kamen von den Bäckern; ich saß träumend vor meinem erbärmlichen kleinen Klavier, hübsch gekleidet und schön aussehend, und noch immer kein Midwinter. Schon war es später Nachmittag und ich begann mich beleidigt zu fühlen, als mir ein Brief gebracht ward. Ein fremder Bote hatte ihn abgegeben, der sogleich wieder fortgegangen war. Ich sah den Brief an. Endlich Midwinter, wiewohl nur in Gestalt eines Briefes, anstatt in eigener Person. Ich fühlte mich beleidigter denn je, denn ich glaubte, wie schon bemerkt, meinen Einfluß auf ihn wirksamer geltend gemacht zu haben.

Der Inhalt des Briefes gab meinen Gedanken eine neue Richtung. Er überraschte mich, war mir unbegreiflich und interessant. Ich dachte den ganzen Tag hindurch an ihn.

Zuerst bat er mich um Verzeihung, das, was ich ihm mitgetheilt, bezweifelt zu haben. Mr. Armadale habe es mit seinen eigenen Lippen bestätigt. Sie hatten sich veruneinigt, wie ich dies erwartet hatte, und er und der Mann, der sein theuerster Freund auf Erden gewesen, waren jetzt auf immer von einander geschieden. Soweit war ich nicht überrascht. Die überschwängliche Art und Weise, in der er mir erzählte, wie er und sein Freund nun auf ewig von einander geschieden seien, belustigte mich, und ich erging mich in Muthmaßungen darüber, was er wohl denken werde, wenn ich meinen Plan ausführen und mir unter dem Vorwande, sie wieder mit einander zu versöhnen, den Zutritt ins Herrenhaus verschaffen würde.

Der zweite Theil seines Briefes gab mir jedoch zu denken Er lautet in seinen eigenen Worten folgendermaßen:

»Nur nach einem heftigen Kampfe mit mir selbst —— wie hart dieser Kampf war, vermag ich nicht mit Worten zu schildern —— habe ich mich dazu entschließen können, Ihnen zu schreiben, anstatt persönlich mit Ihnen zu sprechen. Eine unbarmherzige Nothwendigkeit fordert meine Zukunft. Ohne Zögern muß ich Thorpe-Ambrose, muß ich England verlassen und darf mich nicht mit Rückblicken aufhalten. Es sind Gründe, fürchterliche Gründe vorhanden, mit denen ich wahnsinnigerweise gespielt habe, daß ich Mr. Armadale nach dem zwischen uns Vorgefallenen nicht gestatte, daß er mich je wieder mit Augen erblickt oder von mir hört. Ich muß fort, um mit ihm nie wieder unter einem Dache zu schlummern, nie wieder dieselbe Luft mit ihm zu athmen. Unter falschem Namen muß ich mich vor ihm verbergen; ich muß Berge und Meere zwischen uns legen. Ich bin gewarnt worden, wie noch kein lebendes Wesen gewarnt ward. Ich habe die Ueberzeugung —— ich wage Ihnen nicht zusagen, warum —— aber ich habe die Ueberzeugung, daß, wenn ich dem Zauber folge, der mich zu Ihnen zurückzieht, dies für den Mann verhängnißvoll werden wird, dessen Leben so seltsam mit dem Ihrigen und dem meinigen verknüpft gewesen, dem Manne, welcher einst Ihr Verehrer und mein Freund war. Und dennoch, trotz dieses Gefühls, wiewohl ich es so deutlich empfinde, wie ich den Himmel über meinem Haupte sehe, bin ich so schwach, noch immer vor dem schweren Opfer, Sie niemals wiederzusehen, zurückzubeben! Ich ringe damit, wie man mit seiner Verzweiflung ringt. Vor kaum einer Stunde stand ich nahe genug, um das Haus zu sehen, in dem Sie wohnen, und ich zwang mich, wieder fortzugehen und den Anblick zu fliehen. Vermag ich mich jetzt, da mein Brief geschrieben, jetzt, da mir das nutzlose Bekenntniß entschlüpft ist, daß ich die erste Liebe für Sie fühle, die ich je gekannt habe, die beste Liebe, die ich je empfinden werde, noch weiter von Ihnen zu entfernen? Die nächste Zeit möge diese Frage beantworten; ich wage es nicht, noch mehr davon zu schreiben oder daran zu denken.«

Dies waren die letzten Worte. So wundersam schloß der Brief.

Ich fühlte eine förmlich fieberhafte Neugierde, zu wissen, was er meine. Daß er mich liebe, war natürlich leicht genug zu verstehen. Aber was wollte er damit sagen, daß er gewarnt worden sei? Warum konnte er nie wieder mit dem jungen Armadale unter einem Dache schlafen, nie wieder dieselbe Luft mit ihm athmen? Welcher Art konnte das Zerwürfniß sein, welches den einen nöthigte, sich unter falschem Namen vor dem andern zu verbergen und Berge und Meere zwischen sich und ihn zu legen? Und vor allem, warum sollte es dem verhaßten Lümmel, der das prachtvolle Vermögen besitzt und im Herrnhause wohnt, Verderben bringen, wenn er meinem Zauber wiche und wieder zu mir zurückkehrte?

In meinem ganzen Leben habe ich mich nach nichts so sehr gesehnt, als ihn wiederzusehen und diese Fragen an ihn zu richten. Im Verlaufe des Tages wurde ich förmlich abergläubisch darüber. Man gab mir eine Kalbsmilch und Kirschpudding zu Mittag, und wahrhaftig, ich zählte an den Kirschkernen ab, ob er kommen werde! Er kommt, kommt nicht, kommt, kommt nicht, und so weiter. Es endete mit »kommt nicht". Ich schellte und ließ abräumen. Ganz wüthend opponierte ich dem Schicksal. Ich sagte: »Er kommt!" und wartete zu Hause aus ihn.

Du kannst Dir nicht vorstellen, welches Vergnügen es mir macht, Dir alle diese kleinen Einzelheiten mitzutheilen. Rechne, o, meine Busenfreundin, meine zweite Mutter, rechne die Gelder zusammen, die Du mir auf die Chance vorgeschossen hast, daß ich Mrs. Armadale würde, und dann male Dir dieses athemlose Interesse aus, das ich für einen Andern fühle. O, Mrs. Oldershaw, welch ein Hochgenuß für mich, Dich so zu peinigen!

Der Tag verstrich. Ich klingelte abermals und ließ mir einen Eisenbahnfahrplan bringen. Welche Züge konnten ihn heute, am Sonntage, mir entführen? Die nationale Achtung vor dem Sabbath wollte mir wohl. Nur ein einziger Zug ging ab, und zwar war derselbe schon mehrere Stunden vorher abgefahren, ehe er an mich geschrieben hatte. Ich trat an den Spiegel. Er machte mir Complimente, daß ich der Weissagung der Kirschkerne widersprochen habe. Mein Spiegel sagte: »Stelle Dich hinter Deine Fenstergardine; er wird den langen, einsamen Abend nicht vergehen lassen, ohne noch einmal zu kommen, um das Haus zu sehen." Ich stellte mich hinter den Fenstervorhang und wartete mit seinem Briefe in der Hand.

Das triste Sonntagslicht verblich, und die triste Sonntagsstille auf der Straße ward noch stiller. Die Dämmerung brach herein und ich vernahm in der Stille seine nahenden Schritte. Mein Herz schlug laut. Denke nur, daß mir noch ein Herz bleibt! »Midwinter!" sagte ich zu mir selbst Und es war Midwinter.

Als er so nahe war, daß ich ihn sehen konnte, bemerkte ich, daß er langsam ging und nach jedem zweiten oder dritten Schritte zögerte und stehen blieb. Es schien, als zöge mein häßliches kleines Fenster ihn wider seinen Willen an. Nachdem ich gewartet, bis ich ihn ein wenig seitwärts vom Hause, aber noch immer innerhalb Sehweite von meinem unwiderstehlichen Fenster hatte stehen bleiben sehen, warf ich schnell meine Mantille um, setzte meinen Hut auf und schlüpfte durch die Hinterthür in den Garten hinaus. Mein Hauswirth und seine Familie waren beim Abendessen und Niemand sah mich. Ich öffnete das Mauerpförtchen und trat auf die Straße hinaus. In diesem unpassenden Augenblicke erinnerte ich mich plötzlich des Spions, den ich bisher vergessen und der mir ohne Zweifel irgendwo in der Nähe des Hauses auflauerte.

Nothwendigerweise brauchte ich Zeit zum Ueberlegen und in meinem derzeitigen Gemüthszustande war es mir ganz unmöglich, Midwinter abreisen zu lassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. In großen Schwierigkeiten entscheidet man, wenn überhaupt, gewöhnlich auf der Stelle. Ich beschloß ein Rendezvous für nächsten Abend mit ihm zu vereinbaren und inzwischen zu erwägen, wie ich diese Zusammenkunft werde bewerkstelligen können, ohne daß sie bekannt würde. So gab ich mich freilich den Qualen einer vierundzwanzigstündigen unbefriedigten Neugier preis, das fühlte ich zur Zeit sehr wohl, aber was blieb mir denn sonst übrig? Vor den Augen und möglicherweise vor den Ohren von Mr. Armadales Spion zu einem geheimen Einverständnisse mit Midwinter zu kommen, hieß fast so viel, als den Gedanken an den Besitz von Thorpe-Ambrose gänzlich aufgeben.

Da ich zufällig einen alten Brief von Dir in meiner Tasche fand, trat ich in das Seitengäßchen hinter der Mauer zurück und schrieb mit dem an meiner Uhrkette hängenden Bleistift auf das leere Blatt: »Ich muß und will mit Ihnen reden. Heute Abend ist es unmöglich, finden Sie sich jedoch morgen Abend um dieselbe Zeit auf der Straße ein, und dann verlassen Sie mich, wenn Sie wollen, auf immer. Wenn Sie dies gelesen haben, kommen Sie mir nach und sagen im Vorbeigehen, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben: »Ja, ich verspreche es?«

Ich legte das Blatt zusammen und trat plötzlich hinter ihm hervor. Als er zurückfuhr und sich umwandte, ließ ich ihm das Billet in die Hand gleiten, die ich ihm hastig drückte, und ging weiter. Ehe ich noch zehn Schritte fort war, hörte ich ihn hinter mir. Ich kann nicht sagen, daß er sich nicht umblickte, ich fah seine großen schwarzen Augen im Zwielichte funkeln und mich in einer Sekunde vom Kopf bis zu den Füßen verschlingen; sonst aber that er, wie ich ihm befohlen. »Ich kann Ihnen nichts versagen«, flüsterte er, »ich verspreche« es. Dann ging er weiter und verließ mich. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wie jener tölpelhafte Flegel Armadale unter solchen Verhältnissen Alles verdorben haben würde.

Die ganze Nacht hindurch quälte ich mich ab, wie ich unsere Zusammenkunft vor Entdeckung schützen sollte, aber ich fand keinen Ausweg. Schon war mir’s, als ob mich Midwinter’s Brief irgendwie unerklärlich betäubt hätte.

Der Montag Morgen machte die Sachen noch schlimmer. Von meinem getreuen Verbündeten, Mr. Bashwood, empfing ich die Nachricht, daß Miß Milroy und Mr. Armadale mit einander zusammengetroffen seien und sich versöhnt hätten. Du kannst Dir vorstellen, in welchen Zustand mich dies versetzte! Ein paar Stunden später liefen weitere Nachrichten von Mr. Bashwood ein, diesmal gute. Der boshafte Dummkopf zu Thorpe-Ambrose hatte endlich Verstand genug gehabt, sich zu schämen. Er hatte beschlossen, den Spion noch am selben Tage zu verabschieden, und sich infolge dessen mit seinem Advocaten überworfen.

Damit war also das Hinderniß, das zu übersteigen ich zu dumm war, für mich aufs erfreulichste aus dem Wege geräumt! Ueber die bevorstehende Zusammenkunft mit Midwinter brauche ich mir keine Sorge mehr zu machen und habe reichlich Zeit, zu überlegen, was ich jetzt, da Miß Milroy und ihr getreuer Schäfer wieder zusammengekommen, zunächst unternehmen muß. Solltest Du, es wohl glauben, daß der Brief oder der Mann —— ich weiß nicht, was von beiden —— sich meiner dermaßen bemächtigt, daß ich, was ich immer versuchen mochte, an nichts Anderes denken konnte, und dies zu einer Zeit, wo ich alle Ursache zu fürchten hatte, daß Miß Milroy sich auf dem besten Wege befinde, ihren Namen in Armadale zu verwandeln, und wo ich wußte, daß ich mich noch in keiner Weise meiner schweren Verpflichtungen gegen sie entledigt? Hat es wohl je etwas Widerwärtigeres gegeben? Ich kann mir’s nicht denken —— kannst Du’s?

Die Abenddämmerung kam endlich heran. Ich sah aus dem Fenster, und dort war er!

Augenblicklich ging ich zu ihm hinaus, während die Leute im Hause zu sehr in Essen und Trinken vertieft waren, um sonst auf irgend etwas Acht zu geben. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden«, flüsterte ich. »Ich muß vorangehen und Sie müssen mir folgen.«

Er erwiderte nichts. Was in seinem Geiste vorging, kann ich nicht errathen, aber nachdem er, wie er versprochen, gekommen war, zögerte er förmlich, als hätte er halb und halb Lust, wieder fortzugehen.

»Sie sehen aus, als fürchteten Sie sich vor mir", sagte ich.

»Ich fürchte mich in der That vor Ihnen", antwortete er, »vor Ihnen sowohl als vor mir selbst.«

Das war nicht ermuthigend, nicht schmeichelhaft. Aber eine so rasende Neugier erfüllte mich, daß ich selbst noch größere Unhöflichkeit kaum beachtet haben würde. Ich ging einige Schritte nach den neuen Häusern zu und blieb dann stehen, um mich nach ihm umzusehen.

»Nachdem Sie mir Ihr Versprechen gegeben und nach einem Briefe, wie Sie ihn mir geschrieben, muß ich es da als eine Gunst von Ihnen erbitten?« sagte ich.

Eine plötzliche Veränderung ging mit ihm vor, augenblicklich war er an meiner Seite. »Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; führen Sie mich, wohin Sie wollen.« Nach dieser Antwort trat er ein wenig zurück und ich hörte ihn vor sich hin Murmeln: »Was sein soll, wird sein. Was geht es mich an oder sie?«

Die Worte konnten es nicht wohl sein, die mich leise erbeben ließen, denn ich verstand sie nicht, sondern nur der Ton, in dem er sie sprach. Ohne einen Schatten von Ursache fühlte ich mich halb geneigt, ihm gute Nacht zu wünschen und wieder ins Haus zu gehen. Das sieht mir nicht sehr ähnlich, wirst Du sagen. In der That nein! Es währte auch keine Minute. Deine Herzens-Lydia kam schnell wieder zur Vernunft.

Ich ging den halbfertigen Häusern und dem offenen Felde zu voran. Es wäre weit mehr nach meinem Sinne gewesen, hätte ich ihn mit mir ins Haus nehmen und beim Kerzenlichte mit ihm sprechen können. Aber ich hatte dies schon einmal riskiert und trug Bedenken, es in diesem Klatschneste und in meiner kritischen Lage noch einmal zu wagen. An den Garten war ebenso wenig zu denken, denn dort raucht der Hauswirth nach dem Abendessen seine Pfeife. Mithin blieb mir nichts Anderes übrig, als ihn zur Stadt hinauszuführen.

Im Weitergehen sah ich mich von Zeit zu Zeit um und bemerkte, wie er stets in derselben Entfernung undeutlich und gespenstisch im Zwielichte meinen Schritten folgte.

Ich muß auf eine kleine Weile abbrechen. Die Kirchenglocken läuten und machen mich toll mit ihrem Gebimmel. Wozu bedarf es in unsern Tagen, wo Jeder eine Uhr besitzt noch des Glockengeläutes, uns an den Beginn des Gottesdienstes zu mahnen? Wir brauchen ja keine Glocken, die uns ins Theater läuten! Welch eine ungeheure Schmach für die Geistlichkeit, daß sie uns zur Kirche läuten muß!

Endlich haben sie die Gemeinde hineingeläutet, und so kann ich meine Feder wieder ergreifen und fortfahren.

Ich war ein wenig im Zweifel, wohin ich ihn führen solle. Auf der einen Seite lag die Landstraße, doch konnten wir dort, so still dieselbe auch aussah, leicht Jemand begegnen, wo wir es am wenigsten erwarteten. Der andere Weg führte durch das Gebüsch. Dahin führte ich ihn.

Am entgegengesetzten Ende desselben, hart am Saume des Dickichts, befand sich eine kleine Bodensenkung, in der gefällte Bäume lagen, und jenseits derselben ein kleiner Teich, der still und weiß im Zwielicht glänzte. Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich ausgedehnte Rasenflächen hin, auf die sich ein allmälig dichter werdender Nebel herabzusenken begann und die in der Ferne die schwarze Linie feierlich langsam heimkehrender Kühe zeigten. Kein lebendes Wesen war in der Nähe und kein Laut vernehmbar. Ich setzte mich auf einen der gefällten Bäume und sah mich nach ihm um. »Kommen Sie", sagte ich leise, »kommen Sie und setzen Sie sich zu mir.«

Warum gehe ich in alle diese Einzelheiten ein? Ich weiß es kaum. Der Ort machte einen unbegreiflich lebhaften Eindruck auf mich und ich kann nicht umhin, davon zu schreiben. Sollte ich ein schlimmes Ende nehmen, vielleicht auf dem Schaffot, so glaube ich, daß das Letzte, was ich sehen werde, ehe der Henker den Strick zieht, der kleine weiß schimmernde Teich mit den langen nebligen Wiesengründen und der heimziehenden Kuhheerde sein wird. Fürchte nichts, Du würdiges Geschöpf! Meine Phantasie spielt mir zuweilen seltsame Streiche und es ist vielleicht in diesem Theile meines Briefes etwas von dem gestern Abend genossenen Laudanum.

Er kam seltsam still, wie ein Mann, der im Schlafe wandelt, und setzte sich zu mir nieder. Der Abend war entweder sehr schwül oder ich bereits in einem förmlichen Fieber, ich konnte meinen Hut nicht auf dem Kopfe, die Handschuhe nicht an den Händen leiden. Das Verlangen, ihn anzusehen und mich zu überzeugen, was sein eigenthümliches Schweigen zu bedeuten habe, und die Unmöglichkeit, dies in der zunehmenden Dunkelheit zu bewerkstelligen, reizten meine Nerven in dem Grade, daß ich hätte schreien mögen. Ich nahm seine Hand, vielleicht daß dies mir half. Sie war glühend heiß und schloß sich augenblicklich fest um die meinige, Du weißt wohl, wie. Danach war an ein Schweigen nicht mehr zu denken. Das Gerathenste war, daß ich ihn sogleich anredete.

»Verachten Sie mich nicht", sagte ich. »Ich bin gezwungen, Sie an diesen einsamen Ort zu führen; es würde meinen Ruf gefährden, wenn man uns beisammen sähe.«

Ich wartete ein wenig. Seine Hand ermahnte mich abermals, das Schweigen nicht fortdauern zu lassen. Ich beschloß ihn zum Sprechen zu zwingen.

»Sie haben meine Neugier gespannt und zugleich mich erschreckt", fuhr ich fort. »Sie haben mir einen sehr seltsamen Brief geschrieben. Ich muß wissen, was er zu bedeuten hat.«

»Es ist zu spät, um dies zu fragen. Sie und ich haben den Weg eingeschlagen, auf dem jede Umkehr unmöglich ist." Er gab diese seltsame Antwort in einem Tone, der mir völlig neu an ihm war, in einem Ton, der mich sogar noch mehr beunruhigte, als sein Schweigen es so eben gethan hatte. »Zu spät«, wiederholte er, »zu spät! Sie können jetzt nur noch eine Frage an mich richten.«

»Welche Frage?«

Als ich dies sagte, theilte sich plötzlich ein heftiges Zittern von seiner Hand der meinigen mit und sagte mir, daß ich besser gethan haben würde, hätte ich geschwiegen. Ehe ich noch eine Bewegung machen, ehe ich noch denken konnte, hielt er mich bereits im Arm. »Fragen Sie mich, ob ich Sie liebe«, flüsterte er. In demselben Augenblicke sank sein Kopf auf meine Brust herab und eine unaussprechliche Qual in seinem Innern machte sich, wie dies bei uns oft geschieht, in einem leidenschaftlichen Thränenstrom und lautem Schluchzen Luft.

Mein erster Impuls war der einer Närrin. Ich war im Begriff, in unserer gewohnten Weise zu protestieren und ihn abzuwehren. Glücklicher- oder unglücklicherweise —— ich weiß nicht, was von beiden —— habe ich die zarte Empfindsamkeit der Jugend verloren und hielt deshalb die erste Bewegung meiner Hände und die ersten Worte auf meinen Lippen zurück. O mein Himmel, wie alt ich mich fühlte, während er sich an meiner Brust das Herz aufschluchzte! Wie ich der Zeit gedachte, wo er sich in den Besitz meiner Liebe hätte setzen können! Das Einzige, wovon er jetzt Besitz genommen, war meine Taille.

Ob ich ihn wohl bemitleidete? Einerlei. Jedenfalls erhob sich meine Hand so oder so, und meine Finger spielten sanft mit seinem Haar. Während ich ihn berührte, kamen mir fürchterliche Erinnerungen an frühere Zeiten in den Sinn und machten mich schaudern. Und dennoch that ich es. Welche Thörinnen die Weiber sind!

Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen«, sprach ich sanft; »ich will nicht sagen, daß Sie einen grausamen Vortheil aus meiner Lage ziehen. Sie sind entsetzlich aufgeregt und ich will Ihnen Zeit lassen, sich ein wenig zu beruhigen.«

Hier schwieg ich, um zu überlegen, wie ich die Fragen stellen solle, die ich an ihn zu richten brannte. Aber vermuthlich war ich zu verwirrt oder vielleicht zu ungeduldig zur Ueberlegung. In den ersten Worten verrieth ich, was mich am meisten beschäftigte.

»Ich glaube nicht, daß Sie mich lieben«, sagte ich. »Sie schreiben mir so seltsame Dinge, Sie ängstigen mich mit Geheimnissen. Was wollten Sie damit sagen, als Sie schrieben, es werde Mr. Armadale Verderben bringen, wenn Sie zu mir zurückkehrten? Welche Gefahr kann für Mr. Armadale ——«

Ehe ich die Frage noch beenden konnte, richtete er plötzlich den Kopf auf und löste seine Arme. Wie es schien, hatte ich einen wunden Punkt berührt, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Anstatt daß ich vor ihm zurückwich, bebte vielmehr er vor mir zurück. Ich fühlte mich beleidigt; warum, weiß ich nicht, aber ich war beleidigt, und mit meinem bittersten Nachdrucke dankte ich ihm dafür, daß er sich endlich erinnere, was er mir schuldig sei!

»Glauben Sie an Träume?« brach er plötzlich mit dem wunderlichsten Wesen los, ohne im geringsten auf das zu achten, was ich zu ihm gesagt hatte. »Sagen Sie mir«, fuhr er fort, ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, »standen Sie oder irgend einer Ihrer Verwandten je mit Allan Armadales Vater oder Mutter in Beziehung? Waren Sie oder irgend einer Ihrer Angehörigen jemals auf der Insel Madeira?«

Denke Dir mein Erstaunen, wenn Du kannst. Ich erstarrte. In einer Sekunde war ich starr an allen Gliedern. Offenbar wußte er, was sich ereignet hatte, als ich aus Madeira in Mrs. Armadales Diensten stand, aller Wahrscheinlichkeit nach, ehe er geboren war! Das war an sich schon überraschend genug. Und er hatte irgend welchen Grund, mich mit jenen Ereignissen in Beziehung zu bringen. Dies war noch überraschender.

»Nein«, sagte ich, sobald ich mich zu sprechen getraute. »Ich weiß nichts von seinem Vater oder seiner Mutter.«

»Und nichts von der Insel Madeira?«

»Nichts von der Insel Madeira.«

Er wandte den Kopf ab und begann zu sich selber zu sprechen.

»Seltsam!« sagte er. »So gewiß, wie ich an der Stelle des Schattens am Fenster war, so gewiß war sie an der Stelle des Schattens am Teiche!«

Unter andern Verhältnissen würde sein merkwürdiges Benehmen mich vielleicht beunruhigt haben, allein nach seiner Frage über Madeira fühlte ich mich von einer größeren Furcht ergriffen, die alle gewöhnliche Unruhe fern hielt. Ich brannte vor Angst und Neugier zu erfahren, wie er jene Kenntniß erlangt hatte und wer er eigentlich war. Vollkommen klar war mir, daß ich durch meine Frage nach Armadale ein Gefühl in ihm erweckt hatte, das ebenso mächtig war wie sein Gefühl für mich. Was war aus meinem Einflusse über ihn geworden?

Ich konnte nicht begreifen, was daraus geworden sei, aber ich konnte versuchen, ihn denselben wieder fühlen zu lassen, und ich that es.

»Behandeln Sie mich nicht grausam«, sagte ich; »ich war nicht grausam gegen Sie. O, Mr. Midwinter, es ist hier so einsam und so finster, ängstigen Sie mich nicht!«

»Sie ängstigen!« Er war augenblicklich wieder fest an meiner Seite. »Sie ängstigen!« Er wiederholte die Worte mit einem Erstaunen, als ob ich ihn aus einem Traume erweckt und ihn einer Sache beschuldigt hätte, die er im Schlafe gesprochen.

Ich sah, wie sehr ich ihn in Erstaunen gesetzt hatte, und so schwebte es mir auf der Zunge, ihn, da er nicht auf seiner Hut war, zu fragen, warum meine Frage nach Armadale eine solche Veränderung in seinem Benehmen gegen mich hervorgebracht hätte. Doch nach dem, was vorgefallen, hatte ich keinen rechten Muth, zu bald auf den Gegenstand zurückzukommen. Ein Etwas, vielleicht war es Instinct, veranlaßte mich, Armadale für den Augenblick in Ruhe zu lassen und zuerst von ihm selber mit ihm zu sprechen.

Wie ich bereits in einem meiner frühern Briefe gegen Dich erwähnte, habe ich gewisse Anzeichen in seinem Aussehen und Wesen wahrgenommen, die mich überzeugen, daß er in seinem vergangenen Leben etwas Ungewöhnliches gethan oder gelitten hat. Jedesmahl, wo ich ihn gesehen, habe ich immer argwöhnischer gefragt, ob er wirklich das ist, was er zu sein scheint, und allen meinen Zweifeln voran stand der, ob er unter seinem wahren Namen unter uns auftrete. Da ich hinsichtlich meiner eigenen Vergangenheit Geheimnisse zu bewahren und früher mehr als einen falschen Namen getragen habe, so bin ich jedenfalls um so schneller bereit, Andere zu beargwöhnen, wenn ich etwas Verdächtiges an ihnen bemerke. Von diesem Argwohn erfüllt, beschloß ich, ihn meinerseits durch eine unerwartete Frage zu erschrecken, wie er mich erschreckt hatte —— durch eine Frage nach seinem Namen.

Während ich überlegte, war auch er in Nachsinnen versunken, und zwar, wie sich dies bald herausstellte über das, was ich zu ihm gesagt hatte. »Es thut mir so leid, Sie geängstigt zu haben«, flüsterte er mit jener Zartheit und Demuth, die wir an einem Manne alle so herzlich verachten, wenn er zu andern Frauen spricht, und die uns allen so sehr gefällt, wenn er zu uns selber redet. »Ich weiß kaum, was ich gesagt habe«, fuhr er fort, »ich bin so entsetzlich verwirrt. Vergehen Sie mir, wenn Sie können, ich bin heute Abend nicht Herr meiner selbst!«

»Ich bin nicht böse«, sagte ich; »ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Wir sind beide thöricht, wir sind beide unglücklich.« Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. »Lieben Sie mich wirklich?« fragte ich flüsternd.

Sein Arm wand sich wieder sanft um meine Taille, und ich fühlte, wie sein Herz immer schneller klopfte.

»Wenn Sie nur wüßten!« antwortete er leise, »wenn Sie nur wüßten ——« Er konnte nicht weiter. Ich fühlte, wie sein Gesicht sich dem meinigen näherte, deshalb ließ ich den Kopf tiefer sinken und hinderte ihn, als er im Begriff war, mich zu küssen. »Nein«, sagte ich, »ich bin nichts als ein Weib, für das Sie zufällig eine Caprice gefaßt haben. Sie behandeln mich, als ob ich Ihre verlobte Braut wäre.«

»Seien Sie meine verlobte Braut!« flüsterte er leidenschaftlich und versuchte meinen Kopf aufzurichten. Ich hielt diesen gesenkt. Das Grausen jener alten Erinnerungen, von denen Du weißt, überkam mich, und ich zitterte etwas, als er mich bat, sein Weib zu werden. Ich glaube nicht, daß ich mich wirklich ohnmächtig fühlte, aber eine ähnliche Empfindung ließ mich die Augen schließen. Sowie ich sie geschlossen hatte, that sich die Dunkelheit vor mir auf, als hätte sie der Blitz gesprengt, und in dem schauerlichen Schlunde stiegen die Gespenster jener andern Männer auf und sahen mich an.

»Sprich«, flüsterte er zärtlich. »Mein Leben, mein Engel, sprich!«

Seine Stimme brachte mich wieder zur Besinnung. Noch blieb mir Verstand genug, um mich zu erinnern, daß die Zeit verstreiche und daß ich ihm noch nicht meine Frage hinsichtlich seines Namens vorgelegt hatte.

»Gesetzt, ich fühlte dasselbe für Sie, was Sie für mich fühlen?« sagte ich. »Gesetzt, ich liebte Sie innig genug, um Ihnen das Glück meines ganzen Lebens anzuvertrauen?«

Ich schwieg einen Augenblick, um zu Athem zu kommen. Es war unerträglich schwül und still, die Luft schien gestorben zu sein, als die Nacht hereingebrochen war.

»Würden Sie mich redlich heirathen«, fuhr ich fort, »falls Sie mich unter Ihrem gegenwärtigen Namen heiratheten?«

Sein Arm glitt von meiner Taille nieder und ich fühlte, wie er einmal heftig zusammenschrak. Darauf saß er neben mir still, kalt und schweigend, als ob meine Frage ihn stumm gemacht hätte. Ich schlang meinen Arm um seinen Nacken und legte meinen Kopf wieder an seine Schulter. Welcher Art der Zauber immer war, den ich auf ihn ausgeübt, meine Nähe schien denselben zu brechen.

»Wer hat Ihnen gesagt« —— Er hielt inne. »Nein«, fuhr er fort, »Niemand kann es Ihnen gesagt haben. Was läßt Sie argwöhnen ——« Er hielt abermals inne.

»Niemand hat es mir gesagt«, erwiderte ich, »und ich weiß nicht, was mich auf den Verdacht gebracht hat Wir Frauen haben oft seltsame Einfälle. Ist Midwinter wirklich Ihr echter Name?«

»Ich kann Sie nicht hintergehen«, sagte er nach einer abermaligen Pause. »Midwinter ist nicht mein wahrer Name.«

Ich schmiegte mich ein wenig fester an ihn an.

»Wie ist Ihr wahrer Name?« fragte ich.

Er zögerte.

Ich erhob mein Gesicht, bis meine Wange die seine berührte. Mit meinen Lippen hart an seinem Ohre sagte ich:

»Wie, noch immer kein Vertrauen zu mir? Kein Vertrauen zu dem Weibe, das so gut wie bekannt hat, daß es Sie liebt, das so gut wie erklärt hat, daß es Ihr Weib werden will?«

Er wandte sein Gesicht dem meinigen zu. Zum zweiten Male versuchte er mich zu küssen, und zum zweiten Male hinderte ich ihn daran.

»Wenn ich Ihnen meinen Namen sage«, sprach er »so muß ich Ihnen noch mehr mittheilen.«

Abermals berührte ich seine Wange mit der Meinigen.

»Warum auch nicht?« sagte ich. »Wie kann ich einen Mann lieben oder gar heirathen, der mir ein Fremder bleibt?«

Darauf schien es mir keine Antwort zu geben, aber er antwortete.

»Es ist eine fürchterliche Geschichte«, sagte er. »Sie dürfte, wenn Sie dieselbe erfahren, einen Schatten über Ihr Leben werfen, wie sie ihn bereits über das meinige geworfen hat.«

Ich umschlang ihn mit meinem andern Arme und beharrte auf meinem Verlangen.Erzählen Sie; ich fürchte mich nicht; erzählen Sie mir Ihre Geschichte!«

Er begann dem Drucke meines Arms zu weichen.

»Wollen Sie das Geheimniß bewahren?« sagte er. »Wollen Sie es so hüten, daß es Niemand erfährt, außer Ihnen und mir?«

Ich versprach ihm, es geheim zu halten, und harrte in wahrhaft rasender Neugier. Zweimal wollte er beginnen und beide Male fehlte ihm der Muth.

»Ich kann nichts« rief er wild und verzweifelt aus. »Ich kann’s nicht erzählen!«

Meine Neugier oder wahrscheinlicher meine Heftigkeit durchbrach alle Schranken. Er hatte mich so aufgereizt, daß es mir gleichgültig ward, was ich that oder sagte. Ich schloß ihn plötzlich fest in die Arme und drückte meine Lippen auf die seinigen. Ich liebe Dich!« flüsterte ich mit einem Kusse. »Willst Du mir’s jetzt erzählen?«

Für den Augenblick war er sprachlos. Ich weiß nicht, ob ich es absichtlich gethan, um ihn toll zu machen. Ich weiß nicht, ob ich es in einem Muthausbruche unwillkürlich gethan habe. Nichts weiter steht fest, als daß ich sein Schweigen mir falsch gedeutet hatte. Sowie ich ihn geküßt hatte, stieß ich ihn wüthend von mir. »Ich hasse Sie!« sagte ich. »Sie haben mich dahin getrieben, daß ich mich vergessen habe. Verlassen Sie mich! Ich mache mir nichts aus der Dunkelheit. Verlassen Sie mich augenblicklich und lassen Sie sich nie wieder vor mir sehen!«

Er ergriff meine Hand und brachte mich zum Schweigen. Er sprach in neuem Tone, er befahl plötzlich, wie nur Männer es können.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Sie haben mir meinen Muth wiedergegeben, Sie sollen erfahren, wer ich bin?

In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis gehorchte ich ihm und setzte mich wieder nieder.

In der uns rings umgebenden Stille und Finsternis nahm er mich wieder in die Arme und erzählte mir, wer er sei.

Soll ich Dir seine Geschichte vertrauen? Soll ich Dir seinen wahren Namen sagen? Soll ich Dir, wie ich drohte, die Gedanken zeigen, die aus dieser Unterredung mit ihm und aus Allem, was sich seitdem für mich ereignet, erstanden sind?

Oder soll ich, wie ich es ihm versprach, sein und damit zugleich mein eigenes Geheimniß bewahren, indem ich diesen ewig langen Brief gerade in dem Augenblicke schließe, wo Du vor Verlangen vergehst, mehr zu erfahren?

Dies sind ernste Fragen, Mrs. Oldershaw, ernster, als Du ahnst. Ich habe Zeit gehabt, mich abzukühlen, und beginne einzusehen, was ich zur Zeit, da ich die Feder ergriff, nicht einzusehen vermochte, nämlich daß es weise ist, die Folgen zu bedenken. Habe ich etwa mich selbst geängstigt, indem ich Dich zu ängstigen suchte? Wohl möglich, wie seltsam das immer scheinen mag, aber es ist wirklich möglich.´

So eben habe ich ein paar Minuten am Fenster gestanden, um zu überlegen. Ich habe noch reichlich Zeit zum Nachdenken, ehe die Post abgeht. Jetzt erst kommen die Leute aus der Kirche.

Ich will meinen Brief beiseite legen und einen Blick in mein Tagebuch werfen. Mit deutlichem Worten, ich muß erst sehen, was ich riskiere, wenn ich Dir traue, und mein Tagebuch wird mich lehren, was ohne Hilfe zu berechnen mein Kopf zu müde ist. In letzter Zeit habe ich die Geschichte meiner Tage (und zuweilen meiner Nächte) weit regelmäßiger als gewöhnlich niedergeschrieben, da ich unter gegenwärtigen Verhältnissen meine Gründe zu besonderer Vorsicht habe. Thue ich schließlich, was ich jetzt zu thun im Sinne habe, so wäre es Wahnsinn, wollte ich mich nur auf mein Gedächtniß verlassen. Das leiseste Vergessen des unbedeutendsten Ereignisses, das sich seit dem Abend meiner Unterredung mit Midwinter bis zu diesem Augenblicke zugetragen, dürfte mein völliges Verderben herbeiführen.

»Ihr völliges Verderben!« wirst Du sagen. »Was für ein Verderben kann sie meinen?«

Warte ein wenig, bis ich mein Tagebuch befragt habe, ob ich es Dir mit Sicherheit sagen darf.«



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

»Den 21. Juli. Montag Abend elf Uhr.

So eben hat er mich verlassen. Auf meinen Wunsch schieden wir an dem Pfade, der aus dem Gebüsch führt, worauf er seinen Weg nach dem Hotel und ich den meinigen nach meiner Wohnung einschlug.

Einer zweiten Zusammenkunft mit ihm bin ich ausgewichen, indem ich ihm morgen früh zu schreiben versprach. So habe ich die Nacht, mich wieder zu sammeln und, wenn es möglich, meinen Geist zu meinen eigenen Angelegenheiten zurückzuführen. Ich sage, wenn es möglich, denn mir ist’s, als hätte seine Geschichte sich meiner bemächtigt, um mich nie wieder loszulassen. Wird die Nacht vergehen und der Morgen mich noch immer mit dem Gedanken an den Brief beschäftigt finden, der ihm vom Sterbelager seines Vaters zugesandt wurde, an die Nacht, die er am Bord des Wracks durchwachte und vor allem an den ersten spannungsvollen Augenblick, wo er mir seinen wahren Namen mittheilte?

Könnte ich diese Eindrücke wohl abschütteln, wenn ich sie niederzuschreiben versuchte? So würde ich wenigstens nichts Wichtiges vergessen. Jedenfalls ist es der Mühe werth, es zu versuchen. In meiner gegenwärtigen Lage muß mein Gemüth frei genug sein, um sich mit andern Dingen beschäftigen zu können, sonst werde ich mich nimmermehr durch all die Schwierigkeiten hindurchwinden, die mir in Thorpe-Ambrose noch bevorstehen.

Laß sehen. Was verfolgt mich also?

Die Namen verfolgen mich. Fortwährend sage ich mir: Beide dieselben! Taufnamen und Familiennamen, beide dieselben! Ein blonder Allan Armadale, von dem ich längst gewußt habe und der der Sohn meiner ehemaligen Herrin ist. Ein brünetter Allan Armadale von welchem ich erst jetzt erfahre und der Andern nur unter dem Namen Ozias Midwinter bekannt ist. Und noch seltsamer —— nicht die Verwandtschaft, kein Zufall ist es, der sie zu Namensvettern gemacht hat Der Vater des blonden Armadale war der Mann, dem der Familienname durch die Geburt zufiel und der des Familienerbes verlustig ging. Der Vater des brünetten Armadale war der Mann, der den Namen annahm und zwar unter der Bedingung, dadurch das Erbe zu erhalten, und der es erhielt.

Es sind also ihrer zwei —— ich kann mich des Gedankens nicht erwehren —— und beide unverheirathet. Der blonde Armadale, der dem Weibe, das sich seiner versichern kann, solange er lebt, ein Vermögen von achttausend Pfund jährlicher Renten bietet, der seiner Gattin bei seinem Ableben zwölfhundert Pfund Jahresrenten hinterläßt, der mich aus diesen beiden goldenen Gründen heirathen muß und soll und den ich hasse und verabscheue, wie ich noch nie einen Mann gehaßt und verabscheut habe. Und der schwarze Armadale, der ein armseliges kleines Einkommen hat, welches vielleicht gerade hinreicht, die Putzmacherrechnungen seiner Frau zu bezahlen, vorausgesetzt, daß diese sparsam wäre, der so eben in der Ueberzeugung von mir gegangen ist, daß ich ihn heirathen will, und den ich —— nun, den ich einst, ehe ich das Weib war, das ich jetzt geworden bin, vielleicht hätte lieben können.

Und Allan, der Blonde, weiß nicht, daß er einen Namensvetter hat! Allan, der Schmarze, hat das Geheimniß vor allen bewahrt, mich und den Pfarrer in Sommersetshire ausgenommen, auf dessen Verschwiegenheit er sich verlassen kann.

Es gibt zwei Allan Armadale —— zwei Allan Armadale —— zwei Allan Armadale! So! Drei ist eine glückliche Zahl. Danach verfolge mich noch, wenn Du kannst!

Was kommt dann? Der Mord auf dem Holzschiffe? Nein, der Mord ist ein guter Grund, weshalb der schwarze Armadale, dessen Vater denselben beging, das Geheimniß vor dem blonden Armadale bewahren sollte, dessen Vater getödtet ward; aber das geht mich nichts an. Ich erinnere mich, wie damals auf Madeira ein Argwohn rege war, daß etwas nicht in Ordnung sei. War es Unrecht? War dem um seine Frau betrogenen Mann ein Vorwurf zu machen, wenn er die Kajütenthür schloß und den Mann, der ihn hintergangen, auf dem Wrack ertrinken ließ? Ja, denn die Frau war dessen nicht würdig.

Was geht mich nun wirklich selbst an?

Eines sehr wichtigen Umstandes bin ich. gewiß. Ich weiß bestimmt, daß Midwinter —— ich muß ihm nach wie vor seinen häßlichen falschen Namen geben, sonst verwechsele ich noch die beiden Armadales mit einander —— ich weiß bestimmt, daß Midwinter keine Ahnung hat, daß ich und der kleine zwölfjährige Kobold, der Mrs. Armadale zu Madeira bediente und die Briefe abschrieb, die angeblich aus Westindien anlangten, eine und dieselbe Person sind. Es wird nicht viele zwölfjährige Mädchen geben, welche die Handschrift eines Mannes nachahmen und dann darüber hätten schweigen können, wie ich es that; doch das ist jetzt von keinem Belang. Von Belang aber ist, daß Midwinter’s Glaube an den Traum sein einziger Grund ist, warum er, mich mit Armadale’s Aeltern in Beziehung glaubend, mich mit Allan Armadale selbst in Verbindung zu bringen sucht. Ich fragte ihn, ob er mich wirklich für alt genug halte, eins von beiden gekannt zu haben. Und der arme Junge sagte so verdutzt wie nur möglich nein. Würde er wohl nein sagen, wenn er mich in diesem Augenblicke sähe? Soll ich an den Spiegel treten und mich überzeugen, ob ich wirklich wie fünfunddreißig Jahre alt aussehe, oder soll ich weiter schreiben? Ich will weiter schreiben.

Eins verfolgt mich fast ebenso hartnäckig wie die Namen.«

Ob ich wohl recht thue, wenn ich auf Midwinter’s Aberglauben baue (wie ich dies thue), daß dieser mir behilflich sein wird) mich gegen seine Zudringlichkeiten zu schützen? Nachdem ich mich durch die Aufregung des Augenblicks dazu habe verleiten lassen, mehr zu sagen, als ich zu sagen brauchte, wird er mich ganz sicher zu drängen suchen; ganz sicher wird er mit der verhaßten Selbstsucht und Ungeduld der Männer in solchen Dingen auf die Heirathsfrage zurückkommen. Wird der Traum mir behilflich sein, ihn abzuwehren? Nachdem er abwechselnd an denselben geglaubt und nicht geglaubt hat, ist er, seinem eigenen Bekenntnisse nach, jetzt wieder so weit, daß er daran glaubt. Darf ich sagen, daß ich ebenfalls daran glaube? Ich habe für diesen Glauben bessere Gründe, als er ahnt. Nicht nur bin ich dieselbe Person, welche Mrs. Armadale’s Heirath beförderte, indem sie ihr ihren Vater hintergehen half, ich bin die Person, die sich ertränken wollte, die Person, die die Reihe von Unfällen eröffnete, welche dem jungen Armadale zum Besitze des Vermögens verhalfen, die Person, die nach Thorpe-Ambrose kam, um ihn um seines Vermögens willen zu heirathen, und, was noch erstaunlicher ist, die Person, die an der Stelle des Schattens am Teiche stand! Dies mögen Zufälle sein, aber es sind sehr seltsame Zufälle. Ich fange wahrlich an mir einzubilden, daß ich ebenfalls an den Traum glaube!

Gesetzt, ich sage zu ihm: Ich theile Ihren Glauben. Ich sage dasselbe, was Sie in Ihrem Briefe an mich sagen; scheiden wir, ehe ein Unglück geschieht. Verlassen Sie mich, ehe die dritte Vision des Traums sich verwirklicht. Verlassen Sie mich und legen Sie Meere und Berge zwischen sich und den Mann, der Ihren Namen trägt!

Gesetzt, auf der andern Seite, daß seine Liebe ihn gegen alles Andere gleichgültig macht, gesetzt, er wiederholt jene verzweifelten Worte, die ich mir jetzt erklären kann: »Was sein soll, wird sein. Was habe ich damit zu schaffen, und was sie?« Gesetzt —— gesetzt ——

Ich will nicht weiter schreiben. Mir ist das Schreiben widerwärtig. Es gewährt mir keine Erleichterung, im Gegentheil, ich kann viel weniger an das denken, woran ich denken muß, als in dem Augenblicke, da ich mich zum Schreiben niedersetzte. Es ist nach Mitternacht, bereits tagt es, und da sitze ich als das dümmste Frauenzimmer von der Welt! Mein Bett ist der einzige passende Ort für mich.

Mein Bett! Wenn es vor zehn Jahren wäre, anstatt heute, und wenn ich Midwinter aus Liebe geheirathet hätte, so würde ich jetzt vielleicht mit keiner andern Sorge auf der Seele mein Nachtlager aufsuchen, als einen leisen Besuch in der Kinderstube abzustatten, um mich zu überzeugen, ob die Kleinen ruhig in ihren Bettchen schliefen. Ob ich nur meine Kinder würde geliebt haben, wenn ich je welche gehabt hätte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Einerlei.

Dienstag Morgen zehn Uhr. Wer war der Mann, der das Laudanum erfand? Wer er immer sei, ich danke ihm von ganzem Herzen. Wenn alle die Elenden, die an Leib und Seele leiden und deren Tröster er gewesen, sich vereinigen könnten, um sein Lob zu singen, welch einen Chor das geben würde! Ich habe sechs köstliche Stunden der Vergessenheit genossen und mit beruhigtem Gemüthe bin ich erwacht, ich habe einen ganz kleinen Brief an Midwinter geschrieben, ich habe meine vortreffliche Tasse Thee mit wahrem Behagen getrunken, ich habe mit einem köstlichen Gefühle der Erleichterung meine Morgentoilette gemacht und alles dies durch das bescheidene kleine Fläschchen, das ich in diesem Augenblicke auf dem Kaminsimse meines Schlafzimmers sehe. Tropfen, ihr seid Unbezahlbar! Liebe ich in der Welt auch sonst nichts, euch liebe ich doch!

Ich habe meinen Ortes an Midwinter durch die Post gesandt und ihn gebeten, mir auf demselben Wege zu antworten.

Wegen seiner Antwort ängstige ich mich nicht; er kann nur in einer Weise antworten. Ich habe mir etwas Bedenkzeit erbeten, da meine Familienverhältnisse dies in seinem Interesse sowohl als in dem meinigen verlangen. Ich habe mich verpflichtet, ihm das nächste Mal, wenn wir zusammenkommen, zu sagen, welcher Art diese Verhältnisse sind (was kann ich ihm nur sagen?), und ihn gebeten, inzwischen Alles, was zwischen uns geschehen, geheim zu halten. Was er in der Zwischenzeit, während ich angeblicherweise überlege, selbst zu thun hat, habe ich seiner eigenen Bestimmung überlassen, ihn blos daran erinnernd, daß sein Bleiben in Thorpe-Ambrose in unserer gegenwärtigen Lage zu Muthmaßungen über seine Beweggründe Anlaß geben könne, und daß ein Versuch von seiner Seite, mich wiederzusehen, solange unser Verhältniß zu einander nicht veröffentlicht werden dürfe, meinem Rufe schaden würde. Wenn er es wünsche, wolle ich an ihn schreiben; schließlich habe ich ihm versprochen, die Zeit unserer nothwendigen Trennung thunlichst abzukürzen.

Dieser einfache, unaffectirte Brief, den ich ihm schon gestern Abend hätte schreiben können, wenn mir nicht seine Geschichte so im Kopfe herumgegangen wäre, hat, wie ich wohl weiß, einen Fehler. Allerdings hält er ihn fern, während ich meine Netze auswerfe, um zum zweiten Male meinen Goldfisch im Herrnhause zu fangen, aber wenn dies mir gelingt, stellt er mir zugleich einen fatalen Tag in Aussicht, wo ich mich vor Midwinter rechtfertigen muß. Was soll ich mit ihm anfangen? Was soll ich beginnen? Ich sollte diesen beiden Fragen so kühn wie immer begegnen, allein ich weiß nicht, wie es kommt, der Muth läßt mich im Stiche; ich denke nicht eben gern daran, wie ich jener Schwierigkeit begegnen soll, bis der Augenblick kommt, wo derselben begegnet werden muß. Soll ich meinem Tagebuche das Bekenntniß ablegen, daß Midwinter mir leid thut und daß ich einigermaßen vor dem Gedanken an den Tag erschrecke, wo er hören wird, daß ich Gutsherrin werden soll?

Aber noch bin ich nicht Herrin, und ich kann keinen Schritt zu dem Ende thun, bevor ich nicht Antwort aus meinen Brief erhalten habe und weiß, daß Midwinter aus dem Wege ist. Geduld! Geduld! Ich muß suchen, mich an meinem Klavier zu vergessen. Die Mondschein-Sonate liegt dort aufgeschlagen auf dem Notenpulte und lockt mich zu sich. Ob ich wohl den Muth habe, sie zu spielen? Oder wird sie mich, wie neulich, mit ihrem geheimnißvollen Grausen schaudern machen?

Fünf Uhr. Ich habe seine Antwort. Mein leisester Wunsch ist ihm Befehl. Er ist fort und schickt mir seine Londoner Adresse. »Zwei Punkte sind es«, schreibt er, »die mich zum Theil damit aussöhnen, Dich zu verlassen. Erstens, weil Du es willst und es nur auf kurze Zeit ist; zweitens, weil ich in London Maßregeln treffen zu können glaube, durch Arbeit mein Einkommen zu erhöhen. Für mich selbst hat das Geld nie großen Werth gehabt, aber Du kannst Dir keine Vorstellung machen, wie sehr ich bereits um meines Weibes willen Luxus und Genüsse des Lebens zu schätzen beginne, wie sie das Geld verschaffen kann?

Der arme Junge! Fast wollte ich, ich hätte nicht an ihn geschrieben; ich wollte fast, ich hätte ihn nicht von mir fortgeschickt.

Wenn Mutter Oldershaw diese Seite meines Tagebuchs sähe! Ich habe heute Morgen einen Brief von ihr erhalten, in dem sie mich an meine Verpflichtungen gegen sie erinnert und mir sagt, sie vermuthe, es gehe hier Alles, wie es nicht gehen solle. Immerhin mag sie vermuthen. Ich werde mir nicht die Mühe nehmen, ihr zu antworten, in meiner gegenwärtigen Gemüthsverfassung kann ich mich von dem alten Geschöpfe nicht quälen lassen.

Ein herrlicher Nachmittag; ein Spaziergang thut mir noth, ich darf nicht an Midwinter denken. Soll ich meinen Hut aufsetzen und sofort mein Glück im Herrnhause versuchen? Alles ist mir günstig. Ich werde von keinem Spione mehr verfolgt und kein Advocat ist jetzt da, der mir den Eingang verwehrt. Bin ich heute schön genug? Nun ja, schön genug, um einem kleinen, schlumpigen, einfältigen, sommerfleckigen Geschöpf die Spitze zu bieten, das auf der Schulbank sitzen und an ein Bret geschnallt liegen sollte, um seinen krummen Rücken gerade zu machen.

Acht Uhr. Eben bin ich aus dem Herrnhause zurück. Ich habe ihn gesehen und gesprochen, und das Ende davon läßt sich in vier deutlichen Worten sagen: es ist mir mißglückt. Ich habe ebenso wenig Aussicht, Mrs. Armadale auf Thorpe-Ambrose als Königin von England zu werden.

Soll ich das der Oldershaw schreiben? Soll ich nach London zurückkehren? Nicht eher, als bis ich zu weiterer Ueberlegung Zeit gehabt habe. Auf der Stelle nicht.

Die Geschichte ist mir also fehlgeschlagen, und zwar, obschon alle Umstände mir günstig waren. Ich traf ihn allein auf der Auffahrt vor dem Hause. Er war entsetzlich bestürzt, aber zugleich sehr bereit, mich anzuhören. Zuerst versuchte ich’s ganz ruhig mit ihm, dann mit Thränen und allem Zubehör. Ich stellte mich ihm in der Rolle des armen, schuldlosen Weibes dar, das er zu kränken das Werkzeug gewesen sei. Ich verwirrte, ich interessierte, ich überzeugte ihn. Ich ging zu dem rein christlichen Theile meiner Botschaft über und sprach mit solchem Gefühl von seiner Trennung von seinem Freunde, für die ich unschuldigerweise verantwortlich sei, daß ich sein unausstehliches rothes Gesicht ganz bleich machte und ihn zu der Bitte veranlaßte, ihn nicht zu betrüben. Doch welche Gefühle ich auch immer in ihm erregte, sein altes Gefühl für mich vermochte ich nicht wieder zu erwecken. Ich sah dies in seinen Augen, wenn er mich ansah; ich fühlte es an seinen Fingern, als wir uns die Hände schüttelten Wir schieden in Freundschaft, aber auch weiter nichts.

Habe ich darum einen Morgen nach dem andern der Versuchung widerstanden, wenn ich wußte, daß Sie allein im Park waren, Miß Milroyß Ich habe Ihnen eben Zeit gelassen, sich einzuschleichen und meine Stelle in Armadales guter Meinung einzunehmen, nicht wahr? Noch nie habe ich einer Versuchung widerstanden, ohne daß ich später ähnlich dafür zu büßen hatte! Wäre ich nur an dem Tage, da ich Sie verließ, meinen ersten Gedanken gefolgt, mein werthes Fräulein —— nun, nun, das ist jetzt einerlei. Ich habe die Zukunft vor mir; noch sind Sie nicht Mrs. Armadale! Und ich kann Ihnen noch eins sagen: wen er auch heirathen mag, Sie heirathet er nimmermehr. Wenn ich mich nicht anders an Ihnen räche, verlassen Sie sich darauf, hierin wenigstens werde ich mich rächen!

Zu meiner eigenen Verwunderung habe ich keinen meiner gewohnten Wuthanfälle. Das letzte Mal, daß ich bei so ernstlicher Aufregung vollkommen gelassen blieb, entstand etwas daraus, das ich selbst meinem geheimen Tagebuche nicht anzuvertrauen wage. Es sollte mich nicht überraschen, wenn auch jetzt etwas daraus entstünde.

Auf meinem Heimwege sprach ich bei Mr. Bashwood in der Stadt ein. Er war nicht zu Hause und ich hinterließ den Auftrag, daß er heute Abend herkommen solle, um mit mir zu sprechen. Ich will ihn sofort der Pflicht überheben, Armadale und Miß Milroy zu bewachen. Ich mag mir noch nicht über die Art und Weise klar sein, ihre Aussichten auf Thorpe-Ambrose ebenso gründlich zu zerstören, wie sie die meinigen zerstört hat, aber wenn die Zeit kommt und ich mir klar darüber bin, so weiß ich nicht, wie weit mein Gefühl der Beleidigung mich führen mag, und es dürfte unbequem und möglicherweise gar gefährlich sein, ein so hasenfüßiges Geschöpf wie Mr. Bashwood in mein Vertrauen gezogen zu haben.

Es will mich bedenken, als sei ich von alledem mehr angegriffen, als ich anfangs glaubte. Midwinter’s Geschichte beginnt mich wieder und zwar ohne allen Grund zu verfolgen.

Ein leises, schnelles, zitterndes Klopfen an der Hausthür! Ich weiß, wer dies ist. Keine Hand außer der des alten Bashwood könnte so anklopfen.

Neun Uhr. Eben bin ich ihn losgeworden. Er hat mich in Verwunderung gesetzt, indem er sich in einem neuen Charakter gezeigt hat.

Es scheint, er war, obgleich ich seiner dort nicht gewahr wurde, im Herrnhause, während ich mich in Armadales Gesellschaft befand. Er sah uns an der Auffahrt mit einander sprechen und hörte später, was die Diener sagten, die uns ebenfalls bemerkten. Die weise Ansicht im Souterrain geht dahin, daß wir uns »wieder vertragen« und daß der Herr mich schließlich doch wohl noch heirathen wird. »Er hat sich in ihr rothes Haar verliebt«, lautet die elegante Phrase, mit der man sich, in der Küche ausdrückte. »Das kleine Fräulein kann ihr’s darin nicht gleich thun und wird sich wohl packen müssen.« Wie ich die gemeine Ausdrucksweise der niederen Klassen hasse!

Mich dünkt, der alte Bashwood sah, während er mir dies erzählte, sogar noch Verwirrter und furchtsamer aus als gewöhnlich. Aber erst, nachdem ich ihm gesagt, daß er alle fernere Beobachtung Mr. Armadale’s und Miß Milroy’s für die Zukunft mir zu überlassen habe, kam ich dahinter, was ihm wirklich fehlte. Jeder Tropfen Blut in dem Körper des schwächlichen alten Menschen schien ihm ins Gesicht zu schießen. Er machte eine überwältigende Anstrengung; er sah wirklich aus, als ob er vor Angst vor seiner eigenen Verwegenheit todt niederfallen müsse; dennoch aber gelang es ihm, stammelnd und stotternd und während beide Hände an dem Rande seines scheußlichen großen Huts herumkneteten, die Frage herauszubringen: »Ich bitte um Verzeihung, Miß G—— G—— Gwilt! Sie wollen doch nicht w—— w—— wirklich Armadale heirathen?« Eifersüchtig —— wenn ich es je im Gesichte eines Mannes sah, so sah ich es in dem seinigen —— in seinem Alter wirklich eifersüchtig auf Armadale! Wäre ich in der Laune gewesen, so würde ich ihm ins Gesicht gelacht haben. So aber ward ich böse und verlor alle Geduld mit ihm. Ich sagte ihm, er sei ein alter Narr, und befahl ihm, sich ruhig seinen Geschäften zu widmen, bis ich ihm sagen ließe, daß ich seiner wieder bedürfe Wie immer fügte er sich, aber in seinen wässerigen alten Augen lag, als er sich von mir verabschiedete, ein unbeschreibliches Etwas, das ich bisher noch nie darin bemerkt habe. Man behauptet von der Liebe, sie bewirke allerlei seltsame Umwandlungen. Ist es denn wirklich möglich, daß die Liebe Mr. Bashwood so weit zum Manne gemacht hat, daß er mir zürnen kann?

Mittwoch. Meine Kenntniß von Miß Milroy’s Gewohnheiten erweckte gestern Abend einen Verdacht in mir, den aufzuklären mir heute Morgen wünschenswerth erschien.

Während meines Aufenthalts im Parkhäuschen pflegte sie vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Da ich häufig dieselbe Zeit zu meinen heimlichen Zusammenkünften mit Armadale gewählt hatte, fiel mir ein, meine frühere Schülerin werde wahrscheinlich meinem Beispiele folgen, und ich dürfte vielleicht einige neue Entdeckungen machen, wenn ich meine Schritte zur rechten Zeit dem Garten zu lenkte. Ich versagte mir meine Tropfen, um mich des rechtzeitigen Erwachens zu versichern, verbrachte demzufolge eine abscheuliche Nacht und war um sechs Uhr völlig bereit, in der frischen Morgenluft von meiner Wohnung nach dem Parkhäuschen zu spazieren.

Kaum hatte ich fünf Minuten auf der Parkseite der Gartenhecke gewartet, als ich sie herauskommen sah. Sie schien ebenfalls eine schlechte Nacht gehabt zu haben; ihre Augen waren schwer und roth und ihre Lippen und Wangen geschwollen, als ob sie geweint hätte. Sichtlich hatte sie etwas auf dem Herzen, etwas, das sie, wie sich bald herausstellte, aus dem Garten in den Park hinausführte. Sie schritt —— wenn man bei solchen Beinen wie die ihrigen von schreiten reden kann! —— gerade auf das Sommerhäuschen zu, öffnete die Thür, ging über die Brücke und mit immer schnelleren Schritten dem tief liegenden Theile des Parks zu, wo die Bäume am dichtesten stehen. Da sie ganz in Gedanken versunken war, so konnte ich ihr unbemerkt folgen, und als sie unter den Bäumen langsamer zu gehen anfing, war ich ebenfalls schon unter den Bäumen und fürchtete nicht von ihr gesehen zu werden.

Gleich darauf drang aus dem in einer Vertiefung des Bodens stehenden Unterholz das krachende, trampelnde Geräusch von schweren Füßen zu uns. Ich kannte diese Schritte ebenso gut wie sie: »Da bin ich«, sagte sie mit matter, leiser Stimme. Im Zweifel darüber, auf welcher Seite Armadale aus dem Unterholze herauskommen würde, hielt ich mich einige Schritte entfernt hinter den Bäumen versteckt. Er kam auf der entgegengesetzten Seite des Baums, hinter dem ich stand, aus der Vertiefung herauf. Sie setzten sich am Abhange auf den Rasen. Ich kauerte mich hinter dem Baume nieder, sah sie durchs Unterholz hindurch an und hörte ohne Mühe jedes Wort, das sie sprachen.

Die Unterhaltung begann damit, daß er bemerkte, sie sehe traurig aus; dann fragte er, ob sich im Parkhäuschen irgend etwas Unangenehmes ereignet habe. Die hinterlistige kleine Creatur verlor keine Zeit, den nothwendigen Eindruck auf ihn zu machen; sie begann zu weinen. Natürlich faßte er ihre Hand und versuchte in seiner plumpen, offenen Manier sie zu trösten. Nein, sie sei nicht zu trösten. Eine unerträgliche Perspective liege vor ihr, vor dem Gedanken daran habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Ihr Vater habe sie am vergangenen Abend auf sein Zimmer beschieden, habe über ihre Erziehung gesprochen und ihr unumwunden gesagt, daß sie in Pension gehen müsse. Er habe die Wahl einer solchen schon getroffen und die Bedingungen seien festgestellt, und sobald ihre Garderobe in Ordnung gebracht sein werde, solle sie fortgeschickt werden. »Solange jene verhaßte Miß Gwilt im Hause war«, sagte diese musterhafte junge Person, »wäre ich gern zur Schule gegangen, ja ich wünschte es. Jetzt aber ist Alles anders, jetzt sehe ich die Sache nicht mehr in demselben Lichte; ich fühle mich zu alt für die Schule. Es bricht mir das Herz, Mr. Armadale.« Hier hielt sie inne, als ob sie noch mehr hätte sagen wollen, und warf ihm s einen Blick zu, der dem Satz deutlich die Worte hinzufügt« »Es bricht mir das Herz, Mr. Armadale, mich jetz, da wir wieder Freunde sind, von Ihnen zu trennen!« Was offene, unverschämte Frechheit betrifft, deren ein erwachsenes Frauenzimmer sich schämen würde, so geht doch nichts über die der jungen Mädchen, deren Bescheidenheit heutzutage von den ekelhaften häuslichen Sentimentalisten so beharrlich hervorgehoben wird!

Selbst der Tölpel Armadale verstand sie Nachdem er sich in einem Wortlabyrinth verirrt hatte, das nirgendwohin führte, umschlang er ihre, man kann kaum sagen ihre Taille, denn sie hat keine, also die Stelle, wo das letzte Hestel ihres Kleides sitzt, und machte ihr, um ihr eine Zuflucht gegen die Schmach zu bieten, in ihrem Alter noch in die Schule geschickt zu werden, mit deutlichen Worten einen Heirathsantrag.

Hätte ich sie in diesem Augenblicke beide umbringen können, wenn ich meinen kleinen Finger aufgehoben, so bezweifle ich keine Sekunde, daß ich denselben ohne Bedenken diese Bewegung hätte machen lassen. Wie die Sachen aber standen, wartete ich blos ab, was Miß Milroy sagen würde.

Sie schien es für nothwendig zu halten, da sie vermuthlich fühlte, daß sie ohne Vorwissen ihres Vaters mit ihm zusammengekommen war, und sich erinnerte, wie ich ihr in Mr. Armadales guter Meinung vorangegangen, ihre Würde durch einen Ausbruch tugendhafter Entrüstung zu behaupten. Sie wundere sich, wie er nach seinem Benehmen gegen Miß Gwilt und nachdem ihr Vater ihm den Zutritt zu seinem Hause versagt, noch an so etwas denken könne! Wolle er sie etwa fühlen lassen, wie unverzeihlich sie vergessen habe, was sie sich selbst schuldig sei? Sei es denn eines Gentleman würdig, etwas vorzuschlagen, von dem er ebenso wohl wie sie wisse, daß es unmöglich wäre? Und so weiter und so weiter. Jeder Mensch mit einem Gehirn im Kopfe würde sofort begriffen haben, was diese Tirade in Wirklichkeit zu bedeuten habe, Armadale aber nahm sie so ernstlich auf, daß er sich wirklich zu vertheidigen suchte. In seiner hastigen, tölpelhaften Art erklärte er, daß er es völlig ernstlich meine; er und ihr Vater könnten sich versöhnen und wieder Freunde werden; und sollte der Major darauf bestehen, ihn als einen Fremden zu behandeln, so seien schon häufig junge Leute mit einander entflohen, um sich zu heirathen, und die Aeltern, die ihnen vorher nicht hätten verzeihen wollen, hätten ihnen nachher doch vergeben. Ein so unerhört offenes Courmachen ließ Miß Milroy natürlich nur die Alternative, entweder zu bekennen, daß sie nein gesagt, während sie ja gemeint habe, oder zu einem abermaligen Ausbruche von Entrüstung ihre Zuflucht zu nehmen. »Wie können Sie sich unterstehen, Mr. Armadale! Verlassen Sie mich augenblicklich! Es ist rücksichtslos es ist herzlos, es ist geradezu schändlich, so zu mir zu sprechen!» Und so weiter und so weiter. Es scheint unglaublich, aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß er Narr genug war, sie beim Worte zu nehmen. Er bat sie um Verzeihung und ging fort, wie ein Kind, das man in den Winkel schickt, der verachtungswürdigste Gegenstand in Gestalt eines Mannes, der je mit Augen erblickt ward!

Sie blieb, nachdem er gegangen war, um sich wieder zu beruhigen, und ich wartete hinter den Bäumen, um zu sehen, wie ihr dies gelingen werde. Ihre Augen wandten sich schlau dem Pfade zu, auf dem er sie verlassen hatte. Sie lächelte (bei einem Munde. wie dem ihrigen, sollte man vielmehr feixen sagen), that ein paar Schritte auf den Fußspitzen, um ihm nachzublicken, wandte sich wieder um und brach plötzlich in Thränen aus. Ich lasse mich nicht so leicht hintergehen wie Armadale und sah deutlich genug, was dies Alles zu bedeuten habe.

Morgen, dachte ich bei mir, wirft Du Dich ganz zufällig wieder im Park einfinden, mein Fräulein. Am Tage darauf wirft Du ihn dahin bringen, daß er Dir zum zweiten Male einen Heirathsantrag macht. Den Tag darauf wird er auf das Thema von den Entführungsheirathen zurückkommen, und Du wirst nur eine kleidsame Verwirrung an den Tag legen. Und den folgenden Tag wirst Du, wenn er einen Plan in Vorschlag zu bringen hat und Deine Garderobe zum Einpacken für Deine Reise zur Pension bereit ist, ihn anhören. Ja, ja, wo es sich um ein Weib handelt, ist die Zeit stets auf der Seite des Mannes, wenn nur der Mann Geduld genug besitzt, um sich von der Zeit helfen zu lassen.

Sie ahnte durchaus nicht, daß ich sie betrachtet hatte, und ging nach dem Parkhäuschen zurück. Ich blieb unter den Bäumen und überlegte. Die Wahrheit zu gestehen, fühlte ich mich von dem, was ich gehört und gesehen, in einer Weise ergriffen, die nicht leicht zu beschreiben ist. Die ganze Geschichte stellte sich mir dadurch in neuem Lichte dar. Es ward mir klar, was ich bis heute Morgen nie geahnt hatte, daß sie ihn wirklich liebt.

Wie schwer meine Verpflichtung gegen sie immer sei, nunmehr ist keine Gefahr vorhanden, daß ich mich derselben nicht bis auf den letzten Heller entledige. Es wäre keine Kleinigkeit für mich gewesen, mich zwischen Miß Milroy und ihren Ehrgeiz zu stellen, eine der ersten Damen der Grafschaft zu werden, aber wo es sich um ihre erste Liebe handelt, mich zwischen Miß Milroy und den Wunsch ihres Herzens zu drängen, das ist mir unendlich mehr Werth. Soll ich meiner eigenen Jugend gedenken und sie schonen? Nein! Sie hat mich der einzigen Aussicht beraubt, die Kette zu zersprengen, die mich an eine Vergangenheit fesselt, welche zu fürchterlich ist, als daß ich daran denken möchte. Ich sehe mich in eine Lage zurückgeschleudert, mit der verglichen die Stellung einer Ausgestoßenen auf der Straße erträglich, ja beneidenswerth ist. Nein, Miß Milroy, nein, Mr. Armadale, keins von Euch beiden will ich schonen.

Schon einige Stunden bin ich wieder heim. Ich habe nachgesonnen und es ist nichts dabei herausgekommen. Seit ich vorigen Sonntag jenen seltsamen Brief von Midwinter erhalten, hat meine gewohnte Gewandtheit in dringenden Verlegenheiten mich gänzlich im Stich gelassen. Wenn ich nicht an ihn oder seine Geschichte denke, ist mir’s, als wäre mein Geist völlig betäubt. Ich, die ich bei andern Gelegenheiten stets gewußt, was ich zu thun hatte, weiß nicht, was ich jetzt beginnen soll. Natürlich wäre es leicht genug, Major Milroy von dem Vorhaben seiner Tochter zu unterrichten. Aber der Major hat seine Tochter lieb; dem jungen Armadale ist daran gelegen, sich mit ihm auszusöhnen. Armadale ist reich und angesehen und bereit, sich dem älteren Manne zu fügen, und früher oder später werden sie wieder Freunde werden, und das Ende davon wird die Heirath sein. Eine Warnung für den Major bereitet ihnen blos eine augenblickliche Verlegenheit, das ist nicht der Weg, sie gänzlich von einander zu scheiden.

Welches ist der Weg? Ich kann ihn nicht sehen. Ich möchte mir das Haar vom Kopfe reißen! Das Haus möchte ich niederbrennen. Wäre die ganze Welt mit Schießpulver unterminiert, so möchte ich einen Funken hineinwerfen und die ganze Welt in die Luft sprengen, so wüthend, so rasend bin ich über mich, daß ich den Weg nicht sehen kann!

Der arme liebe Midwinter! Ja »liebe«. Meinetwegen. Ich bin einsam und hilflos. Es verlangt mich nach Jemand, der sanft und liebevoll ist und viel aus mir macht; ich wollte, ich hätte seinen Kopf wieder an meiner Brust; ich denke stark daran, nach London zu reisen und ihn zu heirathen. Bin ich verrückt? Ja, alle Leute, die so elend sind wie ich, sind verrückt. Ich muß ans Fenster gehen, um frische Luft zu schöpfen. Soll ich hinaus springen? Nein, das entstellt so, und die Leichenschau läßt es so viele Leute sehen.

Die Luft hat mich belebt. Ich beginne mich zu erinnern, daß ich wenigstens die Zeit auf meiner Seite habe. Niemand außer mir weiß etwas von ihren geheimen Zusammenkünften in der ersten Morgenfrühe im Park. Versucht der eifersüchtige alte Bashwood, der zu Allem listig und verschlagen genug ist, etwa in seinem eigenen Interesse dem jungen Armadale aufzulauern, so wird er dies zur gewohnten Zeit thun, wenn er sich nach seiner Expedition verfügt. Er weiß nichts von Miß Milroy’s Morgengewohnheiten und wird nicht eher an Ort und Stelle sein, als bis Armadale bereits nach seiner Wohnung zurückgekehrt ist. Ich kann immer noch eine Woche warten und ihnen auflauern und selbst den Augenblick wählen, mich dazwischen zu legen, sowie ich irgendwie Gefahr sehe, daß er ihr Zögern überwindet und sie ja sagen will.

Und so warte ich hier, ohne zu wissen, wie die Sache in London mit Midwinter enden wird, während meine Börse immer leerer wird, sich keine Aussicht auf neue Schülerinnen bietet, dieselbe wieder zu füllen, und Mrs. Oldershaw sicherlich auf Rückzahlung ihres Geldes bestehen wird, sowie sie erfährt, daß mir die Sache fehlgeschlagen ist; ohne Aussichten, Freunde oder Hoffnungen irgend welcher Art —— ein verlorenes Weib, wenn es je ein solches gab. Nun, ich sage es noch einmal und noch einmal und noch einmal —— meinetwegen! Hier bleibe ich, und wenn ich die Kleider vom Leibe verkaufen und mich vermiethen muß, um den Bauernlümmeln in der Schenke vorzuspielen; hier bleibe ich, bis der Augenblick kommt und ich den Weg sehe, Armadale und Miß Milroy auf immer von einander zu trennen!

Sieben Uhr. Sind Zeichen vorhanden, daß der Augenblick herannaht? Ich weiß es kaum, jedenfalls gewahre ich Zeichen von einer Veränderung meiner Stellung in der Umgegend.

Zwei der ältesten und häßlichsten der vielen alten und häßlichen Damen, die sich meiner Sache annahmen, als ich Major Milroy’s Haus verließ, haben mir so eben einen Besuch gemacht, wobei sie sich mit der unerträglichen Dreistigkeit mildthätiger Engländerinnen als eine Deputation von meinen Gönnerinnen vorstellten. Wie es scheint, ist die Nachricht von meiner Aussöhnung mit Armadale aus der Bedientenstuhe des Herrnhauses bis nach der Stadt gedrungen und hat folgendes Resultat herbeigeführt. Die einstimmige Ansicht meiner Gönnerinnen (und auch des Majors, der zu Rathe gezogen worden) ist, daß ich mit der unverzeihlichsten Unvorsichtigkeit gehandelt habe, indem ich nach Armadale’s Hause ging und mich dort in freundschaftlicher Weise mit einem Manne unterhielt, dessen Betragen gegen mich seinen Namen in der ganzen Nachbarschaft zum Schandworte gemacht. Mein gänzlicher Mangel an Selbstachtung in dieser Sache hat das Gerücht hervorgerufen, daß ich schlau mit meiner Schönheit Handel treibe und daß es ebenso wahrscheinlich sei als nicht, daß ich Armadale schließlich dennoch mich zu heirathen zwinge. Meine Gönnerinnen sind natürlich zu wohlwollend, um dies zu glauben. Sie fühlen nur die Notwendigkeit, mir in christlichem Geiste Vorstellungen zu machen und mich zu bedeuten, wie eine zweite ähnliche Unvorsichtigkeit alle meine besten Freunde im Orte zwingen würde, mir das Wohlwollen und die Protection zu entziehen, deren ich mich jetzt erfreue.

Nachdem sie sich dergestalt abwechselnd gegen mich ausgesprochen hatten —— offenbar nach mehrfachen Proben —— richteten meine beiden Gorgonenbesucherinnen sich in ihren Sesseln auf und sahen mich an, als hätten sie sagen wollen: »Gewiß haben Sie oft von der Tugend gehört, Miß Gwilt, aber wir glauben nicht, daß Sie dieselbe wirklich je in ihrer vollen Blüte erblickt haben, bis wir kamen und Ihnen unsern Besuch machten.«

Da ich sah, daß sie darauf erpicht waren, mich zu reizen, so beherrschte ich mich und antwortete ihnen in meiner süßesten, sanftesten, feinsten Manier. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß die Frömmigkeit einer gewissen Klasse von respectablen Leuten Sonntags elf Uhr Vormittags, wenn sie ihr Gebetbuch öffnen, beginnt und um ein Uhr, wenn sie es schließen, wieder aufhört. Christen dieser Sorte kann man durch nichts so sehr in Verwunderung setzen und beleidigen, als wenn man sie an einem Wochentage an ihr Christenthum erinnert. In diesem Sinne sprach ich.

»Was habe ich Unrechtes gethan?« fragte ich unschuldig. »Mr. Armadale hat mich gekränkt und ich bin zu ihm gegangen und habe ihm vergeben. Sicherlich muß hier ein Irrthum obwalten, meine Damen. Sie können doch wahrhaftig nicht gekommen sein, um mir in christlichem Geiste vorzuwerfen, daß ich eine christliche Handlung begangen habe?«

Die beiden Gorgonen erhoben sich. Ich glaube fest, gewisse Frauenzimmer haben nicht nur Katzengesichter, sondern auch Katzenschwänze. Ich bin fest überzeugt, daß die Schwänze dieser besonderen beiden Katzen langsam unter ihren Röcken wedelten und zur vierfachen Größe ihres ursprünglichen Umfangs anschwollen.

«.Aus Heftigkeit waren wir vorbereitet, Miß Gwilt«, sagten sie, »aber nicht auf Gotteslästerung. Wir wünschen Ihnen guten Abend.«

Damit verließen sie mich und damit schwindet Miß Gwilt aus der protegierenden Beachtung der Nachbarschaft.

Was nur aus diesem jämmerlichen kleinen Streite entstehen wird? Eins jedenfalls, das ich bereits wahrnehmen kann. Der Bericht davon wird zu Miß Milroy gelangen. Sie wird darauf bestehen, daß Armadale sich rechtfertigt, und Armadale wird sie schließlich von seiner Unschuld überzeugen, indem er ihr einen abermaligen Heirathsantrag macht. Dies wird sehr wahrscheinlicher weise die Dinge zwischen ihnen beschleunigen, wenigstens würde dies bei mir der Fall sein. Wäre ich an ihrer Stelle, so würde ich zu mir sprechen: »Ich will ihn mir sichern, solange ich es noch im Stande bin? Wenn es morgen früh nicht regnet, gedenke ich abermals eine Frühpromenade nach dem Parke zu machen.

Mitternacht. Da ich in Hinsicht auf den frühen Morgenspaziergang meine Tropfen nicht nehmen kann, will ich nur alle Hoffnung auf Schlaf aufgeben und mein Tagebuch fortsetzen. Ja selbst wenn ich die Tropfen nähme, würde diese Nacht mein Kopf wohl nicht recht ruhig auf meinem Kissen liegen. Seit die kleine Aufregung infolge des Auftritts mit meinen Gönnerinnen sich gelegt hat, werde ich von Zweifeln geplagt, die mir unter allen Umständen nur wenig Aussicht auf Ruhe gewähren.

Ich kann mir nicht erklären, wie es kommt, aber die letzten Worte jenes alten Unthiers von einem Advocaten zu Armadale gehen mir wieder im Kopfe herum. Mr. Bashwood berichtet dieselben in seinem Briefe folgendermaßen: »Es ist möglich, daß eines Andern Neugierde die Sache da, wo Sie und ich dieselbe fallen lassen, aufnimmt und schließlich noch ein helles Licht auf Miß Gwilt wirft.«

Was will er damit sagen? Und was meinte er später, als er den alten Bashwood auf dem Fahrwege einholte, indem er ihm empfahl, seine Neugierde zu befriedigen? Glaubt dieser verhaßte Pedgift wirklich an die Möglichkeit —— Lächerlich! Ich brauche das schwache alte Geschöpf nur anzusehen, und ohne meine Erlaubniß wagt es nicht den Finger aufzuheben. Er sollte in meine Vergangenheit einzudringen wagen! Leute, die zehnmal soviel Verstand und hundertmal soviel Muth hatten, haben es versucht und sind ebenso klug wieder abgestanden davon, wie sie es angefangen hatten.

Indessen weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, hätte ich mich neulich abends, als der alte Bashwood hier war, etwas mehr beherrscht Und vielleicht dürfte es noch besser sein, wenn ich ihn morgen sähe und wieder zu Gnaden aufnähme, indem ich ihm etwas für mich zu thun gäbe. Gesetzt, ich gäbe ihm den Auftrag, den beiden Pedgifts aufzulauern, ob sie irgendwie Versuche machen, ihren Verkehr mit Armadale zu erneuern? Das ist zwar gar nicht wahrscheinlich, aber der Auftrag würde dem alten Bashwood schmeichelhaft sein, da er einen Beweis seiner Wichtigkeit für mich darin sehen würde, und außerdem die vortreffliche Wirkung haben, ihn anderweitig zu beschäftigen.

Donnerstag früh neun Uhr. So eben bin ich aus dem Parke zurückgekehrt.

Diesmal bin ich ein guter Prophet gewesen. Zur selben frühen Stunde waren sie an derselben versteckten Stelle unter den Bäumen beisammen und Miß von meinem Besuche im Herrnhause auf das genaueste unterrichtet, welchem Ereignisse sie ihren Ton anpaßte.

Nachdem er ein paar Dinge von mir gesagt, die ich ihm nicht vergessen werde, wählte Armadale den Weg, sie von seiner Treue zu überzeugen, zu dem er sich, wie ich im voraus wußte, getrieben sehen würde. Er wiederholte seinen Heirathsantrag diesmal mit vortrefflichem Erfolge. Darauf folgten Thränen, Küsse und Betheuerungen und meine ehemalige Schülerin schüttete endlich so unschuldig wie möglich ihr Herz aus. Zu Hause sei es ihr jetzt so unerträglich, daß es nur um einen Grad weniger schrecklich sei, als in die Pension geschickt zu werden. Ihre Mutter werde mit jedem Tage heftiger und unlenksamer. Die Wärterin, die einzige Person, die noch einen Einfluß auf sie gehabt, sei ihrer überdrüssig fortgegangen. Ihr Vater vertiefe sich immer mehr in seine Uhr und bestärke sich immer mehr in seinem Entschlusse, sie aus dem Hause zu schicken, und zwar wegen der traurigen Scenen, die jetzt Tag für Tag mit ihrer Mutter stattfänden. Ich ertrug diese häuslichen Enthüllungen in der Hoffnung, daß sie noch zu ihren Plänen für die Zukunft kommen würden, und meine Geduld sah sich, nachdem sie in nicht Unbedeutendem Grade auf die Probe gestellt worden war, endlich auch belohnt.

Wie dies einem solchen Dummkopf wie Armadale gegenüber nicht mehr als natürlich war, ging der erste Vorschlag von dem Mädchen aus. Miß Milroy sprach eine Idee aus, die ich, wie ich bekennen muß, nicht erwartet hatte. Sie schlug vor, Armadale möge an ihren Vater schreiben, und was noch gescheidter von ihr war, sie beugte aller Gefahr, daß er die Sache verpfuschte, vor, indem sie ihm sagte, was er schreiben müsse. Er sollte seine tiefe Bekümmerniß über die Entfremdung des Majors ausdrücken und sich die Erlaubniß erbittert, ihm im Parkhäuschen aufwarten und einige Worte zu seiner Rechtfertigung vorbringen zu dürfen. Das war Alles. Der Brief sollte noch nicht an diesem Tage abgesandt werden, denn der Major werde heute mit den Bewerberinnen um die Stelle der abgegangenen Wärterin bei Mrs. Milroy beschäftigt sein, und dies werde den Major bei seiner Abneigung gegen solche Dinge in keine günstige Stimmung für Armadale’s Gesuch versetzen. Der Freitag werde der rechte Tag für die Absendung des Briefes sein, und sollte die Antwort unglücklicherweise nicht günstig ausfallen, so könnten sie sich Montag früh wieder treffen. »Ich hintergehe meinen Vater so ungern, er ist stets so gütig gegen mich gewesen, und wenn Ihr nur erst wieder Freunde seid, Allan, dann wird es nicht länger nöthig sein, ihn zu täuschen.« Dies waren die letzten Worte, welche die kleine Heuchlerin sprach, ehe ich sie verließ.

Was wird der Major thun? Der Sonnabend-Morgen wird dies zeigen. Ich will nicht mehr daran denken, bis dieser Morgen da und vorüber ist. Noch sind sie nicht Mann und Weib, und ich sage es noch einmal, obgleich mein Gehirn noch so rathlos ist wie nur je: Mann und Weib werden sie nimmer.

Auf meinem Heimwege traf ich Bashwood beim Frühstück mit seinem ärmlichen, alten, schwarzen Theetopfe, seinem Pfennigbrödchen, seinem einzigen Stückchen billiger, ranziger Butter und seinem geflickten, schmutzigen, kleinen Tischtuche. Es wird mir übel, wenn ich daran denke.

Ich schmeichelte und tröstete das elende alte Geschöpf, bis ihm die Thränen in den Augen standen und er vor Vergnügen förmlich erröthete. Mit der größten Bereitwilligkeit übernimmt er die Bewachung der beiden Pedgifts. Den älteren Pedgift beschreibt er als den halsstarrigsten Menschen von der Welt, wenn er einmal erzürnt ist; es wird ihn nichts zum Nachgeben bewegen, wenn nicht Armadale seinerseits ebenfalls nachgibt. Der jüngere Pedgift ist viel eher der Mann, um eine Aussöhnung zu versuchen. Dies wenigstens ist Bashwoods Ansicht. Es hat jetzt sehr wenig zu bedeuten, ob diese Aussöhnung stattfindet oder nicht. Das einzige Wichtige ist, daß ich meinen ältlichen Verehrer wieder fest an meine Schürzenbänder anbinde Und das ist geschehen.

Die Post ist heute spät, so eben erst angelangt und mit ihr ein Brief von Midwinter.

Es ist ein allerliebster Brief, ein Brief, der mich entzückt und bewegt, als ob ich wieder ein junges Mädchen wäre. Keine Vorwürfe darüber, daß ich ihm nicht geschrieben habe; kein deutlich ausgesprochenes Drängen, ihn zu heirathen. Er schreibt nur, um mir eine Neuigkeit mitzutheilen. Durch seine Rechtsanwälte ist ihm eine Aussicht auf eine Stelle als gelegentlicher Correspondent einer Zeitung eröffnet worden, die in London erscheinen soll. Diese Stelle wird ihn nöthigen, England zu verlassen und sich auf dem Continent aufzuhalten, was gerade seinen eigenen Wünschen für die Zukunft entsprechen würde; doch kann er den Vorschlag nicht eher ernstlich in Erwägung ziehen, als bis er sich versichert, daß derselbe auch meinen Wünschen entspricht. Er kennt keinen andern Willen als den meinigen und überläßt mir die Entscheidung, nachdem er mich von der Frist unterrichtet, binnen welcher seine Antwort gegeben werden muß. Das ist, falls ich meine Zustimmung dazu gebe, daß er England verläßt, natürlich die Zeit, in der er mich heirathen muß. Davon steht jedoch kein Wort in dem Briefe. Er erbittet sich nichts als den Anblick meiner Handschrift, damit er sich während unserer Trennung daran erquicken kann.

Dies ist der Brief, nicht sehr lang, aber so hübsch gefaßt.

Ich denke mir, ich durchschaue das Geheimniß seiner Passion, ins Ausland zu gehen. Noch immer spukt ihm die wilde Idee im Kopfe, Berge und Meere zwischen sich und Armadale zu legen. Als ob er sowohl als ich dem ausweichen könnten, was wir zu thun bestimmt sind —— wenn es wirklich eine Bestimmung gibt —— wenn wir ein paar hundert oder ein paar tausend Meilen zwischen uns und Armadale legten! Welche seltsame Inconsequenz und Albernheit! Und dennoch gefällt er mir mit seiner Inconsequenz und seiner Albernheit; denn sehe ich nicht klar, daß ich die Ursache von Allem bin? Wer führt diesen gescheidten Mann wider seinen Willen irre? Wer macht ihn so blind, daß er den Widerspruch in seinem eigenen Benehmen nicht sieht, der ihm im Verhalten Anderer so klar erscheinen würde? Welches Interesse er mir einflößt! Wie gefährlich nahe ich daran bin, meine Augen vor der Vergangenheit zu schließen und mir zu gestatten, ihn zu lieben! Ob nur Eva ihren Adam inniger denn je liebte, nachdem sie ihn überredet hatte, den Apfel zu essen? Ich an ihrer Stelle würde ihn vergöttert haben. (NB. Meinerseits einen allerliebsten kleinen Brief mit einem Kusse darin an Midwinter zu schreiben und ihn, da ihm Zeit mit der Einsendung seiner Antwort gelassen wird, ebenfalls um Zeit zu bitten, bevor ich ihm sage, ob ich mit ihm ins Ausland reisen will oder nicht.)

Fünf Uhr. Ein langweiliger Besuch von meiner Hauswirthin, die ein wenig schwatzen wollte und voll von Neuigkeiten war, die mich, wie sie meinte, interessiren würden.

Wie ich von ihr höre, ist sie mit Mrs. Milroy’s ehemaliger Wärterin befreundet und hat ihre Freundin heute Nachmittag nach dem Bahnhofe begleitet. Natürlich sprachen sie von dem, was im Parkhäuschen vorgeht, und im Verlauf des Gesprächs ward auch mein Name erwähnt. Ist der Angabe der Wärterin Glauben beizumessen, so bin ich völlig im Irrthume wenn ich es Miß Milroy in die Schuhe schiebe, Mr. Armadale nach London geschickt zu haben, um über mich Erkundigungen einzuziehen. Miß Milroy wisse in Wahrheit nichts von der Sache, und die ganze Geschichte habe ihren Ursprung in der wahnsinnigen Eifersucht ihrer Mutter. Der gegenwärtige unglückliche Zustand der Dinge im Parkhäuschen ist ebenfalls ganz derselben Ursache zuzuschreiben. Mrs. Milroy ist der festen Ueberzeugung, daß mein dauernder Aufenthalt in Thorpe-Ambrose mit meinem heimlichen Verkehr mit dem Major in Zusammenhang steht, den sie durchaus nicht zu entdecken vermag. Unter dem Einflusse dieser Ueberzeugung ist sie so unlenksam geworden, daß Niemand, wenn er sonst noch eine Zuflucht hat, es in ihrem Dienste auszuhalten im Stande ist, und der Major wird früher oder später, wie sehr ihm dies auch widerstreben mag, sie unter geeignete ärztliche Obhut stellen müssen.

Dies das Wesentliche von dem, was die langweilige Hauswirthin mir zu erzählen hatte. Es ist unnöthig, zu sagen, daß es mich nicht im mindesten interessierte. Selbst wenn die Behauptung der Wärterin Glauben verdiente, was ich noch immer bezweifle, so ist dies doch jetzt ohne Wichtigkeit. Ich weiß, daß Miß Milroy und Niemand anders als sie meine Aussichten, Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose zu werden, zerstört hat, und ich will auch weiter nichts wissen. Hat ihre Mutter wirklich allein den Versuch angestiftet, meine falsche Empfehlung bloßzustellen, so scheint sie jedenfalls jetzt dafür zu büßen. Und damit leben Sie wohl, Mrs. Milroy, und der Himmel behüte mich vor noch ferneren letzten Blicken in das Parkhäuschen durch die Brille meiner Hauswirthin!

Neun Uhr. Bashwood hat mich so eben verlassen, nachdem er mir Nachrichten aus dem Herrnhause überbracht. Der jüngere Pedgift hat wirklich´heute eine Aussöhnung versucht, jedoch vergeblich. Ich bin allein schuld an diesem Mißlingen. Armadale ist zur Versöhnung vollkommen bereit, wenn der ältere Pedgift allen fernem Anlaß zu Differenzen dadurch meiden will, daß er nie auf das Kapitel Gwilt zurückkommt. Dies ist aber nun zufälligerweise gerade diejenige Bedingung, die Pedgift’s Vater bei seiner Meinung von mir und meinem Thun nicht einzugehen für seine Pflicht halten würde. Und so bleiben Advocat und Client noch ebenso getrennt wie zuvor, und das Hinderniß der Pedgifts ist aus meinem Wege geräumt.

Was den älteren Pedgift betrifft, so hätte sich hier ein sehr unbequemes Hinderniß herausstellen können, sobald einer seiner Vorschläge zur Ausführung gelangt wäre, ich meine, sobald man einen Londoner Polizeibeamten zu meiner Beaugenscheinigung hergeschickt hätte. Selbst jetzt fragt es sich noch, ob es nicht vielleicht besser sein wird, wenn ich wieder den dichten Schleier vornehme, den ich stets in London und andern großen Städten trage. Der einzige bedenkliche Umstand dabei ist, daß es in diesem kleinen Klatschneste Verdacht erregen dürfte, wenn ich in diesem Sommerwetter plötzlich einen dichten Schleier zu tragen begönne.

Es ist fast zehn Uhr —— ich habe mich länger bei meinem Tagebuche aufgehalten, als ich glaubte. Mit Worten läßt sich nicht beschreiben, wie müde und erschöpft ich mich fühle. Warum nehme ich nicht meine Schlaftropfen und lege mich zur Ruhe? Morgen wird ja keine Zusammenkunft zwischen Armadale und Miß Milroy stattfinden, die mich zu frühem Aufstehen nöthigen könnte. Fürchte ich mich etwa seltsamerweise vor meinem Bette, gerade wenn ich seiner am meisten bedarf? Ich weiß es nicht —— ich fühle mich müde und unglücklich; ich sehe entsetzlich elend und alt aus. Ich könnte fast so thöricht sein, in Thränen auszubrechen.«

Wie die Nacht nur sein mag? Eine wolkige Nacht mit von Zeit zu Zeit durchbrechendem Monde und steigendem Winde. Eben kann ich ihn zwischen den unvollendeten Häusern am Ende der Straße stöhnen hören. Meine Nerven müssen etwas angegriffen sein. Ich erschrak so eben über einen Schatten an der Mauer und fand erst einige Augenblicke später Fassung genug, um zu bemerken, wo die Kerze stehe und daß der Schatten mein eigener war. Der Schatten erinnert mich an Midwinter, oder wenn nicht der Schatten, etwas Anderes. Ich muß mir seinen Brief noch einmal ansehen, dann will ich ganz gewiß zu Bette gehen.

Ich werde ihn schließlich noch lieben lernen. Wenn ich noch lange in diesem Zustande von Einsamkeit und Ungewißheit verbleibe —— unentschlossen, mir so Unähnlich! —— so werde ich ihn schließlich noch lieben lernen. Welche Tollheit! Als ob ich wirklich je wieder einen Menschen lieben könnte!

Gesetzt, ich faßte einen meiner plötzlichen Entschlüsse und heirathete ihn? So arm er ist, würde er mir doch wenigstens einen Namen und eine Stellung geben, wenn ich seine Gattin würde. Laß sehen, wie sein Name —— sein eigener Name —— sich ausnehmen würde, wenn ich diesen wirklich gegen den meinigen eintauschte.

»Mrs. Armadale!« Hübsch!

»Mrs. Allan Armadale!« Noch hübscher!

Meine Nerven müssen angegriffen sein. Da erschrecke ich jetzt über meine eigene Handschrift! Es ist so seltsam —— genug, um Jeden zu erschrecken. Die Gleichheit der beiden Namen ist mir noch nie zuvor so aufgefallen. Welchen von beiden ich immer heirathete, mein Name würde natürlich derselbe sein. Hätte ich den blonden Armadale im Herrnhause geheirathet, so wäre ich Mrs. Armadale gewesen, und ich kann noch jetzt Mrs. Armadale werden, wenn ich den dunkellockigen Allan in London heirathe. Es ist zum Tollwerden, wenn man es niederschreibt, zu fühlen, daß etwas daraus werden sollte, und dann zu sehen, daß eben nichts daraus wird.

Wie kann etwas daraus werden? Würde er, wenn ich nach London reiste und ihn, wie ich dies natürlich thun müßte, unter seinem wahren Namen heirathete, mich später unter solchem bekannt werden lassen? Bei allen seinen Gründen, seinen wahren Namen geheim zu halten, würde er darauf bestehen —— nein, dazu hat er mich zu lieb —— würde er mich anflehen, den Namen zu tragen, den er angenommen hat. Mrs. Midwinter! Entsetzlich! Und Ozias, wenn ich vertraulich mit ihm sprechen, ihn vertraulich anreden wollte, wie dies seiner Gattin zukommt. Schlimmer als entsetzlich!

Dennoch aber dürften Gründe vorhanden sein, ihm hierin zu willfahren, wenn er mich darum bäte. Gesetzt, der Lümmel im Herrnhause verließe diese Gegend als unverheiratheter Mann, und gesetzt, viele seiner Bekannten hörten von einer Mrs. Armadale, so würden sie sofort annehmen, daß diese seine Gattin sei. Selbst wenn sie mich wirklich sähen und er nicht selbst zugegen wäre, um widersprechen zu können, so würde seine eigene Dienerschaft sagen: »Wir wußten von Anfang an, daß sie ihn schließlich doch noch heirathen würde.« Und meine Gönnerinnen, die jetzt nach unserm Zanke gereizt und bereit sind, alles Mögliche von mir zu glauben, würden sotto voce in den Chor einstimmen: »Denken Sie sich nur, meine Liebe, das Gerücht, das uns so sehr empörte, hat sich in der That als begründet erwiesen.« Nein, wenn ich Midwinter heirathe, muß ich entweder meinen Gatten und mich selbst fortwährend in eine falsche Lage bringen, oder ich muß seinen wahren Namen, seinen hübschen, romantischen Namen an der Kirchenthür hinter mir zurücklassen.

Meinen Gatten! Als ob ich ihn wirklich heirathen wollte! Ich will ihn nicht heirathen, und damit ist die Sache abgemacht.

Halb elf Uhr. O, Himmel, wie meine Schläfe zucken und wie mir die müden Augen brennen! Da ist der Mond und sieht mich durchs Fenster an. Wie schnell die kleinen, zerstreuten Wolken vor dem Winde dahinfliegen! Welch seltsame Gestalten die kleinen Flecken gelben Lichts annehmen und schnell wieder verlieren! Kein Friede und keine Ruhe für mich, wohin ich immer blicke. Die Kerze sogar flackerte und selbst der Himmel scheint heute Abend rastlos.

»Zu Bett, zu Bett? wie Lady Macbeth sagt. Beiläufig möchte ich wohl wissen, was Lady Macbeth an meiner Stelle gethan hätte. Sowie sich ihr die ersten Verlegenheiten entgegenstellten, würde sie Jemand umgebracht haben. Wahrscheinlich Armadale.

Freitag Morgen. Eine Nacht Ruhe, Dank meinen Tropfen! Ich bin in besserer Stimmung zum Frühstück gekommen und habe einen Morgengruß in Gestalt eines Briefes von Mrs. Oldershaw empfangen.

Mein Schweigen hat seine Wirkung auf die Mutter Jesabel geübt. Sie schreibt es der wahren Ursache zu und zeigt endlich ihre Krallen. Wenn ich nicht im Stande bin, meinen Wechsel auf dreißig Pfund einzulösen, der nächsten Dienstag fällig ist, so wird ihr Rechtsanwalt auf ihre Instruction »das übliche Verfahren einschlagen«. Wenn ich ihn nicht einlösen kann! Nachdem ich heute meine Miethe bezahlt, werden mir kaum noch fünf Pfund übrig bleiben! Keine Spur von Aussicht, daß ich mir von jetzt bis nächsten Dienstag noch Geld verdienen kann, und ich habe in dieser Gegend keinen einzigen Freund, der mir einen Sixpence leihen würde. Zu den Schwierigkeiten, die mich umlagern, brauchte nur noch eine zu kommen, um vollständig zu sein, und auch diese ist gekommen.

Natürlich würde mir Midwinter helfen, wenn ich es über mich gewönne, ihn zu bitten. Aber das heißt soviel als ihn heirathen. Bin ich wirklich so hilflos, um so zu enden? Nein, noch nicht.

Mein Kopf ist mir schwer; ich muß in die frische Luft hinaus und überlegen.

Zwei Uhr. Ich glaube, ich habe mich von Midwinters Aberglauben anstecken lassen. Ich beginne zu ahnen, daß die Ereignisse mich immer näher und näher einem Ziel zutreiben, das ich noch nicht erkenne, von dem ich aber fest überzeugt bin, daß es jetzt nicht mehr fern ist.

Ich bin von Miß Milroy beschimpft, geradezu vor Zeugen beschimpft worden.

Nachdem ich, wie gewöhnlich, an dem einsamsten Orte, den ich finden konnte, einen Spaziergang gemacht und ohne besonderen Erfolg nachgesonnen, was ich zunächst anfangen solle, erinnerte ich mich, daß es mir an Briefpapier und Federn fehle, und ging deshalb zur Stadt zurück und nach einem Papierladen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn ich mir das Fehlende hätte holen lassen. Allein ich war meiner und meines einsamen Zimmers überdrüssig und machte den kleinen Einkauf selbst, und zwar aus keinem bessern Grunde, als um etwas zu thun zu haben.

Eben war ich in den Laden eingetreten und forderte das Papier, als noch eine Käuferin hereinkam. Wir blickten beide auf und erkannten einander auf der Stelle.

Außer dem Manne, der mich bediente, standen noch eine Frau und ein Knabe hinter dem Ladentische. Die Frau sagte höflich zu der zweiten Käuferin »Womit kann ich Ihnen aufwarten, Miß Milroy?« Diese erwiderte nachdrücklich, indem sie mir gerade ins Gesicht sah: »Für jetzt mit nichts. Ich will wiederkommen, sobald der Laden leer ist.«

Sie ging hinaus. Die drei Leute im Laden sahen mich schweigend an. Ich meinerseits zahlte schweigend für meine Einkäufe und ging dann ebenfalls. Ich weiß nicht, was ich gefühlt haben würde, hätte ich mich in meiner gewohnten Stimmung befunden. In dem sorgenvollen, unruhigen Zustande, in dem ich jetzt bin, fühlte ich mich, das kann ich nicht leugnen, empfindlich getroffen.

In der Schwachheit des Augenblicks, denn weiter war es nichts, war ich auf dem Punkte, ihre kleinliche Bosheit mit ebenso kleinlicher Bosheit zu vergelten. Wirklich war ich auf dem Wege nach der Wohnung des Majors bis ans Ende der Straße gegangen. in der Absicht, ihn in das Geheimniß der Morgenspaziergänge seiner Tochter einzuweihen, ehe mir bessere Einsicht zurückkehrte. Sowie ich mich abkühlte, wandte ich augenblicklich um und schlug den Heimweg ein. Nein, nein, Miß Milroy, ein bloßes vorübergehendes Unheil, das nur damit enden würde, daß Ihr Vater Ihnen verzeihen und Armadale aus seiner Nachsicht Vortheil ziehen würde, reicht nicht im entferntesten hin, meine Schuld an Sie abzutragen. Ich vergesse nicht, daß Ihr Herz an Armadale hängt und daß der Major, was er auch sagen mag, Ihnen schließlich doch immer den Willen gelassen hat. Mein Kopf mag wohl schwächer werden, aber ganz dumm ist er noch nicht.

Inzwischen wartet Mutter Oldershaws Brief auf Antwort, und da sitze ich und weiß noch immer nicht, was ich in der Sache beginnen soll. Soll ich ihr antworten oder nicht? Für den Augenblick ist es noch gleichgültig, denn noch bleiben mir mehrere Stunden, ehe die Post abgeht.«

Soll ich Armadale bitten. mir das Geld zu leihen? Es sollte mir ein Hochgenuß sein, wenigstens etwas aus ihm herauszubekommen, und ich glaube, daß er bei seinem gegenwärtigen Verhältnisse zu Miß Milroy. Alles thun würde, mich loszuwerden. Ziemlich gemein von mir. Bahl Wer macht sich wohl etwas daraus, ob er in den Augen eines Mannes gemein erscheint, den man verachtet und haßt, wie ich Armadale verachte und hasse.

Und dennoch sträubt sich mein Stolz oder sonst etwas, ich weiß nicht was, dagegen.

Halb drei Uhr, erst halb drei. O über die fürchterliche Langeweile dieser langen Sommertage! Ich kann nicht länger mehr denken; ich muß etwas thun, mir das Herz zu erleichtern. Kann ich mich ans Klavier setzen? Nein; dazu tauge ich nicht. Arbeiten? Nein; bei der Nadel würde ich wieder zu denken beginnen. Ein Mann nähme an meiner Stelle seine Zuflucht zum Trinken. Ich bin kein Mann und kann nicht trinken. Ich will mich mit meinen Kleidern unterhalten und meine Garderobe ordnen.

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Ist eine Stunde vergangen? Ueber eine Stunde. Mir scheint es eine Minute. Ich kann nicht zurückblättern in diesem Buche, aber ich weiß, daß ich die Worte irgendwo geschrieben habe. Ich weiß, daß ich fühlte, wie ich mich immer mehr und mehr einem Ziele nähere, das mir noch verborgen war. Dieses Ziel ist jetzt nicht mehr verborgen. Die Wolke ist von meinem Geiste gewichen, die Blindheit von meinen Augen hinweggenommen. Ich sehe es! Ich sehe es!

Es ist zu mir gekommen, ich habe es nicht gesucht. Mit ruhigem Gewissen könnte ich auf meinem Sterbebette schwören, daß ich es nicht gesucht habe.

Ich habe blos meine Sachen geordnet; ich bin so frivol, so nichtsnutzig beschäftigt gewesen wie das müßigste, frivolste Frauenzimmer von der Welt. Ich sah mir meine Kleider und meine Wäsche an. Was kann es Harmloseres geben? Kleine Kinder sehen ihre Kleider und ihre Wäsche an.

Es war ein so langer Sommertag und ich war meiner eigenen Gesellschaft so überdrüssig. Zuerst ging ich an meine Reisekoffer. Ich ordnete zunächst den großen Koffer, den ich meistens offen lasse, und dann ging ich an den kleinen, den ich stets verschließe.

Vom Einen zum Andern kam ich endlich zu dem Paket von Briefen am Boden des Koffers, den Briefen des Mannes, für den ich einst Alles geopfert und erduldet habe, des Mannes, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Wohl hundertmal habe ich seine Briefe verbrennen wollen, aber ich habe es nie gethan. Diesmal sagte ich blos: »Ich will seine Briefe nicht lesen!« Und dann las ich sie.

Der Schurke! Der falsche, feige, herzlose Schurke! Was habe ich noch mit seinen Briefen zu schaffen? O des Jammers, ein Weib zu sein! O der Schmach, daß unsere Erinnerung an einen Mann uns verlocken kann, wenn doch unsere Liebe zu ihm todt und dahin ist! Ich las die Briefe, ich fühlte mich so einsam und unglücklich, daß ich die Briefe las.

Ich kam zu dem letzten, dem Briefe, den er schrieb, um mich zu ermuthigen, als die fürchterliche Zeit immer näher und näher heranrückte, dem Briefe, der mich wieder neu belebte, als in der elften Stunde mein Entschluß wankend geworden war. Ich las ihn Zeile für Zeile und kam zu folgenden Worten:

»Mit derlei Albernheiten, wie Du sie mir geschrieben, habe ich wirklich keine Nachsicht Du sagst, ich treibe Dich zu etwas an, das den Muth eines Weibes übersteigt. Thue ich das? Ich könnte Dich an eine Sammlung von Gerichtsverhandlungen in England sowohl als im Auslande beweisen, um Dir zu zeigen, daß Du völlig im Irrthume bist, aber eine solche Sammlung mag Dir. nicht erreichbar sein; deshalb verweise ich Dich auf einen Fall in der gestrigen Zeitung. Die Umstände sind gänzlich verschieden von den unserigen, allein das Beispiel von der Entschlossenheit eines Weibes ist Deiner Beachtung Werth.

Unter den Criminalberichten wirst Du den Fall einer Frau finden, die sich fälschlicherweise als die vermißte Wittwe des Kapitäns eines Handelsschiffs ausgab, den man ertrunken glaubte. Der Name ihres lebenden Gatten und der des Kapitäns dessen Taufname sowohl als sein Familienname ein sehr gewöhnlicher, waren zufälligerweise genau dieselben. Glückte der Betrug, so war Geld dadurch zu erlangen, dessen ihr Gatte, dem sie mit großer Hingebung zugethan war, aufs dringendste bedurfte. Die Frau nahm Alles auf sich. Ihr Gatte war krank und hilflos und ward von den Gerichtsdienern gesucht. Die Umstände verhielten sich, wie Du selbst lesen kannst, alle zu ihren Gunsten und sie hatte sich dieselben so geschickt zu Nutze gemacht, daß die Rechtsgelehrten selbst eingestanden, es hätte ihr gelingen, müssen, wäre nicht der angeblich Ertrunkene plötzlich gesund und lebendig zum Vorschein gekommen, um sich ihr gerade im rechten Augenblicke gegenüberzustellen. Der Auftritt fand in einer Advocatenexpedition statt und ward im Gerichtssaale zur Evidenz gebracht. Die Frau war schön und der Seekapitän ein gutherziger Mensch. Wenn die Juristen es ihm gestattet, hätte er sie gern frei ausgehen lassen. Er sagte unter Anderem zu ihr: »Sie haben nicht erwartet, daß ein Ertrunkener frisch und lebendig wieder zum Vorschein kommen kann, nicht wahr Madame?« —— »Es ist ein Glück für Sie«, erwiderte sie, »daß ich dies nicht erwartet. Sie sind dem Meere entwischt, mir wären Sie nicht entwischt.« —— »Wie, was würden Sie gethan haben, wenn Sie gewußt, daß ich zurückkommen werde?« sagte der Seekapitän. Sie sah ihm fest ins Gesicht und erwiderte: »Ich würde Sie getödtet haben.« Da! Meinst Du, ein solches Weib würde mir geschrieben haben, ich treibe sie weiter, als sie Muth habe zu gehen? Noch dazu ein schönes Frauenzimmer, wie Du!«

Weiter las ich nicht. Als ich Zeile für Zeile bis zu diesen Worten gelesen, ward es mir plötzlich wie durch Blitzeshelle klar. In einer Sekunde sah ich es so deutlich, wie ich es jetzt sehe. Es ist fürchterlich, es ist unerhört, es ist verwegener als alles Verwegene, aber kann ich mich nur zu einer grausigen Nothwendigkeit stählen, so läßt sich’s thun. Ich kann mich als die reich versorgte Wittwe von Allan Armadale von Thorpe-Ambrose ausgeben, falls ich mit Sicherheit zu einer gegebenen Zeit auf Allan Armadale’s Tod rechnen darf.

Dies ist, mit deutlichen Worten, die fürchterliche Versuchung, der ich jetzt zu erliegen beginne. Sie ist in mehr als einer Hinsicht eine fürchterliche, denn sie ist aus jener andern Versuchung entsprungen, der ich ehedem erlag.

Ja, dort hat der Brief im Koffer gewartet, um einem Zwecke zu dienen, an den der Schurke, der ihn schrieb, niemals gedacht hat. Dort ist der Fall, wie er es nennt, nur citirt, um mich zu; höhnen, völlig verschieden von meinem eigenen derzeitigen Falle; dort hat er gelegen und gewartet und mir während aller Wechsel meines Lebens aufgelauert, bis er sich endlich meinem Falle angepaßt hat.

Das dürfte jedes Weib erschrecken, und selbst dies ist noch nicht das Schlimmste. Die ganze Geschichte hat schon seit mehreren Tagen in meinem Tagebuche gestanden, ohne daß ich es gewahr geworden, bin. Jede müßige Idee, die mir entschlüpfte hat heimlich nach jener Richtung gewiesen. Und ich sah es nicht, ahnte es nicht eher, als bis der Brief da mir meine eigenen Gedanken in einem neuen Lichte zeigte, bis ich plötzlich in den besonderen Umständen des Falles jenes Frauenzimmers den Schatten meiner eigenen Lage widergespiegelt sah.

Es läßt sich also machen, wenn ich nur der Nothwendigkeit ins Gesicht blicken kann. Es läßt sich machen, wenn ich zu einer bestimmten Zeit auf Allan Armadales Tod rechnen kann.

Außer diesem seinem Tode ist Alles leicht. Alle die Ereignisse, über die ich mich seit mehr als einer Woche fortwährend in blinder Wuth geärgert, haben sich —— obgleich ich zu dumm war, dies einzusehen —— samt und sonders zu meinen Gunsten gestaltet, Ereignisse, die mir immer besser den Weg zum Ziele bahnen.

Mit drei kühnen Schritten —— nur dreien! —— wäre dieses Ziel zu erreichen. Midwinter heirathet mich heimlich unter seinem wahren Namen —— erster Schritt! Armadale verläßt Thorpe-Ambrose als unverheiratheter Mann und stirbt in der Ferne unter Fremden —— zweiter Schritt!

Warum zaudere ich? Warum nicht auch den dritten und letzten Schritt nennen?

Ich will fortfahren. Der dritte und letzte Schritt ist, sobald sich die Nachricht von Armadale’s Tode hier in der Umgegend verbreitet hat, mein Auftreten als Armadale’s Wittwe, mit meinem Heirathsscheine in der Hand, um mein Anrecht geltend zu machen. Es ist so klar wie die Sonne um Mittag. Dank der vollkommenen Namensgleichheit und Dank der Sorgfalt, womit diese geheim zu halten ist, kann ich die Gattin des schwarzen Allan Armadale werden, ohne daß außer ihm und mir irgend ein Mensch etwas davon weiß, und eben vermöge dieser Stellung kann ich die Rolle der Wittwe des blonden Armadale spielen und in der Gestalt meines Heirathsscheins den Beweis für meine Angabe beibringen, der den ungläubigsten Menschen Von der Welt überzeugen muß.

Und daß dies Alles in meinem Tagebuche gestanden haben muß! Daß ich wirklich diese Situation im Auge gehabt und dennoch zur Zeit nichts darin gesehen haben sollte als, wenn ich Midwinter heirathete, einen Grund meiner Einwilligung, unter dem angenommenen Namen meines Gatten in der Welt zu erscheinen!

Was schreckt mich ab? Die Furcht vor Hindernissen? Die Furcht vor Entdeckung?

Wo sind die Hindernisse? Wo ist die Gefahr einer Entdeckung?

In der ganzen Nachbarschaft hat man mich im Verdacht, daß ich allerlei Ränke schmiede, um Mrs. Armadale von Thorpe-Ambrose zu werden. Ich bin die einzige Person, welche die Richtung seiner Neigung wirklich kennt. Bis jetzt weiß noch keine Seele etwas von seinen Morgenzusammenkünften mit Miß Milroy. Ist es nothwendig, sie zu trennen, kann ich dies zu jeder Zeit vermittelst eines anonymen Briefes an den Major bewirken. Ist es ferner nothwendig, Armadale aus Thorpe-Ambrose zu entfernen, so kann ich dies in drei Tagen bewerkstelligen. Als ich ihn das letzte Mal sprach, hat er mir mit eigenem Munde gesagt, er würde ans Ende der Welt gehen, um sich wieder mit Midwinter zu versöhnen, wenn Midwinter dazu bereit sei. Ich brauche Midwinter nur zu befehlen, von London aus an ihn zu schreiben und um Versöhnung zu bitten, und Midwinter würde mir gehorchen und Armadale würde nach London reisen. So ist mir gleich anfangs jede Schwierigkeit leicht gemacht. Mit jeder späteren kann ich allein fertig werden. Bei dem ganzen Wagnisse, wie verzweifelt es —— immer aussehen mag, daß ich mich für die Wittwe des einen Mannes ausgeben will, während ich die Gattin eines andern bin. ist nichts zweimal in Erwägung zu ziehen als die eine gräßliche Nothwendigkeit von Armadales Tode.

Sein Tod! Für jedes andere Weib dürfte dies eine fürchterliche Nothwendigkeit sein, aber ist es das, sollte es das wohl für mich sein?

Ich hasse ihn um seiner Mutter willen; ich hasse ihn um seiner selbst willen. Ich hasse ihn, weil er hinter meinem Rücken nach London gereist ist, um sich nach mir zu erkundigen. Ich hasse ihn, weil er mich aus meiner Stelle vertrieben hat, ehe ich diese noch aufgeben wollte. Ich hasse ihn, weil er alle meine Hoffnung auf eine Heirath mit ihm zerstört und mich hilflos in ein elendes Leben zurückstößt. Aber o! nach Allem, was ich bereits früher gethan habe, wie kann ich es? Wie kann ich es?

Das Mädchen, das sich zwischen uns gedrängt hat, das ihn mir entrissen, das mich noch heute öffentlich beschimpft hat —— wie sie, die ihr Herz an ihn gehangen hat, es fühlen würde, wenn er stürbe! Welche Rache an ihr, wenn ich es thäte! Und wenn ich als Armadale’s Wittwe empfangen würde, welch ein Triumph für mich! Triumph! Mehr als ein Triumph —— meine Rettung. Ein Name und eine Stellung, die unangreifbar sind und in denen ich mich vor meiner Vergangenheit verstecken kann! Comfort, Luxus, Reichthum! Ein sicheres Einkommen von zwölfhundert Pfund das Jahr, das mir nach dem gerichtlich gemachten Testamente zufällt und durch nichts zu bestreiten und anzugreifen ist! Noch nie habe ich zwölfhundert Pfund das Jahr gehabt. In meiner glücklichsten Zeit hatte ich noch nicht die Hälfte dieser Summe für mich. Was besitze ich jetzt? In der ganzen Welt nur fünf Pfund und für die nächste Woche die Aussicht aufs Schuldgefängniß.

Aber! o nach Allem, was ich schon früher gethan habe, wie kann ich es? Wie kann ich es?

Manche Frauen an meiner Stelle und mit meinen Erinnerungen würden anders darüber denken. Manche würde sagen: »Das zweite Mal ist’s leichter als das erste. Warum kann ich’s nicht? Warum kann ich’s nicht?«

O du Teufel, der du mich versuchst —— ist kein Engel in der Nähe, der zwischen heute und morgen ein Hinderniß aufrichten könnte. das mich abbrächte an meinem Vorhaben?

Ich werde darunter erliegen, ich werde erliegen, wenn ich noch länger darüber schreibe oder daran denke! Ich will das Buch schließen und wieder ausgehen. Ich will irgend eine gewöhnliche Person mitnehmen und mich von gewöhnlichen Dingen mit ihr unterhalten. Ich will die Hauswirthin und ihre Kinder mitnehmen. Wir wollen an irgend einen öffentlichen Vergnügungsort gehen. Es ist eine Schaubude in der Stadt, wo es etwas zu sehen gibt, ich weiß nicht was, dorthin will ich sie führen. Ich bin kein bösherziges Frauenzimmer, wenn ich nur will, und die Hauswirthin ist wirklich freundlich gegen mich gewesen. Ich könnte doch sicherlich mein Gemüth ein wenig beschäftigen, wenn ich sähe, wie sie und die Kinder sich ergötzen.

Vor einer Minute machte ich dieses Buch zu, wie ich es beschlossen hatte, und jetzt habe ich es wieder geöffnet und weiß nicht warum. Ich glaube, ich werde verrückt. Mir ist, als ob ich etwas aus meinem Geiste verloren hätte; mir ist, als müßte ich es hier wiederfinden.

Ich habe es gefunden! Midwinter!!!

Ist es möglich, daß ich mich seit einer Stunde mit den Gründen dafür und dawider habe beschäftigen, einmal über das andere Midwinter’s Namen schreiben, ernstlich daran denken können, ihn zu heirathen, ohne mich ein einziges Mal daran zu erinnern, daß, selbst wenn jedes andere Hinderniß aus dem Wege geräumt wäre, wenn der Augenblick käme, er allein mir zum unübersteiglichen Hinderniß werden würde? Hat die Anstrengung, die es mich gekostet, der Nothwendigkeit von Armadale’s Tode ins Antlitz zu sehen, mich in solchem Grade in Anspruch genommen? Wahrscheinlich. Sonst kann ich eine an mir so erstaunliche Vergessenheit nicht erklären.

Soll ich bleiben und die Sache durchdenken, wie ich alles Uebrige durchdacht habe? Soll ich mich mit der Frage aufhalten, ob Midwinter, wenn der Augenblick käme, wirklich ein so unübersteigliches Hinderniß sein würde, wie es augenblicklich den Anschein hat? Nein! Wozu noch daran denken? Ich habe mich entschlossen, der Versuchung zu widerstehen. Ich habe beschlossen, meiner Wirthin und ihren Kindern ein Vergnügen zu machen. Ich habe beschlossen, mein Tagebuch zuzumachen und zugemacht soll es werden.

Sechs Uhr. Das Geplapper der Wirthin ist unerträglich; ihre Kinder bringen mich von Sinnen. Ich habe sie verlassen, um zurückzueilen und noch vor Abgang der Post eine Zeile an Mrs. Oldershaw zu schreiben.

Die Furcht, daß ich der Versuchung erliegen werde, bemächtigt sich meiner immer mehr. Ich will es mir unmöglich zu machen suchen, meinem eigenen Willen zu folgen. Zum ersten Male, seit ich sie kenne, soll Mutter Oldershaw meine Retterin sein. Sie droht mir, wenn ich meinen Wechsel nicht einlösen kann, mit Einsperrung Nun, sie soll mich einsperren. In meinem gegenwärtigen Gemüthszustande kann mir nichts Besseres geschehen, als daß ich aus Thorpe-Ambrose hinweg geholt werde, ob mir’s nun gefällt oder nicht. Ich will schreiben, daß ich hier zu finden bin. Ich will ihr mit deutlichen Worten sagen, daß sie mir keinen bessern Dienst leisten kann, als wenn sie mich einsperrt!

Sieben Uhr. Der Brief ist zur Post. Ich begann mich ein wenig ruhiger zu fühlen, als die Kinder kamen, mir für das ihnen geschenkte Vergnügen zu danken. Eins ist ein Mädchen und dies warf meine ganze Fassung über den Haufen. Sie ist ein dreistes Kind, und ihr Haar gleicht dem meinigen. Sie sagte: »Ich werde aussehen, wie Sie, wenn ich groß werde, nicht wahr?« Ihre blödsinnige Mutter sagte: »Bitte, entschuldigen Sie sie, Miß«, und führte sie lachend aus dem Zimmer. Wie ich! Ich behaupte nicht, daß ich das Kind lieb habe, aber man denke nur, daß es mir ähnlich ist!

Sonnabend Morgen. Diesmal habe ich wohl gethan, nach meinem Impulse zu handeln und an Mrs. Oldershaw zu schreiben, wie ich es gethan. Das einzige neue Ereigniß, das sich zugetragen, ist abermals ein Ereigniß, das mir zu statten kommt.

Major Milroy hat auf Armadales Brief, in dem dieser ihn um Erlaubniß gebeten, nach dem Parkhäuschen kommen und sich rechtfertigen zu dürfen, geantwortet. Seine Tochter las die Antwort schweigend, als Armadale ihr dieselbe heute Morgen bei ihrer heimlichen Zusammenkunst im Park überreichte. Daraus aber unterhielten sie sich laut genug darüber, daß ich sie hören konnte. Der Major bleibt bei dem von ihm eingeschlagenen Verfahren. Er sagt, er habe sich seine Ansicht über Armadales Betragen nicht nach gewöhnlichen Gerüchten, sondern nach Armadales eigenen Briefen gebildet und sehe keinen Grund, die Meinung zu ändern, zu der er am Schlusse ihrer Correspondenz gelangt sei.

Dieser kleine Umstand war mir entfallen, wie ich bekennen muß. Die Sache hätte ein sehr fatales Ende für mich nehmen können. Hätte Major Milroy weniger hartnäckig an seiner Meinung festgehalten, so hätte Armadale sich rechtfertigen können; die Verlobung wäre anerkannt und damit all meinem Einflusse auf die Sache ein Ziel gesetzt worden. So aber müssen sie ihr Verhältnis; nach wie vor streng geheim halten, und Miß Milroy, die sich seit dem Gewitter nie wieder in die Nähe des Herrnhauses gewagt hat, wird sich jetzt weniger denn je dorthin wagen. Sobald es mir beliebt, kann ich das Pärchen trennen —— durch eine anonyme Zeile an den Major kann ich sie trennen, sobald es mir beliebt!

Nachdem sie über den Brief gesprochen, begannen sie sich über das zu unterhalten, was sie zunächst thun sollten. Wie sich bald herausstellte, führte des Majors Strenge das gewohnte Resultat herbei. Armadale kam wieder auf eine Entführung zurück, und diesmal hörte sie ihn an. Alles vereinigt sich, sie dazu zu treiben. Ihre Garderobe ist beinahe fertig, und die Sommerferien der Pensionsschule, die man für sie gewählt hat, gehen mit nächster Woche zu Ende. Als ich sie verließ, hatten sie beschlossen. sich am nächsten Montag wieder am selben Orte einzufinden und dann das Weitere zu verabreden.

Die letzten Worte, die ich ihn sagen hörte, ehe ich fortging, ergriffen mich ein wenig. Er sagte: »Eine Schwierigkeit wenigstens existiert für uns nicht, Neelie. Geld habe ich genug« Und dann küßte er sie. Der Weg zu seinem Tode erschien mir ebener, als er von seinem Gelde sprach und sie küßte.

Einige Stunden sind verstrichen, und je mehr ich daran denke, desto mehr fürchte ich mich vor der öden Zwischenzeit, die bis zu dem Augenblicke vergehen muß, wo Mrs. Oldershaw das Gesetz zu Hilfe ruft und mich vor mir selbst schützt. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich heute Morgen zu Hause geblieben. Aber wie konnte ich dies? Nach der Beschimpfung, die ich gestern von ihr erlitten, zuckte es mir in allen Gliedern, zu kommen und sie anzusehen.

Heute, Sonntag, Montag, Dienstag. Sie können nicht eher als Mittwoch kommen, mich festzunehmen. Und meine armseligen fünf Pfund schmelzen auf vier zusammen! Und er sagte ihr, Geld habe er genug! Und sie erröthete und zitterte, als er sie küßte! Es dürfte besser für ihn und für sie und für mich gewesen sein, wäre mein Wechsel schon gestern fällig gewesen und hätte »ich mich heute bereits in den Händen der Gerichtsdiener befunden.

Gesetzt, ich besäße die Mittel, mit dem nächsten Zuge Thorpe-Ambrose zu verlassen, ins Ausland zu reisen und mich unter neuen Menschen in neue Interessen zu vertiefen, könnte ich dies nicht lieber thun, anstatt noch ferner an den Weg zu seinem Tode zu denken, der alles Andere glatt und leicht machen soll?

Wohl möglich. Aber wo soll das Geld herkommen? Vor ein paar Tagen hatte ich doch eine Idee, wie ich es mir verschaffen könne? Ja, jene erbärmliche Idee, Armadale um Hilfe zu bitten! Nun, ich will einmal kleinlich handeln. Ich will ihm die Gelegenheit geben, einen großmüthigen Gebrauch von jener wohlgefüllten Börse zu machen, die ihm unter den gegenwärtigen Umständen solchen Trost gewährt. Wenn er mir in meiner jetzigen großen Noth Geld liehe, das würde mein Herz für jeden Mann erweichen, und wenn Armadale mir Geld liebe, so dürfte dies mein Herz auch für ihn erweichen. Wann soll ich zu ihm gehen? Sogleich! Ich will mir keine Zeit lassen, um die Erniedrigung zu empfinden und andern Sinnes zu werden.«

Drei Uhr.Ich merke mir die Stunde. Er hat selbst sein Urtheil gesprochen. Er hat mich insultirt.

Ha! Ich habe es einmal von Miß Milroy erlitten und jetzt zum zweiten Male von Armadale selbst. Eine Beleidigung, eine unverkennbare, unbarmherzige, berechnete Beleidigung am hellen lichten Tage!

Ich war durch die Stadt gegangen und so eben auf dem Fahrwege angelangt, der nach dem Gutshause führt, als ich Armadale in geringer Entfernung mir entgegenkommen sah. Er schritt schnell daher, offenbar in eigenen Geschäften nach der Stadt eilend. Sowie er meiner ansichtig wurde, blieb er stehen, erröthete, nahm seinen Hut ab, zögerte und bog in einen Rabenweg hinter ihm ein, von dem ich zufälligerweise weiß, daß er ihn in eine seinem Wege direct entgegengesetzte Richtung führte. Sein Benehmen sagte deutlich, wie mit Worten: »Miß Milroy könnte es erfahren; ich darf mich nicht der Gefahr aussetzen, daß man mich mit Ihnen sprechen sieht» Die Männer haben mich herzlos behandelt; die Männer haben mir harte Dinge gesagt und angethan, aber noch keiner hat mich behandelt, als ob ich die Pest hätte und sogar die Luft um mich her durch meine Gegenwart verunreinig wäre!

Weiter sage ich nichts. Als er von mir fort jenen Nebenweg hinabging, schritt er seinem Tode entgegen. Ich habe an Midwinter geschrieben, mich nächste Woche in London zu erwarten und sich bald nach meiner Ankunft zu unserer Heirath bereit zuhalten.

Vier Uhr. Vor einer halben Stunde schon setzte ich meinen Hut auf, meinen Brief an Midwinter selbst auf die Post zu tragen. Und da bin ich noch immer in meinem Zimmer, während mein Gemüth von Zweifeln gemartert wird und der Brief noch auf dem Tische liegt.

Armadale hat mit den Zweifeln, die mich jetzt plagen, nichts zu schaffen. Midwinter ist es, der mich zögern laßt. Kann ich den ersten der drei Schritte, die mich zum Ziele führen sollen, thun, ohne mit gewohnter Vorsicht die Folgen in Erwägung zu ziehen? Kann ich Midwinter heirathen, ohne vorher zu wissen, wie ich dem Hindernisse, das mein Gatte bietet, begegnen soll, wenn die Zeit kommt, die mich aus der Gattin des lebenden Armadale in die Wittwe des todten Armadale verwandeln soll?

Warum kann ich nicht daran denken, wenn ich doch weiß, daß ich daran denken muß? Warum kann ich dies nicht ebenso fest ins Auge fassen, wie ich es sonst mit allem Andern gethan habe? Ich fühle seine Küsse auf meinen Lippen, ich fühle seine Thränen auf meinem Busen, ich fühle mich wieder von seinen Armen umschlungen. Er ist weit entfernt in London und dennoch hier und will mich nicht daran denken lassen.

Warum kann ich nicht etwas warten? Warum kann ich mir nicht von der Zeit helfen lassen? Der Zeit? Es ist Sonnabend! Wozu sollte ich wohl daran denken, wenn ich nicht will? Heute geht keine Post nach London. Ich muß warten. Selbst wenn ich den Brief auf die Post gäbe, würde er doch nicht abgehen. Außerdem höre ich vielleicht morgen von Mrs. Oldershaw. Wohl sollte ich warten, bis ich von Mrs. Oldershaw gehört habe. Ich kann mich nicht als frei betrachten, bis ich weiß, was Mrs. Oldershaw zu thun gedenkt. Nothwendig muß ich bis morgen warten. Ich will meinen Hut abnehmen und den Brief in mein Pult schließen.

Sonntag Morgen. Ich kann nicht länger widerstehen! Die Umstände überwältigen mich. Sie kommen immer dichter und drängen mich alle nach derselben Richtung.

Ich habe die Antwort von Mutter Oldershaw. Das elende Geschöpf schmeichelt und kriecht vor mir. Ich sehe so deutlich, als wenn sie es eingestanden hätte, daß sie mich im Verdacht hat, mir meinen Erfolg in Thorpe-Ambrose ohne ihren Beistand sichern zu wollen. Da sie sieht, daß sie mit Drohungen nichts bei mir ausrichtet, so versucht sie es jetzt mit Schmeicheleien. Ich bin wieder ihre Herzens-Lydia! Es hat sie förmlich verletzt, daß ich glauben könne, sie wolle wirklich ihre Busenfreundin einsperren lassen, und erbittet es sich als eine persönliche Gunst, daß ich meinen Wechsel prolongiere!

Ich wiederhole es, kein sterbliches Wesen vermöchte dem zu widerstehen! Einmal über das andere habe ich der Versuchung aus dem Wege zu gehen versucht, und einmal über das andere werde ich durch die Umstände wieder zu ihr zurückgetrieben. Ich kann den Kampf nicht länger fortsetzen Die Post, die heute Abend die Briefe abholt, soll auch den meinigen an Midwinter mitnehmen.

Heute Abend! Lasse ich mir Zeit bis heute Abend, so kann sich wieder etwas ereignen. Lasse ich mir bis heute Abend Zeit, so werde ich vielleicht wieder wankend. Ich bin der Qual der Unschlüssigkeit überdrüssig. Ich muß und will mir für die Gegenwart Erleichterung verschaffen, was dies auch immer für die Zukunft kosten möge! Mein Brief an Midwinter wird mich verrückt machen, wenn er mich noch länger aus meinem Schreibpulte anstiert In zehn Minuten kann ich ihn auf die Post geben, und ich will’s!

Es ist geschehen. Der erste der drei Schritte, die mich dem Ziele zuführen, ist gethan. Mein Gemüth ist ruhiger —— der Brief liegt auf der Post.

Morgen wird Midwinter ihn erhalten. Vor dem Ende der Woche muß man Armadale öffentlich Thore-Ambrose verlassen sehen und zwar in meiner Begleitung.

Habe ich mir die Folgen meiner Heirath mit Midwinter vergegenwärtigt? Nein!

Doch ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht daran denken! Habe ich nicht meinen freien Willen? Und kann ich nicht an etwas Anderes denken, wenn mir’s beliebt?

Da ist der speichelleckerische Brief der Mutter Jesabel. Das ist etwas Anderes für meine Gedanken. Ich will ihn beantworten. Ich bin in der Laune, um an Mutter Jesabel zu schreiben.«

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Schluß des Briefes von Miß Gwilt an Mrs. Oldershaw-

»Als ich abbrach, sagte ich Dir, daß ich zuvor mein Tagebuch befragen wolle, ob ich Dir mit Sicherheit anvertrauen könne, was ich jetzt zu thun im Sinne habe. Nun, ich habe es befragt, und mein Tagebuch antwortet: »Sage ihr nichts!« Unter diesen Umständen schließe ich meinen Brief mit meinen. besten Entschuldigungen, daß ich Dich im Dunkeln lassen muß.

Vermuthlich werde ich binnen kurzem in London sein und Dir vielleicht dann mündlich mitteilen, was mir zu schreiben nicht sicher scheint. Doch mache ich Dir keine Versprechungen! Es kommt Alles drauf an, wie ich mich zur Zeit gegen Dich gestimmt fühle. Ich bezweifle Deine Verschwiegenheit nicht, aber ich bin mir (unter gewissen Verhältnissen) Deines Muthes nicht sicher.

L. G.

N. S. Besten Dank für Deine Erlaubniß, meinen Wechsel Verlängern zu dürfen. Ich schlage dies indessen aus. Das Geld wird bereit sein, sowie der Wechsel fällig ist. Ich habe einen Freund in London, der ihn bezahlen wird, wenn ich ihn darum ersuche. Möchtest Du wissen, wer dieser Freund ist? Du wirst noch wegen verschiedener anderer Dinge neugierig sein, Mrs. Oldershow, ehe noch viele Wochen über Deinem Haupte und dem meinigen dahingegangen sind.



Kapiteltrenner

Fünfter Band

Erstes Kapitel.

Montag früh den achtundzwanzigsten Juli langte Miß Gwilt auf dem gewohnten Umwege auf ihrem Beobachtungsposten im Park an, um Allan und Neelie zu belauschen.

Sie war etwas erstaunt, Neelie am Platze des Rendezvous allein zu finden. Noch weit mehr erstaunte sie aber, als sie den säumigen Allan zehn Minuten später mit einem großen Buche unter dem Arme die kleine Anhöhe herauskommen sah und hörte, wie er sich wegen seines Zuspätkommens damit entschuldigte, daß er mit der Jagd nach den Büchern die Zeit vergeudet und schließlich nur ein einziges gefunden habe, das einigermaßen so aussehe, als ob es Neelie sowohl als ihn für die Mühe, es anzusehen, entschädigen könne.

Hätte Miß Gwilt am letzten Sonnabend lange genug im Park gewartet, um die Scheideworte der Liebenden zu hören, so würde sie sich das Geheimniß des Buches unter Allan’s Arme leicht haben erklären können und seine Entschuldigungen wegen des Spätkommens ebenso wohl verstanden haben wie Neelie selbst.

Es gibt einen einzigen Fall im menschlichen Leben —— es ist der des Heirathens —— in dem selbst Mädchen in ihren Backfischjahren mehr oder minder hysterisch die Folgen zu bedenken vermögen. Im Augenblicke des Scheidens am letzten Sonnabend hatte Neelie sich plötzlich in die Zukunft versetzt und Allan durch die Frage ganz verdutzt gemacht, ob die beabsichtigte Entführung ein Vergehen sei, das gesetzliche Strafe nach sich ziehen könne. Sie erinnerte sich bestimmt, einst irgendwo, möglicherweise in einem Romane, von einer Entführung mit einem fürchterlichen Ende gelesen zu haben, wo die Braut unter Krampfanfällen heim geschleppt und der Bräutigam zum Kerker verurtheilt worden war, nachdem man ihm, einer Parlamentsacte zufolge, den Kopf geschoren hatte. Gesetzt, sie könne sich je zu einer solchen Entführung entschließen, was sie keineswegs versprechen wolle, so müsse sie darauf bestehen, sich vorher davon zu überzeugen, ob irgendwie Gefahr vorhanden sei, daß außer dem Geistlichen und seinem Küster auch die Polizei bei ihrer Vermählung eine Rolle spielen dürfte. Allan müsse dies wissen, da er ein Mann sei, und an ihn wende sie sich deshalb um Auskunft mit der vorläufigen Versicherung, daß sie lieber tausendmal an gebrochenem Herzen sterben, als die unschuldige Ursache sein wolle, daß ihm nach Parlamentsacte der Kopf geschoren würde und er im Gefängnisse schmachten müsse. »Es ist ganz und gar nicht zum« Lachen«, sagte Neelie zum Schlusse; »ich will an unsere Heirat selbst nicht einmal denken, bis ich nicht in Bezug auf das Gesetz beruhigt bin.«

»Aber ich weiß von dem Gesetz nichts, nicht einmal so viel wie Du«, entgegnete Allan. »Zum Kukuk! Ich mache mir nichts daraus, ob mir der Kopf geschoren wird. Laß es uns riskieren.«

»Riskieren?« wiederholte Neelie entrüstet. »Nimmst Du keine Rücksicht auf mich? Ich wills nicht riskieren! Wer den Willen hat, findet schon den Weg. Wir müssen uns selbst über das Gesetz unterrichten.«

»Mit dem größten Vergnügen, aber wie?«

»Aus Büchern natürlich! In Deiner ungeheuren Bibliothek im Herrnhause muß sich eine Masse von Auskunft darüber finden. Wenn Du mich wirklich liebst, wird es Dir nicht darauf ankommen, die Rücken von einigen tausend Büchern anzusehen.«

»Zehntausend Bücherrücken will ich ansehen!« rief Allan mit Wärme. »Willst Du mir wohl sagen, wonach ich suchen soll?«

»Nach Rechtswissenschaft versteht sich! Wenn auf dem Rücken Rechtswissenschaft steht, so mache das Buch auf und suche darin nach den Ehegesetzen, lies jedes Wort darüber und dann komme her und setze mir’s auseinander. Wie? Du meinst, in einer so einfachen Sache könne man sich nicht auf Deinen Kopf verlassen?«

»Ich bin davon überzeugt«, sagte Allan. »Kannst Du mir nicht helfen?«

»Natürlich kann ich das, wenn Du nicht ohne mich fertig werden kannst! Die Rechtswissenschaft mag schwer zu begreifen sein, aber schwerer als die Musik kann sie nicht sein, und ich muß und will mich darüber beruhigen. Bringe mir Montag früh alle die Bücher, die Du findest, in einem Schubkarrem wenn die Menge zu groß ist und Du sie nicht anders herschaffen kannst.«

Das Ergebniß dieser Unterhaltung war, daß Allan an dem unheilvollen Montagmorgen, an dem Miß Gwilt’s schriftliche Einwilligung zu ihrer Verlobung mit Midwinter in dessen Hände gegeben ward, mit einem großen Bande von Blackstone’s Commentarien unter dem Arme im Park erschien. Hier, wie immer im Leben, wurden die grell einander entgegengesetzten Elemente des Lächerlichen und des Fürchterlichen durch das feine Gesetz des Contrastes an einander gedrängt, das eins der Gesetze des irdischen Lebens bildet. Von Verwickelungen immer dichter umringt, während der Schatten des Mordes von dem Winkel aus, wo Miß Gwilt lauerte, schon an einen der Beiden heran glitt, setzte sich das Paar ahnungslos mit dem Buche nieder und beschäftigte sich; eifrig mit dem Studium der Ehegesetze und zwar mit einer ernsten Entschlossenheit, sie zu begreifen, wie sie bei zwei solchen Studirenden an sich schon eine Posse war.

»Suche die Stelle«, sagte Neelie, sobald sie sich bequem niedergelassen hatten. »Wir müssen uns in die Aufgabe theilen. Du sollst lesen, und ich will Notizen machen.«

Damit zog sie ein zierliches kleines Taschenbuch nebst Bleistift hervor und öffnete dasselbe in der Mitte, wo sieh rechts und links ein unbeschriebenes Blatt befand. Rechts oben schrieb sie das Wort »Gut« nieder und links das Wort »Schlecht«. »Gut bedeutet soviel, als daß wir das Gesetz für uns haben«, erklärte sie, »und Schlecht, wo dasselbe gegen uns ist. Wir wollen die beiden ganzen Seiten hinunter Gut und Schlecht einander gegenüberstellen und dann beide zusammenaddieren und nach dem Facit handeln. Es heißt immer, wir Mädchen hätten keinen Kopf für Geschäfte. Nicht so? Sieh mich nicht an, sieh Blackstone an und geh ans Werk.«

»Würde es Dir vie? Ausmachen, mir zuerst einen Kuß zu geben?« fragte Allan.

»Ganz außerordentlich viel würde mir’s ausmachen. Es überrascht mich, wie Du in unserer bedenklichen Lage, wo wir beide unsern Verstand aufs äußerste werden anstrengen müssen, nur so etwas verlangen kannst!«

»Deshalb eben bitte ich darum«, sagte der schamlose Allan. »Mir scheint, daß dies mich erleuchten würde.«

»O wenn es Dich erleuchtet, so ist is ein Anderes! Natürlich muß ich Dich erleuchten, wie groß auch das Opfer ist. Aber nur einen«, flüsterte sie kokett, »und bitte, gib auf Blackstone Acht, oder Du wirst die Stelle verblättern.«

Eine Pause in der Unterhaltung trat ein. Blackstone sowohl als das Taschenbuch fielen auf die Erde.«

»Wenn das noch einmal passiert«, sagte Neelie, indem sie mit erhöhter Farbe und glänzenden Augen das Taschenbuch aufhob, »so werde ich Dir für den Rest des Morgens den Rücken zukehren. Wirst Du jetzt anfangen?«

Zum zweiten Male suchte Allan die Stelle und stürzte sich kopfüber in den bodenlosen Abgrund der englischen Rechtsgelehrsamkeit.

»Seite zweihundertundachtzig«, begann er. »Gesetze bezüglich der Eheleute.« Hier ist gleich etwas, das ich nicht verstehe: »Im Allgemeinen muß bemerkt werden, daß das Gesetz die Ehen als einen Contract betrachtet.« Was soll das heißen? Ich glaubte, ein Contract sei eine Art von Schrift, die ein Baumeister unterzeichnet, wenn er die Arbeitsleute zu einer bestimmten Zeit aus dem Hause zu schaffen verspricht, die aber, wenn die Zeit kommt, wie meine liebe Mutter zu sagen pflegte, niemals gehen.«

»Ist nichts von Liebe darin?« fragte Neelie. »Sieh etwas weiter unten nach.«

»Kein Wort. Er bleibt fortwährend bei seinem verdammten Contract.«

»Dann ist er ein Ungeheuer! Geh zu etwas Anderem über, das mehr auf uns anwendbar ist.«

»Da ist etwas, das mehr für uns paßt: »Wenn Leute unter gesetzlichen Hindernissen zusammenkommen, so ist dies eine unrechtmäßige nicht eine eheliche Verbindung. Das erste dieser gesetzlichen Hindernisse ist eine frühere Heirath, aus der entweder ein Gatte oder eine Gattin am Leben ist.«

»Halt« sagte Neelie. »Das muß ich mir notieren.« Dann trug sie mit großem Ernst folgende Bemerkung unter der Rubrik Gut ein: »Ich habe keinen Gatten und Allan hat keine Gattin. Wir sind beide gegenwärtig völlig unverheirathet.«

»Soweit ganz richtig«, bemerkte Allan, über ihre Schulter blickend.

»Fahre fort«, sagte Neelie. »Was kommt weiter?«

»Das nächste Hindernis, fuhr Allan fort, »ist fehlendes Alter. Das zur Ehe erforderliche Alter ist für männliche Personen vierzehn und für weibliche Personen zwölf Jahre? Komm!« rief er vergnügt, »Blackstone fängt jedenfalls früh genug an!«

Neelie war zu geschäftsmäßig um ihrerseits andere Bemerkungen zu machen, als die, welche sie in ihr Taschenbuch eintrug. Sie schrieb unter die Rubrik Gut: »Ich bin alt genug, um meine Einwilligung zu geben, und Allan ebenfalls.« »Fahre fort«, sagte sie dann, dem Vorleser über die Schulter blickend. »All dies Gefasele über Jahre der Vernunft beim Gatten und das Alter der Gattin unter zwölf kannst Du überschlagen. Abscheuliches Geschöpf! Eine Frau unter zwölf! Geh zum nächsten Hinderniß über, wenn er von einem solchen spricht.«

»Das dritte Hinderniß«, fuhr Allan fort, ist Mangel an Verstand.«

Neelie trug augenblicklich unter Gut die Bemerkung ein: »Allan und ich sind beide vollkommen vernünftig.«

»Wende um.«

Allan wendete um. »Ein viertes Hinderniß besteht in zu naher Verwandtschaft.«

Unverzüglich folgte eine vierte Bemerkung auf der rechten Seite des Taschenbuchs: »Er liebt mich und ich liebe ihn, ohne daß wir im allergeringsten mit einander verwandt sind.« »Sonst noch etwas?« fragte Neelie, sich ungeduldig mit dem Bleistift ans Kinn klopfend.

»Noch eine Menge«, erwiderte Allan; »Alles in Hieroglyphen. Sieh her! »Ehegesetze 4 Geo. 1V. C. 76 und 6 und 7 Will. IV. C. 85 (q).« Blackstone scheint hier den Verstand zu verlieren. Wenden wir nochmals um und sehen nach, ob er ihn auf der nächsten Seite wiederfindet?«

»Warte einen Augenblick«, sagte Neelie »Was ist das, was ich da in der Mitte sehe?« Sie las einen Augenblick schweigend, indem sie über Allan’s Schulter ins Buch sah, und faltete plötzlich verzweifelnd die Hände. »Ich wußte, daß ich Recht hattet« rief sie aus. »O Himmel, hier ist es!«

»Wo?« fragte Allan »Ich sehe nichts vom Verschmachten im Kerker oder kahl geschorenem Kopfe, falls es nicht in den Hieroglyphen ausgedrückt ist. Ist »4 Gseo. IV.« etwa eine Abkürzung für: »Man sperre ihn ein?« oder sollte »C. 85 (q)« vielleicht bedeuten: »Man lasse den Haarschneider kommen?«

»Ich bitte Dich, sei ernst«, sagte Neelie dringend. »Wir sitzen beide über einem Krater. Hier!« sagte sie, auf die Stelle deutend. »Lies dies! Kann Dir irgend etwas eine klare Vorstellung von unserer Lage geben, so wird es das hier thun.«

Allan räusperte sich und Neelie setzte die Spitze ihres Bleistifts auf der fatalen, mit Schlecht überschriebenen Seite ihres Taschenbuchs zum Schreiben an.

»Und da die Weisheit unserer Gesetzgebung begann Allan, »die Heirath zwischen Personen unter einundzwanzig Jahren und ohne Einwilligung ihrer Aeltern oder Vormünder zu verhindern sucht« (Hier trug Neelie ihre erste Notiz unter Schlecht ein: »Ich werde an meinem nächsten Geburtstage erst siebzehn und bin durch die Umstände daran verhindert, dem Papa meine Zuneigung anzuvertrauen«) —— »so ist bestimmt worden, daß im Falle öffentlichen Aufgebots von Personen unter einundzwanzig, die nicht Wittwe oder Wittwer sind, welch letztere als emancipirt anzusehen« —— (Neelie trug eine zweite Notiz auf der ungünstigen Seite ein: »Allan ist kein Wittwer und ich bin keine Wittwe, folglich sind wir nicht emancipirt«) —— »wenn die Aeltern oder Vormünder zur Zeit des Aufgebots öffentlich ihr Verbot zu erkennen geben« —— (»was der Papa ganz sicherlich thun würde«) —— »ein solches Aufgebot ungültig sein soll.« Ich will hier einmal Athem schöpfen, wenn Du mir’s gütigst erlauben willst«, sagte Allan »Blackstone könnte sich wenigstens in kürzeren Sätzen expliciren, dünkt mich, selbst wenn er sich nicht zu weniger Worten entschließen kann. Muth gefaßt, Neelie! Es muß noch andere Mittel und Wege zum Heirathen geben als diese außerordentlich weitläufigen, die in Aufgebot und Ungültigkeit enden. Verwünschtes Kauderwelsch!l Ich könnte besser schreiben als das da.«

»Wir sind noch nicht am Ende«, sagte Neelie. »Die Ungültigkeit ist gar nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.«

»Was es auch sei«, entgegnete Allan, »wir wollen es wie Medicin behandeln, auf der Stelle hinunterschlucken, damit es überstanden ist.« Dann fuhr er zu lesen fort: »Und es soll zum Heirathen ohne Aufgebot kein Erlaubnißschein bewilligt werden, ohne daß eins der Betheiligten vorher eidlich versichert, daß kein Hindernis; in Gestalt von Blutsverwandtschaft oder früheren Bündnisses im Wege ist.« Nun, das kann ich mit gutem Gewissen beschwören! Was sonst noch? »Und eins der besagten Betheiligten muß unmittelbar vor der Bewilligung eines solchen Erlaubnißscheins für den Zeitraum von vierzehn Tagen in dem Kirchspiele oder Kapellbezirke, in dem die Ehe geschlossen werden soll, seinen Wohnsitz gehabt haben!« Kapellbezirk! Mit dem größten Vergnügen will ich vierzehn Tage in einem Hundestalle wohnen. Höre mal, Neelie, dies scheint mir Alles ganz einfach. Worüber schüttelst Du den Kopf? Ich soll weiter lesen und werde dann sehen? O, mir ist’s recht; ich will weiter lesen. Also: »Und wenn eins der besagten Betheiligten, das weder Wittwer noch Wittwe, unter einundzwanzig Jahren ist, so muß zuvor ein Eid abgelegt werden, daß die Einwilligung derjenigen Personen, von denen dieselbe erforderlich, erlangt oder daß keine Person vorhanden ist, welche eine solche Autorität besitzt. Die durch diese Acte bedingte Einwilligung ist die eines Vaters —— « Bei diesen fürchterlichen Worten stockte Allan plötzlich »Die eines Vaters«, wiederholte er mit dem nothwendigen Ernste in Miene und Wesen. »Das könnte ich kaum beschwören, wie?«

Neelie antwortete durch ein bedeutungsvolles Schweigen. Sie reichte ihm das Taschenbuch, in dem sich zum Schlusse auf der Seite Schlecht die Notiz: »Unsere Heirath ist unmöglich, ohne daß Allan einen Meineid schwört«, eingetragen fand.

Die Liebenden sahen sich über das unübersteigliche Hinderniß in der Gestalt von Blackstone in sprachloser Bestürzung an.

»Mache das Buch zu«, sagte Neelie mit Ergebung. »Ich bezweifle nicht, daß wir im Umschlagen die Polizei und das Gefängniß und das Kopfscheeren Alles richtig angegeben finden würden. Aber wir brauchen uns nicht weiter zu bemühen, wir wissen bereits mehr als genug. Es ist um uns geschehen. Ich muß am Sonnabend nach der Pension abreisen und Du mußt, so gut Du kannst, mich zu vergessen suchen. Im späteren Leben mögen wir uns vielleicht einmal wiedersehen, wenn Du etwa ein Wittwer und ich eine Wittwe und wir damit beide emancipirt sind, und wenn das uns nicht im geringsten mehr nützen kann. Bis dahin werde ich ohne Zweifel alt und häßlich sein und Du wirst natürlich mich nicht mehr lieben, und Alles wird im Grabe enden, und zwar je eher, je lieber. Lebe Wohl«, schloß Neelie, indem sie sich mit thränenvollen Augen erhob. »Wir verlängern unser Elend nur, wenn wir hier verweilen, außer —— außer Du hättest noch etwas in Vorschlag zu bringen?«

»Ich habe in der That etwas in Vorschlag zu bringen«, rief der unbesonnene Allan. »Ein ganz neuer Einfall. Hättest Du etwas dagegen, es mit dem Schmied zu Gretna-Green zu versuchen?«

»Nichts in der Welt könnte mich dazu bewegen, mich von einem Schmied verheirathen zu lassen«, entgegnete Neelie mit Entrüstung.

»Fühle Dich deshalb nicht beleidigt«, flehte Allan; »ich meinte es gut. Eine Menge von Leuten in unserer Lage haben es mit dem» Schmied versucht und ihn ebenso gut wie den Geistlichen und obendrein höchst liebenswürdig gefunden. Doch es hilft nichts, wir müssen noch etwas Anderes versuchen.«

»Es bleibt uns nichts Anderes mehr übrig«, sagte Neelie.

»Verlaß Dich auf mein Wort«, sagte Allan unverdrossen, »daß es noch Mittel und Wege geben muß, Blackstone ohne Meineid zu überlisten, wenn man sie nur wüßte. Es ist dies eine Sache, die in die Jurisprudenz schlägt, und wir müssen Jemand von Fach consultiren. Vielleicht ist es riskant, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Was meinst Du zum jungen Pedgift? Er ist ein grundguter Kerl. Ich bin überzeugt, daß wir dem jungen Pedgift unser Geheimniß anvertrauen dürften.«

»Nicht um die Welt!« rief Neelie aus. »Du bist vielleicht bereit, dem gewöhnlichen kleinen Geschöpf Deine Geheimnisse anzuvertrauen, aber die meinigen soll er nicht erfahren. Ich hasse ihn. Nein!« fuhr sie mit erhöhter Farbe und einem gebieterischen leisen Fußstampfen fort. »Ich Unterlage Dir entschieden, irgend Jemand von Thorpe-Ambrose in Dein Vertrauen zu ziehen. Ihr Verdacht würde augenblicklich auf mich fallen und die Geschichte dann in fünf Minuten im ganzen Orte bekannt sein. Meine Zuneigung mag eine unglückliche sein«, schloß Neelie mit dem Taschentuch vor den Augen, »und der Papa mag sie in der Blüte ersticken, aber ich will sie nicht durch Stadtklatsch entweiht sehen«

»Still! Still!« sagte Allan. »Ich will in Thorpe-Ambrose kein Wort davon verrathen, gewiß nicht!« Er schwieg und überlegte einen Augenblick. »Noch gibt es ein Mittel!« rief er plötzlich aus. »Wir haben die ganze Woche vor uns. Ich will Dir sagen, was ich thun will. Ich will nach London reisen!«

In dem Gebüsch hinter ihnen, in dem Miß Gwilt versteckt war, raschelte es plötzlich, was jedoch beide nicht hörten. Es schien, als ob abermals eine der Schwierigkeiten, die ihr im Wege lagen, die Schwierigkeit, Allan nach London zu bringen, durch Allan’s freiwilligen Entschluß aus dem Wege geräumt werden solle.

»Nach London?« wiederholte Neelie, indem sie erstaunt aufblickte.

»Nach London!« sagte Man. »Das ist doch sicherlich von Thorpe-Ambrose weit genug entfernt? Warte einen Augenblick und bedenke, daß es eine Rechtsfrage ist. Ganz gut! Ich kenne gewisse Advocaten in London, die meine ganzen Geschäfte leiteten, als ich dieses Vermögen erbte; sie sind die rechten Leute. Und wenn sie sich weigern, sich in die Sache einzulassen, so ist noch ihr erster Expedient da, einer der besten Kerle, die ich im ganzen Leben kennen gelernt habe. Ich erinnere mich, daß ich ihn zu einer Fahrt in meiner Yacht einlud, und obgleich er nicht kommen konnte, sagte er doch, daß er sich nichtsdestoweniger mir äußerst verbunden fühle. Er ist der Mann, der uns helfen kann. Blackstone ist ein Kind gegen ihn; Sage nicht, es sei lächerlich, sage nicht, dies sehe mir ganz ähnlich. Ich bitte Dich, laß mich zu Ende reden. Ich will Deinen Namen oder den Deines Vaters nicht aussprechen. Ich will Dich eine junge Dame, der ich innigst zugethan sei, nennen. Und wenn mein Freund, der Expedient, fragt, wo Du wohnst, so will ich sagen: im Norden von Schottland oder im Westen von Irland oder auf den Kanalinseln oder wo Du sonst willst. Mein Freund, der Expedient, kennt weder Thorpe-Ambrose noch irgend eine Seele in dem Orte, und das ist eine Empfehlung; und er wird mir in fünf Minuten sagen, was ich thun soll, und das ist die zweite. Wenn Du ihn nur kenntest! Er ist einer von jenen außerordentlichen Männern, wie sie nur ein oder zweimal in einem Jahrhundert vorkommen, der Schlag von einem Manne, der einen kein Versehen machen läßt, wie sehr man auch darauf versessen ist. Alles, was ich ihm zu sagen habe, ist kurz: »Mein lieber Junge, ich wünsche mich heimlich und ohne Meineid zu verheirathen.« Alles, was er mir zu sagen hat, ist kurz: »Sie müssen dies und das und das und dies thun und sich sorgfältig vor diesem und jenem hüten.« Ich brauche gar nichts weiter zu thun, als seinen Weisungen zu folgen, und Du hast nichts weiter zu thun als das, was die Braut gewöhnlich thut, wenn »der Bräutigam bereit ist und ihrer harrt!« Bei diesen Worten Umfaßte er Neelie sanft mit dem Arme und seine Lippen zogen mit jener stummen Beredtsamkeit, die stets so erfolgreich ist, die Frauen gegen ihren Willen zu überreden, die Moral seiner legten Rede.

Neelie’s zahlreiche vorher bedachte Einwendungen schmolzen alle zu einer einzigen kleinen Frage zusammen. »Und wenn ich Dich gehen ließe, Allan«, flüsterte sie, indem sie zitternd mit dem Knopfe an seinem Hemde spielte, »wirst Du lange wegbleiben?«

»Ich will heute mit dem Elf-Uhr-Zuge fahren«, sagte Allan, »und morgen will ich wieder hier sein, wenn mein Freund, der Expedient, und ich die Sache an einem Tage abmachen können. Wo nicht, so bin ich spätestens am Mittwoch zurück.«

»Du wirst doch jeden Tag an mich schreiben?« flehte Neelie, sich ein wenig näher an ihn schmiegend. »Ich werde vor Angst und Erwartung vergehen, wenn Du mir nicht jeden Tag schreibst.«

Allan versprach, wenn sie es wünsche, zweimal des Tags zu schreiben. Das Briefschreiben, das Andern so lästig sei, mache ihm keine Mühe.

»Und was die Leute in London Dir auch sagen mögen«, fuhr Neelie fort, »ich bestehe darauf, daß Du zu mir zurückkommst. Ich werde entschieden nicht mit Dir durchgehen, wenn Du mich nicht abzuholen versprichst.«

Abermals versprach Allan bei seinem heiligsten Ehrenworte und im vollsten Tone seiner Stimme. Aber Neelie war noch immer nicht zufrieden gestellt. Sie kehrte zum ersten Anfange zurück und wollte durchaus wissen, ob Allan sich vollkommen klar darüber sei, daß er sie liebe. Allan rief den Himmel zum Zeugen an, daß er sich darüber klar sei. Es nützte Alles nichts! Das unersättliche weibliche Verlangen nach zärtlichen Betheuerungen lechzte nach mehr. »Ich weiß, was eines Tages passieren wird«, fuhr Neelie fort. »Du wirst ein Mädchen sehen, das hübscher ist als ich, und wirst wünschen, daß Du sie statt meiner geheirathet hättest!«

Als Allan schließlich zu einem Strome von Betheuerungen die Lippen öffnete, ließ sich aus der Ferne das Schlagen der Stalluhr im Herrnhause hören. Neelie schrak schuldbewußt zusammen. Die Frühstücksstunde im Parkhäuschen war herangerückt und deshalb der Augenblick des Scheidens gekommen. Im letzten Augenblicke wandte ihr Herz sich ihrem Vater zu und ihr Haupt sank an Allans Brust, als sie diesem Lebewohl zu sagen versuchte. »Der Papa ist stets so gut gegen mich gewesen, Allan«, flüsterte sie, ihn zitternd festhaltend, als er sich abwandte, um sie zu verlassen. »Es scheint so garstig und herzlos«, ihn zu verlassen und mich heimlich zu verheirathen. O bitte, bitte, überlege wohl, ehe Du nach London fährst; gibt es gar kein Mittel, ihn ein wenig gerechter und gütiger gegen Dich zu stimmen?« Es war eine nutzlose Frage; Neelie gedachte der entschieden ungünstigen Aufnahme, die Allan’s Brief bei ihrem Vater gefunden, und diese Erinnerung antwortete ihr, ehe sie selbst noch die Lippen öffnete. Sie schob Allan, ehe er noch sprechen konnte, mit mädchenhafter Leidenschaftlichkeit von sich und hieß ihn ungeduldig gehen. Der Kampf der streitenden Gefühle, den sie bisher bemeistert hatte, machte sich, sowie Allan zum letzten Male die Hand zum Gruße geschwenkt und im Gebüsche verschwunden war, wider ihren Willen Luft. Als sie sich ihrerseits von der Stelle abwandte, strömten die lange verhaltenen Thränen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Alsbald, nachdem sie den Platz verlassen, öffneten sich hinter ihr die Zweige und Miß Gwilt trat leise aus dem Gebüsch hervor. Sie stand triumphierend da, hoch aufgerichtet, schön, entschlossen. Ihr Gesicht erglühte, als sie Neelie’s entschwindender Gestalt nachblickte.

»Weine nur, Du kleine Närrin!« sagte sie mit ihrer ruhigen klaren Stimme und ihrem verachtungsvollen Lächeln »Weine, wie Du noch nie geweint hast! Du hast Deinen Geliebten zum letzten Mal gesehen.«



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Eine Stunde später war Miß Gwilt’s Hauswirthin vor Erstaunen außer sich, und die Zungen der Kinder befanden sich in einem Zustande zügellosen Aufruhrs Unvorhergesehene Umstände hatten die Inhaberin der ersten Etage genöthigt, plötzlich ihre Wohnung aufzugeben und noch an demselben Tage mit dem Elf-Uhr-Zuge nach London zu fahren.

»Bitte, lassen Sie den Fiaker halb zehn Uhr vor der Thür halten«, sagte Miß Gwilt, als die staunende Wirthin ihr die Treppe hinauf folgte. »Und entschuldigen Sie mich, meine gute Frau, wenn ich Sie dringend ersuche, mich bis dahin nicht zu stören.«

In ihrem Zimmer angelangt, verschloß sie sofort die Thür und öffnete ihr Schreibepult »Jetzt heißt es an den Major schreiben!« sagte sie. »Wie soll ich den Brief nur abfassen?«

Nach kurzer Ueberlegung schien sie ihren Entschluß gefaßt zu haben. Sie wählte unter ihren Federn die allerschlechteste aus, die sie finden konnte, und begann den Brief, indem sie auf einen beschmutzten Bogen Briefpapier das Datum schrieb - und zwar in krummen und schiefen, ungeschickten Buchstaben, die sie mit einem absichtlichen Klexe endete. Unter gelegentlichen Pausen zum Nachsinnen und zur Production fernerer Klexe mit dem oberen Ende der Feder faßte sie den Brief in folgenden Worten ab:

»Geehrter Herr! Es lastet mir auf dem Gewissen, Ihnen etwas mitzutheilen, womit Sie bekannt gemacht werden sollten. Sie sollten etwas davon wissen, wie Miß, Ihre Tochter, sich mit dem jungen Mister Armadale aufführt Ich möchte, daß Sie sich davon überzeugen und zwar, daß Sie es nicht lange aufschieben, ob sie, wenn sie vor dem Frühstück ihren Morgenspaziergang macht, auch den rechten Weg geht. Ich verabscheue es, Unheil anzustiften, wo auf beiden Seiten wahre Liebe obwaltet, aber ich glaube nicht, daß der junge Mann es redlich mit Miß meint. Ich glaube vielmehr, daß er sich nur zum Spaß mit Miß befaßt. Eine andere Person, die zwischen uns nicht genannt werden soll, besitzt in Wirklichkeit sein Herz. Bitte, verzeihen Sie, wenn ich mich nicht unterzeichne; ich bin nur eine arme, bescheidene Person und es könnte mir Unannehmlichkeiten zuziehen. Dies ist für jetzt Alles, werther Herr, von einer

Wohlmeinenden.«

»So!« sagte Miß Gwilt, den Brief zusammenlegend. »Ich hätte keinen natürlicheren Dienstmädchenbrief schreiben können, wäre ich ein Romanschreiber von Profession gewesen!« Sie schrieb die erforderliche Adresse, warf einen letzten bewundernden Blick auf die plumpe, ungeschickte Schrift, die ihre zarte Hand hervorgebracht hatte, und ging, den Brief selbst zur Post zu tragen, ehe sie sich an das ernste Geschäft des Einpackens machte. »Merkwürdig!« dachte sie, nachdem der Brief in den Briefkasten geworfen und sie wieder in ihrem Zimmer und mit ihren Reisezurüstungen beschäftigt war. »Da bin ich nun im Begriff, mich in eine fürchterliche Gefahr zu stürzen, und im ganzen Leben habe ich mich nie in besserer Stimmung befunden!«

Als der Fiaker vor der Thür hielt, waren die Koffer gepackt und Miß Gwilt, in ihrem hübschen Reisekleide nett wie immer, zur Abfahrt bereit. Der dichte Schleier, den sie in London zu tragen pflegte, erschien zum ersten Male auf ihrem ländlichen Strohhute. »Auf der Eisenbahn trifft man zuweilen so ungezogene Leute«, sagte sie zur Wirthin »Und obgleich ich mich so einfach kleide, ist doch mein Haar sehr auffallend.« Sie war ein wenig bleicher als gewöhnlich, aber noch nie war sie so freundlich und einnehmend, so anmuthend herzlich und freundschaftlich gewesen als jetzt, da der Augenblick des Scheidens gekommen war. Die einfachen Hausleute waren förmlich gerührt, als sie von ihr Abschied nahmen. Sie reichte dem Hauswirthe die Hand, sprach in der allerliebsten Weise zu ihm und strahlte ihn mit ihrem lieblichsten Lächeln an.

»Kommen Sie!« sagte sie zur Wirthin. »Sie sind so freundlich gegen mich gewesen, fast wie eine Mutter, daß Sie mir zum Abschiede einen Kuß geben müssen.« Sie umarmte die Kinder, halb scherzend, halb zärtlich, was reizend anzusehen war, alle mit einem Male und gab ihnen einen Schilling, um sich Kuchen dafür zu kaufen. »Wie froh würde ich sein, wenn ich reich genug wäre, um ihnen statt dessen einen Sovereign geben zu können!« flüsterte sie der Mutter zu. Der ungeschickte Laufjunge stand wartend an der Fiakerthür. Er war plump, er war mürrisch, er hatte einen offenen Mund und eine Stumpfnase, aber dennoch erstreckte sich Miß Gwilt’s bezaubernde Liebenswürdigkeit auch auf ihn. »Du lieber, schmutziger John«, sagte sie freundlich an der Wagenthür, »ich bin so arm, daß ich nur einen Sixpence für Dich habe und dazu meine besten Wünsche. Nimm meinen Rath an, Sohn, werde ein stattlicher Mann und suche Dir ein hübsches Liebchen. Danke tausendmal!« Sie streichelte ihm freundlich mit zwei ihrer behandschuhten Finger die Wange, lächelte, nickte und stieg ein.

»Jetzt also Armadale!« sagte sie, als der Fiaker abfuhr.

Allan’s Sorge, den Zug nicht zu verfehlen, hatte ihn zeitiger als gewöhnlich nach dem Bahnhofe getrieben. Nachdem er sein Billet gelöst und seinen Koffer dem Schaffner übergeben hatte, ging er auf dem Perron auf und ab und dachte an Neelie, als er hinter sich das Rauschen eines Frauenkleides hörte und, sich umwendend, Miß Gwilt gegenüberstand.

Diesmal konnte er ihr nicht entwischen. Die Mauer des Stationsgebäudes befand sich auf der einen und die Schienengleise auf der andern Seite von ihm; hinter ihm war ein Tunnel und vor ihm stand Miß Gwilt, die ihn mit ihrer süßesten Stimme fragte, ob er nach London fahre.

Vor Ueberraschung und Verdruß ward Allan dunkelroth. Da stand er, offenbar auf den Zug wartend, und dort war sein Mantelsack mit seinem Namen und dem Zettel für London versehen! Wie hätte er anders als der Wahrheit gemäß antworten können? Sollte er den Zug ohne sich abgehen lassen und so die kostbaren Stunden verlieren, die für ihn und Neelie von so großer Wichtigkeit waren? unmöglich! Verlegen bestätigte Allan die gedruckte Angabe auf seinem Mantelsacke und wünschte sich dabei ans andere Ende der Welt.

»Wie glücklich sich dies trifft!« erwiderte Miß Gwilt »Ich fahre auch nach London. Dürfte ich Sie bitten, Mr. Armadale, da Sie ganz allein zu reisen scheinen, mein Beschützer auf der Reise zu sein?«

Allan warf einen Blick auf die kleine Versammlung von Reisenden und ihrer sie begleitenden Freunde, die an der Thür des Billetbureau auf dem Perron umherstanden. Es waren lauter Thorpe-Ambroser. Er wie Miß Gwilt waren jedem von ihnen wahrscheinlich von Ansehen bekannt. Aus reiner Verzweiflung und verlegen stockend zog er seine Cigarrentasche heraus. »Es würde mir großes Vergnügen machen«, sagte er mit einer Verwirrung, die unter den Umständen fast Beleidigung war, »aber ich — ich bin ein Sklave des Rauchens wie die Leute es nennen, denen eine Cigarre Uebelkeit verursacht.«

»O, ich habe den Cigarrenrauch ganz gern!« rief Miß Gwilt mit unverminderter Heiterkeit und Gutmüthigkeit. »Es ist dies eins der Privilegien der Männer, um das ich sie stets beneidet habe. Ich fürchte, Mr. Armadale, Sie werden denken, daß ich mich Ihnen aufdränge. Allerdings hat es das Ansehen. Die Wahrheit zu gestehen, möchte ich gern ein Wort über Mr. Midwinter mit Ihnen sprechen.«

In diesem Augenblicke brauste der Zug heran. Selbst Midwinter ganz beiseite gesetzt, ließ die gewöhnlichste Höflichkeit Allan doch nichts Anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben. Nachdem er schuld gewesen, daß sie ihre Stelle bei Major Milroy verloren, nachdem er ihr vor wenigen Tagen geradezu auf offener Straße ausgewichen, wäre es eine Brutalität gewesen, deren Allan unfähig war, hätte er sich geweigert, in demselben Waggon mit Miß Gwilt nach London zu fahren. »Hol? sie der Kukuk!« dachte Allan, indem er ihr vor allen, die auf dem Perron versammelt standen, beim Einsteigen in ein leeres Coupe behilflich war, das ihm diensteifrig der Schaffner zur Verfügung gestellt hatte. »Sie sollen nicht gestört werden, Sir«, flüsterte der Mann vertraulich lächelnd, indem er die Hand an den Hut legte. Allan hätte ihn mit dem größten Vergnügen zu Boden schlagen mögen. »Halt« rief er zum Fenster hinaus, »ich will das Coupe nicht« Es nützte nichts; der Schaffner war bereits außerhalb Hörweite; die Pfeife gellte und der Zug war auf dem Wege nach London.

Die ausgewählte Versammlung von Freunden der Abreisenden bildete augenblicklich einen Kreis, in dem der Bahnhofsinspector den Mittelpunkt einnahm.

Der Bahnhofsinspector, alias Mr. Mark, war in der ganzen Gegend sehr populär, Er besaß zwei Eigenschaften, die auf das englische Gemüth stets einen großen Eindruck zu machen pflegen: er war ein alter Soldat und ein Mann von wenig Worten. Das Conclave auf dem Perron mußte durchaus erst seine Ansicht hören, ehe es sich durch eine eigene Meinung compromittirte. Natürlich brach sofort von allen Seiten ein rasches Pelotonfeuer von Bemerkungen los, aber die Ansicht eines Jeden über den Gegenstand endete in einer Frage, die direct für die Ohren des Bahnhofsinspectors berechnet war.

»Jetzt hat sie ihn, nicht wahr?« —— »Sie wird als Mrs. Armadale zurückkommen, nicht wahr?« —— »Er hätte besser gethan, wenn er sich an Miß Milroy gehalten, wie?« — »Miß Milroy hielt sich an ihn. Sie machte ihm einen Besuch im Herrnhause nicht wahr?« — »Keineswegs. Es ist eine Schande, derart des Mädchens Ruf zu beschimpfen. Sie ward von einem Gewitter überrascht, als sie sich in der Nähe befand; er mußte ihr ein Obdach anbieten, und seitdem ist sie nie wieder dort gewesen. Miß Gwilt aber ist dort gewesen, wenn Sie wollen, und zwar, ohne von einem Gewitter dazu gezwungen worden zu sein, und Miß Gwilt ist mit ihm auf dem Wege nach London, und zwar allein in einem Coupe, nicht wahr, Mr. Mack?« —— »Ach, er ist ein schwacher Mensch, dieser Armadale! Sich bei all seinem Gelde mit einem rothhaarigen Frauenzimmer einzulassen, das gute acht oder zehn Jahre älter ist als er! Sie ist dreißig, so wahr sie einen Tag alt ist. Das sage ich, Mr. Mark. Was meinen Sie?« —— »Ob älter oder jünger, sie wird in Thorpe-Ambrose das Scepter schwingen; und ich sage, um des Ortes und des Geschäftes willen heißen wir’s gut, und Mr. Mark, der die Welt kennt, sieht die Sache in demselben Lichte wie ich. Nicht wahr, Sir?«

»Meine Herren«, sagte der Bahnhofsinspector in seinem kurzen militärischen Tone und mit seinem unergründlichen militärischen Wesen, »sie ist ein verdammt schönes Frauenzimmer, und ich bin der Meinung, daß sie zur Zeit, wo ich so jung war wie Mr. Armadale, wenn sie nur gewollt, mich selbst hätte heirathen können.«

Mit dieser Meinungsverkündigung schwenkte der Bahnhofsinspector rechts und verschanzte sich in der Feste seines Bureau.

Die Bürger von Thorpe-Ambrose sahen die verschlossene Thür an und schüttelten ernst die Köpfe. Mr. Mack hatte sie getäuscht. Keine Meinung, welche die Schwachheit der menschlichen Natur offen bekennt, wird von der Menschheit günstig aufgenommen. »Es ist so gut, als ob er sagte, daß jeder von uns sie hätte heirathen können, wären wir so jung gewesen wie Mr. Armadale!« Dies war der allgemeine Eindruck in der Versammlung, als diese auseinanderging und den Bahnhof verließ.

Der letzte der sich Entfernenden war ein langsamer alter Herr, der die Gewohnheit hatte, sich überall mit großer Gelassenheit umzusehen. An der Thür stehen bleibend, sah dieser beobachtende Mann den Perron hinauf und hinab und entdeckte in der letzteren Richtung hinter einem Winkel der Mauer einen ältlichen Mann in Schwarz, der bis dahin der Beachtung aller entgangen war. »Ei du meine Güte!« rief der alte Herr, sich neugierig Schritt für Schritt ihm nähernd, »doch nicht Mr. Bashwood?«

Dennoch war es Mr. Bashwood —— Mr. Bashwood, dessen constitutionelle Neugierde ihn heimlich nach dem Bahnhofe geführt hatte, hinter das Geheimniß von Allan’s plötzlicher Reise nach London zu kommen, Mr. Bashwood, der hinter seiner Mauerecke dasselbe gesehen und gehört, was alle Andern wahrgenommen hatten, und auf den dies keinen geringen Eindruck gemacht zu haben schien. Wie versteinert stand er steif an der Wand, die eine Hand an seinen unbedeckten Kopf drückend und in der andern seinen Hut haltend; mit einer matten Glut auf dem Gesichte, einem gegen standslosen Stieren in den Augen sah er gerade in den Schlund des Tunnels jenseits der Station hinein, als ob der Zug nach London erst diesen Augenblick darin verschwunden sei.

»Thut Ihnen der Kopf weh?« fragte der alte Herr. »Lassen Sie sich von mir rathen. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich nieder.«

Mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit hörte ihn Mr. Bashwood mechanisch an und antwortete mit seiner gewohnten Höflichkeit ebenso mechanisch.

»Ja, Sir«, sagte er mit leiser, unklarer Stimme, gleich einem Manne, der halb träumt, halb wacht, »ich will nach Haufe gehen und mich niederlegen.«

»Das ist recht«, erwiderte der alte Herr, sich der Thür zuwendend. »Und nehmen Sie eine Pille ein, Mr. Bashwood, nehmen Sie eine Pille ein.«

Fünf Minuten später fand der Gepäckträger, der zugleich den Bahnhof zu schließen hatte, Mr. Bashwood, wie er sich noch immer mit unbedecktem Kopfe an die Mauer lehnte und noch immer stier in den schwarzen Schlund des Tunnels hineinblickte, als ob der Zug nach London erst in diesem Augenblicke darin verschwunden wäre.

»Kommen Sie, Sir!« sagte der Gepäckträger »Ich muß zuschließen, Sind Sie nicht wohl? Fehlt’s Ihnen vielleicht im Leibe? Versuchen Sie einen Bitteren.«

»Ja«, sagte Mr. Bashwood, dem Gepäckträger genau in derselben Weise antwortend, wie er dem alten Herrn geantwortet hatte. »Ich will einen Bitteren versuchen.«

Der Gepäckträger faßte ihn beim Arm und führte ihn hinaus. »Dort werden sie ihn bekommen«, sagte der Mann, indem er ihm eine Branntweinschenke zeigte, »und zwar einen guten.«

»Ich werde ihn dort bekommen«, sagte Mr. Bashwood, noch immer mechanisch die Worte wiederholend, die zu ihm gesprochen wurden, »und zwar einen gutem.«

Es schien, als ob sein Wille gelähmt sei; er that durchaus nur, was andere Leute ihm sagten. Er machte ein paar Schritte auf die Branntweinschenke zu, hielt inne, taumelte und klammerte sich an einen Laternenpfahl an. Der Gepäckträger, der ihm folgte, faßte ihn nochmals beim Arme.

»Ei, Sie haben ja schon getrunken« rief der Mann mit plötzlich belebtem Interesse für Mr. Bashwood’s Zustand. »Was war’s? Bier?«

In leifen, unsicheren Tönen wiederholte Mr. Bashwood das letzte Wort.

Es war nahezu Essenszeit für den Gepäckträger. Wenn indeß ein Mitglied der niederen Klassen« Englands einen Betrunkenen entdeckt zu haben glaubt, so ist dessen Theilnahme für diesen eine unbegrenzte. Der Gepäckträger überließ das Mittagsessen seinem Schicksal und half Mr. Bashwood rücksichtsvoll und behutsam nach der Schenke »Ein Bitterer wird Ihnen wieder auf die Beine helfen«, flüsterte der barmherzige Samariter.

Wäre Mr. Bashwood wirklich berauscht gewesen, so würde das Heilmittel des Gepäckträgers sich in der That als ein wunderbares erwiesen haben. Fast in demselben Augenblicke, wo das Glas geleert war, that das Stärkungsmittel schon seine Wirkung. Das lange geschwächte Nervensystem des Unterverwalters das momentan der erlittenen Erschütterung unterlegen war, raffte sich, gleich dem müden Pferde unter dem Sporn, wieder auf. Die matte Glut auf seinen Wangen wie das matte Stieren seiner Augen verschwanden gleichzeitig. Nach einer kurzen Anstrengung konnte er seine Gedanken wieder sammeln, um sich des Geschehenen zu erinnern, dem Gepäckträger zu danken und ihn ebenfalls zu einem Trunke aufzufordern. Unverzüglich nahm der würdige Mann eine Dosis seiner eigenen Medicin als Präservativ an und ging zum Essen, wie nur diejenigen zum Essen gehen «können, die physisch durch einen Bitteren und moralisch durch das Bewußtsein, eine gute That gethan zu haben, erwärmt sind.

Mr. Bashwood verließ seinerseits noch immer in einem seltsamen Zustande der Geistesabwesenheit, doch jetzt sich des Weges bewußt, den er wandelte, wenige Minuten später ebenfalls die schenke. In seinen elenden schwarzen Kleidern schritt er mechanisch weiter und bewegte sich wie ein dunkler Klex auf der weißen Ebene des sonnenbeschienenen Wegs dahin, wie Midwinter ihn erblickt, an jenem Tage, wo er zum ersten Male zu Thorpe-Ambrose mit ihm zusammengetroffen war. An der Stelle angelangt, wo er sich entweder für den Weg nach der Stadt oder dem nach dem Herrnhause entscheiden mußte, blieb er stehen, dem Anscheine nach unfähig und selbst gleichgültig, auch nur den Versuch zu machen. »Ich will mich an ihr rächen!« flüsterte, er, noch immer in seine eifersüchtige Wuth gegen das Weib versunken, das ihn hintergangen hatte, leise vor sich hin. »Ich will mich an ihr rächen«, wiederholte er in lauterem Tone, »und wenn es mich jeden Heller kostet, den ich noch besitze!«

Einige leichtfertige Frauenzimmer, die an ihm auf dem Wege nach der Stadt vorbeigingen, hörten ihn. »Ach Du alter Narr«, riefen sie ihm mit der maßlosen Frechheit ihres Schlages zu, »’s ist Dir schon recht geschehen, was sie Dir auch angethan hat!«

Die gemeinen Stimmen entrissen ihn seinem Brüten, obgleich es fraglich ist, ob er die Worte verstand. Um ferneren Störungen und Beleidigungen auszuweichen, wandte er sich ab und bog in den stilleren Weg ein, der nach dem Herrnhause führte.

An einer einsamen Stelle desselben blieb er stehen und setzte sich nieder. Er nahm seinen Hut ab, lüftete seine Perücke etwas und machte verzweifelte Anstrengungen, die eine unerschütterliche Ueberzeugung, die ihm wie Blei auf der Brust lag, die Ueberzeugung, daß Miß Gwilt ihn von Anfang an absichtlich hintergangen habe, loszuwerden Vergebens. Keine Anstrengung konnte ihn von diesem Eindrucke befreien, noch weniger von dem Gedanken, welche jener hervorgerufen hatte, dem Gedanken der Rache. Er stand wieder auf, setzte seinen Hut auf und ging schnell einige Schritte weiter, dann kehrte er, ohne zu wissen warum, abermals um. »Wenn ich mich nur ein wenig besser gekleidet hätte!« sagte das arme Geschöpf wie geistesabwesend. »Wäre ich nur ein wenig entschlossener gegen sie aufgetreten, so hätte sie vielleicht vergessen, daß ich ein alter Mann bin!« Von neuem packte ihn seine Wuth. Er ballte seine feuchten Hände und schüttelte sie heftig in der leeren Luft. »Ich will mich an ihr rächen!« wiederholte er. »Ich will mich an ihr rächen und wenn es mich jeden Heller kostet, den ich besitze!« Ein fürchterlicher Beweis ihrer Macht über ihn lag darin, daß sein rachsüchtiges Gefühl sich nicht so weit von ihr entfernen konnte, um den Mann zu erreichen, den er für seinen Nebenbuhler hielt. In seiner Wuth wie in seiner Liebe war er mit Leib und Seele nur bei Miß Gwilt.

Einen Augenblick später ward er durch das Geräusch von hinter ihm daher rollenden Rädern seinen Grübeleien entrissen. Er wandte und sah, sich um. Es war der ältere Mr. Pedgift, der ihn, wie schon einmal zuvor, als er unter den Fenstern des Herrnhauses gelauscht und der Advocat ihn geradezu der Neugierde in Bezug aus Miß Gwilt beschuldigt hatte, schnell in seinem Gig einholte.

Mit Blitzesschnelle schoß ihm die unvermeidliche Ideenverbindung durch den Kopf. Die Meinung, die der Advocat über Miß Gwilt ausgesprochen hatte, tauchte plötzlich neben Mr. Pedgift’s spöttischer Billigung aller Nachforschungen, die er aus Neugier unternehmen wolle, in seiner Erinnerung auf. »Ich kann ihr’s wohl noch heimzahlen«, dachte er, »wenn Mr. Pedgift mir helfen will! Halt, Sir!« rief er verzweifelt, als das Gig sich ihm näherte. »Bitte, ich möchte mit Ihnen sprechen, Sir.«

Ohne still zu halten, zog Pedgift die Zügel seines schnell trabenden Pferdes ein wenig an. »Kommen Sie in einer halben Stunde auf die Expedition«, sagte er; »jetzt habe ich Eile.« Ohne auf Antwort zu warten, ohne Mr. Bashwood’s Verbeugung zu beachten, ließ er dem Pferde die Zügel wieder schießen und war in der nächsten Minute verschwunden.

Abermals setzte sich Bashwood an einer schattigen Stelle am Wege nieder. Es war, als ob er außer der Kränkung, die ihm von Miß Gtvilt zugefügt worden, keine andere Beleidigung empfinden könne. Nicht nur fühlte er keine Entrüstung über die unceremoniöse Behandlung, die ihm von Mr. Pedgift zu Theil geworden war, sondern er suchte dieselbe sogar in einem günstigen Lichte zu sehen. »Eine halbe Stunde«, sagte er resigniert, »das ist Zeit genug, mich wieder ein wenig zu fassen, und ich brauche Zeit. Sehr gütig von Mr. Pedgift, obgleich er es vielleicht nicht so beabsichtigt hat.«

Das Gefühl des Druckes auf seinem Kopfe nöthigte ihn nochmals, seinen Hut abzunehmen. Er hielt ihn, tief in Gedanken versunken, auf dem Schooße; sein Gesicht war auf die Brust herabgeneigt und die zitternden Finger der einen Hand trommelten zerstreut auf seinem alten Filze. Hätte Mr. Pedgift nur etwas Vor sich in die Zukunft blicken können, so wäre die einförmig trommelnde Hand trotz ihrer Schwäche dennoch vielleicht stark genug gewesen, den Advocaten hier auf dem Wege zurückzuhalten. Es war die Hand eines elenden alten Mannes, trotzdem aber, um uns des eigenen Ausdrucks Mr. Pedgift’s beim Scheiden von Allan zu bedienen, die Hand, die jetzt Licht auf Miß Gwilt werfen sollte.«



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Als die halbe Stunde verstrichen, stellte sich Mr. Bashwood pünktlich auf die Minute in Mr. Pedgift’s Expedition ein, wo er angab, daß er speciell von Mr. Pedgift herbeschieden sei.

Mit verdrossener Miene sah der Advocat von seinen Papieren auf, als ihm der alte Mann gemeldet wurde. Er hatte die Begegnung auf der Landstraße schon völlig vergessen. »Sieh nach, was er will«, sagte der ältere zum jüngeren Pedgift, welcher in demselben Zimmer arbeitete. »Und ist es nichts von Wichtigkeit, so verschiebe es bis zu einer andern Gelegenheit.«

Mit großer Geschwindigkeit verschwand Pedgift’s Sohn und kehrte mit ebenso großer Geschwindigkeit wieder zurück.

»Nun?« fragte der Vater.

»Nun«, antwortete der Sohn, »er ist womöglich noch wackliger und unzusammenhängender als gewöhnlich. Ich kann ihn durchaus nicht verstehen, außer daß er Dich durchaus sehen will. Meine Ansicht«, fuhr der jüngere Pedgift mit seinem spöttischen Ernste fort, »ist die, daß er daran ist, einen Anfall zu haben, und gern Dir seine Erkenntlichkeit für Deine vielfache Freundlichkeit gegen ihn ausdrücken möchte.«

Pedgift begegnete gewöhnlich allen Leuten, seinen Sohn nicht ausgenommen, mit ihren eigenen Waffen. »Erinnere Dich gefälligst, Augustus«, erwiderte er, »daß mein Bureau kein Gerichtssaal ist. Ein schlechter Witz wird hier nicht allemal durch schallendes Gelächter belohnt. Laß Mr. Bashwood hereinkommen.«

Mr. Bashwood ward hereingeführt, und Pedgift der jüngere zog sich zurück. »Du mußt ihm nicht zur Ader lassen, Vater«, flüsterte der unverbesserliche Spaßmacher, als er hinter seinem Vater vorbei aus dem Zimmer ging. »Heiße Flaschen unter die Füße und ein Senfpflaster auf den Magen, das ist die neueste Behandlung.«

»Setzen Sie sich, Bashwood«, sagte Pedgift der ältere, sobald sie allein waren. »Und vergessen Sie nicht, daß Zeit Geld ist. Heraus damit, was es auch sei, und zwar so schnell und mit so wenig Worten wie möglich.«

Diese kurz, doch keineswegs unfreundlich gesprochenen vorläufigen Ermahnungen dienten eher dazu, die peinliche Aufregung, an der Mr. Bashwood litt, zu erhöhen, als zu beruhigen. Er stammelte verlegener und ununterbrochener als gewöhnlich, während er seine kleine Dankesrede hielt und mit der Entschuldigung schloß, daß er seinen Gönner während der Geschäftsstunden gestört habe.

»Jeder hier im Orte weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist, Mr. Pedgift, Sir. O mein Himmel, ja, das versteht sich, ja, höchst kostbar, höchst kostbar! Verzeihen Sie, Sir, ich fange schon an. Ihre Güte oder vielmehr Ihre Geschäftsthätigkeit, nein, Ihre Güte gewährte mir eine halbe Stunde Zeit, und ich habe das, was ich zu sagen habe, wohl überlegt und vorbereitet und kurz gefaßt.« Hier angelangt, schwieg er plötzlich mit einem leidenden, verlegenen Gesichte. Sorgfältig hatte er sich die Sache in seinem Gedächtnisse zurechtgelegt und war nun, da der Augenblick gekommen, zu verwirrt, um sie zu finden. Und dort, stumm harrend, saß Mr. Pedgift, dessen Gesicht und Wesen deutlich jenes Bewußtsein von dem Werthe seiner Zeit ausdrückten, mit dem jeder Patient, der einen großen Arzt, oder jeder Client, der einen bedeutenden Rechtsgelehrten consultirt, so wohl bekannt ist.

»Haben Sie die Neuigkeit gehört, Sir?« stammelte Bashwood, sich verzweifelt Bahn brechend und die in seinem Geiste vorherrschende Idee entschlüpfen lassend, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es die einzige Idee war, die er herausbringen konnte.

»Betrifft die Neuigkeit mich?« fragte Mr. Pedgift, mit unbarmherziger Kürze gerade aus die Sache losgehend.

»Sie betrifft eine Dame, Sir, nein, nicht eine Dame, ich sollte vielmehr sagen, einen jungen Mann, an dem Sie einst einiges Interesse nahmen. O Mr. Pedgift, was denken Sie wohl! Mr. Armadale und Miß Gwilt sind heute allein zusammen nach London gereist —— allein, Sir, allein in einem Coupe, das für sie beide reserviert worden war. Meinen Sie, daß er sie heirathen wird? Glauben Sie wirklich, was alle Welt sagt, daß er sie heirathen werde?«

Er that diese Frage mit plötzlich erglühendem Gesicht und plötzlich energischem Wesen. Obwohl er sich des Werthes, den die Zeit für den Advocaten hatte, und der Herablassung dieses letzteren bewußt war, wich doch dieses Gefühl sowohl als seine natürliche Schüchternheit und Aengstlichkeit der übermächtigen Begierde, Mr. Pedgift’s Antwort zu hören. Zum ersten Male in seinem Leben sprach er laut, als er diese Frage that.

»Nach meiner Erfahrung über Mr. Armadale«, sagte der Advocat mit augenblicklich härter werdendem Gesicht und Wesen, »halte ich ihn für verblendet genug, um Miß Gwilt ein Dutzendmal zu heirathen, wenn Miß Gwilt dies von ihm verlangte. Ihre Neuigkeit überrascht mich nicht im allergeringsten, Mr. Bashwood. Er thut mir leid. Ich kann dies in aller Aufrichtigkeit sagen, trotzdem daß er meinem Rathe geradezu entgegen gehandelt hat. Und ich fühle noch mehr«, fuhr er weicher fort, indem er seiner Unterredung mit Neelie unter den Bäumen des Parks gedachte, »für eine andere Person, die ich nicht nennen will. Aber was geht dies Alles Sie an, und was in aller Welt fehlt Ihnen?« sagte er, da er zum ersten Male den bodenlosen Jammer in Mr. Bashwood’s Wesen und die grenzenlose Verzweiflung in dessen Gesicht bemerkte, welche diese Antwort bewirkt hatte. »Sind Sie krank? Steckt etwa noch etwas Anderes dahinter, womit herauszukommen Sie sich fürchten? Ich verstehe es nicht. Sind Sie hierher gekommen, um mir während meiner Geschäftsstunden nichts weiter mitzutheilen, als daß der junge Armadale thöricht genug gewesen ist, auf Lebenszeit seine Aussichten zu ruinieren? Mein Gott, das habe ich Alles schon seit Wochen vorausgesehen, ja noch mehr, ich habe es ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, als ich mich zum letzten Mal mit ihm in seinem Hause unterhielt.«

Bei diesen letzten Worten raffte Mr. Bashwood sich plötzlich zusammen. Die flüchtige Erwähnung des Herrnhauses brachte ihn in einer Secunde auf den Zweck, der ihn hergeführt hatte.

»Das ist’s, Sir!« sagte er eifrig. »Davon wollte ich eben mit Ihnen sprechen, das ist es, was ich mir überlegt habe. Mr. Pedgift, als Sie das letzte Mal im Herrnhause gewesen, da —— da holten Sie mich auf dem Heimwege in ihrem Gig ein.«

»Sehr wohl möglich«, sagte Mr. Pedgift resigniert. »Mein Pferd ist zufällig etwas flinker auf den Beinen als Sie, Bashwood. Nur weiter, nur weiter, mit der Zeit werden wir wohl zu dem kommen worauf Sie hinauswollen.«

»Sie hielten still, Sir, und sprachen mit mir«, fuhr Mr. Bashwood, sich immer schneller seinem Ziele nähernd, fort. »Sie sagten, Sie hätten mich im Verdachte einiger Neugierde wegen Miß Gwilt, und Sie sagten mir —— ich erinnere mich genau der Worte, Sir —— Sie sagten mir, ich solle auf jeden Fall meine Neugierde zu befriedigen suchen, Sie hätten durchaus nichts dagegen.«

Pedgift der ältere begann plötzlich aufmerksamer auszusehen.

»Ich erinnere mich, etwas der Art gesagt zu haben«, erwiderte er; »und außerdem erinnere ich mich, es ziemlich auffallend gefunden zu haben, daß Sie sich zufälligerweise, wir wollen uns nicht beleidigender ausdrücken, gerade unter Mr. Armadale’s offenem Fenster befanden, während ich mit ihm sprach. Natürlich konnte dies Zufall sein, aber es hatte mehr das Ansehen von Neugierde. Ich konnte nur nach dem Scheine urtheilen«, schloß Mr. Pedgift, seinen bitteren Hohn durch eine Prise Schnupftabak bekräftigend; »und der Schein war entschieden gegen Sie, Bashwood.«

»Ich leugne es nicht, Sir. Ich erwähnte des Umstandes nur, weil ich gestehen möchte, daß ich hinsichtlich Miß Gwilt neugierig war und bin.«

»Warum?« fragte Mr. Pedgift, der hinter Mr. Bashwood’s Gesicht und Wesen etwas erblickte, aber noch völlig im Dunkeln war, was dieses Etwas sein könne.

Eine kurze Pause trat ein. Dann suchte Mr. Bashwood seine Zuflucht in dem, worin ängstliche Leute, wenn sie um eine Antwort verlegen sind, ihre Zuflucht zu suchen pflegen. Er wiederholte einfach seine vorherige Bemerkung. »Ich fühle«, sagte er mit einer seltsamen Mischung von Trotz und Schüchternheit, »einige Neugierde in Bezug aus Miß Gwilt.«

Eine abermalige Pause erfolgte. Trotz seiner Schlauheit und Menschenkenntniß war Mr. Pedgift noch immer ebenso sehr im Dunkeln wie zuvor. Mr. Bashwood’s Fall enthielt das menschliche Räthsel, das er am wenigsten lösen konnte. Die Ideenverbindung von Liebe mit Gebrechlichkeit und grauem Haar bewirkt einmal in der ganzen Welt keinen andern Gedanken als den der äußersten Unwahrscheinlichkeit und Abgeschmacktheit. Hätte die gegenwärtige Unterhaltung, anstatt in Mr. Pedgift’s Geschäftszimmer, an dessen Mittagstafel stattgefunden, nachdem der Wein ihn für humoristische Eindrücke empfänglich gemacht, so würde er wohl die Wahrheit geahnt haben. Aber in seinen Geschäftsstunden pflegte Mr. Pedgift die Beweggründe der Leute nur vom ernsten geschäftlichen Gesichtspunkte aufzufassen, und deshalb war es ihm geradezu unmöglich, auf eine so erstaunliche Unwahrscheinlichkeit, eine so ungeheure Abgeschmacktheit zu verfallen, wie das Factum, daß Wir. Bashwood verliebt sei.

»Nun«, sprach Pedgift weiter, »nehmen wir an, Sie fühlen Neugierde hinsichtlich Miß Gwilt’s. Was dann?«

Mr. Bashwood’s Hände begannen unter dem Einflusse seiner Aufregung zu transpirieren, wie damals, als er Midwinter im Herrnhause die Geschichte seiner Leiden erzählt hatte. Er knetete sein Taschentuch wieder zu einem Balle zusammen und nahm diesen sachte von einer Hand tn die andere.

»Darf ich fragen, Sir«, begann er, »ob ich Recht habe, wenn ich annehme, daß Sie eine sehr ungünstige Meinung von Miß Gwilt hegen? Sie sind, wenn ich nicht irre, völlig überzeugt ——«

»Mein guter Bashwood«, unterbrach ihn Mr. Pedgift, »Warum sollten Sie hierüber noch irgend einen Zweifel haben? Sie befanden sich, während ich mit Mr. Armadale sprach, unter dessen Fenster, und ich nehme an, daß Sie sich nicht gerade die Ohren zuhielten.«

Mr. Bashwood nahm keine Notiz von der Unterbrechung. Der kleine Stich ging spurlos in dem edlem Schmerze der Wunde unter, die Miß Gwilt ihm geschlagen hatte.

»Wenn ich nicht irre, sind Sie völlig überzeugt, Sir«, wiederholte er, »daß im frühem Leben dieser Dame Dinge vorgekommen sind, die ihr, würden sie jetzt bekannt, im höchsten Grade nachtheilig werden dürften.«

»Das Fenster im Herrnhause war offen, Bashwood, und Sie hielten sich jedenfalls nicht gerade die Ohren zu.«

Mr. Bashwood blieb, unempfindlich gegen den Stich, noch immer hartnäckig bei derselben Frage.

»Wenn ich nicht sehr irre«, sagte er, »so hat Ihre langjährige Erfahrung in dergleichen Dingen sogar den Verdacht in Ihnen erweckt, daß Miß Gwilt vielleicht der Polizei nicht unbekannt sein dürfte.«

Mr. Pedgift verlor die Geduld. »Sie sind jetzt über zehn Minuten hier in diesem Zimmer«, sagte er ungeduldig, »können Sie mir mit deutlichen Worten sagen, was Sie wollen, oder ist das Ihnen unmöglich?«

Unter dem Einflusse der Leidenschaft, die ihn verwandelt, der Leidenschaft, die, wie Miß Gwilt sich ausgedrückt, einen Mann aus ihm gemacht hatte, entsprach Bashwood dieser Aufforderung endlich mit deutlichen Worten, indem er sich- wie ein gehetztes Schaf gegen den Hund, gegen den Advocaten wandte.

»Ich möchte sagen, Sir«, antwortete er, »daß Ihre Ansicht über diese Sache auch die meinige ist. Ich glaube, daß in Miß Gwilt’s Vergangenheit etwas nicht ist, wie es sein soll, etwas, das sie vor aller Welt geheim hält, und ich wünsche der Mann zu sein, der dies entdeckt.«

Mr. Pedgift ersah sich seine Gelegenheit und kam augenblicklich auf seine Frage zurück.

»Warum?« fragte er zum zweiten Male.

Mr. Bashwood zögerte abermals. Konnte er bekennen, daß er toll genug gewesen war, sich in sie zu verlieben, und schwach genug, ihr als Spion zu dienen? Konnte er sagen: »Sie hat mich von Anfang an hintergangen, und jetzt, da sie ihren Zweck erreicht, hat sie mich im Stich gelassen. Nachdem sie mir mein Glück und meine Ehre, ja meine letzte Lebenshoffnung geraubt, hat sie mich aus immer verlassen, und mir bleibt nichts übrig als das brennende Verlangen, das Verlangen eines Greises, das langsam und listig, aber stark und unerschütterlich Rache fordert, eine Rache, die ich haben werde, wenn ich ihr Glück dadurch vergiften kann, daß ich ihre Fehltritte vor die Oeffentlichkeit bringe, eine Rache, die ich mir mit dem letzten Heller meiner Ersparnisse, mit dem letzten Tropfen meines Blutes erkaufen will, denn was ist mir Gold oder Leben werth!« Konnte er dies zu dem Manne sagen, der hier vor ihm saß und auf seine Antwort wartete? Nein, er konnte es nur in sich ersticken und schweigen.

Das Gesicht des Advocaten begann wieder einen harten Ausdruck anzunehmen.

»Einer von uns muß mit der Sprache heraus«, sagte er; »und da Sie es offenbar nicht wollen, so will ich’s thun. Ich kann mir diese Ihre außerordentliche Begierde, hinter Miß Gwilt’s Geheimnisse zu kommen, nur auf zweierlei Art erklären. Ihr Beweggrund ist entweder ein unbeschreiblich niedriger, ohne alle Beleidigung sei’s gesagt, Bashwood, ich setze nur den Fall, oder ein höchst edler. Nach meiner Kenntniß Ihres Charakters und nach Ihrer lobenswerthen Ausführung ist es nicht mehr als billig, wenn ich Sie sofort von dem niedrigen Beweggrunde freispreche. Ich halte Sie für ebenso unfähig, wie ich es selbst bin —— mehr kann ich unmöglich sagen —— die Entdeckungen, die Sie in Miß Gwilt’s Vergangenheit zu ihrem Nachtheile machen dürften, zu eigennützigen Zwecken zu heutigen. Soll ich noch weiter fortfahren, oder werden Sie es jetzt vorziehen, sich offen gegen mich auszusprechen?«

»Ich möchte Sie lieber nicht unterbrechen, Sir«, sagte Mr. Bashwood.

»Wie Sie wollen«, fuhr Mr. Pedgift fort. »Da ich Sie von dem niedrigen Beweggründe freigesprochen, komme ich zunächst auf den edlen. Möglich daß Sie ein ungewöhnlich dankbarer Mensch sind, und es unterliegt keinem Zweifel, daß Mr. Armadale ganz außerordentlich gütig gegen Sie gewesen ist. Nachdem er Sie unter Mr. Midwinter im Administrationsbureau angestellt, hat er Ihnen, als ihn sein Freund verlassen, ein hinlängliches Vertrauen auf Ihre Rechtlichkeit und Fähigkeit bewiesen, dadurch daß er seine Angelegenheit gänzlich und rückhaltlos in Ihre Hände gab. Meinen Erfahrungen nach liegt es nicht in der menschlichen Natur, ist aber dessen ungeachtet nicht unmöglich, daß Sie sich dieses Vertrauens so dankbar bewußt sind und ein so dankbares Interesse an dem Wohlergehen Ihres Brodherrn nehmen, daß Sie ihn in seiner gegenwärtigen freundlosen Lage nicht geradezu in seine Schande und sein Verderben rennen sehen können, ohne zu versuchen, ihn zu retten. Um mich kurz zu fassen, glauben ;Sie, daß Mr. Armadale, wenn er von Miß Gwilt’s wahrem Charakter unterrichtet würde, verhindert werden könnte, sie zu heirathen? Und möchten Sie der Mann sein, der ihm die Augen öffnet? Ist dies Fall ——«

Er hielt erstaunt in seiner Rede inne. Mr. Bashwood war, einem unbezwinglichen Impulse weichend, plötzlich aufgesprungen. Nach Athem ringend und mit beiden Händen flehentlich gestikulierend stand er vor dem Advocaten, und auf seinem verwelkten alten Gesicht strahlte ein eigenthümliches Licht, sodaß er wenigstens zwanzig Jahre jünger aussah.

»Sagen Sie’s noch einmal, Sir!« sagte er eifrig, nach Athem ringend, ehe; Mr. Pedgift sich noch von seinem Erstaunen erholt hatte. »Die Frage hinsichtlich Mr. Armadale’s, Sir! Nur noch einmal, Mr. Pedgift, bitte!«

Mr. Pedgift bedeutete ihn, scharf und argwöhnisch Bashwood’s Gesicht fixierend, sich wieder zu setzen, und wiederholte dann die Frage.

»Ob ich glaube«, sagte Mr. Bashwood, den Sinn, doch nicht die Worte derselben wiederholend, »daß Mr. Armadale von Miß Gwilt geschieden werden könnte, wenn sie ihm gezeigt würde, wie sie wirklich ist? Ja, Sir! Und ob ich der Mann sein möchte, der dies thut? Ja, Sir! Ja, Sir! Ja, Sir!«

»Einigermaßen seltsam«, bemerkte der Advocat, indem er ihn immer mißtrauischer anblickte, »daß Sie in eine so gewaltige Aufregung gerathen, blos weil ich zufällig das Rechte getroffen habe.«

Mr. Pedgift ließ sich wenig träumen, wie er mit seiner Frage das Rechte getroffen hatte. Sie befreite Mr. Bashwood’s Gemüth augenblicklich von dem Drucke des einen vorherrschenden Rachegedankens und hatte ihm in der Entdeckung von Miß Gwilt’s Geheimnissen ein Ziel gezeigt, an das er in diesem Augenblicke noch nicht gedacht hatte. Die Heirath, die ihm als unvermeidlich erschienen, konnte noch verhindert werden, nicht etwa in Allan’s Interesse, sondern in seinem eigenen, und das Weib, das er verloren zu haben geglaubt, konnte trotz aller entgegenstehenden Umstände noch gewonnen werden! Sein Gehirn wirbelte, als er daran dachte. Seine Entschlossenheit erschreckte ihn fast durch den fürchterlichen Abstand zwischen ihr und all seinen früheren Gewohnheiten und dem ganzen Verhalten während seines bisherigen Lebens.

Da seine letzte Bemerkung unbeantwortet blieb, überlegte Mr. Pedgift ein wenig, ehe er weiter sprach.

»Eins ist klar«, dachte der Advocat »Sein wahrer Beweggrund in dieser Angelegenheit ist der Art, daß er sich scheut, ihn zu verrathen. Meine Frage gab ihm offenbar eine Gelegenheit, mich irre zu leiten, und er benutzte diese augenblicklich. Das genügt mir. Wäre ich Mr. Armadale’s Anwalt, so dürfte es sich vielleicht der Mühe verlohnen, das Geheimniß zu ergründen. So aber hat es durchaus kein Interesse für mich, den Mann von einer Lüge zur andern zu hetzen, bis ich ihn endlich fange. Mich geht die Sache nichts an, ich werde ihm überlassen, in seiner eigenen weitschweifigen Weise seinen Zweck zu erreichen.«

Zu diesem Schlusse gelangt, schob Mr. Pedgift seinen Sessel zurück und stand rasch auf, um der Unterredung ein Ende zu machen.

»Erschrecken Sie nicht, Bashwood«, begann er. »Der Gegenstand unserer Unterhaltung ist. soweit er mich betrifft, erschöpft. Ich habe nur noch ein paar Worte hinzuzufügen, und wie Sie wissen, ist es meine Gewohnheit, meine letzten Worte stehend zu sprechen. Worüber ich auch sonst im Unklaren sein mag, eine Entdeckung habe ich jedenfalls gemacht. Ich bin endlich dahinter gekommen, was Sie eigentlich von mir wollen. Sie wollen, daß ich Ihnen helfe.«

»Wenn Sie die außerordentlich große Güte haben wollten, Sir?« stammelte Bashwood »Wenn Sie mir den großen Vortheil Ihrer Ansicht und Ihres Rathes ——«

»Warten Sie ein wenig, Bashwood. Wir wollen diese beiden Dinge von einander sondern, wenn’s beliebt. Ein Advocat darf ebenso gut wie jeder Andere eine Meinung aussprechen, aber wenn’s zum Rathen kommt, Sir, so wird die Geschichte zu einer Geschäftssache! Meine Ansicht von der Angelegenheit steht Ihnen gern zu Diensten; ich habe sie Niemand verhehlt. Ich glaube, daß in Miß Gwilt’s Carriere Dinge vorgekommen sind, die, wenn sie aufgedeckt werden könnten, selbst Mr. Armadale, trotz seiner Verblendung, von der bewußten Verbindung zurückschrecken dürften, vorausgesetzt, daß er sie wirklich heirathen will. Was aber die Mittel und Wege betrifft, um die Flecken auf dem Charakter dieses Frauenzimmers mit der Zeit ans Tageslicht zu bringen —— wenn es ihr beliebt, kann sie vermittelst eines Dispensscheines in vierzehn Tagen verheirathet sein so ist dies ein Theil der Frage, auf den ich entschieden nicht eingehen kann. Das hieße als Rechtsanwalt reden und Ihnen meinen amtlichen Rath geben, was ich zu thun geradezu ablehne.«

»O Sir, sagen Sie das nicht!« flehte Mr. Bashwood. »Versagen Sie mir nicht die große Gunst, den unschätzbaren Vortheil Ihres Rathes! Ich habe einen so schwachen Kopf, Mr. Pedgift! Ich bin so alt und so langsam, Sir, und ich werde so unsicher und verwirrt, wenn ich aus meiner gewohnten Weise herausgeworfen werde. Es ist sehr natürlich, daß Sie ein wenig ungeduldig sind, weil ich Ihre Zeit in Anspruch nehme; ich weiß, daß Zeit Geld ist für einen gescheidten Mann, wie Sie. Wollen Sie mir verzeihen, bitte, wollen Sie mir verzeihen, wenn ich zu erwähnen wage, daß ich eine Kleinigkeit, ein paar Pfund erspart habe, Sir, und da ich ganz allein in der Welt stehe und für Niemand als mich selbst zu sorgen habe, darf ich dies Geld doch gewiß ausgeben, wie mir’s beliebt?«

Gegen Alles blind, nur von dem Verlangen beseelt, Mr. Pedgift zu gewinnen, zog er ein schmutziges, zerrissenes kleines Taschenbuch hervor und suchte es mit zitternden Händen auf dem Arbeitstische des Advoeaten zu öffnen.

»Stecken Sie augenblicklich ihr Taschenbuch wieder ein«, sagte Mr. Pedgift. »Reichere Leute als Sie haben dieses Argument bei mir versucht und die Entdeckung gemacht, daß es nicht blos auf der Bühne Advocaten gibt, die sich nicht bestechen lassen. Unter den obwaltenden Umständen will ich nichts mit der Sache zu thun haben. Wollen Sie wissen warum, so lassen Sie sich sagen, daß ich an dem Tage, wo ich Mr. Armadale’s Rechtsanwalt zu sein aufhörte, alles geschäftliche Interesse für Miß Gwilt verlor. Außerdem könnte ich noch andere Gründe haben, die zu erwähnen ich nicht für nothwendig erachte. Der bereits angeführte Grund ist völlig ausreichend. Gehen Sie nach eigenem Ermessen zu Werke und laden Sie die Verantwortung auf Ihre eigenen Schultern. Vielleicht dürfen Sie sich innerhalb des Bereichs von Miß Gwilts Krallen wagen, ohne zerkratzt zu werden. Die Zeit wird’s lehren. Inzwischen wünsche ich Ihnen einen guten Morgen und gestehe zu meiner Schande, daß ich bis auf den heutigen Tag keine Ahnung davon hatte, welch ein Held Sie seien.«

Diesmal fühlte Mr. Bashwood den Stich. Ohne noch ein Wort der Gegenvorstellung oder der Bitte hinzuzufügen, ohne selbst nur den Gruß zu erwidern, ging er zur Thür, öffnete dieselbe leise und schritt hinaus.

Sein Gesichtsausdruck beim Hinausgehen und seine plötzliche Stille gingen nicht unbemerkt an Mr. Pedgift vorüber. »Bashwood wird ein schlechtes Ende nehmen«, sagte der Advocat, seine Papiere zurechtlegend und völlig unerschüttert zu seiner unterbrochenen Beschäftigung zurückkehrend.

Die Veränderung in Mr. Bashwood’s Gesicht und Wesens, in denen sich jetzt etwas Trotziges und Zuversichtliches verrieth, war so sehr seinem Charakter zuwider, daß sie sogar die Aufmerksamkeit des jüngeren Pedgift und der Schreiber erregte, als er durch das äußere Expeditionszimmer hinausging. Gewohnt, den alten Mann zur Zielscheibe ihrer Scherze zu machen, faßten sie die auffallende Veränderung in ihm mit lauter Heiterkeit vom komischen Gesichtspunkte auf. Völlig taub gegen die unbarmherzigen Neckereien, mit denen er von allen Seiten bestürmt wurde, blieb Bashwood vor dem jungen Pedgift stehen und sagte, ihm aufmerksam ins Gesicht blickend, ruhig zerstreut, wie ein laut Denkenden »Ob Sie mir wohl helfen würden?«

»Eröffnen Sie augenblicklich ein Conto auf Mr. Bashwood’s Namen«, sagte der jüngere Pedgift zu den Schreibern. »Geben. Sie Mr. Bashwood einen Sessel und einen Schemel daneben, für den Fall, daß er desselben bedürfte. Reichen Sie mir ein Buch extra feinen Briefpapiers und ein Gros Federn, damit ich mir Notizen über Mr. Bashwood’s Angelegenheit machen kann, und unterrichten Sie augenblicklich meinen Vater, daß ich von ihm abgehe und mich, auf Mr. Bashwood’s Gönnerschaft hin, auf eigene Hand etabliere. Nehmen Sie Platz, Sir, bitte, nehmen Sie Platz und machen Sie Ihren Gefühlen Luft.«

Mr. Bashwood wartete, noch immer gegen die Neckereien taub, deren Gegenstand er war, bis Pedgift der jüngere zu Ende war, und wandte sich dann ruhig ab.

»Ich hätte es besser wissen sollen«, sagte er mit demselben zerstreuten Wesen wie zuvor. »Er ist der echte Sohn seines Vaters; noch auf meinem Sterbebette würde er seinen Scherz mit mir treiben.« Einen Augenblick blieb er an der Thür stehen, glättete mit der Hand mechanisch seinen Hut und ging dann auf die Straße hinaus.

Der helle Sonnenschein blendete ihn, die vorüber kommenden Fuhrwerke und Fußgänger erschreckten und verwirrten ihn. Er drückte sich in eine Nebengasse und bedeckte die Augen mit der Hand.

»Besser wird es sein, ich gehe nach Hause«, dachte er, »wo ich mich einschließen und mir die Sache ungestört überlegen kann.«

Seine Wohnung befand sich in einem kleinen Häuschen im ärmlichsten Theile der Stadt. Das eine kleine Zimmer, welches er bewohnte, mahnte ihn überall, wohin er sich wandte, aufs grausamste an Miß Gwilt. Auf dem Kaminsimse standen die Blumen, die sie ihm bei verschiedenen Gelegenheiten gegeben, alle längst verwelkt, aber sorgfältig in einer kleinen porzellanenen Vase unter einer Glasglocke aufbewahrt. An der Wand hing ein jämmerliches buntes Gemälde von einer Dame, das er sauber hatte einrahmen lassen, weil etwas in dem Gesichte ihn an sie erinnerte. In seinem plumpen alten Mahagonischreibpulte lagen die wenigen kurzen und gebieterischen Briefe, die sie ihm damals geschrieben, als er ihr zu Liebe in Thorpe-Ambrose das niedrige Amt eines Spähers übernommen hatte. Und als er, diesen Gegenständen den Rücken wendend, sich müde aus sein altes Schlafsopha niedersetzte, hing dort über das eine Ende desselben das prachtvolle Halstuch von blauem Atlas, welches er gekauft, weil sie ihm gesagt hatte, sie liebe bunte Farben, und das er noch nie sich zu tragen getraut, obgleich er es einen Morgen wie den andern zu diesem Zwecke herausgenommen hatte. Wiewohl von Natur ruhig in seinen Handlungen und in seinen Ausdrücken gemäßigt, ergriff er doch jetzt diese Cravatte, als ob sie ein lebendes, mit Gefühl begabtes Wesen sei, und schleuderte sie mit einem Fluche in eine Ecke des Zimmers.

Die Zeit verging, und obschon sein Entschluß, sich zwischen Miß Gwilt und ihre Heirath zu stellen, noch so fest stand wie vorher, war er doch nach wie vor noch immer ebenso weit von den Mitteln entfernt, diesen seinen Zweck zu erreichen. Je mehr er darüber nachsann, um so dunkler lag die Zukunft vor ihm.

Er stand wieder auf, noch ebenso müde, wie er sich niedergesetzt hatte, und ging an seinen Schrank. »Ich fühle mich fiebernd und durstig«, sagte er; »eine Tasse Thee kann mir vielleicht gut thun!« Er öffnete die Theebüchse und maß seine kleine Portion weniger sorgfältig als gewöhnlich ab. »Selbst meine eigenen Hände versagen mir heute den Gehorsam!« dachte er, indem er die wenigen Theeblättchen zusammenstrich die er verschüttet hatte, und vorsichtig wieder in die Büchse that.

Bei dem schönen Sommerwetter brannte im Hause nur ein Feuer, das in der Küche. Er ging daher mit dem Theetopfe in der Hand hinunter, um kochendes Wasser aufzugießen.

Blos die Hauswirthin war in der Küche Sie war eine von jenen Frauen, deren Pfad durchs Leben ein Dornenpfad ist und die, sowie sich nur eine Gelegenheit dazu darbietet, ein trübseliges Vergnügen daran finden, die Füße ihrer irdischen Mitpilger ebenso zerkratzt und blutend wie die ihrigen zu erblicken. Ihr einziges Laster war geringerer Art, es war das der Neugier, und zu den vielen Tugenden, die demselben das Gegengewicht hielten, gehörte die einer großen Achtung für Mr. Bashwood, als einen Miethsmann, der regelmäßig seine Miethe zahlte und dessen Benehmen vom Anfang bis zum Ende des Jahres das eines gesetzten und höflichen Mannes blieb.

»Was belieben Sie zu wünschen, Sir?« fragte die Wirthin. »Kochendes Wasser, nicht wahr? Ist es Ihnen jemals vorgekommen, Mr. Bashwood, daß das Wasser gekocht hat, wenn Sie desselben bedurften? Haben Sie je ein widerspenstigeres Feuer gesehen als dies hier? Ich will ein paar Holzstücke unterlegen, wenn Sie ein Weilchen warten wollen. Du meine Güte, ich hoffe, Sie werden mir die Bemerkung verzeihen, Sir, aber Sie sehen heute außerordentlich elend aus!«

Der Druck auf Mr. Bashwood’s Gemüth begann auf ihn zu wirken. Die Hilflosigkeit, die sich auf dem Bahnhofe an ihm bemerkbar gemacht, verrieth sich abermals in seinem Gesicht und seinem Wesen, als er den Theetopf auf den Küchentisch stellte und sich niedersetzte.

»Ich habe Sorgen, Madame«, sagte er ruhig« »und finde, daß sich dieselben, je älter man wird, immer schwerer ertragen lassen.«

»Ah, das dürfen Sie wohl sagen!« stöhnte die Wirthin. »Ich halte mich gern für den Todtengräber bereit, Mr. Bashwood, wenn meine Zeit kommt. Sie leben zu einsam, Sir. Wenn man in Noth ist, so hilft es immer ein wenig, obgleich nicht viel, wenn man einen Theil derselben einem Andern zuschieben kann. Wäre nur Ihre liebe Frau jetzt noch am Leben, Sir, würde sie nicht ein großer Trost für Sie gewesen sein?«

Ein Ausdruck von Schmerz glitt über Mr. Bashwood’s Gesicht. Ohne es zu wissen, hatte ihn die Wirthin an die Leiden seines ehelichen Lebens erinnert. Längst hatte er ihre Neugier über seine Familienangelegenheiten befriedigen und ihr sagen müssen, daß er ein Wittwer wäre und daß seine häuslichen Verhältnisse keine glücklichen gewesen seien, weiter aber hatte er ihr keinen Zutritt zu seinem Vertrauen gestattet. Die traurige Geschichte, welche er Midwinter von seiner trunksüchtigen Frau erzählt, die ihr jämmerliches Leben in einem Irrenhause beschlossen, hatte er sich gescheut, dem geschwätzigen Weibe mitzutheilen, das sie unfehlbar jedem Inwohner des Hauses anvertraut haben würde.

»Wenn mein Mann traurig ist, Sir«, fuhr die Wirthin, das Sieden des Kessels beaufsichtigend, fort, »so sage ich ihm stets: »Was würdest Du jetzt wohl ohne mich angefangen haben, Sam?« Und wenn er dann nicht eben schlechter Laune ist —— es wird gleich kochen, Mr. Bashwood —— so antwortet er: »Elisabeth, ich wüßte nicht, was ich anfangen sollte? Wenn er sich aber von seiner üblen Laune fortreißen läßt, sagt er: »Ich würde es mit den Schnapsläden versuchen, Frau, und ich will es jetzt sogleich versuchen.« O, ich habe auch meine Noth! Einen Mann mit erwachsenen Söhnen und Töchtern, der in den Schenken umherliegt! Ich entsinne mich nicht, Mr. Bashwood, ob Sie jemals Söhne und Töchter hatten, und doch ist mir’s seht, wie ich daran denke, als ob Sie gesagt, Sie hätten welche. Töchter, nicht wahr, Sir? Und du mein Himmel, ja, ja, versteht sich, alle todt!«

»Ich hatte eine Tochter, Madame«, sagte Mr. Bashwood geduldig, »nur eine, und sie starb, ehe sie ein Jahr alt war.«

»Nur eine einzige!« wiederholte die Wirthin theilnehmend. »Es wird jetzt gleich kochen, Sir; geben Sie mir den Theetopf. Nur eine! Ah, es ist um so bitterer, wenn’s ein einzig Kind ist, nicht wahr? Sie sagten, es sei ein einziges Kind gewesen, wenn ich nicht irre, nicht wahr, Sir?«

Mr. Bashwood sah die Frau einen Augenblick mit leeren Blicken an, ehe er einen Versuch machte, ihr zu antworten. Hatte sie vorher ahnungslos die Erinnerung an das Weib, das ihn entehrt, in ihm wachgerufen, so that sie jetzt dasselbe mit der Erinnerung an den Sohn, der ihn zu Grunde gerichtet und im Stiche gelassen hatte. Zum ersten Male seit jener Unterhaltung im Herrnhause in welcher er Midwinter seine Geschichte erzählt hatte, dachte er an die bitteren Enttäuschungen und Leiden der Vergangenheit. Er gedachte jener Zeit, wo er für seinen Sohn gut gesagt und die Unehrlichkeit dieses Sohnes ihn gezwungen hatte, Alles zu verkaufen, was er besaß, um seiner Bürgschaft ledig zu werden.

»Ich habe einen Sohn, Madame«, sagte er, sich bewußt werdend. daß die Wirthin ihn mit stummem und traurigem Erstaunen ansah. »Ich habe mein Möglichstes gethan, ihm in der Welt fortzuhelfen, aber er hat sich sehr schlecht gegen mich benommen.«

»Was Sie sagen!« erwiderte die Wirthin mit der Miene der größten Theilnahme. »Benahm sich schlecht gegen Sie, brach Ihnen fast das Herz, nicht wahr? Ah, früher oder später wird’s ihm kommen. Fürchten Sie nichts! Du sollst Vater und Mutter ehren, war nicht um nichts und wieder nichts auf Moses Steintafeln geschrieben, Mr. Bashwood. Wo mag er wohl sein, und was treibt er jetzt, Sir?«

Die Frage war fast dieselbe, die Midwinter an ihn gerichtet, als ihm die Geschichte erzählt worden war, und Mr. Bashwood beantwortete sie fast mit denselben Worten wie damals.

»Mein Sohn ist in London, Madame, soviel ich weiß. Als ich zuletzt von ihm hörte, war er in nicht sehr ehrenvoller Weise beschäftigt, bei dem geheimen Nachfragecomptoir ——«

Bei diesen Worten hielt er plötzlich inne. Sein Gesicht erglühte, seine Augen leuchteten; er schob die Tasse von sich, die so eben für ihn gefüllt worden, und stand auf. Die Wirthin trat einen Schritt zurück. Im Gesichte ihres Miethsmannes lag etwas, was sie nie zuvor darin gesehen hatte.

»Ich hoffe, daß ich Sie nicht beleidigt habe, Sir«, sagte die Frau, ihre Fassung wiederfindend und mit einer Miene, als ob sie selbst auf den leisesten Wink bereit sei, sich beleidigt zu fühlen.

»Ganz im Gegentheil, Madame, ganz im Gegentheilt« erwiderte er mit eigenthümlicher Hast. »Ich habe so eben an etwas gedacht, etwas sehr Wichtiges. Ich muß hinaufgehen, ich habe einen Brief, ja, einen Brief zu schreiben. Ich werde dann wieder herunterkommen, um meinen Thee zu trinken, Madame. Verzeihen Sie, Madame, ich bin Ihnen sehr verbunden, Sie sind stets sehr gütig gegen mich gewesen, für jetzt will ich mich von Ihnen verabschieden, wenn Sie’s erlauben.« Und zum größten Erstaunen der Wirthin drückte er ihr herzlich die Hand und eilte zur Thür hinaus, Thee und Theetopf ihrem Schicksal überlassend.

Auf seinem Zimmer angelangt, schloß er sich dort ein. Eine kleine Weile blieb er, sich an dem Kaminsimse festhaltend, stehen, bis er wieder zu Athem kam. Sobald er sich wieder rühren konnte, öffnete er das auf dem Tische stehende Schreibpult. »So diel scher’ ich mich um Euch, Mr. Pedgift und Sohn!« sagte er, mit den Fingern ein Schnippchen schlagend. »Ich habe auch einen Sohn.«

An der Thür ließ sich ein Klopfen hören, ein leises, rücksichtsvolles, vertrauliches Klopfen. Die besorgte Wirthin wollte wissen, ob Mr. Bashwood krank sei, und drückte zum zweiten Male ihre ernstliche Hoffnung aus, daß sie ihn nicht beleidigt habe.

»Nein, nein!« rief er ihr durch die geschlossene Thür zu. »Ich befinde mich ganz wohl, ich schreibe, Madame, ich schreibe; bitte, entschuldigen Sie mich. Sie ist eine gute Frau, sie ist eine vortreffliche Frau«, dachte er, als die Wirthin sich wieder entfernt hatte. »Ich will ihr ein kleines Geschenk machen. Ich fühle mich so verstört, daß ich ohne sie nimmer daran gedacht haben würde. Ach wenn nur mein Sohn noch auf jenem Comptoir ist! Ach wenn ich ihm nur einen Brief schreiben kann, der sein Mitleid für mich erweckt!«

Er ergriff die Feder und saß lange ängstlich nachsinnend da, ehe er sie zum Schreiben ansetzte Langsam und unter vielen Pausen zu wiederholtem Nachsinnen und mit mehr als gewohnter Sorgfalt, seine Schrift klar und leserlich zu machen, schrieb er dann folgende Zeilen:

»Mein lieber James! Wie ich fürchte, wirst Du erstaunt sein, meine Handschrift zusehen. Bitte, denke nicht, daß ich Dich um Geld bitten oder Dir Vorwürfe machen will, daß Du mich um Haus und Hof gebracht hast, als ich meine Bürgschaft für Dich einlösen mußte. Ich bin bereit und willig, das Geschehene zu verzeihen und Vergangenes zu vergessen.

Wenn Du noch bei dem geheimen Nachfragecomptoir angestellt bist, liegt es in Deiner Macht, mir einen großen Dienst zu leisten. Ich bin in großer Sorge und Unruhe um eine Person, an der ich Interesse nehme. Es ist dies eine Dame. Bitte, spotte nicht, daß ich dies bekenne, wenn Du irgend umhin kannst. Hättest Du eine Vorstellung von dem, was ich leide, so würdest Du gewiß mich eher bemitleiden als verspotten.

Ich würde mich auf Einzelheiten einlassen, doch ich kenne Deine Ungeduld und fürchte sie zu erregen. Vielleicht wird es genügen, wenn ich sage, ich habe Grund zu glauben, daß die Vergangenheit der Dame keine sehr ehrenvolle gewesen ist, und daß ich ein großes, ein unbeschreiblich großes Interesse daran nehme, zu erfahren, welcher Art ihre Lebensweise in Wirklichkeit gewesen, daß ich auch diese Aufklärung innerhalb vierzehn Tagen zu erlangen wünsche.

Obgleich mir von der Geschäftspraxis in einem Comptoir wie dem Deinigen wenig oder nichts bekannt ist, kann ich doch leicht begreifen, daß ohne die gegenwärtige Adresse der Dame nichts auszurichten ist. Leider ist mir dieselbe noch nicht bekannt. Ich weiß nur, daß sie heute in Begleitung eines Herrn nach der Hauptstadt gereist ist, in dessen Diensten ich stehe und der, wie ich vermuthe, ehe noch viele Tage vergehen, um Geld an mich schreiben wird.

Ist dieser Umstand von einer Beschaffenheit, uns nützen zu können? Ich wage mich des Wortes »uns« zu bedienen, weil ich bereits aus Deinen freundlichen Rath und Beistand rechne, mein lieber Sohn. Laß Dich durch etwaige Kosten nicht abschrecken, ich habe ein Weniges erspart und das soll Dir ganz zur Verfügung stehen. Bitte, schreibe mir mit umgehender Post! Wenn Du nur Dein Möglichstes thun willst, um der fürchterlichen, Ungewißheit ein Ziel zu setzen, die mich jetzt quält, so wirst Du dadurch all den Kummer wieder gut machen, den Du mir in der Vergangenheit verursacht hast, und außerdem zu ewigem Danke verpflichten

Deinen Dich liebenden Vater

Felix Bashwood.«

Nach einer kleinen Pause, während welcher er sich die Augen getrocknet, fügte Mr. Bashwood seine Adresse und das Datum hinzu und adressirte den Brief an seinen Sohn auf dem »Geheimen Nachfragecomptoir, Shadyside-Place, London«. Darauf machte er sich sofort auf, den Brief selbst auf die Post zu tragen. Es war dies am Montag, und wurde die Antwort umgehend gesandt, so mußte sie am Mittwoch Morgen eintreffen.

Den dazwischenliegenden Tag, den Dienstag, brachte Mr Bashwood in seiner Expedition im Herrnhause zu. Er hatte einen doppelten Beweggrund, sich so sehr als möglich in die mannichfachen Beschäftigungen zu vertiefen, die mit der Gutsverwaltung in Verbindung standen. Erstens half unausgesetzte Beschäftigung ihm die verzehrende Ungeduld zügeln, mit der er dem folgenden Tage entgegensah, und zweitens würde er, je mehr er in den Verwaltungsgeschäften vorarbeitete, um so ungehinderter seinen Sohn in London aufsuchen können, ohne durch offene Vernachlässigung der ihm anvertrauten Interessen Verdacht auf sich zu lenken.

Am Dienstag, gegen Nachmittag, fanden unbestimmte Gerüchte daß sich im Parkhäuschen etwas ereignet habe, durch Major Milroy’s Leute den Weg zur Dienerschaft des Herrnhauses und suchten vermittelst dieses letzteren Kanals Mr. Bashwood’s Aufmerksamkeit zu erregen, die jedoch unerschütterlich auf andere Dinge gerichtet blieb. Der Major und Miß Neelie waren, so hieß es, zu geheimnißvoller Besprechung mit einander eingeschlossen gewesen, und Miß Neelie’s Gesicht hatte am Schlusse der Unterredung deutliche Spuren von Thränen gezeugt. Dies hatte sich am Montag Nachmittag begeben und am folgenden Tage, dem gegenwärtigen Dienstage, hatte der Major den ganzen Haushalt durch die kurze Ankündigung in Erstaunen gesetzt, daß seine Tochter der Seeluft bedürfe und er selbst sie mit dem nächsten Zuge nach Lowestoft zu begleiten gedenke. Sie waren zusammen abgereist, beide sehr ernst und schweigsam, dem Anscheine nach aber nichtsdestoweniger im besten Vernehmen mit einander. Die Meinung im Herrnhause schrieb diese häusliche Umwälzung den Gerüchten zu, die über Allan und Miß Gwilt im Umlauf waren. Das Publikum im Parkhäuschen verwarf aber diese Lösung des Geheimnisses aus praktischen Gründen. Miß Neelie war vom Montag Nachmittag bis zum Dienstag Morgen, wo ihr Vater mit ihr abreiste, allein in ihrem Zimmer eingeschlossen geblieben. Während dieser Zeit war der Major nicht aus dem Hause gegangen und hatte Niemand gesprochen. Und Mrs. Milroy hatte, sowie ihre neue Wärterin den Versuch gemacht, ihr den neuesten Stadtskandal mitzutheilen, bei der ersten Nennung von Miß Gwilt’s Namen der Dienerin die Lippen geschlossen, indem sie einen ihrer fürchterlichen Wuthanfälle bekommen hatte. Natürlich mußte etwas, vorgefallen sein, das Major Milroy veranlaßt, so plötzlich mit seiner Tochter abzureisen, aber dieses Etwas war sicherlich nicht Mr. Armadale’s empörendes Durchgehen mit Miß Gwilt.

Der Nachmittag verging, der Abend verging, und es geschah weiter nichts als das Familienereignis im Parkhäuschen. Nichts fiel vor, denn nach der Natur der Dinge konnte gar nichts der Art vorfallen, was die Täuschung auf die Miß Gwilt gerechnet hatte, die Täuschung, die jetzt ganz Thorpe-Ambrose mit Mr. Bashwood theilte, daß sie nämlich als Allan’s künftige Gattin heimlich mit Allan nach London gereist sei, hätte beseitigen können.

Am Mittwoch früh, als der Briefträger in die Straße einbog, in der Mr. Bashwood wohnte, begegnete er diesem selbst, der in seiner Begierde zu erfahren, ob ein Brief für ihn da sei, ohne seinen Hut aus dem Hause gekommen war. In der That war ein Brief für ihn da, der Brief, den er von seinem landstreicherischen Sohne ersehnt hatte.

Der jüngere Bashwood beantwortete seines Vaters Flehen um Hilfe, nachdem er zuvor seinen Vater lebenslänglich zu Grunde gerichtet hatte, in folgenden Ausdrücken:

»Shadyside-Place,
Dienstag den 29. Juli.

Mein lieber Alter! Wir haben auf unserm Comptoir einige Praxis in Geheimnissen, allein das Geheimniß Deines Briefes geht ganz über meine Begriffe. Speculirst Du etwa auf die interessanten verborgenen Schwächen eines reizenden Weibes? Oder gedenkst Du, nach Deinen ehelichen Erfahrungen, wirklich in Deinen Jahren noch daran, mich mit einer Stiefmutter zu beschenken? Was es auch sei, ich gebe Dir mein Wort, daß Dein Brief mich interessiert.

Ich scherze nicht, obwohl es nicht leicht ist, der Versuchung dazu zu widerstehen. Im Gegentheil, ich habe Dir bereits eine Viertelstunde meiner kostbaren Zeit geopfert. Der Ort, von dem Du Deinen Brief datierst, schien mir bekannt. Ich sah in unserm Memorandumbuche nach und fand, daß ich vor nicht langer Zeit nach Thorpe-Ambrose gesandt worden war, um heimliche Nachforschungen anzustellen. Meine Auftraggeberin war eine lebhafte alte Dame, die zu pfiffig war, um uns ihren richtigen Namen und Wohnort anzugeben. Wie sich’s von selbst verstand, machten wir uns unverzüglich ans Werk und erfuhren richtig, wer sie war. Sie heißt Mr. Oldershaw, und gedenkst Du sie zu meiner Stiefmutter zu machen, so rathe ich Dir aufrichtig, Dir’s noch einmal zu überlegen, ehe Du sie mit dem Namen Bashwood beglückst.

Ist es nicht Mrs. Oldershaw, so kann ich für jetzt nichts weiter thun, als Dir sagen, wie es Dir vielleicht gelingt, die Adresse der unbekannten Dame zu erfahren. Komme, sowie Du den erwarteten Brief von dem Herrn erhalten, mit dem sie fortgelaufen sein soll —— ich hoffe um Deinetwillen, daß er kein schöner junger Mann ist —— nach London und suche mich hier auf. Ich will Dir Jemand mitgeben, der Dir behilflich ist, sein Hotel oder seine Wohnung zu beobachten, und wenn er mit der Dame oder die Dame mit ihm irgendwie verkehrt, so magst Du Dich von dem Augenblicke an ihrer Adresse versichert halten. Laß mich sie nur einmal identificiren und wissen, wer sie ist, und Du sollst alle ihre charmanten kleinen Geheimnisse so klar und deutlich vor Dir sehen wie dieses Blatt Papier, auf dem Dein liebevoller Sohn jetzt an Dich schreibt.

Noch ein Wort in Bezug auf die Bedingungen. Ich bin ebenso sehr geneigt wie Du, wieder auf freundschaftlichem Fuße mit Dir zu stehen, doch kann ich, wiewohl ich zugebe, daß Du einst etwas durch mich verloren hast, unmöglich durch Dich verlieren. Es muß feststehen, daß Du für alle Ausgaben der Nachforschungen verantwortlich bist. Ist Deine Dame zu schlau oder zu hübsch, als daß man einen Mann gegen sie anwenden könnte, so müßten wir eine der zu diesem Comptoir gehörigen Frauen verwenden. Das wird Fiakerlohn, Briefmarken, Billets zu öffentlichen Vergnügungsorten, falls sie hierzu neigt, Schillinge für Kirchstuhlschließerinnen kosten, wenn sie in Frömmigkeit macht und unsere Leute mit in die Kirchen nimmt, um beliebte Prediger zu hören, und so weiter. Meine eigenen Dienste sollst Du gratis haben; aber außerdem kann ich nicht noch durch Dich verlieren. Behalte nur dies im Auge, und Du sollst haben, was Du verlangst. Das Geschehene sei geschehen und die Vergangenheit vergessen.

Dein zärtlicher Sohn

James Bashwood.«

In seinem Entzücken, endlich Hilfe nahe zu sehen, drückte der Vater den abscheulichen Brief des Sohnes an die Lippen. »Mein guter Junge!« murmelte er liebevoll. »Mein lieber, guter Junge!«

Er legte den Brief nieder und versank in neues Nachdenken. Die nächste Frage war die sehr ernstliche betreffs der Zeit. Mr. Pedgift hatte ihm gesagt, Miß Gwilt könne in vierzehn Tagen verheirathet sein. Ein Tag von diesen vierzehn war bereits verstrichen und ein zweiter dem Ende nahe. Ungeduldig schlug er mit der Hand auf den Tisch, indem er dachte, wie bald der Geldmangel Allan wohl von London an ihn zu schreiben nöthigen werde. »Morgen vielleicht?« fragte er sich. »Oder übermorgen?«

Der folgende Tag verging und es kam nichts. Der nächste Tag kam und brachte den Brief. Derselbe handelte von Geschäften, wie er erwartet hatte, und forderte Geld, wie er ebenfalls erwartete, und am Schlusse in einer Nachschrift war die Adresse hinzugefügt, worauf der Brief mit den Worten: »Sie mögen bis auf weitere Nachricht darauf rechnen, daß ich hier bleibe«, schloß.

Bashwood that einen tiefen Athemzug der Erleichterung und beschäftigte sich, obschon bis zum nächsten Zuge nach London noch zwei Stunden vergehen mußten, augenblicklich mit dem Einpacken seiner Reisetasche. Das Letzte, was er in diese hinein that, war die blaue Atlascravatte. »Sie liebt bunte Farben«, sagte er, »und sie soll mich doch noch darin zusehen bekommen!«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

»All-Saints-Terrace, New-Road, London.
Montag Abend, den 28. Juli.

Ich bin so müde, daß ich mich kaum aufrecht halten kann, aber in meiner kritischen Lage darf ich mich nicht auf mein Gedächtniß verlassen. Ehe ich mich schlafen lege, muß ich meinen gewohnten Bericht über die Ereignisse des Tages niederschreiben.

Bis hierher hat es den Anschein, als ob die Wendung, die das Schicksal zu meinen Gunsten genommen —— und es ließ sich Zeit, ehe es sich zu dieser Wendung entschloß! —— andauern wollte. Es gelang mir, Armadale dazu zu zwingen —— der Mensch war durch nichts Geringeres als Zwang zu bewegen —— mit mir allein in einem Wagen von Thorpe-Ambrose nach London zu reisen, und zwar angesichts all der Leute, die auf dem Perron standen. Eine förmliche Versammlung von Leuten; die in kleinlichem Klatsch machen, stand da beisammen, die uns grob anstierten und offenbar ihre Schlüsse zogen. Ich müßte mich sehr in Thorpe-Ambrose getäuscht haben, wenn der ganze Ort nicht in diesem Augenblicke von Mr. Armadale und Miß Gwilt voll ist.

Während der ersten halben Stunde unserer Fahrt hatte ich einige Noth mit ihm. Der Schaffner —— der vortreffliche Mann, ich war ihm so dankbar! —— hatte uns, offenbar in Erwartung eines Trinkgeldes am Ende der Reise, allein mit einander eingeschlossen. Armadale war argwöhnisch gegen mich und ließ dies deutlich merken. Nach und nach aber zähmte ich mein wildes Thier, theils indem ich keine Neugier über den Zweck seiner Reise nach der Stadt verrieth, theils indem ich sein Interesse für seinen Freund Midwinter erweckte, wobei ich namentlich die Gelegenheit hervorhob, die sich jetzt zu einer Versöhnung zwischen ihnen darböte. Bei diesem Gegenstande verweilte ich, bis es mir gelungen war, seine Zunge zu lösen, und er mich unterhalten mußte, wie es einem Herrn gebührt, der die Ehre genießt, eine Dame auf einer Eisenbahnfahrt zu begleiten.

Sein Kopf, der so wenig zu fassen vermag, war von seiner eigenen und Miß Milroy’s Angelegenheiten voll. Nicht mit Worten läßt sich beschreiben, welche Unbeholfenheit er zeigte, als er von sich selbst zu schwatzen suchte, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen oder Miß Milroys Namen, auszusprechen Er unterrichtete mich, daß er in einer Angelegenheit von unbeschreiblicher Wichtigkeit für ihn nach London reise. Dieselbe sei für jetzt noch ein Geheimniß, doch hoffe er mir dasselbe bald vertrauen zu dürfen; diese Sache lasse ihn bereits die Verleumdungen, die in Thorpe-Ambrose über ihn in Umlauf gesetzt worden, von ganz anderer Seite betrachten; er sei zu glücklich, um sich darum zu kümmern, was die Klätscher jetzt von ihm sagten, und werde ihnen bald den Mund schließen, in einer neuen Rolle auftretend, die sie alle überraschen werde. In dieser Weise faselte er fort, fest überzeugt, daß ich vollkommen im Unklaren sei. Es war schwer, nicht zu lachen, als ich an meinen anonymen Brief dachte, Or an den Major unterwegs war; doch es gelang mir, wenngleich nur mit großer Mühe, mich zu bemeistern. Im Laufe der Fahrt überfiel mich eine fürchterliche Aufregung; ich glaube, die Sache wuchs mir über den Kopf. Da war ich nun mit ihm allein und plauderte aufs harmloseste und unbefangenste mit dem Menschen, dessen Leben ich, sobald der Augenblick dazu gekommen, aus meinem Pfade hinwegzuräumen gedenke, wie ich wohl einen Flecken aus einem Kleide vertilgen würde. Die Gemüthsbewegung machte mein Blut sieden und trieb es mir in die Wangen. Ein paarmal ertappte ich mich darauf, daß ich weit lauter lachte, als ich es hätte thun sollen, und lange, ehe wir in London anlangten, hielt ich es für gerathen, mein Gesicht hinter dem Schleier zu verstecken.

Als wir in London ausstiegen, hatte ich keine Mühe, ihn zu bewegen, mich im Fiaker nach dem Hotel zu begleiten, wo Midwinter logierte. Er war voller Begierde, sich mit seinem lieben Freunde auszusöhnen, namentlich, wie ich nicht bezweifle, weil er den Beistand dieses lieben Freundes zu seinem heimlichen davonlaufen mit Miß Milroy bedarf. Die wahre Schwierigkeit lag natürlich in Midwinter selbst. Meine unvorbereitete Abreise nach London hatte mir keine Zeit gelassen, an ihn zu schreiben und seine abergläubische Ueberzeugung zu bekämpfen, daß es besser sei, wenn er und sein Freund von einander geschieden blieben. Ich hielt es deshalb für gerathen, Armadale im Fiaker vor dem Hotel warten zu lassen und allein einzutreten, um Midwinter auf ihn vorzubereiten.

Dieser war glücklicherweise nicht aussgangen. Sein Jubel darüber, daß er mich schon einige Tage früher sah, als er erwartet, hatte, so muß ich annehmen, etwas Ansteckendes Bah! Meinem eigenen Tagebuche darf ich schon die Wahrheit bekennen! Aus einen Augenblick vergaß selbst ich ebenso vollständig wie er die ganze Welt außer uns beiden. Mir wars, als sei ich wieder sechzehn Jahre alt, bis ich mich plötzlich des Burschen unten im Fiaker erinnerte; da war ich auf der Stelle wieder fünfunddreißig.

Sein Gesicht veränderte sich, als er hörte, wer unten sei und was ich von ihm verlange; er sah nicht zornig, sondern vielmehr bekümmert aus. Doch gab er bald nicht etwa meinen Ueberzeugungsgründen, denn solche bot ich ihm gar nicht, sondern meinen Bitten nach. Seine alte Liebe zu seinem Freunde mochte möglicherweise dazu beitragen» daß er sich gegen seinen Willen überreden ließ; meine Ansicht ist indeß die, daß ihn hauptsächlich seine Liebe zu mir bestimmte.

Ich wartete in seinem Wohnzimmer, während er nach dem Fiaker hinunterging; deshalb weiß ich nichts von dem, was zwischen ihnen geschah, als sie einander wiedersahen. Aber welch ein Unterschied zwischen den Beiden, als sie zusammen zu mir hinaufkamen. Beide waren sie bewegt, doch in so verschiedener Weise! Der verhaßte Armadale so laut und plump und roh, der liebe, liebenswürdige Midwinter so blaß und ruhig, mit so sanfter Stimme, wenn er sprach, und solcher Zärtlichkeit im Blick, wenn dieser sich mir zuwandte. Armadale übersah mich so vollkommen, als ob ich gar nicht ins Zimmer gewesen wäre. Er dagegen wandte sich in der Unterhaltung fortwährend zu mir; er blickte, wie ich in meinem Winkel dasaß und sie beobachtete, beständig nach mir hin, um zu sehen, was ich dächte; er wollte mich durchaus nach meiner Wohnung begleiten, um mir alle Mühe mit dem Fiakerkutscher und dem Gepäck abzunehmen. Als ich dies dankend ausschlug, zeigte sich in Armadales Gesicht eine unverhohlene Zufriedenheit über die Aussicht, seinen Freund, sobald ich den Rücken gewendet, für sich haben zu können. Als ich fortging, saß er mit seinen weit vor sich auf dem Tische hingespreizten Armen da und schrieb einen Brief (ohne Zweifel an Miß Milroy) und schrie dem Kellner zu, daß er ein Schlafzimmer im Hotel zu haben wünsche. Natürlich hatte ich darauf gerechnet, daß er in demselben Gasthofe bleiben, in dem er seinen Freund finden würde. Es freute mich, meine Erwartungen sich erfüllen zu sehen und zu wissen, daß ich ihn jetzt so gut wie unter meiner Aufsicht habe.

Nachdem ich Midwinter versprochen, ihn wissen zu lassen, wo er mich morgen sehen könne, fuhr ich im Fiaker fort, um mir allein eine Wohnung zu suchen.

Nach einiger Mühe ist es mir geglückt, mir in diesem Hause, wo die Leute mir alle fremd sind, ein erträgliches Wohn- nebst Schlafzimmer zu verschaffen. Nachdem ich die Miethe auf eine Woche vorausbezahlt, denn ich zog dies natürlich etwaigen Erkundigungen über mich vor, finde ich, daß mir gerade noch drei Schillinge und neun Pence übrig bleiben. Unmöglich kann ich Midwinter um Geld bitten, da er schon Mrs. Oldershaw’s Wechsel gezahlt hat. Ich muß morgen meine Uhr und Kette versetzen; ich brauche ja nicht mehr, als was ich auf vierzehn Tage bedarf. Bis dahin oder schon früher wird Midwinter mich geheirathet haben.

Den 29. Juli. Zwei Uhr. Heute ganz früh ließ ich Midwinter durch eine Zeile wissen, daß er mich heute Nachmittag um drei Uhr hier treffen werde. Darauf widmete ich den Vormittag zwei Geschäften. Das erste verdient kaum erwähnt zu werden, es bestand nur im Versetzen meiner Uhr und Kette. Ich erhielt mehr dafür, als ich erwartet hatte, und mehr, selbst wenn ich mir inzwischen eine kleine wohlfeile Sommergarderobe kaufe, als ich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Hochzeitstage werde ausgeben müssen.

Das zweite Geschäft war von weit ernsterer Beschaffenheit. Es führte mich nach einer Advocatenexpedition.

Ich wußte gestern Abend sehr wohl, obgleich ich zu müde war, es in meinem Tagebuche zu bemerken, daß ich Midwinter unmöglich heute Morgen werde sehen können, ohne in unserer gegenwärtigen Beziehung zu einander mir wenigstens den Anschein zu geben, als ob ich ihn über mich und meine Verhältnisse ins Vertrauen zöge. Einen einzigen Punkt ausgenommen, den ich ja nicht aus dem Auge verlieren darf, hindert mich durchaus nichts daran, meine Erfindungsgabe auszubeuten und ihm irgend eine beliebige Geschichte aufzutischen, denn bis jetzt habe ich noch Niemand irgend welche Geschichte erzählt. Was die Milroys betrifft, so konnte ich sie, da ich ihnen die übliche Empfehlung gebracht, glücklicherweise hinsichtlich aller Dinge, die sich ausschließlich auf mich bezogen, mir fern halten, und Midwinter begab sich nach London, ehe es möglich war, den Gegenstand zur Sprache zu bringen. Endlich, als ich auf der Rampe vor seinem Hause meine Aussöhnung mit Armadale bewerkstelligte, hatte dieser die wahnsinnige Großmuth, keinerlei Erklärung oder Vertheidigung meines Charakters von mir zu verlangen. Nachdem ich mein Bedauern darüber ausgedrückt, daß ich meine Selbstbeherrschung verloren und Miß Milroy gedroht, und dann seine Versicherung erhalten hatte, daß Milroy nie daran gedacht, mir ein Unrecht zuzufügen, war er viel zu großmüthig um ein Wort über meine eigenen Angelegenheiten anhören zu wollen. So, bin ich in keiner Weise durch frühere selbst gemachte Angaben gebunden und darf somit irgend eine mir beliebige Geschichte erfinden, mit Berücksichtigung des einen Punktes, dessen ich so eben gedacht. Die Rolle, in der ich in Thorpe-Ambrose auftrat, muß ich, welche sonstigen Erdichtungen ich mir auch gestatte, beibehalten, denn bei der Anrüchigkeit, die meinem andern Namen anhaftet, bleibt mir nichts Anderes übrig, als Midwinter unter meinem Mädchennamen Miß Gwilt zu heirathen.

Diese Erwägung führte mich zum Advocaten. Ich fühlte, daß ich mich, ehe ich Midwinter wiedersähe, darüber unterrichten müsse, welche unangenehmen Folgen es nach sich ziehen könne, wenn ich, eine Wittwe, mich verheirathete, ohne meinen Wittwennamen anzugeben.

Da mir kein anderer Sachwalter bekannt war, dem ich mich anvertrauen durfte, ging ich dreist zu dem Advocaten, der mein Interesse zu jener fürchterlichen Zeit meiner Vergangenheit vertreten hatte, an die zu denken ich mehr als je zu schaudern Grund habe. Er war erstaunt und, wie ich deutlich sehen konnte, nichts weniger als angenehm überrascht, mich zu sehen. Kaum hatte ich die Lippen geöffnet, als er schon sagte, er hoffe, ich sei nicht gekommen, um ihn nochmals (mit großem Nachdruck auf diesem Wort) für mich selbst zu Rathe zu ziehen. Ich benutzte den Wink und richtete die Frage, die mich zu ihm geführt, im Interesse jener bei solchen Gelegenheiten so bequemen Person einer abwesenden Freundin an ihn. Natürlich durchschaute dies der Advocat sofort, aber war schlau genug, sich meine Freundin seinerseits zu Nutze zu machen. Aus Höflichkeit für eine Dame, sagte er, die durch mich repräsentiert werde, wolle er die Frage beantworten; doch müsse er dabei die Bedingung stellen, daß diese Berathung mit ihm durch Stellvertretung nicht weiter bekannt gegeben würde.

Ich ging die Bedingung ein, denn ich achtete ihn wirklich um der schlauen Art und Weise willen, in der er mich fern zu halten wußte, ohne die gebührende Höflichkeit gegen eine Dame zu verlegen. In zwei Minuten hörte ich, was er zu sagen hatte, begriff es ohne Mühe und verließ ihn wieder.

So kurz sie gewesen, hatte die Besprechung doch hingereicht, mich von alledem zu unterrichten, was ich gern wissen wollte. Ich riskiere nichts, wenn ich Midwinter unter meinem Mädchennamen heirathe und meinen Wittwennamen verschweige. Die Heirath ist insofern völlig gültig, als sie nur ungültig gemacht werden kann, wenn mein Mann den Betrug entdeckt und noch während meiner Lebenszeit gerichtliche Schritte thut, die Heirath für null und nichtig zu erklären. So lautete die Antwort des Advocaten in seinen eigenen Worten. Sie befreit mich sofort, in dieser Beziehung wenigstens, von aller Sorge für die Zukunft. Der einzige Betrug, den mein Gatte je entdecken wird, und zwar nur dann, wenn er zufällig zur Stelle ist, ist der, welcher mir Stellung und Einkünfte von Armadale’s Wittwe verleiht, und bis dahin werde ich selbst seine Heirath für immer ungültig gemacht haben.

Halb drei! In einer halben Stunde wird Midwinter hier sein. Ich muß meinen Spiegel fragen, wie ich aussehe. Ich muß meine Erfindungsgabe auffrischen und meine kleine Familiengeschichte erdichten. Bin ich ängstlich dabei? Die Stelle, wo ehedem mein Herz zu sein pflegte, zittert mir etwas —— mit fünfunddreißig Jahren und nach einem Leben, wie das meinige gewesen ist!

Sechs Uhr. So eben ist er fortgegangen. Der Tag unserer Heirath ist bereits festgesetzt.

Ich habe zu ruhen und mich zu sammeln versucht, allein ich kann nicht ruhen. Ich kehre zu diesen Blättern zurück. Seit Midwinter hier war, ist Vieles passiert, was mich nahe angeht und deshalb hier verzeichnet werden muß.

Ich will mit dem anfangen, woran ich am wenigsten gern denken mag, um desto schneller darüber hinwegzukommen, mit dem erbärmlichen Lügengewebe, das ich ihm über meine häuslichen Leiden zurecht gemacht habe.

Was ist nur das Geheimniß der Macht, die dieser Mensch über mich besitzt? Wie kommt es, daß er mich so verändert, daß ich mich selbst nicht mehr kenne? Gestern im Eisenbahnwaggon mit Armadale war ich noch ganz ich selbst. Sicherlich war es doch etwas Schauerliches, während jener ganzen Reise mit jenem lebendigen Menschen zu plaudern und das beständige Bewußtsein zu haben, daß ich seine Wittwe werden will, und dennoch war ich nichts weiter als aufgeregt. Während der langen Stunden schauderte ich keinen Augenblick zurück, mit Armadale zu sprechen, und die erste erbärmliche kleine Unwahrheit, die ich Midwinter sagte, machte mich innerlich erstarren, als ich sah, daß er sie glaubte! Ich fühlte ein fürchterliches hysterisches Würgen im Halse, als er mich bat, nicht von meinen Leiden zu sprechen. Und einmal —— mir graust, wenn ich daran denke —— einmal, als er sagte: »Wenn es möglich wäre, daß ich Dich noch inniger lieben könnte, so würde ich dies jetzt thun«, war ich kein Haarbreit davon entfernt, mich selbst zu verrathen. Ich war auf dem Punkte, auszurufen: »Lügen! Nichts als Lügen! Ich bin ein Teufel in Frauengestalt! Heirathe das jämmerlichste Geschöpf, das in den Straßen umherschleicht, und Du wirst immer noch ein besseres Weib heirathen, als ich bin!« Ja, so erschütterte es mich, als ich seine Augen feucht werden sah und seine Stimme beben hörte, während ich ihn belog. Hunderte von schönem, Hunderte von gescheiteren Männern habe ich gesehen. Was kann dieser Mensch in mir erweckt haben? Ist es Liebe? Ich glaubte geliebt zu haben, um niemals wieder zu lieben. Oder liebt ein Weib etwa nicht, wenn es die Härte eines Mannes ins Wasser treibt? Zu solcher Verzweiflung hat mich einst ein Mann getrieben. Kam all mein damaliges Elend von etwas, das nicht Liebe war? Habe ich bis zu meinem fünfunddreißigsten Jahre gelebt, um erst jetzt zu erfahren, was wirklich Liebe ist? Jetzt, wo es zu spät ist? Lächerlich! Und wozu nützt übrigens das Fragen? Was weiß ich davon? Was weiß überhaupt je ein Weib davon? Je mehr wir darüber nachsinnen, desto mehr täuschen wir uns. Ich wollte, ich wäre als ein Thier in die Welt gekommen. Dann wäre meine Schönheit mir vielleicht von einigem Nutzen gewesen, sie hätte mir vielleicht einen guten Herrn verschafft.

Hier habe ich bereits eine ganze Seite in meinem Tagebuche beschrieben und noch kein Wort gesagt, das von der allermindesten Wichtigkeit für mich ist! Ich muß meine erbärmliche Erdichtung hier sogleich aufzeichnen, solange die Umstände derselben noch frisch in meinem Gedächtnisse leben, oder wie kann ich ihrer sonst später, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, zutreffend erwähnen?

In meiner Erzählung war nichts Neues —— das gewöhnliche Leihbibliothekengewäsch. Ein verstorbener Vater, ein verlorenes Vermögen, ungerathene Brüder, die ich wiederzusehen mich fürchte, eine bettlägerige Mutter, welche sich allein auf meine Hilfe zu verlassen hat —— nein, ich kann’s nicht niederschreiben! Ich hasse mich, ich verachte mich, wenn ich bedenke, daß er es glaubte, weil ich es sagte, daß er sich darüber betrübte, weil er es für meine Geschichte hielt. Lieber will ich riskieren, mir zu widersprechen, ich will es aus Entdeckung und Verderben ankommen lassen, Alles lieber, als noch einen Augenblick bei jenen verächtlichen Lügen verweilen.

Endlich hörten sie wirklich auf. Und dann sprach er von sich selbst und von seinen Aussichten. O welche Erleichterung diese Wendung der Unterhaltung mit sich brachte! Welche Erleichterung sie mir jetzt gewährt!

Er hat das Anerbieten angenommen, wegen dessen er mir nach Thorpe-Ambrose schrieb, und ist jetzt als gelegentlicher auswärtiger Correspondent der neuen Zeitung angestellt. Sein erster Bestimmungsort ist Neapel. Ich wollte, es wäre ein anderer Ort gewesen, denn ich habe gewisse Beziehungen zu Neapel, deren Erneuerung mir durchaus nicht angenehm ist. Es ist bestimmt, daß er England nicht später als am elften nächsten Monats verlassen soll. Dann also muß ich, da ich ihn begleiten soll, als seine Gattin mit ihm gehen.

Mit der Heirath hat es nicht die allergeringste Schwierigkeit. Dieser ganze Theil meines Plans ist so leicht, daß ich Unglück zu fürchten beginne. Der Vorschlag, die Sache streng geheim zu halten, ein Vorschlag, den zu machen mich in Verlegenheit hätte setzen dürfen, kommt von ihm. Da er mich unter seinem wahren Namen heirathet, dem Namen, den er vor aller Welt außer mir und Mr. Brook geheim gehalten, ist es in seinem Interesse daß keine Seele bei der Ceremonie zugegen ist, am allerwenigsten aber sein Freund Armadale. Bereits ist er seit einer Woche in London. Nach Ablauf einer zweiten gedenkt er sich den Heirathsdispens zu verschaffen und sich in der Kirche des Sprengels, dem sein Hotel angehört, mit mir trauen zu lassen. Dies die einzigen nothwendigen Formalitäten. Ich hätte nur ja zu sagen, sprach er zu mir, und mich um die Zukunft weiter nicht zu sorgen. Ich sagte das Ja mit einer so verzehrenden Angst um die Zukunft, daß ich fürchtete, er werde es bemerken. Welche selige Minuten aber waren dann die wenigen nächsten, während er mir entzückende Worte ins Ohr flüsterte, als mein Gesicht auf seiner Brust ruhte.

Ich faßte mich zuerst wieder und brachte ihn auf Armadala da ich meine Gründe hatte zu erfahren, was sie gestern mit einander gesprochen, nachdem ich sie verlassen hatte.

Die Art und Weise, in der Midwinter mir antwortete, verrieth mir, daß er unter dem Zwange einer vertrauten Mittheilung von seinem Freunde spreche. Lange, bevor er geendet, entdeckte ich, worin das Geheimniß bestand. Ganz, wie ich erwartet, hatte ihn Armadale wegen seiner Entführungsheirath zu Rathe gezogen. Obwohl er ihm Vorstellungen dagegen gemacht zu haben scheint, das Mädchen heimlich aus ihrem Hause fortzunehmen, hat Midwinter dem Anscheine nach doch einiges Widerstreben gefühlt, sich zu entschieden über die Sache auszusprechen, sich erinnernd, daß er selbst eine heimliche Heirath im Sinne habe. Jedenfalls entnahm ich aus dem, was er sagte, so viel, daß seine Vorstellungen sehr geringen Eindruck gemacht und daß Armadale seine lächerliche Absicht, den ersten Schreiber in der Expedition seines Londoner Advocaten zu Rathe zu ziehen, bereits verwirklicht hat.

Bei diesem Punkte angelangt, that Midwinter dann die Frage, vor? der ich wußte, daß sie früher oder später kommen müsse. Er fragte, ob ich etwas dawider habe, daß unsere Verlobung unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit seinem Freunde anvertraut werde.

»Ich selber stehe dafür«, sagt »daß Allan das ihm anzuvertrauende Geheimniß bewahren wird, und will, wenn die Zeit kommt, meinen Einfluß über ihn so benutzen, um seine Anwesenheit bei unserer Vermählung und die Entdeckung zu verhindern, daß mein Name derselbe ist, den auch er trägt. Kann ich ihm die Offenheit, mit der er sich über seine eigenen Angelegenheiten gegen mich ausgesprochen, meinerseits mit ähnlicher Offenheit vergelten, so wird mir das helfen, mich etwas kräftiger über die Angelegenheit zu äußern, die ihn nach London geführt hat.«

Es blieb mir nichts Anderes übrig, als die nöthige Erlaubniß zu geben, und ich that dies deshalb. Von der äußersten Wichtigkeit ist mirs, zu erfahren, welche Schritte Major Milroy nach dem Empfange meines anonymen Briefes hinsichtlich seiner Tochter und Armadale’s zu thun gedenkt, und gewinne ich nicht irgendwie Armadale’s Vertrauen, so darf ich fast sicher sein, daß ich darüber im Dunkeln bleiben werde. Ist’s ihm einmal anvertraut, daß ich Midwinter’s Gattin zu werden im Begriff stehe, so wird er Alles, was er seinem Freunde über seine Liebesangelegenheiten mittheilt, auch mir erzählen.

Darüber einig geworden, daß Armadale ins Vertrauen gezogen werde solle, begannen wir wieder von uns selbst zu Plaudern. Wie die Zeit entfloh! Welch süße Seligkeit es war, in seinen Armen Alles zu vergessen! Wie er mich liebt! Ah, der arme Junge, wie er mich liebt!

Ich habe versprochen, ihn morgen Vormittag in Regentspark zu treffen. Je weniger er hier gesehen wird, desto besser. Die Leute in diesem Hause sind mir allerdings fremd, aber es mag doch gerathen sein, noch immer, wie in Thorpe-Ambrose, den Schein zu bewahren und selbst diese Leute nicht ahnen zu lassen, daß ich mit Midwinter verlobt bin. Würden später, nachdem ich mein großes Wagniß ausgeführt, Nachforschungen angestellt, so dürfte das Zeugniß meiner Londoner Hauswirthin von Werth sein.

Jener scheußliche alte Bashwood! Das Wort Thorpe-Ambrose erinnert mich an ihn. Was wird er nur sagen, wenn die Stadtklatschereien ihn benachrichtigen, daß Armadale allein in einem Waggon mit mir nach London gefahren ist! Es ist wirklich zu lächerlich, wenn ein Mensch von Bashwood’s Alter und Aussehen verliebt sein will!

Den 30. Juli.Endlich eine Neuigkeit! Armadale hat von Miß Milroy gehört. Mein anonymer Brief hat gewirkt. Das Mädchen ist bereits aus Thorpe-Ambrose hinweggeschafft und der ganze Entführungsplan auf immer zu Wasser geworden. Dies war das Wesentlichste, was mir Midwinter zu erzählen hatte, als ich ihn im Parke traf. Ich stellte mich im höchsten Grade überrascht und erheuchelte die erforderliche weibliche Neugier wegen aller Einzelheiten. »Nicht etwa, daß ich meine Neugier befriedigt zu sehen hoffe«, fügte ich hinzu, »denn Mr. Armadale und ich sind im Ganzen doch nur oberflächliche Bekannte.«

»Du bist für Allan weit mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft«, sagte Midwinter »Weil ich Deine Erlaubniß dazu hatte, habe ich ihm bereits gesagt, wie nahe Du mir stehst und wie theuer Du mir bist.«

Da ich dies hörte, schien es mir rathsam, ehe ich mich in Fragen über Miß Milroy einließe, meine Aufmerksamkeit zuvor meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen und zu erfahren, welchen Eindruck die Ankündigung meiner bevorstehenden Verheirathung auf Armadale gemacht habe. Es war doch möglich, daß er noch immer Argwohn gegen mich hegte und ihm die Nachforschungen, die er auf Mrs. Milroy’s Eingebung in London über mich anstellte, noch im Sinne lagen.

»Schien Mr. Armadale überrascht zu sein«, fragte ich, »als Du ihm unsere Verlobung meldetest und als Du ihm sagtest, sie müsse geheim gehalten werden?«

»Er schien sehr überrascht, als er hörte, daß wir uns verheirathen würden«, erwiderte Midwinter. »Doch als ich ihm sagte, die Sache müsse geheim gehalten werden, erwiderte er blos, daß vermuthlich von Deiner Seite Familienrücksichten hierfür vorhanden seien.

»Was hast Du auf diese Bemerkung entgegnet?« fragte ich.

»Auf meiner Seite, sagte ich, seien die Familienrücksichten«, erwiderte Midwinter. Und ich hielt es, da ich mich erinnerte, wie Allan sich durch das dumme Mißtrauen in Thorpe-Ambrose gegen Dich hatte irre leiten lassen, nur für recht, hinzuzufügen, daß Du mir Deine ganze traurige Lebensgeschichte mitgetheilt und Dein Widerstreben, unter gewöhnlichen Verhältnissen von Deinen Familienangelegenheiten zu sprechen, völlig gerechtfertigt hättest?«

Ich athmete auf. Er hatte genau gesagt, was gesagt werden mußte, und ganz in der rechten Weise. »Ich danke Dir«, sagte ich, »daß Du mich Deinem Freunde im rechten Lichte dargestellt hast. Wünscht er mich zu sehen?« fragte ich, um wieder zu dem andern Gegenstande, zu Miß Milroy und der Entführung zurückzukommen.

»Er sehnt sich, Dich zu sehen«, sagte Midwinter.

Der arme Junge ist in großer Bekümmerniß; ich habe mein Möglichstes gethan, ihn zu trösten, glaube aber, daß die Theilnahme eines weiblichen Wesens dies weit wirksamer thun kann als die meinige.«

»Wo ist er jetzt?« fragte ich.

Er war im Gasthofe, und ich schlug deshalb augenblicklich vor, uns dorthin zu verfügen. Es ist dies ein stark besuchtes, geschäftiges Haus, und wenn ich meinen Schleier niederlasse, laufe ich dort weniger Gefahr, mich zu compromittiren, als in meiner stillen Wohnung. Außerdem ist es von der größten Wichtigkeit für mich, zu erfahren, was Armadale nach dieser gänzlichen Veränderung der Umstände zunächst vornimmt, denn ich muß sein Thun so weit in meine Gewalt bekommen, daß ich ihn womöglich aus England fortschaffe. Wir nahmen einen Fiaker. Meine Sehnsucht, dem untröstlichen Liebenden meine Theilnahme zu bezeugen, war so groß, daß wir einen Fiaker nahmen!

Etwas so Lächerliches wie Armadale’s Benehmen bei der zwiefachen Erschwerung, welche ihm die Doppelwunde verursacht, daß die junge Dame ihm entrückt und daß ich mich mit Midwinter verheirathen werde, ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Wollte ich ihn ein Kind nennen, so wäre dies eine Verleumdung aller Kinder, die nicht blödsinnig zur Welt gekommen sind. Er beglückwünschte mich wegen meiner bevorstehenden Vermählung und verwünschte das unbekannte Scheusal, das den anonymen Brief geschrieben, wobei er sich wenig träumen ließ, daß er in einem Athem von einer und derselben Person sprach. Einmal gab er unterwürfig zu, daß Major Milroy seine Rechte als Vater habe, und dann tobte er wieder über den Major, weil dieser für nichts Anderes fühlen könne, als für seine Uhr. In der einen Minute sprang er mit Thränen in den Augen auf und erklärte seine Herzens-Neelie für einen Engel, und in der nächsten saß er verdrossen da und meinte, daß ein Mädchen von ihrem Muthe wohl auf der Stelle hätte fliehen und ihn in London treffen können. Nachdem diese lächerliche Komödie eine halbe Stunde gewährt hatte, gelang es mir, ihn zu beruhigen, und dann erlangte ich vermittelst einiger theilnehmender Fragen das, was ich ausdrücklich sehen wollte, nämlich Miß Milroy’s Brief.

Derselbe war unerhört lang und unzusammenhängend, kurz der Brief einer Närrin. Ich mußte durch einen Haufen gemeiner Empfindsamkeit und Lamentation waten und Zeit wie Geduld über weinerlichen Zärtlichkeitsergüssen und widerlichen Küssen, die in Tintenkreise eingeschlossen waren, verlieren, bis ich endlich zu der Auskunft gelangte, die ich suchte und die in Folgendem besteht:

Es scheint, daß der Major unmittelbar nach Empfang meiner anonymen Warnung seine Tochter zu sich bescheiden ließ und ihr den Brief gezeigt hat. »Du weißt, Neelie, welch ein trauriges Leben ich mit Deiner Mutter führe, mache es nicht dadurch noch trauriger, daß Du mich hintergehst.« Mehr sagte der arme alte Herr nicht. Ich habe den Major stets gern gehabt und weiß, daß er mich ebenso gern hatte, obwohl er sich fürchtete, dies merken zu lassen. Seine Worte, falls man ihr glauben darf, schnitten seiner Tochter ins Herz. Sie brach in Thränen aus (man kann sich darauf verlassen, daß sie nie eine Gelegenheit zum Weinen vorübergehen läßt) und bekannte Alles.

Nachdem er ihr Zeit gelassen, sich wieder zu fassen —— es wäre zweckdienlicher gewesen, hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben! —— scheint es, daß der Major ihr gewisse Fragen vorgelegt und gleich mir die Ueberzeugung gewonnen hat, daß seine Tochter wirklich in Armadale verliebt ist. Diese Entdeckung hat ihn offenbar ebenso sehr überrascht als betrübt. Scheinbar hat er gezögert und seine ungünstige Meinung über Miß Neelie’s Liebhaber eine geraume Weile beibehalten. Doch die Thränen und Bitten seiner Tochter haben ihn endlich Wanken gemacht (das sieht dem lieben schwachen alten Herrn so ähnlich!). Obgleich er sich entschieden weigerte, vor der Hand in eine Verlobung einzuwilligen, ließ er sich doch bewegen, die heimlichen Zusammenkünfte im Park zu verzeihen, und Armadale’s Tauglichkeit, sein Schwiegersohn zu werden, durch gewisse Bedingungen auf die Probe zu stellen.

Diese Bedingungen bestehen darin, daß aller Verkehr, der persönliche sowohl als der schriftliche, zwischen seiner Tochter und Armadale für die nächsten sechs Monate abgebrochen bleibt. Die Zwischenzeit soll der junge Herr nach Gefallen und die junge Dame zur Vollendung ihrer Erziehung verwenden. Sind sie nach Ablauf der sechs Monate noch beide desselben Sinnes, und ist Armadale’s Verhalten währenddessen der Art gewesen, um den Major zu einer bessern Meinung von ihm zu berechtigen, so darf er dann um Miß Neelie werben, und wenn während noch fernerer sechs Monate Alles gut geht, soll dann die Heirath stattfinden.

Ich möchte den lieben alten Major küssen, wenn ich ihn nur hier hätte! Selbst wenn ich ihm zur Seite gestanden und ihm selbst die Bedingungen dictirt hätte, hätte ich mir nichts Besseres wünschen können. Sechs Monate völliger Trennung zwischen Armadale und Miß Milroy! Ich müßte wahrhaftig Unglück haben, wenn ich nicht in der Hälfte dieser Zeit, während aller Verkehr zwischen ihnen abgebrochen ist, in den erforderlichen Trauerkleidern einhergehe und öffentlich als Armadale’s Wittwe anerkannt bin.

Aber ich vergesse ihren Brief. Sie gibt die Gründe ihres Vaters in dessen eigenen Worten an. Der Major scheint so vernünftig und so gefühlvoll gesprochen zu haben, daß er seiner Tochter wie Armadale keine andere schickliche Alternative gelassen, als sich zu ergeben. So gut ich mich erinnern kann, hat er sich ungefähr folgendermaßen gegen Miß Neelie ausgesprochen:

»Denke nicht, daß ich grausam gegen Dich bin, mein liebes Kind, ich verlange nur von Dir, daß Du Mr. Armadale aus die Probe stellst. Es ist nicht nur recht, sondern sogar durchaus nothwendig, daß Du auf einige Zeit keinen Verkehr mit ihm hast, und ich will Dir sagen, warum. Erstens würden die Regulative einer Schule, die um anderer Mädchen willen unerläßlich sind, Dir nicht gestatten, Mr. Armadale zu sehen oder Briefe von ihm zu erhalten; und bist Du wirklich dazu bestimmt, Herrin von Thorpe-Ambrose zu werden, so mußt Du noch in eine Pension kommen, denn Du würdest Dich schämen und ich gleichfalls, Dich in einer solchen Stellung zu sehen, ohne die zu derselben gehörige Bildung zu besitzen. Zweitens wünsche ich zu sehen, ob Mr. Armadale’s Zuneigung zu Dir ohne die Ermunterung persönlichen oder schriftlichen Verkehrs mit Dir unverändert dieselbe bleibt; habe ich Unrecht, wenn ich ihn für flüchtig und unzuverlässig halte, und stellt sich Deine Meinung von ihm als die richtige heraus, so ist dies keine unbillige Prüfung für den jungen Mann, denn eine wahre Liebe überlebt weit längere Trennungen als eine Trennung von sechs Monaten. Und wenn diese Zeit überstanden und glücklich überstanden ist, und wenn ich ihn dann noch sechs Monate unter meiner eigenen Beobachtung gehabt und eine ebenso gute Meinung von ihm gewonnen habe wie Du, selbst dann, mein liebes Kind, nach all diesem fürchterlichen Warten, wirst Du noch vor Deinem achtzehnten Jahre eine verheirathete Frau sein. Bedenke dies, Neelie, und beweise mir Deine Liebe und Dein Vertrauen dadurch, daß Du aus meinen Vorschlag eingehst. Ich selbst will keinerlei Verkehr mit Mr. Armadale unterhalten. Ich will es Dir überlassen, an ihn zu schreiben und ihn von dem Beschlossenen zu unterrichten. Er mag einmal, doch nur ein einziges Mal, zur Erwiderung an Dich schreiben, um Dich von seinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen. Dann aber darf um Deines Rufes willen nichts weiter gesagt und nichts weiter unternommen werden, und die ganze Sache muß streng geheim gehalten werden, bis die sechs Monate verstrichen sind.«

So sprach der Major. Miß Milroys Brief aber ist außerordentlich dumm und langweilig. Nachdem sie feierlichst verkündet, daß sie sich den Wünschen ihres geliebten Vaters opfern will —— die Dreistigkeit, mit der sie sich nach dem Geschehenen als eine Märtyrin darzustellen sucht, übersteigt Alles, was ich je gehört oder gelesen habe! —— erwähnt Miß Neelie, daß der Major auf die wenigen Tage, die noch vergehen müssen, ehe sie nach der Pension reist, der Luftveränderung wegen mit ihr nach einem Seebade zu gehen gedenke. Armadale solle seine Antwort mit umgehender Post, an ihren Vater adressiert, nach Lowestoft senden. Hiermit und mit einem letzten Ausbruche zärtlicher Betheuerungen, die krumm und schief in eine Ecke der Seite hineingedrängt waren, endete der Brief. (NB. Der Zweck des Majors bei dieser Seereise ist klar genug. Er hegt noch immer ein heimliches Mißtrauen gegen Armadale und ist weislich entschlossen, ferneren verstohlenen Zusammenkünften im Park vorzubeugen.)

Als ich mit dem Briefe zu Ende war —— ich hatte um Erlaubniß gebeten, gewisse Stellen, die ich besonders schön fand, zum zweiten und dritten Male zu lesen! —— berathschlagten wir alle auf das freundschaftlichste, was Armadale thun solle.

Anfangs war er thöricht genug, gegen Major Milroy’s Bedingungen zu protestieren. Mit seinem unausstehlichen rothen Gesicht, das eine thierische Gesundheit verräth, erklärte er, daß er eine sechsmonatliche Trennung von seiner geliebten Neelie nimmermehr überleben werde. Wie leicht begreiflich, schien sich Midwinter seiner ein wenig zu schämen und vereinigte sich mit mir, um ihn zur Vernunft zu bringen. Wir machten ihm begreiflich, was Jedem, der nicht eben ein blödsinniger Tölpel, klar genug gewesen wäre, daß ihm keine andere ehrenvolle oder selbst nur schickliche Alternative übrig bleibe, als das Beispiel von Unterwürfigkeit nachzuahmen, welches ihm die junge Dame gegeben habe. »Warten Sie, und Sie werden sie zur Gattin bekommen«, sagte ich. »Warte, und Du wirst den Major zwingen, seine ungerechte Meinung von Dir zu ändern«, setzte Midwinter hinzu. Da zwei geschickte Leute dergestalt Vernunft in seinen Kopf hineinhämmerten, brauche ich kaum zu sagen, daß sein Kopf endlich nachgab und er sich darein fand.

Nachdem wir ihn bewogen hatten, die Bedingungen des Majors anzunehmen —— ich trug Sorge, ihn, ehe er an Miß Milroy schrieb, daran zu erinnern, wie meine Verlobung mit Midwinter ihr wie jedem Andern ein Geheimnis; bleiben müsse —— mußten wir zunächst eine Entscheidung hinsichtlich seiner Pläne für die Zukunft treffen. Ich hatte die nothwendigen Argumente in Bereitschaft, um ihn davon abzuhalten, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, wenn er dies zu thun im Sinne gehabt hätte. Doch sagte er nichts hiervon, sondern erklärte im Gegentheil, nichts in der Welt könne ihn bewegen, dorthin zurückzukehren. An Ort und Menschen knüpften sich ihm die unangenehmsten Gedanken. Dort sei jetzt keine Miß Milroy, die er im Parke treffen. und kein Midwinter, der ihm im Herrnhause Gesellschaft leisten könne. »Lieber will ich Steine auf der Chaussee klopfen«, war seine verständige und heitere Bemerkung, »als jetzt nach Thorpe-Ambrose heimkehren.«

Hierauf kam der erste Vorschlag von Midwinter. Der listige alte Pfarrer, der mir und Mrs. Oldershaw so viel Noth machte, ist krank gewesen, wie es scheint, soll sich aber seit kurzem in der Genesung befinden, wie berichtet worden ist. »Warum nicht nach Sommersetshire reisen«, sagte Midwinter, »und unsern beiderseitigen guten Freund Mr. Brock besuchen?«

Bereitwillig genug ging Armadale auf diesen Vorschlag ein. Er sehnte sich erstens, »den lieben alten Brock« und zweitens seine Yacht zu sehen. Nachdem er noch ein paar Tage mit Midwinter in London zugebracht habe, wolle er mit Freuden nach Sommersetshire reisen. Doch was dann?

Hier ersah ich mir meine Gelegenheit. »Sie haben eine Pacht, Mr. Armadale«, sagte ich, »und wissen, daß Midwinter nach Italien reist. Warum nicht, wenn Sie Sommersetshires überdrüssig sind, eine Fahrt nach dem Mittelländischen Meere machen, um Ihren Freund und dessen Frau in Neapel zu besuchen?«

Ich machte die Anspielung auf die Frau des Freundes mit der aller kleidsamsten Bescheidenheit und Verwirrung. Armadale war entzückt. Ich hatte den besten Plan von der Welt erdacht, ihm über die lange Zeit hinwegzuhelfen. Er sprang aus und drückte mir in einer wahren Ekstase von Dankbarkeit die Hände. Wie verhaßt mir die Leute sind, welche ihre Gefühle nur dadurch auszudrücken vermögen, daß sie andern Leuten die Hände bis zum Wehthun drücken!

Midwinter war über meinen Vorschlag ebenso erfreut wie Armadale, doch sah er Schwierigkeiten für die Ausführung desselben voraus. Er hielt die Yacht für zu klein zu einer Fahrt nach dem Mittelländischen Meere und meinte, es werde besser sein, wenn Allan ein größeres Fahrzeug miethe. Sein Freund war anderer Ansicht. Bei diesem Streite ließ ich sie allein. Es genügte mir vollkommen, vor der Hand so viel erreicht zu haben, daß Armadale nicht nach Thorpe-Ambrose zurückkehrt und bewogen worden ist, eine Reise nach Italien zu machen. Meinestheils würde ich die kleine Yacht vorziehen, denn es scheint einige Aussicht vorhanden zu sein, daß sie mir den unschätzbaren Dienst leisten dürfte, ihn zu ertränken.

Fünf Uhr. Das Bewußtsein, daß ich Armadale’s künftiges Thun völlig in meiner Gewalt habe, machte mich so unruhig, daß ich, nach meiner Wohnung zurückgekehrt, wieder ausgehen und etwas unternehmen mußte. Da es mir an einem neuen Interesse für meine Gedanken fehlte, begab ich mich nach Pimlico, um mit der Mutter Oldershaw eine Lanze zu brechen.

Ich ging zu Fuße und kam unterwegs zu dem Entschlusse, mich mit ihr zu zanken. Da der eine meiner Wechsel bereits bezahlt ist und Midwinter die andern beiden einlösen will, sobald dieselben verfallen, so stehe ich gegenwärtig dem alten Geschöpfe so unabhängig gegenüber, wie ich mir nur wünschen kann. Kommt es zwischen uns zum Streite, so behalte ich stets die Oberhand und finde sie, sowie ich sie habe fühlen lassen, daß mein Wille der stärkere ist, außerordentlich höflich und gefällig In meiner derzeitigen Lage dürfte es mir in verschiedener Hinsicht von Nutzen sein, wenn ich mich ihres Beistandes versichern könnte, ohne ihr Geheimnisse anzuvertrauen, die ich jetzt mehr denn je für mich behalten will. Das waren meine Gedanken, während ich nach Pimlico wanderte. Der Mutter Oldershaw erst die Nerven zu erschüttern und sie dann um meinen kleinen Finger zu wickeln, erschien mir als eine interessante Beschäftigung für den Rest des Nachmittags.

Als ich in Pimlico anlangte, harrte meiner eine Ueberraschung. Das Haus war verschlossen, und zwar nicht nur auf Mrs. Oldershaw’s Seite, sondern auch auf der des Doctor Downward. Die Ladenthür war mit einem Vorlegeschloß versehen, und ein Mann ging auf der Lauer umher, der allerdings ein gewöhnlicher Bummler sein konnte, mir aber sehr das Ansehen eines verkleideten Polizeiers hatte.

Da ich weiß, welchen Gefahren sich der Doctor in seinem besonderen Zweige der Praxis aussetzt, vermuthete ich augenblicklich, daß etwas Ernstliches vorgefallen sei und daß selbst die pfiffige alte Mutter Oldershaw sich diesmal compromittirt habe. Darum rief ich, ohne stehen zu bleiben oder irgendwie mich zu erkundigen, den ersten Fiaker an, der an mir vorüberkam, und fuhr nach dem Postbureau, nach dem ich mir Briefe nachbestellt, wenn nach meiner Abreise von Thorpe-Ambrose noch solche in meiner dortigen Wohnung für mich einliefen.

Auf meine Anfrage ward mir ein Brief an Miß Gwilt eingehändigt. Er war in Mrsk Oldershaw’s Handschrift und theilte mir, ganz wie ich erwartet hatte, mit, daß der Doktor in ernstliche Ungelegenheiten gerathen, daß sie leider selbst mit in die Sache verwickelt sei und daß sie sich beide vor der Hand versteckt hielten. Der Brief schloß mit einigen ziemlich giftigen Redensarten über mein Verhalten in Thorpe-Ambrose und der Drohung, daß Mrs. Oldershaw noch nicht mit mir fertig sei. Dieser Ton ihres Briefes gewährte mir einige Erleichterung, denn hätte sie eine Ahnung von meinen wahren Plänen gehabt, so würde sie höflich und kriechend gewesen sein. Sobald man mir Licht heraufgebracht, verbrannte ich den Brief. Und damit haben die Beziehungen zwischen Mutter Jesabel und mir für jetzt ein Ende. Alle meine schmutzige Arbeit muß ich nun selbst verrichten und werde vielleicht um so sicherer sein, als ich mich nur auf meine eigenen Hände verlasse.

Den 31. Juli. Ich habe weitere nützliche Auskunft erhalten. Unter dem Vorwande, daß mein Ruf leiden könne, wenn er zu oft in meiner Wohnung gesehen würde, traf ich mit Midwinter wieder im Park zusammen und hörte die letzten Neuigkeiten von Armadale, die sich ereignet, seit ich gestern das Hotel verlassen.

Nachdem Armadale an Miß Milroy geschrieben hatte, ergriff Midwinter die Gelegenheit, von seinen häuslichen Angelegenheiten während seiner Abwesenheit vom Herrnhause mit ihm zu sprechen. Man beschloß, daß die Dienerschaft Kostgeld empfangen und Mr. Bashwood die Oberaufsicht erhalten solle. Dieses Wiederauftauchen von Mr. Bashwood in Verbindung mit meinen jetzigen Interessen gefällt mir eigentlich nicht, allein es läßt sich nicht ändern. Die nächste Frage, hinsichtlich des Geldes, ward sofort von Armadale selbst beseitigt. All sein baares Geld, das sich auf eine beträchtliche Summe belief, sollte von Mr. Bashwood in Armadale’s Namen in Coutts’ Bank deponiert werden. Dies, sagte er, werde ihm die Plackerei ferneren Briefwechsels mit seinem Verwalter ersparen und ihn in Stand setzen, sich, wenn er ins Ausland reise, ohne Verzug mit den erforderlichen Summen zu versehen. Da dieser Vorschlag unbedingt der einfachste und sicherste war, so ward er mit Midwinter’s vollster Zustimmung angenommen, und somit würde die geschäftliche Besprechung ein Ende gehabt haben, wenn nicht der ewige Mr. Bashwood wieder zum Vorschein gekommen wäre und die Unterhaltung verlängert hätte.

Bei weiterer Ueberlegung scheint es Midwinter eingefallen zu sein, daß man doch nicht die ganze Verantwortlichkeit für die Angelegenheiten von Thorpe-Ambrose auf Mr. Bashwood legen sollte. Ohne das geringste Mißtrauen gegen ihn zu hegen, fühlte Midwinter dennoch, daß er für den Nothfall Jemand haben müsse, bei dem er sich Raths erholen könne. Armadale hatte hiergegen nichts einzuwenden; er fragte blos, wer dieser Jemand sein solle.

Das war nicht leicht zu beantworten. Der eine oder der andere der beiden Rechtsanwälte von Thorpe-Ambrose hätte sich dazu geeignet, wenn Armadale nicht mit beiden auf gespanntem Fuße gestanden hätte. Eine Aussöhnung mit einem so bitteren Feinde, wie der ältere Advocat, Mr. Darch, war außer Frage, und eine Wiedereinsetzung Mr. Pedgift’s in seine vorige Stellung würde von Armadales Seite das Ansehen einer stillschweigenden Billigung des abscheulichen Benehmens des Alten gegen mich gehabt haben, die kaum mit der Achtung und Freundschaft in Einklang zu bringen gewesen wäre, die er für die Dame fühlte, welche so bald die Gattin seines Freundes werden sollte. Nach einiger fernerer Erwägung des Punktes kam Midwinter auf eine neue Idee, welche die Schwierigkeit zu beseitigen schien. Er schlug vor, Armadale möchte an einen achtbaren Rechtsanwalt in Norwich schreiben, ihm in allgemeinen Ausdrücken seine Lage schildern und ihn ersuchen, bei sich bietender Gelegenheit als Mr. Bashwoodss Rathgeber und Vorgesetzter zu fungieren. Da Norwich per Eisenbahn nur eine kurze Strecke von Thorpe-Ambrose entfernt ist, so hatte Armadale gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden und versprach an den Advocaten zu schreiben. In der Besorgniß, Armadale möchte, wenn er ohne Beistand schriebe, irgend ein Versehen machen, hatte Midwinter den nothwendigen Brief zur Abschrift für ihn aufgesetzt, und Armadale war eben beschäftigt, den Brief abzuschreiben und außerdem Mr. Bashwood seine Instructionen über die in Coutts’ Bank zu deponierende Summe zu ertheilen.

Diese Details sind an sich so trocken und uninteressant, daß ich anfangs nicht recht wußte, ob ich sie in mein Tagebuch eintragen solle. Allein ein wenig Nachsinnen hat mich überzeugt, daß sie doch zu wichtig sind, als daß ich sie übergehen dürfte. Von meinem Gesichtspunkte aus bedeuten dieselben, daß Armadale sich durch sein eigenes Thun von allem Verkehr mit Thorpe-Ambrose abschneidet, selbst vom schriftlichen. Für alle, die er dort zurückläßt, ist er bereits so gut wie todt. Die Ursachen, die zu einem solchen Resultate geführt haben, haben doch sicherlich aus den besten Platz Anspruch, den ich ihnen in diesen Memoiren geben kann.

Den l. August. Nichts zu berichten, außer daß ich einen langen, ruhigen, glücklichen Tag mit Midwinter zugebracht habe. Er miethete einen Wagen und wir fuhren nach Richmond und speisten dort zu Mittag. Nach meinem heutigen Zusammensein mit ihm kann ich mich nicht länger über mich selbst täuschen. Komme, was da wolle, ich liebe ihn.

Ich bin förmlich traurig, seit er mich verlassen hat. Es hat sich mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß der glückliche, glatte Verlauf meiner Angelegenheiten, seit ich in London bin, eben zu glatt und zu glücklich ist, als daß er fortdauern könnte. Etwas drückt mich heute Abend, das etwas Anderes ist als die dicke Londoner Luft.

Den 2. August, drei Uhr. Oft genug haben mich meine Vorgefühle getäuscht, wie Andere auch, aber ich fürchte fast, daß mein Vorgefühl von gestern Abend diesmal wirklich ein prophetisches war.

Nach dem Frühstück ging ich zu einer Schneiderin in der Nähe, um mir einige wohlfeile Sommerkleider zu bestellen, und dann nach Midwinter’s Hotel, um wieder einen Ausflug aufs Land mit ihm zu verabreden. Für den Weg zu der Schneiderin und nach dem Gasthofe, sowie für einen Theil des Rückwegs hatte ich einen Fiaker genommen, da mir aber der abscheuliche Geruch im Wagen zu sehr zuwider wurde —— wahrscheinlich hatte Jemand darin geraucht —— so stieg ich aus, um mich vollends zu Fuße nach Hause zu begeben. Ehe ich noch zwei Minuten auf dem Trottoir gegangen, ward ich gewahr, daß mir ein fremder Mann folgte.

Das hat vielleicht nichts weiter zu bedeuten, als daß irgend einem müßigen Menschen meine Gestalt und mein Aussehen überhaupt auffielen. Mein Gesicht konnte keinen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn wie gewöhnlich war es hinter meinem Schleier verborgen. Ob er mir, natürlich in einem Fiaker, von der Schneiderin oder vom Gasthofe gefolgt war, kann ich« nicht sagen. Auch weiß ich nicht gewiß, ob er mir bis zu dieser Thür nachging. Ich weiß nur, daß ich ihn aus den Augen verlor, ehe ich hier anlangte. Da ist nun nichts zu machen, als zu warten, bis mich die weiteren Ereignisse aufklären. Steckt etwas Ernstliches dahinter, so werde ich es bald entdecken.

Fünf Uhr. In der That ist’s ernstlich. Vor zehn Minuten befand ich mich in meinem Schlafzimmer, das mit meiner Wohnstube in Verbindung steht. Eben wollte ich es verlassen, als ich draußen auf dem Treppenabsatze eine fremde Stimme hörte, eine Frauenstimme. Im nächsten Augenblick ward plötzlich meine Wohnstubenthür geöffnet, die Frauenstimme sagte: »Sind dies die Zimmer, die Sie zu vermiethen haben?« und obgleich die hinter ihr kommende Hauswirthin erwiderte: »Nein, Madame, eine Treppe höher«, kam die Person doch geraden Wegs nach meinem Schlafzimmer, als hätte sie jene nicht gehört. Ich hatte gerade noch Zeit, ihr die Thür vor der Nase zuzuwerfen, ehe sie mich erblickte. Darauf erfolgten die nothwendigen Erklärungen und Entschuldigungen zwischen der Wirthin und der Fremden im Wohnzimmer, und dann war ich wieder allein.

Ich habe keine Zeit, noch weiter zu schreiben. Es ist klar, daß es sich Jemand angelegen sein läßt, mich zu identificiren, und daß, wäre ich nicht zu schnell für sie gewesen, die Fremde diesen Zweck durch Ueberrumpelung erreicht hätte. Ich vermuthe, daß sie und der Mann, der mir auf der Straße folgte, mit einander im Bündnisse stehen, und ohne Zweifel steht Jemand im Hintergrunde, dessen Interesse sie dienen. Greift Mutter Oldershaw mich etwa im finsteren an? Oder wer kann es sonst sein? Einerlei, wer es ist, meine gegenwärtige Lage ist zu kritisch, als daß ich dergleichen leichtfertig ansehen dürfte. Heute Abend noch muß ich dies Haus verlassen und darf keine Spur zurücklassen, nach der man mir anderswohin folgen kann.

Den 3. August. Gary-Street, Tottenham-Court-Road. Noch gestern Abend, nachdem ich Midwinter um Entschuldigung gebeten, in der meine kranke Mutter als volIgültige Ursache meines Verschwindens figurierte, machte ich mich aus dem Staube und fand hier eine Zuflucht. Das hat einiges Geld gekostet, allein mein Zweck ist erreicht! Unmöglich kann mir Jemand von All-Saints-Terrace bis hierher gefolgt sein.

Nachdem ich meiner Wirthin die erforderliche Entschädigung gezahlt, weil ich sie ohne vorherige Kündigung verließ, verabredete ich mit ihrem Sohne, daß er meine Koffer in einem Fiaker nach dem Gepäckzimmer des nächsten Bahnhofs schaffen und den Empfangsschein über dasselbe in einem Briefe nach einem Postbureau schicken solle, wo ich mir denselben abholen werde. Während er mit dem Gepäck in der einen Richtung in einem Fiaker fortfuhr, schlug ich in einem zweiten Fiaker eine andere Richtung ein, nur einige Kleinigkeiten in einer Handtasche mit mir nehmend. Ich fuhr geraden Wegs nach dem Hause der Schneiderin wo ich gestern bemerkt hatte, daß der Laden einen Ausgang aus der Hinterseite habe, durch den die Arbeiterinnen aus und ein gingen. Alsbald ging ich hinein und ließ den Fiaker. Vor der Thür auf mich warten. »Ein Mann verfolgt mich«, sagte ich, »und ich möchte ihn loswerden. Hier ist der Fiakerlohn; warten Sie zehn Minuten, ehe Sie den Kutscher bezahlen, und lassen Sie mich sogleich zur Hinterthür hinaus.« In der nächsten Minute befand ich mich in der kleinen Stallgasse hinter dem Hause, in einer zweiten in der nächsten Straße, in einer dritten rief ich einen vorüberfahrenden Omnibus an und war wieder frei!

Nachdem ich jetzt allen Verkehr zwischen mir und meiner vorigen Wohnung abgeschnitten hatte, war, für den Fall, daß Midwinter und Armadale beobachtet würden, zunächst die Vorsichtsmaßregel zu treffen, daß ich, wenigstens auf einige Tage, auch allen Verkehr zwischen mir und dem Gasthofe abbrach. Ich habe an Midwinter geschrieben und, meine kranke Mutter abermals vorschützend, ihn benachrichtigt, daß ich durch meine Pflichten als Krankenwärterin gefesselt sei und wir vor der Hand nur brieflich mit einander verkehren könnten. Obgleich mir noch immer nicht klar, wer mein verborgener Feind ist, kann ich zu meiner Vertheidigung doch nichts weiter unternehmen, als was ich bereits gethan habe.

Den 4. August. Die Freunde im Hotel haben beide an mich geschrieben Midwinter spricht in den zärtlichsten Ausdrücken sein Bedauern über unsere Trennung aus. Armadale fleht mich in einer sehr fatalen Angelegenheit um Beistand an. Vom Herrnhause ist ihm ein Brief des Majors nachgesandt worden und er legt denselben seinem Schreiben an mich bei.

Aus jenem Briefe geht hervor, daß der Major, nachdem er das Seebad verlassen und seine Tochter in der ursprünglich für sie bestimmten Pension, in der Nähe von Ely, in Sicherheit gebracht hat, am Ende der Woche nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt ist und dort zuerst die Gerüchte über mich und Armadale gehört und augenblicklich an ihn geschrieben hat, ihn hiervon in Kenntniß zu setzen.

Der Brief ist streng und kurz. Major Milroy weist das Gerücht als völlig unglaubwürdig von sich, weil es ihm unmöglich ist, an eine so »kaltblütige Falschheit« zu glauben, wie dieses Gerücht documentiren würde, wenn es wahr wäre. Er schreibt nur, um Armadale anzukündigen daß, wenn er in Zukunft nicht vorsichtiger in seinen Handlungen sei, er alle Ansprüche auf Miß Milroy’s Hand aufzugeben habe.

»Ich erwarte auf diesen Brief keine Antwort; schließt das Schreiben, »denn ich verlange keine leeren Betheuerungen in bloßen Worten. Ihr Verhalten allein im Verlaufe der Zeit soll mir als Richtschnur dienen. Laffen Sie mich außerdem hinzufügen, daß ich Ihnen bestimmt verbiete, sich dieses Briefes als eines Vorwandes zu bedienen, um die von uns festgestellten Bedingungen zu brechen und an meine Tochter zu schreiben. Es ist nicht nöthig, daß Sie sich in ihren Augen rechtfertigen, denn zum Glücke hatte ich sie bereits mit mir aus Thorpe-Ambrose hinweggenommen, ehe dieses abscheuliche Gerücht bis zu ihr dringen konnte, und ich werde Sorge tragen, daß sie da, wo sie jetzt, ist, nicht durch dasselbe beunruhigt oder betrübt wird.

Armadale’s Bitte an mich unter diesen Umständen geht nun, da ich ja die unschuldige Ursache an diesem neuen Angriffe auf seinen Ruf sei, dahin, an den Major zu schreiben, um ihn von aller Indiscretion in der Sache freizusprechen und zu sagen, wie die gewöhnlichste Höflichkeit ihn gezwungen habe, mich nach London zu begleiten. In Anbetracht der Nachrichten, die er mir hiermit sendete, verzeihe ich ihm die Unverschämtheit einer solchen Bitte. Sicherlich gereicht mir der Umstand zum Vortheil, daß die Klatschereien von Thorpe-Ambrose nicht Miß Milroy zu Ohren kommen sollen. Bei ihrem Temperamente dürfte sie, wenn sie davon hörte, irgend etwas Verzweifeltes unternehmen, um sich ihres Geliebten zu versichern, und mich somit ernstlich compromittiren. Was mein Verfahren Armdale gegenüber anlangt, so ist dies klar genug. Ich werde ihn durch das Versprechen, an Major Milroy zu schreiben beruhigen, und in meinem eigenen persönlichen Interesse mir die Freiheit nehmen, nicht Wort zu halten.

Sonst hat sich heute nichts ereignet, das nur irgendwie verdächtig aussähe. Wer meine Feinde auch sind, sie haben meine Spur verloren und sollen mich bis zur Zeit, wo ich England verlasse, nicht mehr wiederfinden. Ich war auf dem Postbureau und habe dort den Gepäckschein in Empfang genommen, der, wie ich befohlen, in einen Brief von All-Saints-Terrace an mich eingeschlossen war. Das Gepäck selbst werde ich für jetzt noch im Gepäckzimmer verbleiben lassen, bis ich meinen Weg etwas klarer vor mir sehe, als dies bis jetzt der Fall ist.

Den 5. August. Wieder zwei Briefe vom Hotel. Midwinter schreibt, mich in der liebenswürdigsten Weise von der Welt daran zu erinnern, daß er morgen lange genug in dem Kirchsprengel gewohnt haben wird, um sich den bewußten Erlaubnißschein auswirken zu können, und daß er sich denselben in der üblichen Weise in Doctors’ Commons zu verschaffen gedenkt. Soll ich es je sagen, so ist jetzt der Augenblick, nein zu sagen. Ich kann nicht nein sagen. Das ist die reine Wahrheit, und damit ist die Sache abgemacht.

Armadale’s Schreiben ist ein Abschiedsbrief. Er dankt mir für meine Bereitwilligkeit, an den Major zu schreiben, und wünscht mir Lebewohl, bis wir einander in Neapel wiedersehen. Er sagt, er habe von seinem Freunde erfahren, daß gewisse Gründe ihm das Vergnügen versagen, bei unserer Heirath gegenwärtig zu sein. Unter diesen Umständen halte ihn nichts in London zurück. Alle seine Geschäftsangelegenheiten seien abgemacht, er reise heute mit dem Nachtzuge nach Sommersetshire und werde nach einem Besuche bei Mr. Brock trotz Midwinter’s Gegenvorstellungen in seiner eigenen Yacht vom Kanal von Bristol nach dem Mittelländischen Meere absegeln.

Den Brief begleitete ein Juwelenkästchen mit einem Ringe —— Armadales Hochzeitsgeschenk für mich. Es ist ein Rubin, doch nur ein kleiner und die Fassung im allerschlechtesten Geschmack. Miß Milroy würde er einen Ring von zehnmal so großem Werthe gegeben haben, hätte er ihr ein Hochzeitsgeschenk gemacht. Meiner Ansicht nach gibt es kein widerlicheres Geschöpf als einen geizigen jungen Mann. Ob er in seiner wackligen kleinen Yacht wohl ersaufen wird?

Ich bin so unruhig und aufgeregt, daß ich kaum weiß, was ich schreibe. Nicht etwa, daß ich vor dem Bevorstehenden zurück bebe, mir ist nur, als ob ich schneller vorwärts getrieben würde, als mir lieb ist. Geschieht nichts, es zu verhindern, so wird mich Midwinter, wie die Sachen jetzt stehen, am Ende dieser Woche bereits geheirathet haben. Und dann!

Den 6. August. Könnte mich jetzt irgend etwas erschrecken, so würde «es die Nachricht gethan haben, die ich heute erhalten.

Als Midwinter diesen Morgen, nachdem er sich den Heirathserlaubschein verschafft hatte, nach dem Gasthofe zurückkehrte, fand er dort eine telegraphische Depesche vor. Dieselbe enthielt die wichtige Nachricht von Armadale, daß Mr. Brock einen Rückfall gehabt und die Aerzte alle Hoffnung auf seine Genesung aufgegeben hätten. Auf den Wunsch des Sterbenden ist Midwinter zu ihm beschieden worden, um Abschied von ihm zu nehmen, und Armadale bittet aufs dringendste, keinen Augenblick zu verlieren, sondern mit dem nächsten Zuge abzureisen.

Das hastig geschriebene Billet, das mich hiervon in Kenntniß setzt, meldet mir zugleich, daß Midwinter in dem Augenblicke, wo dasselbe in meine Hände gelangt, sich bereits auf dem Wege nach Sommersetshire befindet. Sobald er Mr. Brock gesehen, will er mit der Abendpost ausführlicher an mich schreiben.

Diese Nachricht hat ein Interesse für mich, das Midwinter sich wenig träumen läßt. Außer mir lebt nur noch ein einziges menschliches Wesen, dem das Geheimniß seiner Geburt und seines Namens bekannt ist, und dies ist der alte Mann, der ihn jetzt aus dem Sterbelager erwartet. Was werden sie die letzten Augenblicke mit einander sprechen? Wird ein zufälliges Wort sie vielleicht in die Zeit zurückführen, wo ich auf Madeira in Mrs. Armadales Diensten war? Werden sie wohl von mir sprechen?

Den 7. August. Der versprochene Brief ist so eben angelangt. Sie haben keine Scheideworte mit einander ausgetauscht. Alles war bereits vorüber, ehe Midwinter noch in Sommersetshire ankam. Armadale kam ihm am Thore der Pfarrei mit der Nachricht entgegen, daß Mr. Brock todt sei.

Ich versuche dagegen zu kämpfen, aber nach der seltsamen Verwickelung von Umständen, die mich seit einigen Wochen immer enger umsponnen haben, liegt in diesem letzten Ereignisse etwas, was meine Nerven erschüttert. Gestern, als ich mein Tagebuch aufmachte, stand mir nur noch eine letzte Gefahr der Entdeckung im Wege. Wie ich das Buch heute öffne, ist diese Gefahr durch Mr. Brock’s Tod hinweggeräumt. Das hat etwas zu bedeuten, ich möchte wissen was.

Die Beerdigung soll Sonnabend Vormittag stattfinden. Midwinter wird mit Armadale derselben beiwohnen. Aber zuvor gedenkt er nach London zurückzukehren und sagt, daß er heute Abend, in der Hoffnung mich zu sehen, auf dem Wege vom Bahnhofe nach dem Gasthofe bei mir ein sprechen wird. Wie die Sachen jetzt stehen, würde ich ihn empfangen, selbst wenn Gefahr damit verbunden wäre. Doch ist keine Gefahr dabei, wenn er von der Eisenbahn hierher kommt, und nicht vom Hotel.

Fünf Uhr. Ich habe mich nicht in der Annahme getäuscht, daß meine Nerven heftig erschüttert seien. Kleinigkeiten, auf die ich zu andern Zeiten kaum achten würde, lasten mir jetzt schwer auf dem Herzen.

Vor zwei Stunden, als ich in Verzweiflung darüber war, wie ich den Tag hinbringen solle, erinnerte ich mich der Schneiderin, die mir meine Sommerkleider fertigt. Schon gestern hatte ich zu ihr gehen und Anprobe halten wollen, aber in der Aufregung über die Nachricht hinsichtlich Mr. Brocks war mir die Sache ganz entfallen. Deshalb ging ich, begierig, etwas zu thun, um mich selbst loszuwerden, heute Nachmittag zu ihr. Ich bin aber unruhiger und beklommener zurückgekehrt, als ich beim Ausgehen war, denn ich habe die Befürchtung mit mir heimgebracht, ich werde noch Ursache haben, zu bereuen, daß ich nicht mein unfertiges Kleid in den Händen der Schneiderin gelassen.

Auf der Straße begegnete mir diesmal nichts. Erst im Ankleidezimmer ward mein Argwohn rege, und dort kam es mir allerdings in den Sinn, daß der Versuch, mich aufzuspüren, den ich in All-Saints-Terrace vereitelt, noch nicht aufgegeben ist, und daß die Ladenjungfern, ja vielleicht ihre Herrin selbst, bestochen worden sind.

Kann ich mir für diesen Eindruck irgendeinen Grund angeben? Wollen einmal überlegen.

Allerdings bemerkte ich zweierlei, was unter den obwaltenden Umständen außerhalb der gewöhnlichen Praxis lag. Erstens waren zweimal so viel Ladenjungfern im Ankleidezimmer zugegen, als man brauchte. Das sah verdächtig aus, und dennoch hätte ich es mir in mehr als einer Weise erklären können. Ist nicht gegenwärtig eine stille Zeit? Und weiß ich nicht aus Erfahrung, daß ich zu der Art von Frauen gehöre, in Betreff deren andere Weiber stets eine boshafte Neugier hegen? Zweitens schien es mir, als ob eine der Ladenjungfern in sehr eigenthümlicher Art darauf bestände, mich in eine gewisse Richtung zu drehen, nämlich mit dem Gesichte der Glasthür zu, die nach dem Arbeitszimmer führt und auf der andern Seite mit einem Vorhange versehen ist. Bei alledem gab sie mir aber auf meine desfallsige Frage einen Grund dafür an. Sie sagte, es falle so das Licht besser auf mich, und als ich mich umsah, bemerkte ich allerdings das Fenster hinter mir, welches bewies, daß sie Recht hatte. Dennoch machten diese Kleinigkeiten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich durchaus etwas an dem Kleide auszusetzen fand, um damit eine Entschuldigung eine abermalige Anprobe zu haben, ehe ich ihnen meine Adresse angab und es mir zuschicken ließ. Reine Einbildung vermuthlich, vielleicht selbst in diesem Augenblicke reine Einbildung. Einerlei, ich werde meinem Instinkte folgen und das Kleid aufgeben. Um mich noch deutlicher auszudrücken, ich werde nicht wieder in den Laden gehen.

Um Mitternacht. Midwinter kam seinem Versprechen gemäß zu mir. Eine Stunde ist vorüber, seit wir uns gute Nacht wünschten, und da sitze ich noch immer mit der Feder in der Hand und denke an ihn. Ich finde keine Worte, um zu schildern, was zwischen uns geschehen ist. Alles, was ich schreiben kann, ist, daß er meinen Entschluß erschüttert hat. Zum ersten Male, seit mir in Thorpe-Ambrose der Weg zu Armadale’s Tode so leicht erschien, ist mirs, als ob der Mann, den ich im Geiste verurtheilt, Aussicht habe, mir zu entrinnen.

Hat meine Liebe zu Midwinter mich etwa so verändert? Oder hat seine Liebe zu mir sich nicht nur alles dessen bemächtigt, was ich ihm geben, sondern auch dessen, was ich ihm vorenthalten möchte? Mir ist, als hätte ich mich selbst verloren, mich selbst in ihm verloren den ganzen Abend hindurch. Er war tief bewegt über die Vorgänge in Sonimersetshire und bewirkte, daß ich mich ebenso niedergeschlagen und unglücklich darüber fühlte wie er selbst. Obgleich er sich mit keiner Silbe darüber ausgesprochen, weiß ich doch, daß Mr. Brocks Tod ihn als eine böse Vorbedeutung für unsere Vermählung erschreckt hat; ich weiß dies, denn auch ich habe das Gefühl, als ob Mr. Brocks Tod ein böses Omen für uns sei. Der Aberglaube, sein Aberglaube erfaßte mich mit einer solchen Gewalt, daß, als wir ruhiger wurden und von der Zukunft sprachen, als er mir sagte, daß er entweder seine neue Anstellung aufgeben oder schuldigermaßen am nächsten Montag nach dem Continent müsse, ich vor dem Gedanken an unsere Heirath so unmittelbar nach Mr. Brocks Beerdigung förmlich zurückschauderte; im Drange des Augenblicks sagte ich zu ihm: »Geh und beginne Dein neues Leben allein! Geh und lasse mich hier auf glücklichere Zeiten warten.«

Er nahm mich in seine Arme, seufzte und küßte mich mit entzückender Zärtlichkeit. Er sagte —— o, so sanft und so traurig: »Getrennt von Dir habe ich jetzt kein Leben mehr.« Wie er diese Worte sprach, war es, als ob ein Gedanke in meinem Herzen gleich einem Echo erwiderte: »Warum sollte ich nicht die mir noch übrige Lebenszeit in einer solchen Liebe harmlos und glücklich verbringen?« Kann mir es nicht erklären, mir nicht Vergegenwärtigen. Das war der Gedanke, der in jenem Augenblicke in mir aufstieg, und dieser Gedanke lebt noch jetzt in mir. Während ich dies schreibe, sehe ich meine Hand an und frage mich: ist dies wirklich die Hand Lydia Gwilt’s?

Armadale ——

Nein! Ich will nie mehr von Armadale schreiben, nie mehr an Armadale denken.

Doch ja, noch einmal will ich an ihn denken, noch einmal von ihm schreiben, denn es beruhigt mich, zu wissen, daß er abreist, daß das Meer zwischen uns liegen wird, ehe ich mich verheirathe. Seine alte Heimat ist ihm nicht länger eine! Heimat, jetzt, da dem Verlust seiner Mutter der Verlust seines ersten und besten Freundes gefolgt ist. Er hat beschlossen, sobald die Beerdigung vorüber, noch am selben Tage nach dem fremden Meere abzusegeln. Vielleicht sehen wir uns in Neapel wieder, vielleicht nicht. Werde ich dann ein anderes Weib sein? Das möchte ich wissen! Das möchte ich wissen!

Den 8. August. Eine Zeile von Midwinter. Er ist nach Sommersetshire zurückgekehrt, um morgen zu rechter Zeit zum Begräbnisse dort zu sein, und wird, nachdem er von Armadale Abschied genommen hat, morgen Abend wieder hier sein.

Die letzten Förmlichkeiten, die unserer Heirath vorangehen müssen, sind alle überstanden. Nächsten Montag soll ich seine Gattin werden. Die Ceremonie darf nicht später als halb elf Uhr stattfinden; dies wird uns gerade Zeit geben, um von der Kirche nach der Eisenbahn zu fahren und noch an dem nämlichen Tage unsere Reise nach Neapel anzutreten.

Heute —— Sonnabend —— Sonntag! Ich fürchte mich nicht vor der Zeit, sie wird verstreichen. Ich fürchte mich nicht vor mir selbst, wenn ich nur alle Gedanken außer einem einzigen von mir fern halten kann. Ich liebe ihn! Tag und Nacht, bis der Montag da ist, will ich an nichts Anderes denken. Ich liebe ihn!

Vier Uhr. Wider meinen Willen drängen sich mir andere Gedanken auf. Mein gestriger Argwohn war keine bloße Einbildung; die Schneiderin ist in der That bestochen. Meine Thorheit, sie wieder aufzusuchen, hat zur Folge gehabt, daß man meiner Spur hierher gefolgt ist. Ich weiß ganz gewiß, daß ich der Frau meine Adresse nicht gegeben habe, und dennoch hat sie mir mein neues Kleid heute um zwei Uhr zugesandt.

Ein Mann überbrachte es mir mit der Rechnung und der höflichen Bestellung, daß man, da ich mich zur angesetzten Stunde nicht zum Wiederanprobiren eingestellt, das Kleid fertig gemacht habe und es mir hiermit zuschicke. Er traf mich im Gange, sodaß mir nichts Anderes übrig blieb, als ihm die Rechnung zu bezahlen und ihn fortzuschicken. Jedes andere Verfahren wäre bei der Wendung, welche die Dinge jetzt genommen, reine Thorheit gewesen. Der Bote, welcher nicht der Mann ist, der mir auf der Straße nachgegangen, sondern ohne allen Zweifel ein anderer Spion, den man ausgesandt hat, mich in Augenschein zu nehmen, würde, hätte ich etwas davon gesagt, erklärt haben, er wisse nichts von der Sache. Die Schneiderin aber würde mir gerade ins Gesicht sagen, ich hätte ihr meine Adresse gegeben. Das Einzige, was ich jetzt thun darf, ist, daß ich im Interesse meiner Sicherheit all meinen Verstand zusammennehme und, wenn mir dies möglich, aus der falschen Stellung heraustrete, in die mich meine eigene Unbesonnenheit gestürzt hat.

Sieben Uhr. Ich habe mich wieder von meinem Schrecken erholt. Ich glaube, ich bin bereits auf gutem Wege, mich aus der Klemme zu ziehen.

So eben bin ich von einer langen Fiakerfahrt heimgekehrt. Zuerst fuhr ich nach dem Gepäckzimmer der großen Westbahn, um mir das Gepäck abzuholen, das ich von All-Saints-Terrace dorthin gesandt hatte, dann nach dem Gepäckzimmer der Südostbahn, um dasselbe Gepäck mit Midwinter’s Namen versehen, dort abzugeben, bis ich Montag früh mit dem Zuge nach Folkestone abreise, darauf nach dem Hauptpostamt, um einen Brief an Midwinter auf die Post zu geben, den er morgen Vormittag erhalten wird, endlich nach diesem Hause zurück, das ich vor Montag nicht mehr verlassen werde.

Mein Brief an Midwinter wird ohne Zweifel die Vorsichtsmaßregeln unterstützen, die ich für meine Sicherheit treffe. Die kurze Zeit, die uns am Montag zur Verfügung steht, wird ihn nöthigen, im Gasthofe seine Rechnung zu bezahlen und sein Gepäck fortzuschaffen, ehe die Vermählung stattfindet. Alles, was ich ihn außerdem noch zu thun bitte, ist, daß er selbst sein Gepäck nach der Südostbahn bringt, um in dieser Weise etwaige Nachfragen die bei der Hoteldienerschaft angestellt werden dürften, zu vereiteln, und dann an, der Kirchenthür mit mir zusammentrifft, anstatt mich hier abzuholen. Das Andere geht nur mich allein an. Wahrhaftig, es muß unglücklich gehen, wenn es mir jetzt wo ich von allen Hindernissen befreit bin, nicht glückt, den Leuten, die mir auflauern, am Montag früh zum zweiten Male zu entwischen.

Es scheint überflüssig, daß ich heute an Midwinter geschrieben habe, da er ja schon morgen Abend zu mir, zurückkehrt. Aber es war unmöglich, ihn um das, was ich von ihm verlangte, zu bitten, ohne nochmals meine vorgeblichen Familienverhältnisse vorzuschützen, und die Wahrheit zu gestehen, schrieb ich deshalb, weil ich nach dem, was ich das letzte Mal dabei gelitten, ihm nie wieder gerade ins Gesicht lügen kann.

Den 9. August, zwei Uhr. Ich stand heute Morgen zeitig, doch in gedrückterer Stimmung als gewöhnlich auf. Der Wiederbeginn des Lebens hat sowie der Wiederbeginn jedes neuen Tages seit vielen Jahren stets etwas Trübes und Hoffnungsloses für mich gehabt. Dazu träumte ich die ganze Nacht, nicht etwa von Midwinter und meinem ehelichen Leben, wie ich gehofft hatte, sondern von dem abscheulichen Anschlage, mich zu entdecken, durch den ich, gleich einem gehetzten Thiere, von einem Orte zum andern gejagt werde. Indeß ist mir in meinem Schlafe keinerlei Offenbarung oder Aufklärung geworden. Das Einzige, was ich in meinem Traume errathen konnte, war, daß Mutter Oldershaw die Feindin ist, welche mich im finsteren angreift. Wer außer dem alten Bashwood, an den in einer so ernsten Sache wie diese zu denken geradezu lächerlich wäre, wer anders als Mutter Oldershaw könnte ein Interesse haben, sich jetzt in meine Angelegenheiten zu mischen?

Meine unruhige Nacht hat indessen einen erfreulichen. Erfolg gehabt. Sie hat mir die Theilnahme des Dienstmädchens hier verschafft, das mir allen Beistand, der in seiner Macht liegt, leisten. wird, wenn der Augenblick meines Entrinnens da ist.

Das Mädchen bemerkte heute Morgen, daß ich blaß und sorgenvoll aussehe. Ich zog sie ins Vertrauen, insofern als ich ihr sagte, daß ich im Begriffe stehe, mich heimlich zu verheirathen, und Feinde habe, die mich von meinem Verlobten zu trennen suchten. Das erweckte augenblicklich ihre Theilnahme, und ein Geschenk von einem halben Sovereign für ihre Aufmerksamkeit gegen mich that das Weitere. Den ganzen Morgen ist sie bei mir aus und ein gegangen, und ich habe unter Anderem die Entdeckung gemacht, daß ihr Schatz ein Soldat in der Garde ist und daß sie ihn morgen zu sehen hofft. Wie wenig es auch ist, doch habe ich noch Geld genug übrig, um jedem Soldaten in der britischen Armee den Kopf zu verdrehen, und ist die mit meiner Bewachung beauftragte Person morgen ein Mann, so scheint es mir eben möglich, daß er im Verlauf des Abends seine Aufmerksamkeit in ziemlich unangenehmer Weise von Miß Gwilt abgezogen sehen wird.

Als Midwinter das letzte Mal von der Eisenbahn hierher kam, war es um halb neun Uhr. Wie soll ich von jetzt an bis zum Abend über die langen, langen Stunden hinwegkommen? Ich will mein Schlafzimmer dunkel machen und mir durch meine Tropfen selige Vergessenheit verschaffen.

Elf Uhr. Zum letzten Male sind wir vor dem Tage von einander geschieden, der uns zu Mann und Frau machen soll.

Er hat mich Verlassen, indem er, wie schon zuvor, alles andere Interesse in mir in den Hintergrund gedrängt hat. Sowie er ins Zimmer trat, bemerkte ich eine Veränderung an ihm. Als er mir von der Beerdigung und von seinem Abschied von Armadale am Bord der Yacht erzählte, sprach er, obgleich mit tiefbewegtem Gefühle, doch mit einer Selbstbeherrschung, wie ich sie bisher noch nicht an ihm wahrgenommen. Ebenso war es, als unsere Unterhaltung dann auf unsere eigenen Hoffnungen und Aussichten fiel. Sichtlich war er unangenehm berührt, als er hörte, wie meine Familienangelegenheiten es verhinderten, daß wir einander morgen sähen, und sichtlich unruhig über den Gedanken, mich am Montag ganz allein nach der Kirche gehen zu lassen. Aber durch alles dies ging ein gewisses hoffnungsvolles und ruhiges Wesen, welches einen so großen Eindruck auf mich machte, daß ich nicht umhin konnte, es zu erwähnen. »Du weißt, welch merkwürdige Einfälle ich zuweilen habe«, sagte ich. »Soll ich Dir sagen, welche Idee sich jetzt meiner bemächtigt hat? Ich kann nicht anders als glauben, daß, seit wir einander zuletzt sahen, etwas vorgefallen ist, was Du mir noch nicht mitgetheilt hast.«

In der That hat sich etwas ereignet«, erwiderte er, »und zwar etwas, was Du wissen solltest.«

Mit diesen Worten nahm er sein Notizbuch aus der Tasche und aus diesem zwei beschriebene Papiere heraus. Das eine betrachtete er und legte es dann wieder zurück. Das andere legte er vor mich auf den Tisch. Einen Augenblick es mit seiner Hand bedeckend, nahm er von neuem das Wort.

»Ehe ich Dir sage, was das hier ist und wie es in meinen Besitz gelangte«, sagte er, muß ich etwas bekennen, was ich Dir verhehlt habe. Es ist kein geringeres Bekenntniß als das meiner Schwäche.«

Er gestand mir dann, daß seine erneute Freundschaft mit Armadale während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins in London durch seine eigenen abergläubischen Befürchtungen getrübt gewesen sei. jedes mal, wo sie mit einander allein, waren ihm die fürchterlichen Worte seines sterbenden Vaters und die ebenso fürchterliche Bestätigung derselben durch den warnenden Traum gegenwärtig. Die Ueberzeugung, daß die Erneuerung ihrer Freundschaft und mein Antheil an der Wiederherstellung derselben unglückliche Folgen für Armadale herbeiführen würde, hatte mit jedem Tage einen größeren Einfluß auf ihn ausgeübt. Er war dem Rufe, der ihn an das Sterbelager des Pfarrers beschied, in der festen Absicht gefolgt, Mr. Brock seine Ahnungen von drohendem Unheile anzuvertrauen, und hatte sich in seinem Aberglauben doppelt bestärkt gefühlt, als er sah, wie der Tod vor ihm in das Haus eingezogen und sie in dieser Welt auf immer von einander geschieden waren. Mit einem heimlichen Gefühle der Erleichterung über die Aussicht, von Armadale zu scheiden, war er zur Beerdigung zurückgereist und hatte im Stillen den Entschluß gefaßt, daß das verabredete spätere Zusammentreffen in Neapel niemals stattfinden solle. Mit diesem Entschlusse im Herzen war er allein in das für ihn in der Pfarrei hergerichtete Zimmer hinaufgegangen und hatte dort einen Brief auf dem Tische gefunden. Der Brief war erst an demselben Tage unter dem Bette gefunden worden, auf dem Mr. Brock gestorben war, und wahrscheinlich von diesem heruntergefallen und fortgestoßen worden. Von Anfang bis zu Ende war er in der Handschrift des Pfarrers und an Midwinter adressiert.

Nachdem er mir dies in fast denselben Worten mitgetheilt, deren ich mich hier bedient habe, nahm er die Hand von dem beschriebenen Papiere weg, welches zwischen uns lag.

»Lies den Brief«, sagte er; »es wird dann unnöthig sein, Dir zu wiederholen, daß mein Gemüth wieder ruhig ist und daß ich Allan’s Hand beim Scheiden mit einer Herzlichkeit drücken konnte, die Allan’s Liebe würdiger war.«

Ich las den Brief. Kein Aberglaube lebte in meinem Gemüthe keine alte Dankbarkeit gegen Allan in meinem Herzen, und dennoch ward der Eindruck, den der Brief auf Midwinter gemacht, wie ich fest glaube, durch den, welchen er auf mich hervorbrachte, noch übertroffen.

Meine Bitte, mir ihn dazulassen, damit ich ihn, sobald ich allein wäre, noch einmal lesen könne, war eine vergebliche. Er ist entschlossen, den Brief nicht aus den Händen zu geben, sondern ihn neben jenem andern Blatte, das die Erzählung von Armadale’s Traum enthält, an sich zu behalten. Das Einzige was ich erlangte, war die übrigens bereitwillig gegebene Erlaubniß, den Brief abschreiben zu dürfen. Ich that dies in seiner Gegenwart und legte den Brief hier in mein Tagebuch ein, um einen denkwürdigen Tag meines Lebens zu bezeichnen.

»Pfarrei zu Boscombe.
Den 2. August.

Mein lieber Midwinter! Gestern fühlte ich mich zum ersten Male seit meiner Krankheit kräftig genug, um die für mich eingelaufenen Briefe zu lesen. Unter ihnen ist einer von Allan, der seit zehn Tagen uneröffnet auf meinem Tische gelegen hat. Er schreibt mir in großer Bekümmerniß daß Differenzen zwischen Ihnen beiden eingetreten sind und daß Sie ihn verlassen haben. »Wenn Sie noch eine Erinnerung an das bewahren, was sich zwischen uns begab, als Sie mir zum ersten Male auf der Insel Man Ihr Herz öffneten, so werden Sie leicht begreifen, wie ich diese traurige Nachricht in sehr ernste Erwägung gezogen habe, und nicht erstaunt sein, daß ich mich heute Morgen aufgerafft habe, um an Sie zu schreiben. Obgleich weit entfernt, zu verzweifeln, darf ich mich doch in meinem Alter keiner zu großen Hoffnung auf Genesung hingeben. Deshalb muß ich die Zeit, die ich noch mein nennen darf, in Ihrem und Allan’s Interesse benutzen.

Ich verlange keine Erklärung der Umstände, die Sie von Ihrem Freunde getrennt haben. Ist meine Meinung von Ihrem Charakter nicht grundfalsch, so ist der einzige Einfluß, der Ihre Trennung von Allan herbeigeführt haben kann, der jenes bösen Geistes des Aberglaubens, welchen ich bereits einmal aus Ihrem Herzen gerissen habe und den ich, so Gott will, noch einmal überwinden will, wenn ich die Kraft besitze, Ihnen in diesem Briefe meine Ansicht darzulegen.

Ich will Ihren Glauben, daß die Sterblichen auf ihrer Pilgerfahrt durch diese Welt oft Gegenstand übernatürlichen Einschreitens seien, nicht bekämpfen, ich kann nicht beweisen, daß Sie Unrecht haben. Und vom biblischen Standpunkte aus muß ich sogar noch weiter gehen und zugeben, daß Sie für Ihren Glauben eine noch höhere als blos menschliche Bürgschaft besitzen, Das Einzige, was ich gar gern erreichen möchte, ist, Sie zu bewegen, daß Sie sich von dem lähmenden Fatalismus des Heiden oder Wilden frei zu machen suchen und die Geheimnisse, die Sie verwirren, sowie die Gefahren, die Sie erschrecken, vom rein christlichen Standpunkte auffassen. Gelingt mir dies, so werde ich Ihr Gemüth von den schauerlichen Zweifeln befreien, die es jetzt bedrücken, und, Sie wieder mit Ihrem Freunde vereinen, um sich nie mehr von ihm zu trennen.

Ich habe keine Gelegenheit, Sie zu sehen und zu befragen, und kann diesen Brief nur an Allan einlegen, damit er ihn Ihnen zusendet, sobald er Ihren gegenwärtigen Aufenthalt erfährt. In der Stellung, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde, ist es meine Pflicht, die Sache in dem für Sie günstigsten Lichte zu sehen. Ich will es für ausgemacht annehmen, daß entweder Ihnen oder Allan etwas geschehen ist, was Sie nicht nur in der fatalistischen Ueberzeugung bestärkt, in der Ihr Vater starb, sondern der Warnung, die er Ihnen in seinem Sterbebriefe gesandt, noch eine neue und fürchterlichere Bedeutung beigelegt hat.

Auf diesem gemeinschaftlichen Boden begegne ich Ihnen, indem ich an Ihre höhere Natur und Ihr besseres Urtheil appelliere.

Behalten Sie Ihre gegenwärtige Ueberzeugung, daß die statt gehabten Ereignisse, welcher Art sie auch sein mögen, nicht mit den gewöhnlichen Naturgesetzen zu vereinbaren sind, und fassen Sie Ihre eigene Lage bei dem besten und klarsten Lichte ins Auge, das Ihr Aberglaube darauf werfen kann. Was sind Sie? Ein hilfloses Werkzeug in den Händen des Schicksals. Ohne eine Möglichkeit des Widerstandes sind Sie dazu verdammt, mit verbundenen Augen Elend und Verderben auf einen Mann herabzurufen, mit dem Sie sich in harmloser und dankbarer Weise durch Bande brüderlicher Liebe verbunden haben. Alle moralische Festigkeit Ihres Willens und alle moralische Reinheit Ihrer Bestrebungen vermögen nichts wider den erblichen Drang zum Bösen in Ihnen, welcher durch ein Verbrechen entstanden ist, das Ihr Vater beging, ehe Sie geboren waren. Worin endet dieser Glaube? In der Finsternis, in der Sie jetzt verloren sind, in den Widersprüchen, die Sie jetzt verwirren, in der starrsinnigen Verzweiflung, durch die der Mensch seine Seele entweiht und zu den Thieren herabsinkt, die da sterben müssen.

Aufgeblickt, mein armer duldender Bruder, aufgeblickt, mein schwer geprüfter, viel geliebter Freund, erheben Sie die Blicke höher! Begegnen Sie den Zweifeln, die Sie jetzt bestürmen, auf dem gesegneten Felde christlichen Muthes und christlicher Hoffnung, und dann wird Ihr Herz sich wieder Allan zuwenden und Ihr Gemüth wieder Frieden finden. Was auch kommen möge, Gott ist allgütig, Gott ist allweise; natürlich oder übernatürlich Alles kommt durch ihn. Das Geheimnis; des Bösen, das unsere schwachen Geister trübt, der Kummer und Jammer, die uns in diesem armseligen Leben quälen, können die eine große Wahrheit nicht erschüttern, daß das Schicksal des Menschen in den Händen, des Schöpfers ruht, und daß Gottes lieber Sohn starb, um uns Gottes würdiger zu machen. Es gibt nichts Böses, aus dem nach seinen Gesetzen nicht Gutes entstehen kann. Bleiben Sie dem getreu, was Christus Ihnen als die Wahrheit gezeigt hat. Kräftigen Sie in Ihrem Herzen, was auch geschehen mag, die Tugenden der Liebe, der Dankbarkeit, der Geduld und Nachsicht gegen Ihre Mitmenschen und überlassen Sie alles Andere demüthig und vertrauensvoll dem Gotte, der Sie geschaffen, und dem Heilande, der Sie mehr geliebt hat als sein eigenes Leben.

Das ist der Glaube, in dem ich durch Gottes Hilfe und Gnade von meiner Jugend an gelebt habe. Ich bitte Sie inständigst, ich bitte Sie zuversichtlich, machen auch Sie sich ihn zu eigen. Er ist die Triebfeder alles Guten, was ich je gethan, alles Glücks, daß ich je gekannt habe; er erhellt meine Dunkelheit und belebt meine Hoffnung; er tröstet und beruhigt mich auf diesem Lager, auf dem ich entweder Leben oder Tod finden soll, ich weiß nicht, was von beiden. Lassen auch Sie sich durch ihn aufrichten, trösten und erleuchten; er wird Ihnen in Ihrer größten Noth beistehen, wie er mir in meiner Noth beigestanden hat, und wird Ihnen in den Ereignissen, die Sie mit Allan zusammengeführt haben, einen andern Endzweck zeigen als den, welchen Ihr schuldbeladener Vater voraussah. Ich leugne nicht, daß Ihnen schon wunderbare Dinge begegnet sind, und leicht können sich noch wunderbarere ereignen, die ich vielleicht nicht mehr erlebe. Erinnern Sie sich, wenn diese Zeit kommt, daß ich in der entschiedenen Ueberzeugung gestorben, daß Ihr Einfluß aus Allan kein anderer als ein guter ist. Das große göttliche Sühneopfer hat selbst in dieser Welt seine Nachahmer. Ist Allan je von Gefahr bedroht, so werden Sie, dessen Vater seinem Vater das Leben raubte, Sie und kein Anderer der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten.

Kommen Sie zu mir, wenn ich am Leben bleibe. Kehren Sie zu dem Freunde zurück, der Sie liebt, ob ich lebe oder sterbe. Bis zum Ende aufrichtig der Ihre

Decimus Brock.«

»Sie und kein Anderer werden der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten!«

Dies die Worte, die mir die innerste Seele erschüttert haben. Dies die Worte, welche mir ein Gefühl verursachen, als ob der Todte sein Grab verlassen habe und seine Hand auf jene Stelle in meinem Herzen legte, wo mein fürchterliches Geheimniß vor allen menschlichen Blicken außer den meinigen verborgen liegt. Ein Theil des Briefes ist bereits in Erfüllung gegangen. Die Gefahr, die er voraussieht, bedroht Armadale schon in diesem Augenblicke, und zwar durch mich!

Wenn die günstigen Umstände, die mich bis hierher getrieben, mich bis zum Ende forttreiben und wenn die letzte irdische Ueberzeugung des alten Mannes eine wahre Prophezeiung ist, so wird Armadale mir entwischen, was ich auch anfangen mag. Und Midwinter wird geopfert werden, damit sein Leben gerettet werde.

Es ist fürchterlich! Es ist unmöglich! Es soll nimmer geschehen! Bei dem bloßen Gedanken daran bebt mir die Hand und sinkt mir das Herz. Ich segne dies Beben, das mich schwach macht! Ich segne das Sinken des Herzens, das mich ohnmächtig macht! Ich segne die Worte in dem Briefe, welche mir jene weichen Gedanken wiedererweckt haben, die mir vor zwei Tagen kamen! Ist es schwer, jetzt, da die Ereignisse mich glatt und sicher immer näher und näher dem Ziele zuführen, die Versuchung zum Weitergehen zu überwinden? Nein! Ist nur eine Möglichkeit vorhanden, daß Midwinter Unheil droht, so reicht die Furcht vor dieser Möglichkeit hin, mich zu bestimmen, um seinetwillen der Versuchung zu widerstehen. Ich habe ihn noch nie so sehr geliebt wie jetzt.

Sonntag, den 10. August. Der Tag vor meiner Hochzeit! Ich schließe und verschließe dieses Buch, um nie wieder darein zu schreiben und es nie wieder zu öffnen.

Ich habe den großen Sieg errungen; ich habe meine eigene Schlechtigkeit zu Boden geworfen. Ich bin unschuldig, ich bin wieder glücklich. Mein Leben! Mein Engel! Wenn Du morgen mein wirst, werde ich in meinem Herzen keinen Gedanken hegen, der nicht auch der Deinige ist!«



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Die Stunde war neun Uhr früh, der Schauplatz ein Privatzimmer in einem der altmodischen Wirthshäuser, wie man sie noch immer auf der Boroughseite jenseits der Themse findet, das Datum Montag, den 11. August und die Person Mr. Bashwood, der auf eine Aufforderung seines Sohnes nach London gekommen und tags zuvor in dem Wirthshause eingekehrt war.

Noch nie hatte er so jämmerlich alt und hilflos ausgesehen wie jetzt. Das Wechselfieber von Hoffnung und Verzweiflung hatte ihn bis zum Schemen abgezehrt. Die scharfen Ecken seiner Gestalt waren noch schärfer geworden. Die Umrisse seines Gesichts waren zusammengeschrumpft. Sein Anzug wies mit traurigem und auffallendem Nachdruck auf die mit ihm vorgegangene Veränderung hin. In seinem ganzen Leben, selbst in seiner Jugend, hatte er sich nicht gekleidet wie jetzt. Mit einem verzweifelten Entschlusse, nichts unversucht zu lassen, wodurch er einen Eindruck auf Miß Gwilt machen könnte, hatte er seine trübseligen schwarzen Kleider abgelegt und sogar den Muth gefunden, sich mit seiner blauen Atlascravatte zu schmücken. Sein Rock war ein Reitrock von hellgrauem Tuch. Mit rachsüchtiger Schlauheit hatte er ihn nach dem Muster eines Rockes bestellt, den er Allan hatte tragen sehen. Seine Weste war weiß und seine Beinkleider von großgewürfeltem hellem Sommerzeuge. Seine Perücke war geölt und parfümiert und auf jeder Seite nach vorn gebürstet, um die Runzeln seiner Schläfe zu verbergen. Er war ein Gegenstand, über den man hätte lachen, über den man hätte weinen mögen. Selbst seine Feinde, wenn ein so elendes Geschöpf überhaupt Feinde haben könnte, würden ihm verziehen haben, hätten sie ihn in seinem neuen Anzuge gesehen. Seine Freunde, wenn ihm noch solche geblieben waren, würden weniger um ihn getrauert haben, hätten sie ihn in seinem Sarge gesehen, anstatt in der Verfassung, in welcher er sich jetzt zeigte. Unablässig, ruhelos wanderte er im Zimmer auf und ab. Bald sah er nach seiner Uhr, bald aus dem Fenster, bald auf den wohlbesetzten Frühstückstisch, immer mit dem gleichen erwartungsvollem unruhig fragenden Ausdruck in seinen Blicken. Der Kellner, der die Theemaschine brachte, hörte zum fünfzigsten Male die eine Redeformel, die der unglückselige Mensch heute Morgen aussprechen zu können schien: »Mein Sohn kommt zum Frühstück. Mein Sohn ist sehr eigen. Ich wünsche Alles vom Besten, warme Speisen und kalte Speisen und Thee und Kaffee und alle Zuthaten, Kellner, alle Zuthaten.« Zum fünfzigsten Male wiederholte er jetzt diese Worte, und zum fünfzigsten Male hatte so eben der unerschütterliche Kellner seine begütigende Antwort wiederholt; »Schon gut, Sir; Sie dürfen sich auf mich verlassen«, als sich auf der Treppe gemächliche Schritte vernehmen ließen, die Thür geöffnet ward und der langersehnte Sohn, eine saubere, schwarzlederne Tasche in der Hand, mit der sorglosesten Miene ins Zimmer geschlendert kam.

»Bravo, alter Herr!« sagte Bashwood der Jüngere, indem er mit einem höhnischen Lächeln der Ermuthigung das väterliche Costüm betrachtete. »Du kannst jeden Augenblick mit Miß Gwilt Hochzeit halten!«

Der Vater faßte die Hand des Sohnes und suchte auch zu lachen.

»Du bist so munter, Jemmy«, sagte er, sich wie in alten glücklicheren Zeiten des vertraulichen Namens bedienend. »Du warst von Kindheit an immer ein munterer Knabe, mein lieber Sohn. Komm und setze Dich; ich habe Dir ein hübsches Frühstück bestellt. Alles vom Besten! Alles vom Besten! Welch eine Freude es ist, Dich zu sehen! O du meine Güte, welch eine Freude, Dich zu sehen!« Er schwieg und setzte sich am Tische nieder; sein Gesicht glühte von der Anstrengung, die Ungeduld zu bemeistern, die ihn verzehrte. »Erzähle mir Alles von ihr!« sprudelte er heraus, plötzlich jeden Versuch der Selbstbeherrschung aufgebend. »Ich werde sterben, Jemmy, wenn ich noch länger darauf warten muß. Erzähle, erzähle!«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Bashwood der Jüngere, durch die väterliche Ungeduld nicht im mindesten gerührt. »Erst wollen wir das Frühstück und dann die Dame vornehmen. Immer sachte, alter Herr, immer sachte!«

Er legte seine Ledertasche aus einen Stuhl und nahm dann gelassen und lächelnd und ein Liedchen summend seinem Vater gegenüber Platz.

Einem gewöhnlichen Beobachter würde es nicht gelungen sein, den Charakter des jüngeren Bashwood in dessen Gesichte zu lesen. Sein jugendliches Aussehen, das durch sein helles Haar und sein rundes, bartloses Gesicht noch erhöht wurde, sein unbefangenes Wesen und stets bereites Lächeln, seine Augen, die den Augen derer, die mit ihm sprachen, stets furchtlos begegneten, Alles trug dazu bei, daß er im Allgemeinen einen günstigen Eindruck machte. Unter zehntausenden wäre es vielleicht nur einem charakterlesenden Auge gelungen, die glatte falsche Außenseite dieses Mannes zu durchdringen und ihn als das zu erkennen, was er wirklich war, als das niedrige Geschöpf, welches das noch niedrigere Bedürfniß der Gesellschaft zu seinem Dienste ausgebildet hatte. Da saß er, der geheime Spion unserer Tage, dessen Beschäftigung und dessen geheime Nachfragecomptoirs beständig im Zunehmen sind. Da saß er, der nothwendige Spürhund, wie er dem Fortschritt unserer nationalen Civilisation angehört; ein Mann, der in diesem Falle wenigstens das rechtmäßige und verständliche Produkt des Berufs war, der ihn beschäftigte; ein Mann, der in diesem Berufe auf den leisesten Verdacht hin, wenn dieser leiseste Verdacht ihn nur bezahlte, unter unsere Betten gekrochen wäre, durch Löcher gespäht hätte, die er in unsere Thüren gebohrt; ein Mann, der seinem Herrn nutzlos gewesen, hätte er in Gegenwart seines Vaters die mindeste Regung menschlicher Theilnahme empfinden können, und der verdientermaßen seine Stelle verloren haben würde, wenn er sich unter irgend welchen Verhältnissen einem Gefühle des Mitleids oder der Scham zugänglich erwiesen hätte.

»Immer sachte, alter Herr«, wiederholte er, indem er rings um den Tisch. herum die Schüsseldeckel abhob und unter dieselben sah. »Immer sachte!«

»Werde mir nicht böse, Jemmy«, bat der Vater. »Suche, wenn es Dir möglich, Dir eine Vorstellung von meiner Spannung zu machen. Ich erhielt Deinen Brief schon gestern Morgen. Nachdem er mich benachrichtigt, daß Du entdeckt habest, wer sie sei, und Du dann weiter nichts hinzufügst, habe ich die ganze Reise von Thorpe-Ambrose hierher machen und den ganzen langen fürchterlichen Abend und die ganze lange fürchterliche Nacht in dieser Erwartung durchleben müssen. Die Ungewißheit ist für Leute von meinen Jahren sehr schwer zu ertragen. Was hat Dich abgehalten, gestern Abend, nach meiner Ankunft, zu mir zu kommen, mein Sohn?«

»Ein kleines Diner in Richmond«, sagte der jüngere Bashwood. »Gib mir eine Tasse Thee.«

Mr. Bashwood versuchte der Forderung Folge zu leisten, aber die Hand, mit der er die Theekanne aufhob, zitterte so heftig, daß er fehl goß und den Thee aufs Tischtuch verschüttete. »Es thut mir sehr leid, aber ich kann mich des Zitterns nicht erwehren, wenn ich in großer Aufregung bin«, sagte der alte Mann, als sein Sohn ihm die Theekanne aus der Hand nahm. »Ich fürchte, Jemmy, Du trägst mir das bei meinem letzten Besuch in London Geschehene noch immer nach. Ich gebe zu, daß ich in meiner Weigerung, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, halsstarrig und unvernünftig war. Jetzt aber bin ich verständiger. Du hattest vollkommen Recht, die Sache ganz auf Dich zu nehmen, sowie ich Dir die verschleierte Dame zeigte, die wir aus dem Hotel kommen sahen, und ebenso Recht, als Du mich zu meinen Geschäften in Thorpe-Ambrose zurückschicktest.« Er beobachtete die Wirkung dieser Zugeständnisse auf seinen Sohn und wagte dann zagend abermals eine Bitte. »Wenn Du mir eben jetzt weiter nichts sagen willst«, sprach er mit schwacher Stimme, »so —— so sage mir wenigstens, wie Du sie gefunden hast. Bitte, Jemmy, bitte!«

Bashwood der Jüngere blickte von seinem Teller auf. »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er. »Die Geschichte mit Miß Gwilt hat mehr Zeit und Geld gekostet, als ich erwartet hatte, und je eher wir diesen Theil des Geschäfts abmachen, desto eher können wir dann zu dem kommen, was Du zu wissen wünschest.«

Ohne ein Wort der Gegenrede legte der Vater sein schmutziges altes Taschenbuch und seine Börse vor seinem Sohne auf den Tisch. Bashwood der Jüngere sah in die Börse, bemerkte mit verachtungsvollem Stirnrunzeln, daß sie nicht mehr als einen Sovereign und etwas Silbergeld enthielt, und gab sie unberührt wieder zurück. In dem Taschenbuche, das er dann zunächst öffnete, befanden sich vier Fünfpfundnoten. Bashwood der Jüngere nahm drei derselben unter seine eigene persönliche Obhut und überreichte dann mit einer Verbeugung spöttischer Dankbarkeit und Achtung seinem Vater das Taschenbuch.

»Tausend Dank«, sagte er. »Ein Theil davon kommt den Leuten auf unserm Comptoir zu und der Ueberschuß ist für mich. Eine der wenigen Dummheiten, mein werther Herr Vater, die ich in meinem Leben begangen, war die, daß ich, als Du mich zu Rathe zogst, erwiderte, meine Dienste könntest Du gratis haben. Wie Du siehst, beeile ich mich, diesen Irrthum wieder gut zu machen. Eine Stunde hier und dort war ich gern bereit, Dir zu opfern. Aber diese Geschichte hat Tage in Anspruch genommen und andere Geschäfte in den Hintergrund gedrängt. Ich sagte Dir, ich könne durch Dich nicht verlieren, ich schrieb Dir? in meinem Briefe so deutlich, wie Worte es nur auszudrücken vermögen.«

»Ja, ja, Jemmy. Ich beklage mich nicht, mein Sohn, ich beklage mich nicht. Sprich nicht von dem Gelde, erzähle mir, wie Du sie fandest.«

»Außerdem«, fuhr Bashwood der Jüngere unerschütterlich in seiner Rechtfertigung fort, »habe ich Dir den Vortheil meiner Erfahrung zukommen lassen, ich habe es wohlfeil ausgerichtet. Hätte ein Anderer die Sache in die Hand genommen, so würde es Dich das Doppelte gekostet haben. Ein Anderer würde Mr. Armadale ebenso wohl als Miß Gwilt beobachtet haben. Diese Ausgabe habe ich Dir erspart. Du hast die Gewißheit, daß Mr. Armadale entschlossen ist, sie zu heirathen. Sehr gut. In diesem Falle wissen wir, solange wir sie im Auge behalten, in aller Wirklichkeit auch, wo er zu finden ist. Sobald man weiß, wo die Dame steckt, weiß man auch, daß der Herr nicht fern sein kann.«

»Sehr wahr, Jemmy. Aber wie kam es, daß Miß Gwilt Euch so viel Mühe machte?«

»Sie ist ein verwünscht schlaues Frauenzimmer«, sagte der jüngere Bashwood; »das war der Grund. Sie entschlüpfte uns in einem Modegeschäft. Wir kamen mit der Schneiderin überein und verließen uns darauf, daß sie wiederkommen werde, um das Kleid anzuprobieren, welches sie dort bestellt hatte. In neun Fällen von zehn verlieren selbst die pfiffigsten Weiber den Kopf, wenn sich’s um ein Kleid handelt, und selbst Miß Gwilt war unvorsichtig genug, wiederzukommen. Dies war Alles, was wir wollten. Eins der Frauenzimmer von unserm Comptoir half beim Anprobieren des neuen Kleides und brachte sie dabei in die richtige Stellung, daß sie von einem unserer Leute hinter der Glasthür gesehen werden konnte. Nach dein, was ihm über sie mitgetheilt worden war, schloß er augenblicklich, wer sie sei, denn sie ist in ihrer Art eine berühmte Person. Darauf verließen wir uns aber natürlich nicht. Wir folgten ihr nach ihrer neuen Wohnung und ließen einen Mann von Scotland-Yard [In Scotland-Yard befindet sich das Hauptquartier der Polizei von London. Anm. d. Uebers.] kommen, der sie erkennen mußte, wenn unser Mann hinsichtlich ihrer Identität Recht hatte. Der Mann von Scotland-Yard verwandelte sich für diese Gelegenheit in den Kleiderausträger der Schneiderin und brachte ihr das Kleid. Er sah sie im Gange und erkannte sie auf der Stelle. Du hast Glück, denn ich sage Dir, Miß Gwilt ist ein öffentlicher Charakter. Hätten wir es mit einem weniger bekannten Frauenzimmer zu thun gehabt, so dürfte es uns wochenlange Nachforschungen und Dich Hunderte von Pfunden gekostet haben. Bei Miß Gwilt war ein Tag ausreichend, und ein zweiter Tag lieferte mir ihre ganze Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß in die Hände. Da liegt sie jetzt in meiner schwarzen Handtasche, alter Herr.«

Bashwood’s Vater eilte mit gierigen Augen und ausgestreckten Händen auf die Tasche zu. Der Sohn nahm einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche, blinzte mit den Augen, schüttelte den Kopf und steckte den Schlüssel wieder ein.

»Ich bin noch nicht mit dem Frühstück fertig«, sagte er. »Immer sachte, mein werther Herr, immer sachte!«

»Ich kann nicht warten!« rief der alte Mann mit vergeblichem Ringen nach Selbstbeherrschung. »Schon neun Uhr vorbei! Heute sind es vierzehn Tage, seit sie mit Mr. Armadale nach London fuhr! Sie kann in vierzehn Tagen mit ihm verheirathet sein! Vielleicht verheirathet sie sich heute Morgen mit ihm! Ich kann, nicht warten!«

»Man weiß nie, was man kann, bis man’s versucht«, erwiderte Bashwood der Jüngere. »Versuch’s, und Du wirst finden, daß Du dennoch warten kannst. Was ist aus Deiner Neugierde geworden?« fuhr er das Feuer schürend fort. »Warum fragst Du mich nicht, was ich damit sagen will, wenn ich behaupte, daß Miß Gwilt ein öffentlicher Charakter ist? Warum drückst Du mir nicht Deine Verwunderung darüber aus, daß ich ihrer Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß habhaft geworden? Wenn Du Dich wieder niedersetzen willst, sollst Du’s erfahren. Wo nicht, so will ich mich ausschließlich meinem Frühstück widmen.«

Mr. Bashwood seufzte tief und kehrte an seinen Platz zurück.

»Ich wollte, Du scherztest nicht so gern, Jemmy«, sagte er; »ich wollte, mein lieber Sohn, Du wärest kein solcher Spaßvogel.«

»Scherzen?« wiederholte der Sohn. »Ich kann Dir sagen, daß manche Leute die Sache ernst genug finden würden. Miß Gwilt ist im Verhör gewesen, wo es sich um ihr Leben handelte, und die Papiere in der schwarzen Tasche da enthalten die Instructionen des Anwalts für die Vertheidigung. Nennst Du das etwa einen Scherz?«

Der Vater sprang auf und blickte dem Sohne mit einem frohlockenden Lächeln ins Gesicht, das schauerlich anzusehen war.

»Sie ist auf Leben und Tod in Untersuchung gewesen!« rief er mit einem tiefen Athemzuge der Zufriedenheit aus. »Auf Leben und Tod in Untersuchung!« Er brach in ein langes Gelächter aus und schlug frohlockend mit den Fingern ein Schnippchen. »Ha, ha, ha! Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen dürfte!«

Obgleich ein ausgefeimter Schurke, war doch der Sohn über diesen Ausbruch verhaltener Leidenschaft fast erschrocken.

»Rege Dich nicht aus«, sagte er nicht mehr spöttisch, sondern mürrisch.

Mr. Bashwood setzte sich wieder nieder und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirn. »Nein«, sagte er, seinem Sohne zunickend und zulächelnd, »nein, nein, keine Aufregung, wie Du sagst, ich kann jetzt warten, Jemmy, ich kann warten.«

Er wartete mit unerschütterlicher Geduld; Von Zeit zu Zeit nickte er und lächelte und flüsterte vor sich hin: »Darin ist allerdings etwas, das Mr. Armadale stutzig machen kann!« Aber weder durch Worte noch Mienen oder Gebärden machte er einen weiteren Versuch, seinen Sohn zur Eile anzutreiben.

Bashwood der Jüngere beendete sein Frühstück aus reiner Großthuerei langsam, brannte eine Cigarre an und beobachtete seinen Vater. Endlich öffnete er, da er den alten Mann noch immer geduldig warten sah, die schwarze Ledertasche und legte die Papiere auf dem Tische auseinander.

»Wie willst Du’s hören?« fragte er. »Lang oder kurz? Ich habe ihre ganze Lebensgeschichte hier. Der Anwalt, der sie beim Verhör vertheidigte, war instruiert, das Mitleid der Geschworenen zu bearbeiten; er stürzte sich kopfüber in das Elend ihrer frühem Laufbahn und erfüllte durch seine Kunst alle Anwesenden mit Schauder. Soll ich es ebenso machen? Willst Du Alles von ihr hören, von der Zeit an, wo sie kurze Kleidchen und Höschen trug? Oder ziehst Du es vor, sie sogleich als Angeklagte vor den Schranken zu erblicken?«

»Alles will ich von ihr wissen«, sagte der Vater eifrig. »Das Schlimmste und das Beste, namentlich aber das Schlimmste. Schone mich nicht, Jemmy! Darf ich mir die Papiere nicht selbst ansehen?«

Nein, das kannst Du nicht. Sie würden für Dich lauter Griechisch und Hebräisch sein. Danke Du den Sternen, daß Du einen gescheidten Sohn hast, der diesen Papieren das Mark entnehmen und es dann richtig gewürzt zu servieren versteht. Keine zehn Personen gibt’s in England, welche Dir die Geschichte dieses Frauenzimmers so erzählen könnten, wie ich Dir dieselbe erzählen kann. Das ist ein Talent, alter Herr, wie es nur Wenigen zu Theil wird, und es wohnt hier.«

Er klopfte sich hierbei keck an die Stirn und wandte sich mit unverstelltem Triumph über die Aussicht, seine Klugheit produciren zu können, was beiläufig der erste Ausdruck von Gefühl war, den er bisher verrathen, zur ersten Seite des vor ihm liegenden Manuscripts.

»Mit? Gwilt’s Lebensgeschichte«, hob Bashwood der Jüngere an, »beginnt auf dem Marktplatze von Thorpei-Ambrose. Vor etwa einem Vierteljahrhundert kam eines Tages ein fahrender Quacksalber, der; sowohl mit wohlriechenden Wassern als mit Medicin handelte, mit seinem Karren in der Stadt an und stellte als ein lebendiges Beispiel der Vortrefflichkeit seines Haaröls und dergleichen ein hübsches kleines Mädchen mit wundervollem Haar und einer blendenden Hautfarbe vor. Sein Name war Oldershow. Er hatte eine Frau, die ihm im Parfümeriezweige des Geschäfts assistierte und dieses nach seinem Tode allein fortsetzte Sie hat sich seitdem in der Welt emporgeschwungen und ist dieselbe schlaue alte Dame, die sich vor kurzem meiner in meiner amtlichen Eigenschaft bediente. Was das hübsche kleine Mädchen anlangt, so weißt Du ebenso gut wie ich, wer dasselbe war. Während der Wunderdoctor dem Volke Reden hielt und ihm das Haar des Kindes zeigte, kam eine junge Dame über den Marktplatz gefahren; sie ließ halten, um zu erfahren, was es dort gebe, und faßte augenblicklich eine große Vorliebe für das kleine Mädchen Diese junge Dame war die Tochter von Mr. Blanchard auf Thorpe-Ambrose. Sie fuhr heim und erweckte das Interesse ihres Vaters für das unschuldige kleine Opfer des Quacksalbers. Am nämlichen Abende wurden die Oldershaws nach dem Herrnhause beschieden und über das Kind befragt. Sie erklärten sich für dessen Onkel und Tante, was natürlich eine Lüge war, und waren mit Vergnügen bereit, das Mädchen die Dorfschule besuchen zu lassen, solange sie sich in Thorpe-Ambrose aufhielten. Das wurde denn auch schon am folgenden Tagen ins Werk gesetzt, und tags darauf waren die Oldershaws verschwunden und hatten das Kind der Obhut des Squire überlassen! Offenbar hatte die Kleine in ihrer Eigenschaft als lebendige Reclame ihren Erwartungen nicht entsprochen, und sie entschlossen sich darum, sie auf diese Art zu versorgen. Da hast Du den ersten Act der Komödie! Bis hierher klar genug, nicht wahr?«

»Klar genug, Jemmy, für gescheidte Leute. Aber ich bin alt und langsam im Begreifen. Eins verstehe ich nicht. «Wessen Kind war sie?«

»Eine sehr verständige Frage. Bedaure aber, Dir sagen zu müssen, daß Niemand, Miß Gwilt selbst mit eingeschlossen, diese Frage beantworten kann. Die Instructionen, auf die ich mich hier beziehe, sind natürlich auf ihre eigenen Angaben begründet und von ihrem Anwalte gesichtet worden. Alles, dessen sie sich zu erinnern vermochte, war, daß sie irgendwo auf dem Lande bei einer Frau, welche Kinder zur Pflege aufnahm, gehungert hatte und geprügelt worden war. Diese Frau besaß eine Karte, auf welcher angegeben war, daß das Mädchen Lydia Gwilt heiße, und erhielt durch die Vermittelung eines Advocaten alljährlich eine Summe Geldes für die Erziehung des Kindes, bis dieses acht Jahre alt war. Dann hörte die Zahlung plötzlich auf; der Advocat konnte dafür keinerlei Erklärung geben; Niemand kam, sich nach dem Mädchen umzusehen, und kein Mensch bekümmerte sich auch schriftlich um sie. Die Oldershaws sahen sie und meinten, sie dürfe sich wohl zu einer Reclame für sie eignen; die Frau überließ sie ihnen um eine Kleinigkeit, und Oldershaws ihrerseits überließen sie ganz und gar dem Blanchard. Dies die Geschichte ihrer Geburt, Herkunft und Erziehung! Sie kann ebenso gut die Tochter eines Herzogs wie die Tochter eines Trödlers sein. Entweder sind die Verhältnisse dabei höchst romantisch oder höchst alltäglich. Denke Dir, was Du willst, und thue Deiner Phantasie keinen Zwang an. Bist Du aber mit Deinen Phantasien fertig, so sprich, damit ich dann umblättere und fortfahre.«

»Bitte, fahre fort, Jemmy!«

»Miß Gwilt’s nächstes Auftreten«, fuhr Bashwood der Jüngere fort, indem er in seinen Papieren blätterte, »gewährt einen Blick in ein Familiengeheimniß. Das verlassene Kind hatte endlich Glück gehabt. Es hatte die Gunst einer liebenswürdigen jungen Dame mit einem reichen Vater gewonnen und ward in der Eigenschaft von Miß Blanchard’s neuem Spielzeuge im Herrnhause gehätschelt. Nicht lange darauf reiste Mr. Blanchard mit seiner Tochter ins Ausland und letztere nahm das kleine Mädchen als ihre Kammerjungfer mit. Als sie wieder heimkehrten, war die Tochter inzwischen Gattin und Wittwe geworden, und das hübsche kleine Mädchen taucht, anstatt ihre Gebieterin nach Thorpe-Ambrose zu begleiten, plötzlich ganz allein als Zögling einer Pensionsanstalt in Frankreich auf. Dort war sie in einem Pensionat ersten Ranges, wo für ihren Unterhalt und ihre Erziehung gesorgt wurde, bis sie sich verheirathen oder anderweitig im Leben etablieren würde, indeß unter der Bedingung, daß sie niemals nach England zurückkehre. Dies waren alle Details, welche sie dem Advocaten geben wollte, welcher diese Mittheilungen aufsetzte. Sie wollte durchaus nicht sagen, was auf dem Continent geschehen war, wollte nach all den Jahren, die inzwischen verstrichen, nicht einmal den Namen des Gatten ihrer Herrin angeben. Natürlich ist vollkommen klar, daß sie im Besitz irgend eines Familiengeheimnisses war, und daß die Blanchards für ihre Erziehung im Auslande bezahlten, um sie fern zu halten. Ebenso ist klar, daß sie dieses Geheimniß nicht bewahrt haben würde, wie sie es that, hätte sie nicht eingesehen, daß sie künftig einmal damit schachern könne. Ein schlaues Weib, wie ich Dir bereits gesagt habe! Ein verwünscht schlaues Weib, das sich nicht umsonst in der Welt herumgeschlagen und daheim wie im Auslande mit den Licht- und Schattenseiten des Lebens vertraut geworden ist!«

»Ja, ja, Jemmy, sehr wahr. Wie lange ist sie in jener Schule in Frankreich geblieben?«

Bashwood der Jüngere wandte sich zu seinen Papieren.

»Sie blieb in der französischen Schule«, erwiderte er, »bis zu ihrem siebzehnten Jahre. Um jene Zeit begab sich etwas in der Schule, was hier gelind als etwas Unangenehmes bezeichnet wird. Die einfache Thatsache aber war die, daß der Musiklehrer der Pension sich heftig in Miß Gwilt verliebte. Er war ein repectabler Mann in mittleren Jahren mit Frau und Kindern, und da er sah, daß die Sache für ihn völlig hoffnungslos war, nahm er eine Pistole und versuchte, in der übermüthigen Voraussetzung daß er Gehirn im Kopfe trage, dies durch eine Kugel zu vernichten. Die Aerzte retteten ihm jedoch das Leben, nicht aber seine Vernunft, und er endete, wo er eigentlich hätte anfangen sollen, im Irrenhause. Da Miß Gwilt’s Schönheit zu diesem skandalösen Ereigniß den Anlaß gegeben hatte, war es, obgleich es sich herausstellte, daß sie bei der ganzen Geschichte durchaus kein Tadel traf, natürlich unmöglich, sie nach dem Vorfall noch länger in dem Pensionat zu lassen. Man schrieb an ihre Gönner, die Blanchards, und diese versetzten sie nach einem andern Pensionat, diesmal in Brüssel. Worüber seufzest Du? Wo fehlt Dir’s jetzt?«

»Ich kann nicht umhin, für den armen Musiklehrer zu fühlen, Jemmy. Fahre fort!«

»Nach ihrer eigenen Angabe scheint Miß Gwilt auch für ihn gefühlt zu haben, Väterchen. Sie wandte sich einer ernsten Richtung zu und ward von der Dame, unter deren Obhut man sie gestellt hatte, bis sie nach Brüssel gehen sollte, bekehrt, wie man’s nennt. Der Pfaffe in dem belgischen Pensionat scheint ein Mann von einigem Verstande gewesen zu sein und gesehen zu haben, daß die Gefühle des Mädchens sich in einem gefährlich aufgeregten Zustande befanden. Ehe es ihm jedoch gelang, sie zu beruhigen, ward er krank, und ein anderer Pfaffe, ein Fanatiker trat an seine Stelle. Das Interesse, das er an dem Mädchen nahm, und die Art und Weise, in der er auf dessen Gefühle einwirkte, wirft Du begreifen, wenn ich Dir sage, daß sie, nachdem sie fast zwei Jahre in dem Pensionat zugebracht hatte, ihren Entschluß ankündigte, ins Kloster zu gehen! Mache immer große Augen! Miß Gwilt in der Rolle einer Nonne ist eine Art weiblichen Phänomens, wie man es nicht oft sieht. Die Weiber sind wunderbare Geschöpfe.«

»Ist sie ins Kloster gegangen?« fragte Mr. Bashwood. »Ließ man sie, die so freundlos und so jung war und Niemand hatte, der ihr guten Rath geben konnte, ins Kloster gehen?«

»Der Form wegen wurden Blanchards zu Rathe gezogen«, fuhr Bashwood der Jüngere fort. »Sie hatten, wie Du leicht begreifen wirst, nichts dagegen einzuwenden, daß sie sich in ein Kloster einsperrte. Ich stehe dafür, der angenehmste Brief, den sie je von ihr erhielten, war der, in dem sie auf immer in dieser Welt feierlich von ihnen Abschied nahm. Die Klosterleute waren so vorsichtig wie immer, sie compromittirten sich nicht. Ihre Vorschriften gestatteten nicht, daß Miß Gwilt den Schleier nähme, bis sie das Leben bei ihnen zuvor auf ein Jahr und dann, wenn sie noch irgend welche Zweifel hätte, auf ein zweites Jahr versucht hätte. Demnach versuchte sie es auf ein Jahr und —— zweifelte. Sie versuchte es ein zweites Jahr und war dann gescheidt genug geworden, ohne ferneres Zögern davon abzustehen. Wieder in Freiheit, sah sie sich in ziemlich unangenehmer Lage. Die Schwestern im Kloster hatten ihr Interesse für sie verloren; die Oberlehrerin wollte sie nicht als Gehilfin annehmen, weil sie zu hübsch für die Stelle sei; der Pfaffe aber erklärte sie als vom Teufel besessen. So blieb nichts weiter übrig, als nochmals an Blanchards zu schreiben und sie zu bitten, sie noch einmal als Privatmusiklehrerin zu etablieren. Ihre frühere Herrin hatte an der Aufrichtigkeit ihres Entschlusses, Nonne zu werden, offenbar von vornherein gezweifelt, und die Gelegenheit, die sich durch jenen Abschiedsbrief von vor drei Jahren bot, benutzt, allen Verkehr mit ihrer ehemaligen Kammerjungfer abzubrechen. Miß Gwilt erhielt ihren Brief durch die Post zurückgesandt. Sie zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Mr. Blanchard todt sei und seine Tochter das Herrnhaus verlassen habe, um sich an einen unbekannten Ort zurückzuziehen. Ihr nächstes unternehmen war nun ein Schreiben an den Erben, welcher die Güter besaß. Dieser Brief ward von dessen Sachwalter beantwortet und enthielt die Meldung, daß er beauftragt sei, gerichtlich gegen sie einzuschreiten, sowie sie versuche, von irgend einem Mitgliede der Familie zu Thorpe-Ambrose Geld zu erpressen. Ihre letzte Hoffnung bestand darin, den Namen des Ortes zu erfahren, wo ihre ehemalige Herrin in Zurückgezogenheit lebte. Der Banquier der Familie, an den sie deshalb schrieb, erwiderte ihr, er habe die Weisung erhalten, Niemand die Adresse der Dame zu geben, wenn er nicht zuvor von der Dame selbst dazu ermächtigt worden sei. Dieser letzte Brief machte der Sache ein Ende, Miß Gwilt konnte nichts weiter thun. Hätte ihr Geld zu Gebote gestanden, so hätte sie nach England reisen und Blanchards zu verstehen geben können, wie wenig rathsam es für sie sei, die Sache zu weit zu treiben. Da sie’ aber über keinen Heller zu verfügen hatte, war sie hilflos Du wirst Dich vielleicht wundern, wie sie, ohne Geld und ohne Freunde, während dieser Correspondenzen existieren konnte. Sie fand ihren Unterhalt dadurch, daß sie in einem Concertsaale niederer Sorte in Brüssel Klavier spielte. Natürlich belagerten sie die Männer von allen Seiten, aber sie war unempfindlich wie Diamant. Einer dieser abgewiesenen Herren war ein Russe, und dieser machte sie mit einer seiner Landsmänninnen bekannt, deren Namen fremden Lippen unaussprechlich ist. Geben wir ihr ihren Titel und nennen sie die Baronin. Beide Frauen gefielen einander, als sie sich vorgestellt wurden, und ein neues Leben erschloß sich Miß Gwilt. Sie ward die Vorleserin und Gesellschafterin der Baronin. Aus der Oberfläche war Alles glatt und eben, darunter Alles faul und häßlich.«

»Wie so, Jemmy? Bitte, warte einen Augenblick und sage mir, wie so?«

»Folgendermaßen. Die Baronin liebte das Reisen und hatte einen ausgewählten Kreis von Freunden um sich, die diesen ihren Geschmack theilten. Man reiste von einer Stadt des Continents nach der andern und als charmante Leute fand man überall neue Bekanntschaften. Die Bekanntschaften wurden zu den Gesellschaften der Baronin eingeladen, unter deren Möbeln der Kartentisch niemals fehlte. Begreifst Du jetzt, oder muß ich Dir im strengsten Vertrauen erzählen, daß das Kartenspiel in diesen Gesellschaften nicht als sündlich galt und daß es sich am Schlusse jedes Abends herausstellte, wie das Glück auf der Seite der Baronin und ihrer Freunde gewesen war? Allesamt waren sie Schwindler, und was Du auch darüber denkst, ich zweifle nicht im mindesten, daß Miß Gwilt’s Aussehen und Wesen sie zu einem schätzbaren Lockvogel für die Gesellschaft machten. Ihrer eigenen Angabe nach befand sie sich in völliger Unwissenheit über das, was in Wirklichkeit vorging; sie hatte ganz und gar keine Kenntniß vom Kartenspielen, besaß in der ganzen Welt keine einzige achtbare Bekanntschaft und fühlte eine wirkliche Zuneigung zur Baronin, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Baronin von Anfang bis zu Ende ihr eine wirklich gute Freundin war. Du kannst dies glauben oder nicht, ganz wie Dir’s beliebt. Fünf Jahre reiste sie mit diesen Gaunern auf dem ganzen Continente umher und gehörte vielleicht noch jetzt ihrer Gesellschaft an, wäre in Neapel die Baronin nicht an den unrechten Mann gerathen, an einen reichen reisenden Engländer Namens Waldron. Aha! Der Name überrascht Dich, nicht wahr? Wie alle Welt hast Du den Proceß der berüchtigten Mrs. Waldron gelesen? Und nunmehr weißt Du, auch ohne daß ich es Dir sage, wer Miß Gwilt ist?«

Er schwieg und betrachtete seinen Vater mit plötzlichem Erstaunen. Weit entfernt, durch die ihm so eben gemachte Mittheilung niedergeschmettert zu scheinen, wandte Mr. Baswoood sich nach der ersten Ueberraschung mit einer Ruhe zu seinem Sohne, die unter den Umständen ans Wunderbare grenzte. Seine Augen glänzten mit neuer Klarheit, neue Farbe glühte auf seinen Wangen. Wäre so etwas bei einem Manne in seiner Lage denkbar gewesen, so hätte man fast annehmen können, daß das so eben Gehörte, anstatt ihn niederzudrücken, ihn vielmehr erhoben hätte. »Fahre fort, Jemmy«, sagte er ruhig, »ich bin einer von den Wenigen, die von jenem Proceß nichts lasen, sondern nur davon hörten.«

Bashwood der Jüngere bemeisterte seine innerliche Verwunderung und fuhr fort:

»Du bist immer hinter Deiner Zeit zurückgeblieben und wirst es ewig bleiben. Wenn wir zu dem Proceß kommen, kann ich Dir davon erzählen, was Du zu wissen brauchst. Inzwischen müssen wir zur Baronin und Mr. Waldron zurückkehren. Einige Abende ließ der Engländer den Schwindlern freies Spiel, mit andern Worten, er bezahlte für das Privilegium, sich bei Miß Gwilt angenehm zu machen. Als er den nothwendigen Eindruck auf sie gemacht zu haben glaubte, stellte er die ganze Schwindlerbande ohne Barmherzigkeit an den Pranger. Die Polizei legte sich ins Mittel, die Baronin sah sich im Gefängniß, und Miß Gwilt hatte zu wählen, ob sie Mr. Waldron? Schutz annehmen oder sich wieder in die Welt hinausgestoßen sehen wollte. Sie war erstaunlich tugendhaft oder erstaunlich schlau, wie Du es eben nehmen willst. Zu Mr. Waldron’s Erstaunen erklärte sie ihm, daß die Aussicht, wieder in die Welt hinausgestoßen zu werden, sie nicht erschrecke, und daß er sich ihr entweder mit ehrenvollen Absichten nahen oder sie auf immer verlassen müsse Das Ende davon war, was es immer sein wird, wenn ein Mann verliebt und ein Weib entschlossen ist. Zur großen Entrüstung seiner Familie und all seiner Angehörigen machte Mr. Waldron aus der Noth eine Tugend und heirathete sie.«

»Wie alt war er?« fragte Bashwood der Aeltere begierig.

Bashwood der Jüngere lachte laut auf. »Er war ungefähr alt genug, Papachen, um Dein Sohn sein zu können, und reich genug, um Dein kostbares Taschenbuch von Tausendpfundnoten bersten zu lassen. Hänge nicht den Kopf! Trotz seiner Jugend und seines Reichthums war die Ehe indeß keineswegs glücklich. Sie lebten im Auslande und wurden anfangs ziemlich gut mit einander fertig. Natürlich machte er, sowie er sich verheirathete, unter dem Einflusse der Flitterwochenzärtlichkeit ein neues Testament. Aber gleich andern Dingen verlieren die Frauen mit der Zeit den Reiz, welchen die Neuheit ihnen verlieh, und Mr. Waldron erwachte eines schönen Morgens mit dem Gedanken, ob er nicht ein Narr gewesen sei. Er war ein Mann von häßlichem Temperamente, er war mit stch selbst unzufrieden und ließ feine Frau dies natürlich fühlen. Nachdem er damit begonnen, sich mit ihr zu zanken, kam er allmälig dahin, sie zu beargwöhnen, und ward wüthend eifersüchtig auf jedes männliche Wesen, das sich im Hause blicken ließ. Hindernisse in der Gestalt von Kindern standen ihnen nicht im Wege, sodaß sie von einem Orte zum andern ziehen konnten, wie seine Eifersucht es ihm eben eingab, bis sie endlich, nachdem sie nahezu vier Jahre verheirathet gewesen, nach England zurückkehrten. Er besaß auf den Haiden von Yorkshire ein einsames altes Landhaus und dort sperrte er sich mit seiner Frau ein, von allem Verkehr, außer dem mit seiner Dienerschaft und seinen Hunden, völlig abgeschnitten. Diese Behandlung einer lebhaften jungen Frau konnte nur ein Resultat haben. Sei es Verhängniß oder sei es Zufall, aber wenn je ein Weib verzweifelt, ist sicherlich ein Mann zur Hand, der es benutzt. Der Mann in unserm Falle war ein dunkles Roß, wie man auf der Rennbahn spricht. Es war ein gewisser Kapitän Manuel, aus Cuba zu Hause und seiner eigenen Angabe nach ehemals Offizier in der spanischen Marine. Er hatte die Bekanntschaft von Mr. Waldron’s schöner Gattin auf ihrer Heimreise nach England gemacht; es war ihm gelungen, trotz der Eifersucht ihres Gatten ihr zu nahen, und er war ihr nach dem Orte ihrer Gefangenschaft in Mr. Waldron’s altem Hause auf der Haide gefolgt. Der Kapitän wird als ein gescheidter, entschlossener Mann dargestellt, als einer vom verwegenen Piratenschlage mit einem Anfluge vom Geheimnißvollen, der den Weibern gefällt ——«

»Sie gleicht den andern Frauen nicht!« sagte Mr. Bashwood plötzlich seinen Sohn unterbrechend »Fand sie ———« Seine Stimme versagte ihm den Dienst und er brach ab, ohne seine Frage zu vollenden. »Fand sie Gefallen an dem Kapitän?« ergänzte Bashwood der Jüngere, abermals laut auflachend. »«Nach ihrer eigenen Angabe vergötterte sie ihn. Zugleich aber war ihr Verhalten, wie sie es selbst darstellt, vollkommen unschuldig. Wenn man bedenkt, wie sorgfältig ihr Gemahl sie bewachte, so muß man, wie unglaublich dies auch scheinen mag, fast annehmen, daß diese ihre Angabe wahr war. Etwa sechs Wochen lang begnügten sie sich mit einem heimlichen Briefwechsel, da es dem Kapitän gelungen war, eins der Dienstmädchen des Hauses zur Zwischenträgerin zu machen. Wir brauchen uns nicht mit Muthmaßungen darüber aufzuhalten, wie die Geschichte hätte enden können —— Mr. Waldron führte selbst die Katastrophe herbei. Ob ihm von dem heimlichen Briefwechsel etwas zu Ohren kam, läßt sich mit Gewißheit nicht entnehmen. So viel steht aber fest, daß er eines Tages wüthender als gewöhnlich von seinem Spazierritt nach Hause kam, daß seine Gattin ihm von dem Uebermuthe eine Probe gab, den er in ihr nicht erdrücken konnte, und daß er ihr schließlich mit der Reitpeitsche ins Gesicht schlug. Ein ungentlemännisches Benehmen, wie ich leider zugeben muß, indeß allem äußern Anscheine nach brachte die Reitpeitsche eine erstaunliche Wirkung hervor. Von jenem Augenblicke an war die Dame so unterwürfig, wie man sie früher nie gesehen hatte. Vierzehn Tage lang that Waldron, was ihm beliebte, und sie widersetzte sich ihm nie; er sagte, was ihm gefiel, und sie äußerte kein Wort der Gegenrede. Wohl Manche hätten geargwöhnt, daß sich unter dieser plötzlichen Besserung etwas Gefährliches verstecke. Ob Mr. Waldron dies that, kann ich nicht sagen. Alles, was man darüber weiß, ist, daß er, ehe noch die Schwielen im Gesichte seiner Frau verheilt waren, erkrankte und zwei Tage darauf starb. Was sagst Du dazu?«

»Ich sage, daß er es verdiente!« erwiderte Mr. Bashwood, in höchster Aufregung mit der Hand auf den Tisch schlagend, als sein Sohn in seiner Erzählung innehielt und ihn ansah.

»Der Arzt, der den Sterbenden behandelte, war nicht Deiner Ansicht«, bemerkte Bashwood der Jüngere trocken. »Er berief noch zwei andere Aerzte und alle drei weigerten sich einen Todtenschein zu geben. Die übliche gerichtliche Untersuchung erfolgte. Das Zeugnis der Aerzte und das der Dienstboten wies unwiderstehlich auf einen und denselben Punkt und Mrs. Waldron ward auf die Anklage, ihren Mann durch Gift getödtet zu haben, Verhaftet. Ein Rechtsanwalt ersten Ranges wurde aus London herbeibeschieden, um die Vertheidigung der Gefangenen zu leiten, und diese Instructionen gestalteten sich demgemäß. Was gibt’s? Was willst Du jetzt?«

Mr. Bashwood hatte sich plötzlich erhoben, die Arme über den Tisch hingestreckt und suchte seinem Sohne die Papiere wegzunehmen. »Ich möchte sie sehen«, rief er begierig. »Ich möchte sehen, was über den Kapitän aus Cuba darin steht. Verlaß Dich darauf, Jemmy, daß er die Geschichte angezettelt hatte. Ich wollte darauf schwören!«

»Das bezweifelte Niemand, der damals den Fall kannte«, erwiderte sein Sohn. »Aber Niemand konnte es beweisen. Setze Dich wieder, mein Alter, und fasse Dich. Ueber Kapitän Manuel steht hier nichts weiter als die Verdachtsgründe des Advocaten in Betreff seiner, nach denen der Anwalt nach Belieben verfahren konnte. Mrs. Waldron hat den Kapitän von Anfang bis zu Ende vertheidigt. Gleich anfangs machte sie freiwillig zwei Angaben, welche ihr Anwalt beide für unwahr hielt. Erstens erklärte sie sich für unschuldig an dem Verbrechen; darüber war er natürlich nicht erstaunt, denn in dieser Beziehung pflegten seine Clienten ihn meistens zu hintergehen. Zweitens behauptete sie, während sie ihren Briefwechsel mit dem Kapitän zugab, daß dieser sich einzig und allein auf eine von ihm beabsichtigte Entführung bezogen, in die sie infolge der barbarischen Behandlung ihres Gatten zu willigen geneigt gewesen sei. Natürlich verlangte der Advocat die Briefe zu sehen. »Er hat alle meine Briefe verbrannt, wie ich die seinigen«, war die einzige Antwort, die er erlangen konnte. Es war sehr wohl möglich, daß Kapitän Manuel, als er gehört, daß eine Leichenschau in ihrem Hause stattgefunden habe, ihre Briefe verbrannt hatte. Allein der Rechtsanwalt hatte die Erfahrung gemacht, die auch ich gemacht habe, daß ein Weib, das einen Mann liebt, in neunundneunzig Fällen unter hundert seine Briefe aufbewahrt, mag dies nun gefährlich für sie sein oder nicht. Nachdem einmal so sein Argwohn rege geworden war, zog er heimlich Erkundigungen über den fremden Kapitän ein und brachte heraus, daß dieser sich in der allergrößten Geldverlegenheit befand. Zu gleicher Zeit fragte er seine Clientin wegen ihrer Erbschaftserwartungen von ihrem verstorbenen Gemahl. In größter Entrüstung antwortete sie ihm, daß sich unter den Papieren ihres Gatten ein wenige Tage vor seinem Tode heimlich aufgesetztes Testament befunden habe, demzufolge ihr von seinem ganzen ungeheuren Vermögen nur fünftausend Pfund zufallen sollten! »War etwa ein älteres Testament vorhanden«, fragte der Advocat, »das durch das neue widerrufen worden ist?« Allerdings, ein Testament, das er ihrem eigenen Gewahrsam anvertraut habe und das kurz nach ihrer Verheirathung abgefaßt worden sei. »In dem er seine Wittwe wohl versorgte?« —— »In dem er ihr gerade zehnmal so viel vermachte als in dem zweiten« —— »Hatte sie jenes ersten, jetzt widerrufenen Testaments jemals gegen Kapitän Manuel Erwähnung gethan?« Sie sah die Schlinge, die man ihr mit dieser Frage legte, und antwortete, ohne einen Augenblick zu zögern: »Nein, niemals!« Diese Antwort bestärkte den Advocaten in seinem Verdachte. Er suchte sie durch die Versicherung zu erschrecken, daß sie möglicherweise mit dem Leben dafür zu büßen haben könne, wenn sie ihn hinterginge, allein mit weiblicher Hartnäckigkeit blieb sie bei ihrer Behauptung. Der Kapitän benahm sich seinerseits musterhaft. Er gestand das Entführungsproject, erklärte, aus Rücksicht für den Ruf der Dame alle ihre Briefe verbrannt zu haben, blieb in der Nachbarschaft und erbot sich, vor Gericht zu erscheinen. Nichts wurde entdeckt, wonach er gesetzlicherweise mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht oder am Tage des Verhörs in einer andern Eigenschaft als der eines Zeugen vor Gericht beschieden werden konnte. Ich selbst bin der Ansicht, kein moralischer Zweifel kann darüber obwalten, daß Manuel von dem Testamente wußte, welches seiner Geliebten fünfzigtausend Pfund vermachte, und daß er dieses Umstandes wegen vollkommen bereit war, sie nach Mr. Waldron’s Tode zu heirathen. Wenn irgend ein Mensch sie dazu verleitete, sich ihre Freiheit zu verschaffen indem sie sich selbst zur Wittwe machte, so kann dies nur der Kapitän gewesen sein. Und wenn es ihr bei der Bewachung und Beobachtung, die sie umgaben, nicht möglich war, sich das Gift selbst zu verschaffen, so muß dieses ihr in einem Briefe von dem Kapitän zugegangen sein.«

»Ich glaube nicht, daß sie Gebrauch von dem Gifte gemacht, selbst wenn es ihr zugeschickt worden wäre!« rief Mr. Bashwood. »Ich glaube, daß der Kapitän selbst ihren Gatten vergiftet hat!«

Ohne auf die Unterbrechung zu achten, legte Bashwood der Jüngere die Vertheidigungsacten zusammen, die jetzt ihrem Zwecke gedient hatten, that sie wieder in die Handtasche und nahm statt ihrer eine gedruckte Flugschrift heraus.

»Hier ist einer der über den Proceß veröffentlichten Berichte«, sagte er, »den Du lesen kannst, wenn Du Zeit dazu hast. Es ist unnöthig, uns jetzt bei den Einzelheiten aufzuhalten. Ich habe Dir bereits gesagt, wie geschickt ihr Anwalt diese Anklage des Mordes als eine Complication der mannichfachen Leiden behandelte, die ein unschuldiges Weib betroffen. Die beiden Punkte, auf die (nach diesem vorläufigen Trompetenstoß) die Vertheidigung sich stützte, waren: erstens, daß kein Beweis existierte, daß sie im Besitze von Gift gewesen sei; zweitens, daß die ärztlichen Zeugen, während sie entschieden erklärten, ihr Gatte sei durch Gift getödtet worden, in ihrer Ansicht über das specielle Gift, an dem er gestorben, von einander abwichen. Beides gute Punkte, die zugleich beide aufs beste benutzt wurden; allein das Zeugniß der andern Seite warf Alles um. Es ward bewiesen, daß die Gefangene nicht weniger als drei vortreffliche Beweggründe gehabt habe, ihren Gatten zu tödten. Er hatte sie mit fast beispielloser Grausamkeit behandelt, er hatte sie in einem, soviel ihr bekannt, nicht widerrufenen Testamente zur Erbin eines beträchtlichen Vermögens eingesetzt und sie, ihrer eigenen Angabe nach, von einem andern Manne sich entführen lassen wollen. Nachdem der Kronanwalt diese Beweggründe geltend gemacht hatte, führte er zunächst den Beweis, der in keiner Weise auch nur einen Augenblick angegriffen wurde, daß die einzige Person im Hause, welche dem Verstorbenen möglicherweise das Gift beigebracht haben könne, die Gefangene vor den Schranken sei. Was konnten Richter und Geschworene bei solchem Zeugnisse thun? Das Verdict lautete: »Schuldig«, wie sich dies von selbst verstand, und der Richter erklärte, daß er mit demselben übereinstimme Der weibliche Theil der im Saale Versammelten verfiel fast in Krämpfe, und mit dem männlichen war es wenig besser. Der Richter schluchzte und die Herren Juristen schauderten. Inmitten einer Scene, wie man sie noch nie in einem englischen Gerichtshofe erlebt hatte, ward sie zum Tode verurtheilt. Und sie ist in diesem Augenblicke munter und gesund am Leben, frei, um jedes ihr beliebige Unheil anzustiften und nach Bequemlichkeit jeden Mann, jedes Weib oder Kind zu vergiften, die ihr etwa im Wege sind. Ein höchst interessantes Frauenzimmer! Sieh zu, daß Du in freundschaftlichen Beziehungen mit ihr bleibst, mein werther Alter, denn das Gesetz hat mit den deutlichsten Worten zu ihr gesagt: »Meine bezaubernde Freundin, ich habe keine Schrecken für Dich!«

»Wie kam es, daß sie begnadigt wurde?« fragte Mr. Bashwood athemlos. »Ich habe es damals gehört, aber es ist mir entfallen. Ist sie durch den Minister des Innern begnadigt worden? Dann achte ich den Minister des Innern, dann erkläre ich den Minister des Innern für einen Mann, der seiner Stellung würdig ist.«

»Ganz recht, alter Herr!« erwiderte Bashwood der Jüngere. »Der Minister des Innern war der gehorsame, ergebene Diener einer aufgeklärten, freien Presse und in der That seiner Stelle würdig. Ist es möglich, daß Du nicht weißt, wie sie den Galgen um sein Recht betrog? Dann muß ich es Dir erzählen. Am Abende nach dem Verhör gingen zwei oder drei von den literarischen jungen Buccaniern nach zwei oder drei Zeitungsbureaur und schrieben ein paar herzzerreißende Leitartikel über das Verfahren des Gerichtshofs. Am nächsten Morgen fing das Publikum Feuer wie Zunder, und die Gefangene ward in den Zeitungsspalten von einem Dilettantengerichte zum zweiten Male vernommen. Alle Leute, die in der Sache keine persönliche Erfahrung hatten, ergriffen die Feder und warfen sich mit gütiger Erlaubniß der Redacteure auf die Presse. Aerzte, die den Kranken nicht behandelt hatten und bei der Untersuchung des Leichnams nicht zugegen gewesen waren, erklärten zu Dutzenden, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Advoeaten ohne Clienten, die das Zeugniß nicht gehört hatten, griffen die Geschworenen an, welche es deutlich vernommen, und richteten den Richter, der schon zu Gericht gesessen hatte, ehe viele von ihnen noch geboren waren. Das große Publikum folgte dem Beispiele der Advocaten und der Aerzte und der jungen Buccanier, welche die Sache in Gang gebracht. Das Gesetz, das sie alle bezahlten, damit es sie beschütze, war wirklich in schrecklichem Ernste auf dem Punkte, seine Schuldigkeit zu thun! Gräßlich! Gräßlich! Das britische Publikum erhob sich in Masse gegen die Thätigkeit seiner eigenen Maschine, und der Minister des Innern begab sich in einem Zustande der Verzweiflung zum Richter. Der Richter blieb fest. Er habe damals gesagt, das Verdict sei gerecht, und er sage dies noch jetzt. »Aber gesetzt«, sprach der Minister des Innern, »die Anklage hätte andere Mittel und Wege gewählt, um sie schuldig zu finden, was würden Sie und die Geschworenen dann gethan haben?« Dies konnte natürlich der Richter nicht sagen. Sofort war dies ein Trost für den Minister des Innern. Und als er danach die Zustimmung des Richters erlangte, das streitige ärztliche Zeugniß einem einzigen großen Arzte zur Prüfung vorzulegen, und als dieser eine große Arzt die Sache vom Standpunkte des Mitleids auffaßte, nachdem er zuvor ausdrücklich zu verstehen gegeben hatte, daß er factisch gar nichts von der Sachlage wisse, da war der Minister des Innern vollkommen zufrieden gestellt. Das Todesurtheil spazierte in den Papierkorb, das Urtheil des Gesetzes ward allgemeiner Bestimmung zufolge umgestoßen, und das der Zeitungen behielt den Sieg. Aber das Beste kommt noch. Du erinnerst Dich, was geschah, als das Volk den Lieblingsgegenstand seiner Theilnahme plötzlich freigelassen sah? Allgemein herrschte die Ansicht, daß sie doch eigentlich nicht unschuldig genug sei, um sofort aus dem Gefängnisse entlassen werden zu können. »Strafen Sie sie etwas«, meinte das Volk, »Herr Minister, strafen Sie sie etwas, der Sittlichkeit wegen. Eine milde gerichtlich-medicinische Behandlung, wenn Sie uns den Gefallen thun wollen, und dann werden wir uns für immer über die Sache beruhigt fühlen«

»Scherze nicht darüber!« rief sein Vater. »Ich bitte Dich, Jemmy, scherze nicht darüber! Ward sie einem zweiten Verhöre unterworfen? Das konnten sie nicht, das durften sie nicht wagen! Niemand kann zweimal wegen ein und desselben Vergebens vernommen werden!«

»Bah, bah! Sie konnte sehr wohl zum zweiten Male für ein und dasselbe Vergehen vernommen werden«, entgegnete Bashwood der Jüngere, »und sie ward es. Zum Glück hatte sie zur Beruhigung des Publikums nach Frauenweise eilig das ihr angethane Unrecht selbst wieder gut zu machen gesucht, als sie fand, daß ihr Gatte sie durch einen Federstrich von einer Erbschaft von fünfzigtausend Pfund auf fünftausend reducirt hatte. Am Tage vor der Leichenschau ward die Entdeckung gemacht, daß eine verschlossene Schublade in Mr. Waldrons Schreibtische, in der sich kostbare Juwelen befunden, erbrochen und geleert worden war, und als die Wittwe Verhaftet wurde, fand man die kostbaren Steine, aus ihrer Fassung gebrochen, in ihr Corset eingenäht. Die Dame betrachtete dies als eine rechtmäßige Selbstentschädigung. Das Gesetz erklärte es für einen Raub an den Administratoren des Verstorbenen. Das geringere Vergehen, welches bei einer Anklage wie der des Mordes gegen sie außer Betracht gezogen worden, war gerade das, was in den Augen des Publikums den Schein retten konnte. Bei dem einen Proceß hatte man den Gang der Gerechtigkeit gehemmt, jetzt lag nun Alles daran, bei diesem zweiten Processe der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen. Vom Morde freigesprochen, wurde die Dame wegen Raubes angeklagt. Und noch mehr, wenn ihre Schönheit und ihr Unglück nicht einen tiefen Eindruck auf ihren Advocaten gemacht hätten, würde sie nicht nur noch eine zweite Untersuchung zu bestehen gehabt haben, sondern auch durch die Krone der fünftausend Pfund beraubt worden sein, zu denen sie nach dem zweiten Testamente berechtigt war.«

Ich achte ihren Advocaten, ich bewundere ihren Advocaten!« rief Mr. Bashwood »Ich möchte ihn die Hand drücken und ihm dies sagen.«

»Er würde Dir dafür nicht danken« , bemerkte Bashwood der Jüngere. »Er lebt in dem gemüthlichen Wahne, daß außer ihm selbst kein Mensch weiß, wie er Mrs. Waldron das Legat rettete.«

»Ich bitte um Vergebung, Jemmy«, unterbrach ihn sein Vater, aber nenne sie nicht Mrs. Waldron. Sprich von ihr wie von dem unschuldigen jungen Mädchen, das sie war, als sie die Schule besuchte. Würde es Dir etwas verschlagen, sie mir zu Liebe Miß Gwilt zu nennen?«

»Durchaus nicht! Es verschlägt mir gar nichts, welchen Namen ich ihr gebe. Zum Henker mit Deinen Gefühlen! Laß uns mit den Thatsachen weitergehen. Ehe die zweite Untersuchung stattfand, that der Advocat Folgendes Er sagte ihr, ganz sicherlich werde sie zum zweiten Male schuldig befunden werden. »Und diesmal«, meinte er, »wird das Publikum das Gesetz seinen Lauf nehmen lassen. Haben Sie irgend einen alten Freund, in den Sie volles Vertrauen setzen können?« In der ganzen Welt hatte sie keinen solchen alten Freund. »Sehr gut«, sagte der Advocat, »dann müssen Sie mir vertrauen. unterschreiben Sie dieses Papier; es ist ein fingierter Verkauf all Ihres Eigenthums an mich. Wenn der rechte Augenblick kommt, werde ich zuerst aufs vorsichtigste mit den Executoren Ihres Gatten abschließen und dann das Geld wieder auf Sie übertragen und es, für den Fall, daß Sie sich jemals wieder verheiratheten, ausschließlich Ihnen sichern. Die Krone gibt in derartigen Angelegenheiten häufig ihr Recht auf, die Gültigkeit des Verkaufs zu bestreiten, und verfährt sie nicht härter gegen Sie als gegen andere Leute, so werden Sie, wenn Sie das Gefängniß verlass en, Ihre fünftausend Pfund haben, um das Leben von neuem beginnen zu können!« Sehr niedlich von dem Advocaten, ihr, da sie eben wegen Raubes an den Executoren in Untersuchung genommen werden sollte, den Weg zu zeigen, um die Krone zu betrügen, nicht wahr? Ha, ha, hat Welch eine Welt!«

Dieser letzte Spott blieb von dem Vater unbeachtet. »Im Gefängnisse!« sprach er vor sich hin. »O mein Gott, nach all dem Elend nochmals im Gefängnisse!«

»Ja«, sagte Bashwood der Jüngere, indem er aufstand und sich dehnte und streckte, »so endete die Sache. Der Richtspruch lautete: »Schuldig« und das Urtheil war zweijährige Gefangenschaft. Sie diente ihre Zeit ab und kam, so gut ich es zu berechnen vermag, vor etwa drei Jahren aus der Gefangenschaft. Willst Du wissen, was sie that, als sie ihre Freiheit wiedererlangte und wie sie darauf lebte, so kann ich Dir ein andermal, vielleicht wenn Du wieder ein paar Banknoten in der Tasche hast, wohl etwas davon erzählen. Für jetzt weißt Du alles, was Du zu wissen brauchst. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß diese bezaubernde Dame den doppelten Schimpf an sich trägt, des Mordes schuldig befunden und wegen Diebstahls eingesperrt gewesen zu sein. Da hast Du Dein Aequivalent für Dein Geld und meine wunderbare Geschicklichkeit, eine Sache klar darzulegen, noch mit in den Kauf. Hast Du nur eine Spur von Dankbarkeit in Dir, so solltest Du eines Tages etwas Ansehnliches für Deinen Sohn thun. Ich will Dir sagen, was Du gethan hättest, wenn Du mich nicht gehabt, alter Herr. Du würdest, hättest Du gekonnt, wie Du wolltest, Miß Gwilt geheirathet haben.«

Mr. Bashwood stand auf und sah seinem Sohne fest ins Gesicht.

»Wenn ich könnte, wie ich wollte«, sagte er, »so würde ich sie jetzt heirathen.«

Bashwood der Jüngere trat einen Schritt zurück. »Nach alledem, was ich Dir erzählt habe?« fragte er in äußerstem Erstaunen.

»Noch alledem, was Du mir erzählt hast.«

»Mit der Aussicht, das erste Mal, daß Du sie beleidigt hättest, vergiftet zu werden?«

»Mit der Aussicht«, erwiderte Mr. Bashwood, »nach vierundzwanzig Stunden vergiftet zu werden.«

Der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs sank, von den Worten und den Blicken seines Vaters überwältigt, in seinen Sessel zurück.

»Verrückt!« sprach er für sich. »Toll und verrückt, beim Teufel!«

Mr. Bashwood sah nach seiner Uhr und nahm eiligst seinen Hut von einem Nebentische.

»Ich möchte auch noch das Weitere hören«, sagte er; »ich möchte jedes Wort von dem hören, was Du mir noch von ihr erzählen kannst. Aber die Zeit, die schrecklich galoppiren Zeit verstreicht. Soviel ich weiß, können sie schon in diesem Augenblicke auf dem Wege sein, ihre Heirath zu vollziehen!«

»Was hast Du vor?« fragte Bashwood der Jüngere, sich zwischen seinem Vater und der Thür aufstellend.

»Ich will mich nach dem Gasthofe begeben«, sagte der Vater, indem er an ihm vorbeizukommen versuchte. »Ich will Mr. Armadale aussuchen.«

»Wozu?«

»Um ihm Alles mitzutheilen, was Du mir erzählt hast.« Das fürchterliche Lächeln des Triumphes, das sich schon einmal in seinem Gesichte gezeigt, umspielte abermals seine Lippen. »Mr. Armadale ist jung; er hat noch sein ganzes Leben vor sich«, flüsterte er pfiffig, indem seine zitternden Finger den Arm seines Sohnes umkrallten. »Das, was für mich keine Schrecken hat, wird ihn erschrecken!«

»Warte einen »Augenblick«, sagte Bashwood der Jüngere. »Bist Du noch immer ganz sicher, daß Armadale der Mann ist?«

»Welcher Mann?«

»Der Mann, der sie zu heirathen im Begriff steht.« »Ja, ja, ja! Laß mich gehen, Jemmy, laß mich gehen!«

Der Spion lehnte sich mit dem Rücken gegen die Thür und überlegte einen Augenblick. Mr. Armadale war reich. Mr. Armadale, wenn er nicht auch toll und verrückt war, mochte dazu zu bewegen sein, daß er einer Auskunft, die ihn vor der Schande bewahrte, Miß Gwilt zu heirathen den rechten Geldwerth beilegte. »Wenn ich selbst handle, kann mir die Sache hundert Pfund eintragen«, dachte Bashwood der Jüngere. »Und keinen Heller, wenn ich es meinem Vater überlasse.« Er nahm seinen Hut und seine Ledertasche. »Kannst Du das Alles in Deinem eigenen verdrehten alten Kopfe allein tragen, Väterchen?« fragte er mit seiner unbefangensten Frechheit. »Ganz gewiß nicht! Ich will mit Dir gehen und Dir helfen. Was meinst Du dazu?«

Voll Entzücken umschlang der Vater seinen Sohn. »Ich kann mir nicht helfen, Jemmy«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Du bist so gut gegen mich. Nimm die andere Banknote, mein Sohn, ich will schon ohne sie fertig werden! Nimm die andere Banknote!«

Der Sohn stieß die Thür mit einem Schwunge auf und wandte der dargebotenen Banknote großmuthsvoll den Rücken. »Zum Henker, alter Herr! So habsüchtig bin ich doch nicht«, sagte er mit einer Miene des tiefsten Gefühls. »Stecke Dein Taschenbuch ein und laß uns machen, daß wir fortkommen. Wie kann ich wissen«, dachte er bei sich, während sie die Treppe hinuntergingen, »ob er nicht, nähme ich ihm jetzt seine letzte Fünfpfundnote, die Hälfte verlangt, wenn er Mr. Armadale’s Geld sieht? Komm, Alter!« fuhr er laut fort. »Wir wollen einen Fiaker nehmen und den glücklichen Bräutigam abfangen, ehe er nach der Kirche fährt!«

Sie riefen auf der Straße einen Fiaker an und fuhren nach dem Gasthofe, in dem Midwinter und Allan während ihres Aufenthalts in London logiert hatten. Sowie sich die Wagenthür hinter ihnen geschlossen hatte, nahm Mr. Bashwood die Unterhaltung über Miß Gwilt wieder auf.

»Erzähle mir das Weitere«, sagte er, die Hand seines Sohnes fassend und sie zärtlich streichelnd »Laß uns während der ganzen Fahrt nach dem Hotel von ihr sprechen. Hilf mir über die Zeit hinweg, Jemmy, hilf mir über die Zeit hinweg.«

Bashwood der Jüngere war durch die Aussicht, mit Mr. Armadales Gelde Bekanntschaft zu machen, in der vortrefflichsten Laune. Bis zuletzt spielte er mit seines Vaters sorgenvoller Aufregung.

»Laß sehen, ob Du Dich des Dir schon Erzählten noch erinnerst«, begann er. »In der Geschichte ist eine Persönlichkeit, die aus derselben ganz und unerklärt verschwunden ist. Nun, kannst Du mir sagen, wer das ist?«

Er hatte darauf gerechnet, daß sein Vater dies nicht beantworten könne. Aber Mr. Bashwood’s Gedächtniß war über Alles, was mit Miß Gwilt in Verbindung stand, ebenso scharf und klar wie das seines Sohnes. »Der ausländische Schurke«, sagte er, ohne einen Augenblick zu zaudern, »der sie in die Versuchung führte und sich dann mit Gefahr ihres Lebens von ihr schützen ließ. Sprich nicht von ihm, Jemmy, sprich nicht wieder von ihm!«

»Ich muß von ihm sprechen«, erwiderte der Andere. »Du möchtest wissen, was aus Miß Gwilt ward, nachdem sie das Gefängniß verlassen, nicht wahr? Sehr gut, ich bin in der Lage, Dir dies zu erzählen. Sie ward Mrs. Manuel. Es nützt gar nichts, daß Du mich so anstierst, alter Herr. Ich weiß dies officiell. Zu Ende des vorigen Jahres kam eine ausländische Dame mit Zeugnissen auf unser Comptoir, um zu beweisen, daß sie sich früher, als er zum ersten Male in London gewesen, gesetzlich mit Kapitän Manuel verheirathet hätte. Sie hatte erst kürzlich die Entdeckung gemacht, daß er sich abermals in diesem Lande aufgehalten, und hatte Grund zu glauben, daß er sich in Schottland mit einer andern Frau verheirathet habe. Unsere Leute mußten die erforderlichen Erkundigungen einziehen. Ein Vergleich der Daten ergab, daß die schottische Verbindung, wenn es überhaupt eine Heirath und nicht ein Betrug war, genau um die Zeit stattgefunden hatte, wo Miß Gwilt ihre Freiheit wiedererlangt, und einige weitere Nachforschung lehrte uns, daß die zweite Mrs. Manuel Niemand anders war als die Heldin des berüchtigten Criminalfalls, von der wir damals nicht wußten, wohl aber jetzt, daß sie mit Deiner bezaubernden Freundin Miß Gwilt eine und dieselbe Person ist.«

Mr. Bashwood ließ das Haupt auf die Brust sinken. Er preßte seine zitternden Hände fest zusammen und wartete schweigend auf das Ende der Erzählung.

»Muth gefaßt!« fuhr sein Sohn fort. »Sie war ebenso wenig mit dem Kapitän verheirathet wie Du, und was noch mehr, der Kapitän selbst ist Dir jetzt aus dem Wege geräumt. Seit sie das Gefängniß verlassen ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren —— hatte er Mrs. Manuel’s ganzes Vermögen von fünftausend Pfund vergeudet, und das einzige Erstaunliche blieb nur, woher er das Geld zu den Reisekosten genommen. Es erwies sich, daß er es von der zweiten Mrs. Manuel selbst erhalten hatte. Sie hatte seine Taschen gefüllt und wartete dann geduldig in einer erbärmlichen Londoner möblierten Wohnung, bis sie von ihm hören werde, daß er sich sicher im Auslande niedergelassen habe und sie zu ihm kommen solle. Du wirst die ziemlich natürliche Frage thun, wo sie das Geld herbekommen? Dies konnte damals Niemand sagen. Meine Ansicht ist jetzt die, daß sich ihre ehemalige Herrin noch am Leben befand und sie endlich im Stande war, aus ihrer Kenntniß des Blanchard’schen Familiengeheimnisses Geld zu machen. Dies ist natürlich eine bloße Vermuthung, aber ein Umstand steht damit in Verbindung, der dieselbe meiner Ansicht nach zu einer ziemlich begründeten macht. Sie hatte damals eine ältliche Freundin, die gerade die Person dazu war, die Adresse ihrer ehemaligen Herrin auszukundschaften. Kannst Du den Namen dieser ältlichen Freundin errathen? Ganz gewiß nicht! Nun, sie heißt Mrs. Oldershaw!«

Mr. Bashwood blickte plötzlich auf. »Warum wäre sie wohl zu dem Weibe zurückgekehrt, das sie in der Kindheit verlassen hatte?« fragte er.

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte der Sohn, »es sei denn, daß sie im Interesse ihres prachtvollen Haares zu ihr gegangen. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß die Gefängnißscheere mit Miß Gwilt’s Locken sehr energisch verfahren war, und Mrs. Oldershaw, erlaube ich mir zu bemerken, ist die ausgezeichnetste Wiederherstellerin von alternden weiblichen Köpfen und Gesichtern in ganz England. Rechne zweimal zwei zusammen und dann wirst Du mir in diesem Falle vielleicht beistimmen, daß dies vier macht.«

»Ja, ja, zweimal zwei macht vier«, wiederholte sein Vater ungeduldig. »Aber ich möchte noch eins wissen. Hat sie wieder von ihm gehört? Ließ er sie zu sich kommen, nachdem er ins Ausland gegangen war?«

»Der Kapitän? Ei, woran denkst Du! Hatte er nicht jeden Heller ihres Geldes durchgebracht, und befand er sich auf dem Festlande nicht außer ihrem Bereiche? Ich glaube wohl, daß sie von ihm zu hören hoffte, denn sie glaubte an ihn. Aber ich will jede beliebige Wette mit Dir eingehen, daß sie seine Handschrift niemals wiedersah. Wir thaten im Comptoir unser Möglichstes, ihr die Augen zu öffnen, wir sagten ihr geradezu, daß seine erste Frau am Leben sei und sie keine Spur von einem Anrechte an ihn besitze Sie wollte uns nicht glauben, wiewohl wir ihr die Beweise vorlegten. Halsstarrig, verdammt halsstarrig! Ich möchte behaupten, daß sie Monate lang wartete, ehe sie die Hoffnung aufgab, ihn wiederzusehen.«

Mr. Bashwood sah schnell seitwärts aus dem Wagenfenster hinaus. »Wo konnte sie nur zunächst eine Zuflucht suchen?« sagte er, nicht zu seinem Sohne, sondern für sich. »Was in aller Welt konnte sie anfangen?«

»Nach meiner Erfahrung in der Frauenwelt«, sagte der Sohn, der ihn gehört, »möchte ich zu behaupten wagen, daß sie versuchte, sich zu ertränken. Allein das ist eine bloße Vermuthung, ja in diesem Theile ihrer Geschichte ist Alles nur Vermuthung. Kommst Du zu Miß Gwilt’s Thun und Treiben während des Frühlings und Sommers des laufenden Jahres, Väterchen, so siehst Du mich am Ende meiner Kenntniß. Vielleicht ist sie verzweifelt genug gewesen, um einen Selbstmordversuch zu machen, oder auch nicht, und vielleicht war sie bei jenen Nachforschungen betheiligt, die ich für Mrs. Oldershaw anstellte. Du wirst sie heute Morgen wahrscheinlich sehen und, wenn Du Deinen Einfluß zu benutzen verstehst, vielleicht bewegen können, daß sie ihre Geschichte selbst vollends erzählt«

Noch immer aus dem Fenster sehend, legte Mr. Bashwood plötzlich die Hand auf den Arm seines Sohnes.

»Still! Still!« rief er in heftiger Aufregung. »Wir sind endlich angelangt. O,Jemmy, fühle nur, wie mir das Herz schlägt! Hier ist der Gasthof.«

»Der Henker hol’ Dein. Herz«, sagte Bashwood der Jüngere. »Warte hier, während ich Erkundigungen einziehe.«

»Ich will mit Dir gehen!« rief sein Vater. »Ich kann nicht warten! Ich sage Dir, ich kann nicht warten!«

Sie traten zusammen in den Gasthof und fragten nach Mr. Armadale.

Die Antwort lautete nach einigem Zögern und Verziehen, daß Mr. Armadale vor sechs Tagen abgereist sei. Ein zweiter Kellner fügte hinzu, daß Mr. Armadale’s Freund, Mr. Midwinter, erst diesen Morgen fortgegangen sei. Wo Mr. Armadale hingereist sei? Irgendwohin aufs Land. Wo Mr. Midwinter hingereist sei? Das wisse Niemand.

Mit sprachlosem Schrecken sah Bashwood seinen Sohn an.

»Unsinn!« sagte der jüngere Bashwood, seinen Vater wieder in den Fiaker schiebend. »Er ist uns sicher genug. Wir werden ihn bei Miß Gwilt finden.«

Der alte Mann faßte die Hand seines Sohnes und küßte sie. »Ich danke Dir, mein Sohn«, sagte er, »ich danke Dir für den Trost, den Du mir gibst.«

Der Fiaker fuhr darauf nach der Wohnung, die Miß Gwilt in der Nähe von Tottenham-Court-Road innegehabt.

»Bleibe hier«, sagte der Spion, seinen Vater im Wagen einsperrend. »Ich denke diesen Theil unseres Geschäfts allein abzumachen.«

Er klopfte an die Hausthür. »Ich habe einen Brief für Miß Gwilt«, sagte er, sowie die Thür sich öffnete, in den Gang eintretend.

»Die ist fort «, sagte das Dienstmädchen. »Sie ist gestern Abend abgereist.«

Bashwood der Jüngere vergeudete kein Wort weiter an das Dienstmädchen. Er verlangte ihre Herrin zu sehen. Die Herrin bestätigte die Angabe hinsichtlich Miß Gwilt’s gestern Abend geschehener Abreise. Wo sie hingereist? Das könne sie nicht sagen. Wie sie fortgegangen? Zu Fuße. Um welche Zeit? Zwischen neun und zehn Uhr. Was sie mit ihrem Gepäck angefangen? Sie habe kein Gepäck gehabt. Ob sie gestern ein Herr besucht? Von keiner Seele habe Miß Gwilt Besuch erhalten.

Das Gesicht des Vaters sah bleich und verstört zum Wagenfenster heraus, als der Sohn wieder die Stufen herabkam.

»Ist sie nicht da, Jemmy?« fragte er mit matter Stimme.

»Halte Dein Maul«, rief der Spion, dessen angeborene Rohheit endlich hervorbrach. »Noch bin ich mit meinen Nachforschungen nicht zu Ende.«

Er ging über die Straße und trat in ein Kaffeehaus, das dem so eben verlassenen Hause gerade gegenüber lag.

In dem Verschlag am Fenster befanden sich zwei Männer, die eifrig mit einander sprachen.

»Wer von Euch hatte gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr den Dienst?« fragte Bashwood der Jüngere, plötzlich zu ihnen tretend, mit einem schnellen, gebieterischen Flüstern.

»Ich, Sir«, sagte einer der Männer zögernd.

»Habt Ihr das Haus aus den Augen gelassen? Ja! Ich sehe es Euch an.«

»Nur auf einen Augenblick, Sir. Ein Verdammter Halunke von einem Soldaten kam hier herein ——«

»Genug«, sagte Bashwood der Jüngere. »Ich weiß, was der Soldat that und wer ihn dies thun hieß. Sie ist uns abermals entschlüpft. Ihr seid der größte Esel, den es gibt. Ihr könnt Euch als entlassen betrachten.« Mit diesen Worten und einem Fluche, um denselben Nachdruck zu verleihen, verließ er das Kaffeehaus und kehrte zum Fiaker zurück.

»Sie ist fort!« rief der Vater. »O Jemmy, Jemmy, ich sehe es Deinem Gesichte an!« Er sank mit einem jammervollen Schrei in eine Ecke des Wagens zurück. »Sie sind verheirathet,« stöhnte er vor sich hin, indem seine Hände machtlos auf seine Kniee sanken und der Hut ihm vom Kopfe fiel. »Thut ihnen Einhalt!« rief er, sich plötzlich aufraffend und seinen Sohn wüthend am Rockkragen packend.

»Fahrt zum Gasthofe zurück«, schrie Bashwood der Jüngere dem Kutscher zu. »Laß Dein Geschrei!« fügte er barsch zu seinem Vater gewendet hinzu. »Ich muß nachsinnen.«

Der glatte Firniß war jetzt ganz von ihm gewichen. Seine Leidenschaft war erregt. Sein Stolz —— selbst ein solcher Mensch besitzt seinen Stolz! —— war aufs tiefste verletzt Zweimal hatte er seine Schlauheit mit der eines Weibes gemessen, und zweimal war er von dem Weibe überlistet worden!

Als sie zum zweiten Male vor dem Gasthofe hielten, stieg er aus und suchte heimlich die Dienstboten zu bestechen. Der Erfolg dieses Experiments überzeugte ihn, daß sie diesmal in aller Wirklichkeit keinerlei Auskunft zu verkaufen hatten. Nach kurzem Nachsinnen blieb er stehen, ehe er den Gasthof verließ, und erkundigte sich nach dem Wege zur Kirche des Sprengels. »Es verlohnt sich vielleicht der Mühe, dies zu versuchen«, dachte er bei sich, während er dem Kutscher die Adresse angab. »Schneller!« rief er, nach seiner Uhr und dann seinen Vater ansehend. »Die Minuten sind heute Morgen kostbar und der Alte beginnt schwach zu werden.«

Dies war der Fall. Obgleich noch zu hören und zu verstehen fähig, war der ältere Bashwood doch jetzt außer Stande zu sprechen. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Widerstrebenden Arm seines Sohnes und ließ den Kopf auf dessen Schulter sinken.

Die Kirche des Sprengels stand von der Straße etwas zurück auf einem freien Platze, der von einem Eisengitter umgeben war und dessen Eingang ein eisernes Thor bildete. Der jüngere Bashwood machte sich von seinem Vater frei und ging geradeswegs in die Sakristei. Als er eintrat und bat, das Trauungsregister des Tages sehen zu dürfen, war Niemand zugegen als der Küster, der eben die Kirchenbücher verschließen wollte, und sein Gehilfe, der den Priesterrock aufhing.

Der Küster öffnete ernst das Buch und trat von dem Pulte zurück, auf dem dasselbe lag.

In dem Tagesregister standen drei Heirathen verzeichnet und die beiden ersten Namen auf der Seite waren: Allan Armadale —— Lydia Gwilt.

Selbst der Spion, obwohl er nichts von der Wahrheit ahnte, oder von den fürchterlichen Folgen, zu denen das an diesem Morgen Stattgefundene führen konnte, selbst der Spion fuhr erschrocken zurück, als sein Auge auf das Geschriebene fiel. Es war geschehen! Was auch danach kommen mochte —— es war geschehen. Da stand Schwarz auf Weiß die Heirath verzeichnet, die an sich eine Wahrheit, in den Schlußfolgerungen aber, zu denen sie Anlaß gab, eine Lüge war. Da stand durch die unglückselige Namensgleichheit in Midwinter’s eigener Handschrift der Beweis, der Jeden überzeugen mußte, daß nicht etwa Midwinter, sondern Allan Armadale Miß Gwilt’s Gatte sei.

Bashwood der Jüngere machte das Buch zu und gab es dem Küster zurück. Die Hände ärgerlich in die Taschen steckend und in seiner Selbstachtung ernstlich erschüttert, stieg er die Stufen der Sakristei hinab.

An der Kirchenmauer traf er den Kirchendiener. Einen Augenblick überlegte er, ob es einen Schilling werth wäre, den Mann auszufragen, dann entschied er sich dafür. Konnte man ihre Spur finden und sie einholen, so war noch immer eine Möglichkeit vorhanden, mit Mr. Armadale’s Geld Bekanntschaft zu machen.

»Wie lange ist es her«, fragte er, »seit ds erste Paar, das hier heute Morgen getraut worden ist, die Kirche verlassen hat?«

»Ungefähr eine Stunde«, sagte der Kirchendiener.

»Wie verließen sie die Kirche?«

Der Kirchendiener verschob die Antwort auf diese Frage, bis er sein Honorar in die Tasche gesteckt hatte. »Sie werden ihre Spur von hier nicht verfolgen können, Sir«, sagte er, sowie er seinen Schilling erhalten. »Sie gingen zu Fuße fort.«

»Und mehr wissen Sie nicht?«

»Das ist Alles, Sir, was ich darüber weiß.«

Als er allein war, zauderte selbst der Spion des geheimen Nachforschungscomptoirs einen Augenblick, bevor er zu seinem vor dem Thore wartenden Vater zurückkehrte. Diesem Zögern ward er durch das plötzliche Erscheinen des Fiakerkutschers innerhalb des Kirchengitters entrissen.

»Ich fürchte, der alte Herr wird krank, Sir«, sagte der Mann.

Bashwood der Jüngere runzelte zornig die Stirn und ging nach dem Wagen. Als er die Wagenthür öffnete, sah er seinen Vater vorwärts gebeugt und mit sprachlos sich bewegenden Lippen dasitzen, während auf seinem Gesichte eine bleiche Ruhe lag.

»Sie hat uns überlistet «, sagte der Spion.

»Sie haben sich heute Morgen hier trauen lassen.«

Der Körper des alten Mannes schwankte einen Augenblick von einer Seite zur andern, im nächsten schlossen sich seine Augen und sein Kopf sank auf den Vordersitz des Wagens. »Fahrt nach dem Hospital!« rief der Sohn. »Er hat eine Ohnmacht. Das habe ich dafür, daß ich meinem Vater zu Gefallen aus meinem Wege gehe«, murmelte er, indem er verdrießlich Mr. Bashwood’s Kopf aufrichtete und seine Cravatte löste. »Ein hübscher Morgen, fürwahr, ein hübscher Morgen!«

Das Hospital war in der Nähe und der Hausarzt auf seinem Posten.

»Wird er sich erholen?« fragte Bashwood der Jüngere barsch.

»Wer sind Sie?« fragte seinerseits der Arzt.

»Ich bin sein Sohn.«

»Das hätte man kaum glauben sollen«, erwiderte der Arzt, indem er die Belebungsmittel von der Wärterin entgegennahm und sich mit einer Miene der Erleichterung, die er sich nicht zu verbergen bemühte, vom Sohne ab und dem Vater zuwandte. »Ja«, sagte er nach ein paar Minuten, »diesmal wird sich Ihr Vater noch erholen.«

»Wann kann er von hier fortgeschafft werden?«

»In etwa zwei Stunden kann er das Hospital verlassen.«

Der Spion legte eine Karte auf den Tisch. »Ich will wiederkommen, um ihn abzuholen oder ihn abholen lassen«, sagte er. »Ich kann wohl jetzt gehen, wenn ich meinen Namen und meine Adresse hier lasse?« Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging hinaus.

»Ein Ungeheuer!« sagte die Wärterin. »Nein«, sagte der Arzt gelassen, »ein Mensch.«

Zwischen neun und zehn Uhr abends erwachte Mr. Bashwood in seinem Bette im Gasthofe des Borough. Seit er vom Hospital zurückgebracht worden war, hatte er einige Stunden geschlafen und Geist und Körper begannen sich allmälig gleichzeitig zu erholen.

Auf dem Tischchen am Bette stand eine brennende Kerze und neben derselben lag für ihn ein Brief bereit, sobald er erwachte. Derselbe war in der Handschrift seines Sohnes und enthielt folgende Worte:

»Mein lieber Alter! Da ich Dich sicher aus dem Hospital nach Deinem Gasthofe zurückgeschafft habe, denke ich billigerweise behaupten zu dürfen, daß ich meine Pflicht an Dir gethan habe und jetzt meinen eigenen Angelegenheiten nachgehen kann. Geschäfte verhindern mich, Dich heute Abend zu besuchen, und es scheint mir durchaus nicht wahrscheinlich, daß ich mich morgen Vormittag in Deiner Gegend befinde. Mein Rath an Dich geht dahin, daß Du nach Thorpe-Ambrose zurückkehrst und Dich Deinen dortigen Geschäften widmest. Wo Mr. Armadale sich auch aufhält, früher oder später muß er in Geschäftssachen an Dich schreiben. Ich wasche —— das laß Dir gesagt sein —— von diesem Augenblicke an bezüglich der ganzen Geschichte meine Hände in Unschuld. Doch willst Du darin weitergehen, so ist meine amtliche Meinung die, daß Du, obwohl Du die Heirath nicht zu verhindern vermocht hast, ihn doch von seiner Frau trennen kannst.

Bitte, nimm Deine Gesundheit in Acht.
Dein Dich liebender Sohn

James Bashwood.«

Der Brief fiel dem schwachen alten Manne aus der Hand. »Ich wollte, Jemmy hätte heute Abend zu mir kommen können«, dachte er. »Aber es ist immer sehr freundlich von ihm, mir seinen Rath zu geben.«

Müde drehte er sich auf seinem Kissen um und las den Brief zum zweiten Male. »Ja«, sagte er, »nichts weiter bleibt mir übrig, als zurückzukehren. Ich bin zu arm und zu alt, um ihnen ganz allein nachzujagen« Er schloß die Augen und Thränen rannen über seine gefurchten alten Wangen. »Ich bin Jemmy zur Last gefallen«, murmelte er matt; »ich fürchte, ich bin dem armen Jemmy sehr zur Last gefallen.« Eine Minute später übermannte ihn seine Schwäche und er schlief wieder ein.

Vom nahen Kirchthurme schlug es zehn Uhr. Als die Schläge ertönten, näherte sich der Zug, auf dem sich Midwinter und seine Gattin als Passagiere befanden, rasch Paris. Um dieselbe Zeit hatte die Wache auf Allan’s absegelnder Yacht den Leuchtthurm auf der Höhe von Landsend erspäht und den Curs des Schiffes nach Ushant und Finisterre gerichtet.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

»Neapel, den 10. October. Es sind heute zwei Monate verstrichen, seit ich erklärte, ich wolle mein Tagebuch schließen, um es nie wieder zu öffnen.

Warum habe ich meinen Vorsatz gebrochen? Warum bin ich zu diesem geheimen Freunde meiner elendesten und gottlosesten Stunden zurückgekehrt? Weil ich mich freundloser fühle als je, einsamer als je, obgleich mein Gatte im anstoßenden Zimmer sitzt und schreibt. Mein Elend ist das eines Weibes und es muß sich Luft machen, lieber hier als nirgendwo, gegen mein zweites Ich, dieses Buch, da ich sonst Niemand habe, der mich anhören will.

Wie glücklich war ich in den ersten Tagen nach unserer Heirath und wie glücklich machte ich ihn! Erst zwei Monate sind verstrichen und schon gehört jene Zeit der Vergangenheit an! Ich suche mich zu erinnern, ob ich irgend etwas Unrechtes gesagt oder gethan oder er irgend etwas Unrechtes gesagt oder gethan hat, und ich kann mich an nichts erinnern, was meines Gatten oder meiner selbst unwürdig gewesen wäre. Selbst den Tag kann ich nicht bestimmen, an dem zuerst diese Wolke zwischen uns aufstieg.

Wenn ich ihn weniger innig liebte, könnte ich’s ertragen. Ich könnte den Jammer unserer Entfremdung tragen, verriethe er die in ihm vorgegangene Veränderung in derselben brutalen Weise wie andere Männer.

Aber das ist nie geschehen und wird nie geschehen. Es liegt nicht in seiner Natur, Andern wehe zu thun. Kein hartes Wort entschlüpft ihm, kein unfreundlicher Blick. Nur in der Nacht, wenn ich ihn im Schlafe seufzen höre, und zuweilen, wenn ich ihn in den Morgenstunden träumen sehe, erkenne ich, wie hoffnungslos ich die Liebe verliere, die er einst für mich fühlte. Am Tage sucht er aus Schonung für mich dies zu verbergen. Er ist lauter Sanftmuth und Güte, aber sein Herz ist nicht auf seinen Lippen, wenn er mich küßt; seine Hand sagt mir nichts, wenn sie die meine berührt. Die Stunden, die er auf sein verhaßtes Schreiben verwendet, werden mit jedem Tage länger, und in den Stunden, die er mir schenkt, wird er täglich schweigsamer.

Und in alledem ist nichts, worüber ich mich beklagen kann, nichts in dem Grade Ausfälliges, daß ich davon Notiz nehmen könnte. Seine Enttäuschung weicht vor jedem offenen Bekenntnisse zurück; seine Ergebung nimmt so allmälig zu, daß selbst meine Wachsamkeit nicht das Wachsen derselben wahrnehmen kann. Wohl fünfzigmal des Tages sehne ich mich, ihm meine Arme um den Nacken zu legen und zu sagen: »Ich bitte Dich um Gotteswillen, Alles Andere lieber als diese Behandlung!« und jedes mal werden mir die Worte durch sein grausam rücksichtsvolles Wesen, das mir keine Entschuldigung für sie bietet, wieder ins Herz zurückgedrängt. Ich glaubte den bittersten Schmerz empfunden zu haben, den ich überhaupt fühlen könnte, als mir mein erster Gatte mit der Reitpeitsche ins Gesicht schlug. Ich glaubte das Schlimmste erfahren zu haben, was die Verzweiflung vermag, als ich erkannte, daß der andere Schurke, der noch niedrigere Schurke, mich verlassen hatte. Allein wir leben und lernen. Einen bitterem Schmerz gibt es als den, welchen Waldron’s Peitsche mir verursachte, es gibt eine tiefere Verzweiflung als die, welche ich fühlte, als Manuel mich verlassen hatte.

Bin ich etwa zu alt für ihn? Sicherlich noch nicht! Habe ich meine Schönheit verloren? Kein Mann geht auf der Straße an mir vorüber, dessen Augen mir nicht sagen, daß ich noch so schön bin wie immer.

Ach, nein, nein! Das Geheimniß liegt tiefer! Ich habe darüber nachgesonnen und gegrübelt, bis ein grausiger Gedanke sich meiner bemächtigt hat. Er ist während seines vergangenen Lebens edel und gut gewesen, während ich schlecht und schuldbefleckt war. Wer weiß, ob dies nicht eine fürchterliche Kluft zwischen ihm und mir gerissen hat, von der wir beide nichts ahnen. Es ist thöricht, es ist Wahnsinn, aber wenn ich in der Finsternis an seiner Seite ruhe, frage ich mich oft, ob mir vielleicht in der innigen Vertraulichkeit, die uns jetzt vereint, unbewußterweise eine Enthüllung der Wahrheit entschlüpft. Klebt mir etwa noch immer ein unerklärliches Etwas von dem Grausen meines vergangenen Lebens an? Und fühlt er etwa, ohne es zu begreifen, den Einfluß desselben? O Himmel! Hat denn eine Liebe wie die meinige keine Macht der Reinigung? Ist mein Herz durch meine frühere Schlechtigkeit so fürchterlich befleckt, daß keine Reue es je rein zu waschen vermag? Wer weiß! Ich weiß nur, daß in unserm ehelichen Leben etwas nicht ist, wie es sein soll. Ein feindlicher Einfluß, dessen Spur weder er noch ich erkennen kann, entfernt uns täglich immer weiter von einander. Nun, mit der Zeit werde ich wohl härter werden und es ertragen lernen.

So eben fuhr ein offener Wagen an meinem Fenster vorbei, in dem eine hübsch gekleidete Dame saß. Ihr Gatte saß an ihrer Seite und ihre Kinder ihr gegenüber. In dem Augenblicke, wo ich sie erblickte, lachte und plauderte sie mit großer Fröhlichkeit; ein heiteres, leichtherziges, glückliches Weib. Ah, Mylady, wärest Du gleich mir in Deiner Jugend in die Welt hinausgestoßen und Dir selbst überlassen gewesen ——

Den 11. October. Der elfte war der Tag des Monats, an dem wir uns vor zwei Monaten verheiratheten. Weder er noch ich erwähnten hiervon ein Wort, als wir erwachten. Aber ich dachte, ich wolle beim Frühstück die Gelegenheit ergreifen, sein Herz wiederzugewinnen.

Ich glaube, ich habe noch nie eine so sorgfältige Toilette gemacht oder schöner ausgesehen, als da ich heute Morgen herunterkam. Er hatte allein gefrühstückt und ich fand ein Zettelchen auf dem Tische, das seine geschriebene Entschuldigung enthielt. Er sagte, heute gehe die Post nach England ab und er müsse seinen Brief für die Zeitung zum Schlusse bringen. Ich hätte an seiner Stelle lieber fünfzigmal die Post abgehen lassen, ehe ich an diesem Tage allein gefrühstückt hätte! Ich ging in fein Zimmer. Da saß er, bis über die Ohren in seine abscheuliche Schreiberei vergraben! »Kannst Du mir heute Morgen nicht ein wenig von Deiner Zeit schenken?« fragte ich. Er sprang schnell auf. »Gewiß, wenn Du es wünschest.« Er sah mich nicht einmal an, während er sprach. Der Klang seiner Stimme genügte allein, mir zu sagen, daß sein ganzes Interesse sich auf die Feder concentrire, die er so eben niedergelegt hatte. »Ich sehe, Du bist beschäftigt«, sagte ich; »ich wünsche es nicht.« Ehe ich noch die Thür geschlossen, saß er schon wieder an seinem Pulte. Oft habe ich gehört, daß die Frauen von Schriftstellern meistens unglücklich waren. Jetzt weiß ich warum.

Ich meinte gestern, ich würde es ertragen lernen. (Beiläufig, welchen Unsinn ich gestern geschrieben habe! Wie ich mich schämen würde, wenn irgend Jemand außer mir es sähe!) Ich hoffe, das bettelhafte Journal, für das er schreibt, hat keinen Erfolg! Ich hoffe, sein unausstehlicher Brief wird, sowie er im Druck erscheint, von den andern Zeitungen recht gründlich lächerlich gemacht werden!

Was soll ich den ganzen Morgen beginnen? Ich kann nicht ausgehen, denn es regnet. Oeffne ich das Klavier, so störe ich den fleißigen Journalisten, der im nächsten Zimmer scribelt. Mein Himmel! In meiner Wohnung in Thorpe-Ambrose war es schon einsam genug, hier aber ist es noch weit, weit einsamer. Soll ich lesen? Nein; Bücher interessieren mich nicht; ich hasse die ganze Schriftstellerbande. Ich denke, ich will in diesem Tagebuche zurückblättern und mein Leben wieder durchleben, da ich noch intriguirte und Pläne schmiedete und mir mit jeder Tagesstunde eine neue Aufregung schuf.

Er hätte mich wohl ansehen können, wenn er auch noch so emsig mit seinem Briefe beschäftigt war. Wohl hätte er sagen können: »Wie hübsch Du heute Morgen gekleidet bist!« Er hätte sich erinnern können —— doch einerlei! Er denkt an nichts als an seine Zeitung.

Zwölf Uhr. Ich habe etwas gelesen und nachgedacht und bin mit Hilfe meines Tagebuchs über eine Stunde hinweggekommen.

Welch eine Zeit, welch ein Leben in Thorpe-Ambrose! Mich wundert nur, daß ich meinen Verstand behielt. Es macht mein Herz klopfen, es treibt mir das Blut ins Gesicht, wenn ich jetzt nur davon lese!

Noch immer regnet es und der Journalist scribelt noch immer fort. Es ist mir nicht darum zu thun, die Gedanken der vergangenen Zeit wieder durchzudenken —— doch was soll ich anfangen?

Gesetzt —— ich will blos den Fall setzen —— ich hätte jetzt dasselbe Gefühl wie damals, als ich in Armadale’s Begleitung nach London reiste und meinen Weg zu seinem Leben so deutlich vor mir sah, wie ich ihn selbst während der ganzen Fahrt mit den Augen erblickte?

Ich will lieber aus dem Fenster sehen. Ich will die Vorübergehenden zählen.

Ein Leichenzug kam vorüber, mit den Büßenden in ihren schwarzen Kutten; die Wachskerzen knisterten im Regen, das kleine Glöckchen läutete und die Priester summten ihren eintönigen Gesang. Ein angenehmes Schauspiel für mich, sowie ich ans Fenster trat! Ich kehre darum zu meinem Tagebuche zurück.

Gesetzt, ich wäre nicht das veränderte Weib, das ich bin —— ich sage blos, gesetzt —— wie würde die große Gefahr, die ich einst zu laufen im Sinne hatte, sich jetzt anlassen? Ich habe Midwinter unter dem Namen geheirathet, der wirklich der seinige ist. Und damit habe ich den ersten jener drei Schritte gethan, die mir über Armadales Leben hinweg zu Armadale’s Vermögen und der Stellung von Armadales Wittwe verhelfen sollten. Wie unschuldig meine Absichten an meinem Hochzeitstage auch waren —— und sie waren allerdings unschuldig —— das ist eins der unabänderlichen Ergebnisse meiner Heirath. Nun, da ich also, ob ich nun wollte oder nicht, den ersten Schritt gethan habe, wie —— gesetzt, ich wollte den zweiten Schritt thun, was ich nicht will —— wie würden sich jetzt die Verhältnisse für mich anlassen? Würden sie mich mahnen abzustehen oder ermuthigen weiter zu gehen?

Es wird mich unterhalten, die Chancen zu berechnen, und hat die Aussicht etwas gar Verlockendes, so kann ich ja leicht das Blatt herausreißen und verbrennen.

Wir wohnen hier —— der Sparsamkeit wegen —— weit von dem kostspieligen englischen Stadttheile entfernt in einer der Vorstädte, auf der Seite von Portici. Wir haben keine Reisebekanntschaften unter unsern Landsleuten gemacht. Unsere Armuth steht dem entgegen, nicht minder Midwinter’s Zurückhaltung und, was die Frauen betrifft, meine persönliche Erscheinung. Die Männer, von denen mein Mann die Neuigkeiten für seine Zeitungsbriefe erlangt, treffen im Cafe mit ihm zusammen und kommen nie hierher. Ich rathe ihm ab, mir Fremde zuzuführen, denn obgleich seit meinem letzten Aufenthalte in Neapel Jahre vergangen sind, bin ich doch nicht ganz sicher, ob nicht von den vielen Leuten, die ich damals hier kannte, noch einige leben. Die Moral von alledem, wie es in den Geschichtenbüchern heißt, ist, daß kein einziger Zeuge in dieses Haus gekommen ist, der, sollten später in England Nachforschungen angestellt werden, behaupten könnte, daß Midwinter und ich hier als Eheleute mit einander gelebt haben. Soviel von den gegenwärtigen Verhältnissen, soweit dieselben mich afficiren.

Dann kommt Armadale. Hat sich etwa irgend etwas ereignet, das ihn bewogen, sich mit Thorpe-Ambrose in Verbindung zu setzen? Hat er die Bedingungen gebrochen, welche der Major ihm aufgelegt und hat er sich, seit ich ihn zuletzt sah, in der Rolle von Miß Milroy’s Verlobtem behauptet?

Nichts von alledem ist passiert Kein unvorhergesehener Zufall hat seine Stellung, seine verlockende Stellung mir gegenüber verändert. Ich weiß Alles, was ihm begegnet ist, seit er England verlassen, und zwar aus den Briefen, die er an Midwinter schreibt und die Midwinter mir zeigt.

Erstens hat er Schiffbruch gelitten. Seine bettelhafte kleine Yacht hat ihn wirklich dem Wellentode nahe gebracht, und dennoch ist ihr’s nicht gelungen! Wie Midwinter es ihm von einem so kleinen Fahrzeuge vorausgesagt hatte, passierte die Geschichte in einem plötzlichen Sturme. Sie wurden an der Küste von Portugal ans Land getrieben. Die Yacht ward in Stücke zerschellt, allein sämtliche Menschenleben, Papiere und dergleichen wurden gerettet. Die Mannschaft ist mit guten Empfehlungen von ihrem Herrn nach Bristol zurückgesandt worden, Empfehlungen, welche ihr bereits Aufnahme auf einem nach auswärts bestimmten Fahrzeuge verschafft haben. Der Herr selbst befindet sich nachdem er sich zuerst in Lissabon und dann in Gibraltar aufgehalten und sich an beiden Orten, jedoch vergeblich, nach einem neuen Schiffe umgesehen hat, auf der Reise hierher. Er denkt in Neapel einen dritten Versuch zu machen, da hier eine englische Yacht zum Verkauf oder zur Vermiethung ausgeboten ist. Er hat seit dem Schiffbruche nicht nach Hause zu schreiben gebraucht, da er die ganze bedeutende Summe, die für ihn bei Coutts deponiert lag, in Creditbriefen mitgenommen hat. Und er verspürt keine Lust, nach England zurückzukehren, denn da Mr. Brock todt, Miß Milroy in der Pensionsschule und Midwinter hier ist, hat er in der ganzen Welt keine Seele, die sich um ihn bekümmern und ihn willkommen heißen würde, wenn er heimkehrte. Sein einziger Zweck geht dahin, die neue Yacht zu sehen und uns zu besuchen. Midwinter erwartet ihn schon seit einer Woche und jeden Augenblick kann er in dieses Zimmer treten, in dem ich schreibe.

Dies sind verlockende Umstände bei all dem Unrechte, das mir von ihm und seiner Mutter widerfahren ist und das mir frisch im Gedächtnisse lebt, während Miß Milroy zuversichtlich ihren Platz an der Spitze seines Haushalts einzunehmen hofft, während mein Traum von einem glücklichen und schuldlosen Leben in Midwinter’s Liebe auf immer zerstört ist und mir an dessen Statt nichts mehr bleibt, was mir gegen mich selbst beistehen könnte. Ich wollte, es regnete nicht; ich wollte ich könnte ausgehen.

Vielleicht geschieht etwas, was Armadale nach Neapel zu kommen abhält! Als er zuletzt schrieb, wartete er auf ein englisches Dampfschiff, das ihn hierher bringen sollte. Vielleicht wird er des Wartens müde, ehe das Dampfschiff anlangt, oder hört etwas von einer Yacht an irgend einem andern Orte. Ein kleiner Vogel flüstert mir ins Ohr, es dürfte vielleicht das Gescheidteste für ihn sein, was er noch in seinem ganzen Leben gethan, wenn er sein Versprechen, uns in Neapel zu besuchen, bräche.

Soll ich das Blatt herausreißen, auf dem alle diese entsetzlichen Dinge geschrieben stehen? Nein. Mein Tagebuch ist so hübsch gebunden, daß es wahrhaft barbarisch wäre, ein Blatt herauszureißen. Ich will mich harmlos mit etwas Anderem beschäftigen. Was soll es sein? Mein Toilettenkästchen —— ich will mein Toilettenkästchen ordnen und die wenigen kleinen Schmucksachen putzen, die noch in meinem Besitze geblieben sind.

Ich habe das Schmuckkästchen wieder verschlossen. Der erste Gegenstand, den ich darin fand, war Armadale’s armseliges Hochzeitsgeschenk an mich, der bettelhafte kleine Rubinring. Dies reizte mich sogleich. Das Zweite, was meinen Fingern begegnete, war mein Fläschchen mit den Tropfen. Ich ertappte mich daraus, wie ich die Dosen mit dem Auge abmaß und berechnete, wie viele davon erforderlich sein würden, einen Lebendigen über die Grenze zu führen, die den Schlaf vom Tode scheidet. Warum ich, noch bevor die Berechnung vollendet war, in großem Schrecken das Schmuckkästchen verschloß, weiß ich nicht, jedenfalls aber that ich es. Und da bin ich wieder bei meinem Tagebuche, ohne das Allergeringste darein verzeichnen zu können. O der lange, lange Tag! Will sich denn gar nichts ereignen, was mir an diesem kläglichen Orte ein wenig Aufregung verschaffen könnte?

Den 12. October. Midwinters gewichtiger Brief an die Zeitung ist mit der gestrigen Abendpost abgegangen. Ich war so thöricht, zu hoffen, daß er mich heute mit einem kleinen Theile seiner Mußezeit beehren werde. Nicht im geringsten. Nach dem vielen Schreiben hatte er eine unruhige Nacht und stand mit Kopfschmerzen und in furchtbar gedrückter Stimmung auf. Wenn er in diesem Zustande ist, so bleibt sein Lieblingsheilmittel, daß er zu seinen alten Vagabundengewohnheiten zurückkehrt und ganz allein umherwandert, Niemand weiß, wohin. Er erbot sich heute Morgen pro forma —— denn er weiß, daß ich kein Reitkleid besitze —— mir ein stolperndes kleines Vieh von einem Pony zu miethen, wenn ich ihn begleiten wollte. Ich zog es vor, zu Hause zu bleiben. Entweder will ich ein schönes Pferd und ein schönes Reitkleid haben, oder gar nicht reiten. Er ging, ohne einen Versuch zu machen, mich umzustimmen, fort. Natürlich wäre ich bei meiner Weigerung geblieben, aber er hätte es doch wohl versuchen können.

In seiner Abwesenheit kann ich das Klavier öffnen —— das ist wenigstens ein Trost. Und ich bin in der schönsten Laune zum Spielen —— das ist ein zweiter. Es gibt eine Sonate von Beethoven —— ich vergesse die Nummer —— die mich stets an die Verzweiflung gemarterter Seelen im Fegefeuer erinnert. Also kommt, meine Finger, und führt mich heute Morgen unter die gemarterten Seelen!

Den 13. October. Unsere Fenster gewähren die Aussicht aufs Meer. Heute Mittag sahen wir ein Dampfschiff mit flatternder englischer Flagge hereinsegeln. Midwinter ist nach dem Hafen gegangen, in der Hoffnung, daß dies vielleicht das Schiff von Gibraltar mit Armadale am Bord ist.

Zwei Uhr. Wirklich ist es das Schiff von Gibraltar. Zu der langen Liste seiner Mißgriffe hat Armadale noch einen hinzugefügt, indem er sein Versprechen, uns in Neapel zu besuchen, hält.

Wie wird es jetzt werden?

Wer weißt«



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

»Den 16. October. Zwei Tage nichts eingetragen in dies Buch! Warum, kann ich selbst kaum sagen, vielleicht weil mich Mr. Armadale über alle Begriffe ärgert. Sein bloßer Anblick versetzt mich nach Thorpe-Ambrose zurück. Ich bilde mir ein, ich muß mich vor dem gefürchtet haben, was ich im Laufe der letzten beiden Tage hätte verzeichnen können, wenn ich mir das gefährliche Vergnügen gemacht hätte, diese Seiten auszuschlagen.

Heute Morgen fürchte ich mich vor nichts und nehme demgemäß meine Feder zur Hand.

Hat die brutale Albernheit mancher Männer eine Grenze? Das möchte ich wohl wissen. Ich glaubte an Mr. Armadale diese Grenze entdeckt zu haben, als ich in Thorpe-Ambrose seine Nachbarin war, allein meine späteren neapolitanischen Erfahrungen beweisen mir, daß ich mich irrte. Er ist in unaufhörlicher Bewegung nach und von unserer Wohnung —— im Boote von dem Hotel in Santa-Lucia übersetzend, wo er Quartier genommen hat —— und hat genau gerechnet zwei Gesprächsthemata, die im Hafen zum Verkaufe liegende Yacht und Miß Milroy. Ja, mich erklärt er zur Vertrauten seiner inbrünstigen Neigung zur Majorstochter! «Es ist so hübsch, einer Frau davon zu erzählen«, so lautet seine ganze Entschuldigung, daß er es für nothwendig erachtet, fünfzigmal des Tags an meine Sympathien —— meine Sympathien! —— für seine »süße Neelie« zu appellieren. Offenbar lebt er der Ueberzeugung —— wenn er überhaupt daran denkt —— daß ich so vollständig wie er Alles vergessen habe, was während der ersten Zeit meines Aufenthalts zu Thorpe-Ambrose zwischen uns vorgefallen ist. Solch ein völliger Mangel an dem gewöhnlichsten Zartgefühl und dem gewöhnlichsten Takte an einem Geschöpfe, das mit einer Menschenhaut und nicht mit einem Thierfell begabt ist und, wenn mich meine Ohren nicht gänzlich trügen, spricht und nicht blökt, ist durchaus unglaublich, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Allein trotz alledem ist es doch wahr. Gestern Abend fragte er mich, fragte mich wirklich, wie viel hundert Pfund jährlich die Frau eines reichen Mannes auf ihre Toilette verwenden könnte. »Setzen Sie die Summe nicht zu niedrig an«, fügte der Dummkopf mit seinem unerträglichen Feixen hinzu. Neelie soll eine der elegantest gekleideten Damen in ganz England sein, wenn ich sie dereinst geheirathet Und das sagte er zu mir, nachdem ich ihn zu meinen Füßen habe liegen sehen und später durch Miß Milroy verloren habe! Das zu mir mit meinem Alpacakleide und einem Gatten, dessen Einkommen eine Zeitung auf die Beine helfen muß.

Besser, ich verweile bei dem Gegenstande nicht länger; besser, ich denke und schreibe Anderes!

Also zur Yacht! Als eine Befreiung von dem ewigen Reden von Miß Milroy erkläre ich die im Hafen liegende Yacht für einen ganz interessanten Gegenstand! Sie ist ein wunderschönes Muster von einem Fahrzeug, und ihre Topseiten, mag das nun sein, was es will, zeichnen sich dadurch besonders aus, daß sie von Mahagoni sind. Bei allen diesen Vorzügen hat sie indeß den Fehler, daß sie alt ist, natürlich ein schlimmes Gebrechen, und daß Bootsmeister und Mannschaft abgelohnt und nach England zurückgesandt worden sind. Kann jedoch hier eine neue Mannschaft samt einem neuen Bootsmeister aufgetrieben werden, so ist solch ein wunderschönes Ding mit allen seinen Mängeln nicht zu verachten. Es dürfe immerhin zweckmäßig sein, sie zu einer kleinen Seefahrt zu miethen und zu sehen, wie sie sich dabei aufführt. (Ist sie meiner Gesinnung, so dürfte ihre Ausführung ihren neuen Herrn einigermaßen in Erstaunen setzen.) Die Seefahrt wird zu Tage bringen, welche Fehler sie hat und welcher Reparaturen sie zufolge des unglücklichen Umstandes ihres Alters wirklich bedarf. Dann erst wird es Zeit sein, sich zu entscheiden, sie zu kaufen oder den Handel aufzugeben. Darum bewegt sich Armadale’s Gespräch, wenn er mich nicht von seiner süßen Neelie unterhält. Und Midwinter, der für seine Frau seiner Journalistenarbeit nicht eine Minute Zeit abstehlen kann, er findet Stunden für seinen Freund und kann sie rückhaltlos meiner unwiderstehlichen Rivalin, der Yacht, widmen.

Ich werde heute nicht mehr schreiben. Könnte eine so damenhafte Person, wie ich bin, überhaupt in allen ihren Gliedern bis in die Fingerspitzen hinab ein tigerartiges Zucken empfinden, dann dürfte ich im gegenwärtigen Augenblick fast in einem solchen Zustande sein. Allein bei meinen Manieren und meiner feinen Bildung ist so etwas natürlich außer Frage. Wir alle wissen ja, daß eine Dame keine Leidenschaften hat.

Den 17. October. Diesen Morgen kam an Midwinter ein Brief von seinen Sklavenhaltern, ich meine die Zeitungsleute in London, der ihn fester an den Schreibtisch fesselt als je. Zum Frühstück ein Besuch von Armadale und ein zweiter zum Mittagsessen. Gespräch beim Frühstück die Yacht, Gespräch beim Diner Miß Milroy. Mit Rücksicht auf diese junge Dame hat mich Armadale mit der Einladung beehrt, morgen mit ihm den Toledo zu besuchen und ihm beim Einkauf von allerhand Geschenken für seine Herzallerliebste behilflich zu sein. Ich fiel nicht über ihn her, ich entschuldigte mich blos. Sind Worte im Stande, die Verwunderung auszudrücken, die ich über meine eigene Geduld empfinde? Nein, Worte vermögen das nicht.

Den 18. October. Heute Morgen kam Armadale zum ersten Frühstück, um Midwinter’s habhaft zu werden, ehe sich dieser an die Arbeit setzte.

Gespräch ganz dasselbe wie gestern beim Frühstück. Armadale hat mit dem Agenten wegen miethweiser Ueberlassung der Yacht abgeschlossen. Der Agent, dem Armadale’s gänzliche Sprachunkenntniß leid that, hat wohl einen Dolmetscher aufgetrieben, eine Mannschaft aber kann er nicht schaffen. Der Dolmetscher ist höflich und willfährig, doch vom Meere versteht er ganz und gar nichts. Midwinter’s Beistand ist also unentbehrlich, und Midwinter wird ersucht —— er willigt auch ein! —— jetzt so viel als möglich von seiner Arbeit hinter sich zu bringen, damit er dann Zeit hat, seinem Freunde behilflich zu sein. Sobald eine Mannschaft gefunden ist, sollen Mängel und Vorzüge des Schiffs auf einem Ausfluge nach Sicilien erprobt werden, mit Midwinter am Bord, um sein competentes Urtheil abzugeben. Endlich, wenn ich mich zu Hause zu einsam fühlen sollte, wird die Damenkajüte Midwinter’s Gattin auf das verbindlichste zur Disposition gestellt. Das Alles wurde am Frühstückstische abgemacht und endete mit einem an mich gerichteten, zierlich gefaßten Complimente a la Armadale: Wenn ich verheirathet bin, denke ich, soll Neelie mit mir zu Schiffe gehen. Und Sie haben so guten Geschmack, Sie werden mir mithin angeben können, was Alles in der Damenkajüte jetzt noch fehlt?

Wenn Frauen solche Männer zur Welt bringen, sollten sie dieselben leben lassen? Es ist eine Meinungssache; ich meinerseits sage: Nein.

Was mich ganz rasend macht, ist, daß ich sehen muß, daß Midwinter in Armadale’s Gesellschaft und in Armadale’s neuer Yacht eine Zuflucht vor mir findet. Wenn Armadale bei uns ist, hat Midwinter immer bessere Laune. Mich vergißt er über Armadale fast so vollkommen, wie er mich über seiner Arbeit vergißt. Und ich —— ertrage es! Was für ein Muster von einer Frau, was für eine ausgezeichnete Christin ich bin!

Den 19. October. Nichts Neues, nichts als eine Wiederholung des gestrigen Tages.

Den 20. October. Etwas Neues. Midwinter leidet an nervösem Kopfschmerz und trotzdem sitzt er rastlos an seinem Schreibtische um für die Lustpartie mit seinem Freunde Zeit zu gewinnen.

Den 21. October. Mit Midwinter geht es schlechter. Er ist ärgerlich, verstört und unnahbar nach zwei schlimmen Nächten und zwei ununterbrochen am Sehreibtisch verbrachten Tagen. Unter allen andern Umständen würde er sich warnen lassen und die Arbeit zeitweilig einstellen. Jetzt aber läßt er sich von nichts warnen. Um Armadale’s willen arbeitet er, ohne sich umzusehen, nach wie vor. Wie lange wird meine Geduld noch währen?

Den 22. October. Letzte Nacht Symptome, daß Midwinter seinen Kopf über alles menschliche Maß hinaus anstrengt. Als er endlich einschlief, war er zum Erschrecken unruhig; er stöhnte, sprach und klapperte mit den Zähnen. Nach den wenigen Worten, die ich verstehen konnte, schien mir’s einmal, als träumte er von seinen Knabentagen, von damals, wo er mit den tanzenden Hunden im Lande umherzog. Ein andermal war er mit Armadale wieder die ganze Nacht auf dem Wrack eingesperrt. Gegen Morgen wurde er ruhiger. Ich schlief auch ein, und als ich nach kurzer Zeit erwachte, fand ich mich allein. Sowie ich mich umsah, bemerkte ich, daß in Midwinter’s Ankleidezimmer Licht brannte. Ich stand leise auf, um nach ihm zu sehen.

Er saß in dem großen, häßlichen, altmodischen Lehnstuhl, den ich, als wir hierher zogen, sofort aus dem Wohn- in das Ankleidezimmer hatte schaffen lassen. Sein Kopf war zurückgesunken, und eine seiner Hände hing starr über den Arm des Stuhls herab. Die andere Hand ruhte auf seinem Schooße. Leise schlich ich etwas näher und gewahrte, daß die Erschöpfung ihn beim Lesen oder Schreiben übermannt hatte, denn auf dem Tische vor ihm befanden sich Bücher, Federn, Tinte und Papier. Ich sah mir die Papiere genauer an. Alle waren sauber zusammengefaltet, wie er sie stets zu halten pflegt, nur eins lag offen da —— es war der Brief an Mr. Brock.

Nach dieser Entdeckung sah ich mich noch weiter im Zimmer um und bemerkte nun ein anderes Papier, welches unter der auf seinem Schooße ruhenden Hand lag. Ohne zu riskieren, daß ich ihn aufweckte konnte ich es nicht hervorziehen, indeß war ein Theil des Papieres nicht von seiner Hand bedeckt. Ich sah darauf, um zu entdecken, was er so verstohlen gelesen hatte, und fand so viel heraus, daß es die Erzählung von Armadale’s Traum war.

Diese zweite Entdeckung trieb mich sofort wieder ins Bett, mit sehr ernsten Gedanken.

Auf unserer Reise durch Frankreich sah sich Midwinter’s eigenthümliche Menschenscheu einmal von einem sehr angenehmen Manne, einem irischen Arzt, besiegt, den wir im Eisenbahncoups trafen und der während der ganzen Tagesfahrt auf das freundlichste und geselligste mit uns verkehrte. Als er hörte, daß Midwinter literarische Bestrebungen verfolgte, warnte ihn unser Reisegefährte ernstlich davor, zu viele Stunden nach einander am Schreibtische zuzubringen. »Ihr Gesicht sagt mir mehr, als Sie vielleicht glauben«, sprach der Doctor. »Wenn Sie sich je verleiten lassen, Ihren Kopf zu sehr anzustrengen, so werden Sie das eher empfinden als viele andere Männer. Finden Sie, daß Ihre Nerven Ihnen Streiche spielen wollen, so achten Sie ja auf diese Warnung und legen die Feder hin.«

Nach meiner letzten Entdeckung im Ankleidezimmer sieht es mir aus, als ob Midwinter’s Nerven bereits den Ausspruch des irischen Arztes bestätigen wollten. Besteht einer der Streiche, die sie ihm spielen, darin, daß sie ihn mit abergläubischer Furcht quälen, so wird, ehe lange Zeit vergeht, in unserm Leben eine Veränderung eintreten. Ich bin begierig zu sehen, ob die Idee, daß wir beide bestimmt sind, Armadale Gefahr und Unheil zu bringen, von neuem sich in Midwinter’s Geiste festsetzt. Ist dies der Fall, dann weiß ich, was geschieht. Er wird dann keinen Schritt thun, seinem Freunde bei Beschaffung einer Mannschaft für die Yacht behilflich zu sein, und sicherlich ablehnen, sich mit Armadale an der Lustfahrt zu betheiligen oder mich mit ihm segeln zu lassen.

Den 23. October. Offenbar hat Mr. Brock’s Brief seinen Einfluß noch nicht verloren. Heute sitzt Midwinter wieder an seinem Journalartikel und kann die Tage, die er mit seinem Freunde auf der See zuzubringen hofft, kaum erwarten.

Zwei Uhr. Armadale hier wie gewöhnlich; er möchte gern wissen, wann Midwinter ihm zu Diensten steht. Noch keine bestimmte Antwort zu geben, da Alles davon abhängt, ob Midwinter im Stande sein wird, an seinem Pulte auszuhalten. Armadale saß sehr enttäuscht da; er gähnte und steckte seine dicken, großen Hände in die Tasche. Ich nahm ein Buch zur Hand. Der Tölpel verstand nicht, daß ich gern allein sein wollte. Von neuem kam er auf sein unerträgliches Thema von Miß Milroy und von all den schönen Dingen, die sie haben sollte, sobald er sie heirathen würde. Ihr eigenes Reitpferd, ihren eigenen Ponywagen, ihr eigenes schönes Boudoir oben in der ersten Etage des Herrnhauses und so weiter. Alles, was ich einst hätte haben können, soll nun Miß Milroy bekommen —— wenn ich es zulasse!

Sechs Uhr. Immer wieder von dem unvermeidlichen Armadale! Vor einer halben Stunde kam Midwinter von seiner Schreiberei zu mir, schwindlig und erschöpft. Den ganzen Tag hatte ich mich nach etwas Musik gesehnt; ich wußte, daß Norma im Theater gegeben wurde und der Gedanke kam mir, daß ein paar Stunden in der Oper Midwinter sowohl als mir gut thun würden. Ich sagte daher: »Warum nehmen wir für heute Abend keine Loge in San-Carlo?« Düster und gleichgültig antwortete er, daß wir nicht reich genug wären, eine Loge zu nehmen. Armadale war zugegen und flunkerte mit seiner wohlgefüllten Börse in seiner gewohnten unausstehlichen Manier. »Ich bin reich genug, alter Junge, und das kommt auf, eins heraus? Mit diesen Worten nahm er seinen Hut und strampelte mit seinen großen Elephantenfüßen fort, die Loge zu besorgen. Ich sah ihm aus dem Fenster nach, wie er die Straße hinabging. »Deine Wittwe mit ihren jährlichen zwölfhundert Pfund«, dachte ich bei mir, »könnte sich jederzeit eine Loge in San-Carlo nehmen, wenn sie Lust hätte, ohne irgendwem dafür Dank schuldig zu sein.« Der strohköpfige Tölpel pfiff, während er seinen Weg zum Theater einschlug, und warf großartig jedem Bettler, der ihm nachlief, seine Silbermünzen zu.

Mitternacht. Endlich bin ich allein. Bin ich stark genug, die Geschichte dieses entsetzlichen Abends zu schreiben, wie sie sich begeben hat? Unter allen Umständen bin ich stark genug, ein neues Blatt umzuschlagen und den Versuch zu machen.



Kapiteltrenner

Sechster Band

Erstes Kapitel.

»Wir gingen nach San-Carlo Selbst. in einer so einfachen Sache, wie das Besorgen einer Theaterloge, zeigte sich Armadales Einfalt. Er hatte die Oper mit dem Schauspiele verwechselt und eine Loge dicht an der Bühne genommen, im Wahne, daß bei einer musikalischen Ausführung die Hauptsache sei, die Sänger und Sängerinnen so nahe und deutlich wie möglich zu sehen! Zum Glücke für unsere Ohren sind Bellini’s liebliche Melodien größtentheils sanft und zart instrumentiert, sonst hätte uns das Orchester taub machen können.

Anfangs saß ich hinten in der Loge, dem Publikum ganz aus dem Gesicht; denn ich konnte nicht sicher sein, daß nicht zufällig einer meiner alten Bekannten von meinem frühem Aufenthalt hier im Theater war. Allmälig aber lockte mich die süße Musik aus meiner Zurückgezogenheit heraus. Ich war so entzückt und hingerissen, daß ich, ohne es zu wissen, mich verbeugte und auf die Bühne sah.

Eine Entdeckung, die ich machte und bei der mir buchstäblich das Blut in den Adern erstarrte, ließ mich erst meine Unvorsichtigkeit gewahr werden. Einer der Sänger im Chore der Druiden sah mich an, während er unter den andern sang. Langes weißes Haar verbarg seinen Kopf und ein wallender weißer Bart bedeckte, dem Charakter angemessen, den unteren Theil seines Gesichts vollkommen. Die Augen aber, die mich anblickten, waren die Augen des einen Mannes auf Erden, welche wiederzusehen ich mich am allermeisten fürchten mußte —— Manuel’s.

Hätte ich nicht mein Riechfläschchen bei mir gehabt, so glaube ich, wäre ich ohnmächtig geworden. So zog ich mich wieder in den Schatten des Hintergrundes zurück. Selbst Armadale bemerkte die Veränderung, die mit mir vorgegangen war; er wie Mitwinter fragten, ob ich unwohl sei. Ich sagte, die Hitze sei mir lästig, ich hoffe indeß alsbald mich wieder besser zu fühlen, und suchte allen meinen Muth zusammenzunehmen. Es gelang mir auch, meiner so weit wieder mächtig zu werden, daß ich, ohne mich selbst zu zeigen, von neuem auf die Bühne sehen konnte, als der Chor wieder auftrat. Da war der Mann wieder. Jedoch zu meiner unsäglichen Erleichterung sah er nicht ein einziges Mal wieder nach unserer Loge. Diese willkommene Gleichgültigkeit von seiner Seite trug dazu bei, mir die Beruhigung zu geben, daß ich eine merkwürdige zufällige Aehnlichkeit, nichts mehr, gesehen hätte, und nach gelassener Erwägung des Ganzen blieb ich auch bei diesem Schlusse; allein mein Gemüth würde doch viel ruhiger sein, als es ist, wenn ich das Gesicht des Mannes ohne die Bühnenmummerei, welches jede genaue Untersuchung ausschloß, hätte vor mir haben können.

Als nach dem ersten Acte der Vorhang fiel, kam der albernen italienischen Mode gemäß ein langweiliges italienisches Ballett als Zwischenspiel an die Reihe. Obschon ich nach und nach den ersten Schrecken überwunden hatte, war meist Bestürzung doch zu ernster Natur gewesen, als daß ich mich im Theater hätte behaglich fühlen können. Ich sah schon alles mögliche Unglück mir bevorstehen, und als Midwinter und Armadale von neuem nach meinem Befinden fragten, sagte ich ihnen, ich fühle mich nicht wohl genug, um bis zum Schlusse der Vorstellung im Theater bleiben zu können.

Am Portale des Theaters wollte uns Armadale gute Nacht sagen, doch Midwinter, der sich offenbar vor einem allein mit mir zuzubringenden Abende fürchtete, bat ihn zum Nachtessen, wenn ich nichts dawider hätte. Ich sprach die nöthigen Höflichkeitsphrasen, und alle drei fuhren wir zusammen nach Hause.

Zehn Minuten einsamer Ruhe in meinem Zimmer zusammen mit etwas Eau de cologne und frischem Wasser stellten mich wieder her. Ich Folgte dann den Männern zu Tische. Sie nahmen meine Entschuldigungen, sie der Oper entführt zu haben, mit der galanten Versicherung aus, daß damit keiner von ihnen nur das mindeste Vergnügen, geopfert hätte. Midwinter erklärte, wie er zu vollständig erschöpft sei, um sich für etwas Anderes zu interessieren, als für die beiden großen Wohlthaten, welche das Theater nicht bieten könne, Ruhe und frische Luft. Armadale seinerseits sagte mit dem zur Verzweiflung bringenden Stolze der Engländer auf seine eigene Dummheit, wo es sich um Gegenstände der Kunst handelt, er habe aus der Vorstellung nicht klug werden können. Ich, setzte er gutmüthig genug hinzu, habe ja am meisten, entbehren müssen, denn ich verstehe fremde Musik und könne sie genießen, wie die Damen in der Regel. Seine »süße kleine Neelie ——«

Nach dem Vorfall im Theater war ich nicht in der Stimmung, mich mit seiner »süßen Neelie« quälen zu lassen. War es der Zustand meiner Nerven oder stieg mir die Bau de Cologne zu Kopfe, die bloße Erwähnung des Mädchens brachte mich in Hitze. Ich suchte Armadales Aufmerksamkeit auf das Abendessen zu lenken; er antwortete sehr höflich, allein er hatte keinen Appetit mehr. Ich bot ihm Wein an, Landwein, denn andern vorzusetzen gestattet uns unsere Armuth nicht. Er dankte abermals. Der fremde Wein sei nicht viel mehr nach seinem Geschmack als die fremde Musik, mir zu Liebe wolle er indeß noch ein Glas trinken, und er that’s und trank meine Gesundheit nach altmodischer Männer, mit den besten Wünschen für die glückliche Zeit, wo wir alle wieder in Thorpe-Ambrose, zusammen sein würden und mich eine Herrin in seinem Hause willkommen heißen könne.

War er wahnsinnig, daß er in dieser Weise fortfuhr? Nein; sein Gesicht antwortete für ihn er lebte vielmehr in der Einbildung, daß er sich mir ganz besonders angenehm mache.

Ich sah Midwinter an. Hätte er seinerseits mich angeblickt, so hätte er vielleicht Grund gefunden, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Aber er saß schweigend in seinem Stuhle, reizbar und erschöpft, in stillen Gedanken und die Augen auf den Boden geheftet.

Ich stand auf und trat— ans Fenster. Noch immer, ohne daß ihm das Bewußtsein seines Ungeschicks und seiner Langweiligkeit aufdämmerte, folgte mir Armadale. Wäre ich stark genug gewesen, ihn zum Fenster hinaus ins Meer zu werfen, gewiß hätte ich’s in diesem Augenblicke gethan. Da ich dazu nicht stark genug war, sah ihn unverwandt nachdem jenseitigen Ufer der Bucht und gab ihm einen Wink, den derbsten und gröbsten, den man sich denken kann, daß er gehen möchte.

»Ein wunder lieblicher Abend zum Spazierengehen«, sagte ich, »wenn Sie Lust haben, zu Fuße in Ihr Hotel heimzukehren?«

Ich glaube kaum, daß er mich hörte. Jedenfalls machten meine Worte keinen Eindruck auf ihn. Er stand und starrte sentintental in den Mondschein hinaus und —— ich finde wirklich kein anderes Wort dafür —— blies einen Seufzer heraus. Ich ahnte, was kommen würde, wenn ich ihm nicht den Mund stopfte, dadurch daß ich zuerst wieder sprach.

»Bei aller Ihrer Vorliebe für England«, hob ich an, »müssen Sie doch zugeben, daß wir daheim solchen Mondschein nicht haben.«

Er sah mich geistesabwesend an und blies einen neuen Seufzer heraus.

»Ich mischte wissen, ob heute in England, so ein schöner Abend ist wie hier«, entgegnete er. »Ob wohl mein liebes kleines Mädchen zu Hause auch den Mondschein betrachtet und an mich denkt?«

Länger konnte ich’s nun nicht mehr aushalten. Ich fiel endlich über ihn her.

»Gott im Himmel, Mr. Armadale«, rief ich, »ist denn in der kleinen Welt »in welcher Sie leben, nur ein Gegenstand der Erwähnung werth? Ihrer Miß Milroy bin ich nachgerade herzlich satt. Bitte, sprechen Sie von etwas Anderem.«

Sein großes, breites, dummes Gesicht erröthete bis an die Wurzeln seines häßlichen gelben Haares.

»Verzeihen Sie«, stammelte er mit einer gewissen närrischen Verwunderung. »Ich konnte, nicht annehmen ———« stockte er verwirrt und sah von mir zu Midwinter hinüber. Ich verstand, was der Blick sagen sollte. »Ich konnte nicht annehmen, daß sie auf Miß Milroy eifersüchtig ist, nachdem sie Dich geheirathet hat!« das würde er Midwinter gesagt haben, wenn ich die Beiden allein zusammen gelassen hätte.

Midwinter hatte uns gehört. Bevor ich von neuem das Wort nehmen, bevor Allan weiter sprechen konnte, beendete er den Satz seines Freundes in einem Tone, welchen ich jetzt zum ersten Male vernahm, und mit einem Blicke, den ich zum ersten Male an ihm gewahr wurde.

»Du konntest nicht annehmen, Allan«, sagte er, »daß eine Dame so leicht sich zu übler Stimmung reizen läßt.«

Das erste bittere, ironische Wort, der erste böse Blick der Verachtung, die mir von ihm zu Theil geworden sind! Und Armadale schuld daran!

Auf der Stelle schwand mein Zorn. Ein anderes Gefühl trat an seine Stelle, das mich im Augenblicke alle meine Kraft und Festigkeit wiedergewinnen und mich schweigend aus dem Zimmer gehen ließ.

Ich setzte mich allein in meinem Schlafzimmer hin und hatte ein paar Minuten lang meine stillen Gedanken, die ich selbst auf diesen geheimen Blättern nicht einmal in Worte fassen mag. Ich stand auf und schloß etwas auf —— Niemand geht es an, was —— dann ging ich an den Tisch neben Midwinter’s Bett und nahm etwas zur Hand —— gleichgültig, was es war. Zuletzt, ehe ich das Zimmer wieder verließ, sah ich nach meiner Uhr. Es war halb elf, Armadale’s gewöhnliche Aufbruchszeit. Sofort fand ich mich wieder bei den beiden Männern ein.

Gutgelaunt trat ich zu Armadale heran und sagte zu ihm ——

Nein, nach nochmaliger Ueberlegung will ich nicht niederschreiben, was ich ihm sagte oder was ich darauf vornahm. Ich werde über das, was im Laufe der nächsten Stunde, zwischen halb elf und. halb zwölf, geschah, hinweggehen und meine Geschichte erst von dem Augenblicke an wieder aufnehmen, wo uns Armadale verlassen hatte. Kann ich sagen, was zwischen mir und Midwinter stattfand, sobald uns unser Gast den Rücken gekehrt hatte? Warum in diesem Falle nicht über das Geschehene hinweggehen so gut wie in jenem? Warum mich durch Niederschreiben des Vorgefallenen aufregen? Ich weiß es nicht! Warum führe ich überhaupt ein Tagebuch? Warum sind wir nicht in Allem, was wir thun, vernünftig? Warum bin ich nicht jederzeit auf meiner Hut? Warum niemals mir selbst ungetreu wie der schlechte Charakter in einer Novelle? Warum? Warum? Warum?

Es ist mir einerlei, warum! Ich muß niederschreiben, was sich zwischen mir und Midwinter heute Abend begeben hat, weil ich muß. Das ist ein Grund, den Niemand erklären kann, ich selbst nicht.

Es war halb zwölf. Armadale war fort. Ich hatte meinen Morgenrock angezogen und war eben daran, mein Haar für die Nacht zu arrangieren, als ich durch ein Klopfen an der Thür überrascht wurde und Midwinter eintrat.

Er war zum Erschrecken blaß. Seine Augen sahen mich mit einer in ihnen lodernden fürchterlichen Verzweiflung an. Er antwortete nicht, als ich ihm meine Verwunderung ausdrückte, daß er so viel früher als gewöhnlich komme; selbst als ich ihn fragte, wollte er mir nicht einmal sagen, ob er unwohl sei. Gebieterisch nach dem Stuhle zeigend, auf welchem ich mich bei seinem Eintritte erhoben hatte, ersuchte er mich, wieder Platz zu nehmen, und fügte dann, nach einem Momente des Schweigens, die Worte hinzu: »Ich habe etwas Ernstes mit Dir zu besprechen.«

Ich dachte an dass, was ich gethan; nein, an das, was ich zu thun versucht hatte in jener Zwischenzeit zwischen halb elf und halb zwölf, die ich in meinem Tagebuche unerwähnt gelassen habe, und eine Todesangst, wie ich sie nie empfunden hatte, überkam mich. Ohne Midwinter anzureden und ohne ihn anzusehen, setzte ich mich, wie mir geboten war, wieder hin.

Er schritt einmal im Zimmer auf und ab und blieb dann bei mir stehen.

»Wenn Allan morgen kommt«, begann er, »und wenn Du ihn siehst ——«

Seine Stimme bebte und er sagte nichts weiter. Ein entsetzlicher Kummer nagte an seinem Herzen, den er zu bemeistern suchte. Aber es gibt Zeiten, wo sein Wille eisern ist. Er machte einen neuen Gang durch das Zimmer und kämpfte den Schmerz nieder. Dann stellte er sich wieder zu mir hin.

»Wenn Allan morgen herkommt«, fuhr er fort, »so laß ihn in mein Zimmer kommen, falls er mich zu sprechen wünscht. Ich werde ihm sagen, daß es mir unmöglich ist, die Arbeit, welche ich gerade vorhabe, so rasch, wie ich gehofft, zu vollenden, und daß er sich deshalb? einrichten muß, ohne Beistand meinerseits sich eine Mannschaft für die Yacht zu verschaffen. Will er in seiner Enttäuschung seine Zuflucht zu Dir nehmen, so mache ihm keine Hoffnung, daß ich mich frei machen kann, auch wenn er wartet. Bestimme ihn, die erste beste Hilfe anzunehmen, die er von Fremden erlangen kann, und ohne weiteren Verzug an die Bemannung seines Schiffs zu gehen. Je mehr er Beschäftigung findet, die ihn von uns fern hält, und je weniger Du ihn zum Bleiben aufforderst, wenn er kommt, desto angenehmer wird es mir sein. Vergiß das nicht und vergiß auch die eine letzte Weisung nicht, welche ich Dir zu ertheilen habe. Wenn das Fahrzeug segelfertig ist und wenn Allan uns einladet, ihn auf der Fahrt zu begleiten, so ist es mein Wunsch, daß Du diese seine Einladung unbedingt ausschlägst. Er wird Dich zu einem andern Entschluß zu bringen suchen, denn natürlich werde ich meinerseits ablehnen, Dich in diesem fremden Hause und in diesem fremden Lande allein zu lassen. Einerlei, was er erwidert, laß Dich durch nichts von Deinem Entschlusse abwendig machen. Lehne es positiv und endgültig ab! Weigere Dich, ich bestehe darauf, den Fuß auf die neue Yacht zu setzen!«

Er schloß ruhig und fest, ohne Beben seiner Stimme und ohne Zeichen von Zaudern oder Nachgeben in seinen Zügen. Das Gefühl der Befremdung, das ich sonst wohl bei den wunderlichen Worten empfunden hätte, die er an mich gerichtet, ging in dem Gefühle der Erleichterung auf, welche sie mit gegeben hatten. Die Angst vor jenen andern Worten, die ich von ihm zu hören erwartete, schwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Ich konnte ihn wieder ansehen, konnte wieder zu ihm sprechen.

»Du kannst Dich darauf verlassen«, antwortete ich, »daß ich genau thun werde, was Du mir vorschreibst. Muß ich Dir aber blind gehorchen, oder darf ich den Grund der außerordentlichen Weisungen erfahren, die Du mir ertheilt hast?«

Sein Gesicht umdüsterte sich und er setzte sich an der andern Seite; meines Toilettentisches mit einem schweren Seufzer nieder.

»Du sollst den Grund erfahren«, sagte er, »wenn Du es wünschest.« Er hielt einen Augenblick inne und sann nach; »Du hast ein Recht, den Grund zu vernehmen«, begann, er wieder, »denn Du selbst kommst dabei ins Spiel.« Er hielt abermals inne und fuhr dann fort: »Ich kann Dir die seltsame Bitte, die ich so eben ausgesprochen habe, nur in einer Weise erklären«, sprach er traurig; ich muß Dich an das, erinnern, was da drüben im Nebenzimmer geschah, ehe uns Allan verließ.«

Er sah mich mit einem eigenthümlichen Ausdrucke an. Anfangs kam mir’s vor, als bedauere er mich. Dann schien mir’s Grausen zu sein, was ich ihm einflößte. Von neuem begann ich mich zu ängstigen, während ich schweigend seine nächsten Worte erwartete.

»Ich weiß, daß ich in der letzter Zeit zu angestrengt gearbeitet habe«, sprach er weiter, »und daß meine Nerven in trauriger Abspannung sind. In dem Zustande, in dem ich mich befinde, kann ich das Geschehene unbewußt leicht falsch verstanden oder nicht recht beobachtet haben. Du wirst mir darum einen Gefallen erzeigen, wenn Du mein Gedächtniß durch das Deinige unterstützen und auffrischen willst. Hat meine Phantasie etwas übertrieben, läßt mich mein Gedächtniß irgendwie im Stiche, dann wirft Du mir es sagen und meiner Erzählung Einhalt thun.«

Ich beherrschte mich so weit, um zu fragen, welche Umstände er meine und inwiefern ich dabei ins Spiel komme.

»Folgendermaßen berührt Dich die Sache«, antwortete er. »Die Umstände, auf welche ich mich beziehe, begannen, als Du, wie mir dünkte, in sehr unüberlegter und sehr ungeduldiger Weise zu Allan von Miß Milroy sprachst. Wie ich fürchte, drückte ich mich meinerseits ebenso heftig aus, und ich bitte, verzeihe mir, was ich in der Aufregung des Moments Dir sagte. Du gingst aus dem Zimmer. Nach kurzer Abwesenheit kamst Du wieder und machtest Allan Deine ganz und gar schicklichen Entschuldigungen wegen Deines Benehmens, die er mit gewohnter Güte und Sanftmuth aufnahm. Während dies vorging, standest Du und Allan am Eßtische und der letztere kam wieder auf den neapolitanischen Wein zu sprechen, von welchem Ihr Euch schon vorher unterhalten hattet. Mit der Zeit, sagte er, würde er ihn trinken lernen, und bat noch um ein Glas von dem Weine, der auf dem Tische stand. Ist es soweit richtig?«

Die Worte erstarben mir fast aus den Lippen, aber ich zwang sie heraus und erwiderte ihm, daß bis dahin Alles richtig sei.

»Du nahmst Allan die Flasche aus der Hand«, fuhr er fort, »und sagtest ihm freundlich: »Ich weiß, daß Sie eigentlich den Wein nicht mögen, Mr. Armadale. Lassen Sie mich Ihnen etwas zurecht machen, was vielleicht mehr nach Ihrem Geschmacke ist. Ich habe ein ganz besonderes Recept zu Limonade. Darf ich es für Sie versuchen?« Genau in diesen Worten machtest Du ihm Deinen Vorschlag und er nahm ihn an. Bat er Dich nicht auch um Erlaubniß, zusehen zu dürfen, um zu lernen, wie die Limonade bereitet würde? Und sagtest Du ihm nicht, daß dies Dich genierte und daß Du ihm lieber das Recept abschreiben wolltest, wenn er es gern haben wolle?«

Diesmal fand ich wirklich keine Worte. Ich konnte nur mit dem Kopfe nicken. Midwinter sprach weiter.

»Allan lachte und. trat an das Fenster, um auf den Golf hinauszublicken, Ich ging mit ihm. Nach einer Weile warf er scherzend hin, der bloße Ton der Flüssigkeiten, welche Du ausgössest, mache ihn durstig. Bei diesen Worten wandte ich mich vom Fenster und kam zu Dir heran. »Die Limonade braucht lange Zeit«, sagte ich. Als ich wieder dem Fenster zuschreiten wollte, hieltest Du mich am Arme fest und reichtest mir das bis zum Rande gefüllte Kelchglas. Im selben Augenblicke verließ Allan seinen Platz am Fenster und ich gab ihm das Glas. Ist das vielleicht nicht richtig?«

Das ungestüme Klopfen meines Herzens erstickte mich beinahe. Ich konnte nur. mit dem Kopfe schütteln —— mehr war ich nicht im Stande.

»Ich sah, wie Allan das Glas an seinen Mund setzte. Sahst Du es auch? Den Augenblick darauf sah ich, wie er erbleichte. Bemerktest Du es auch? Ich sah, wie ihm das Glas aus der Hand fiel, sah, wie er wankte, und fing ihn in meinen Armen auf, ehe er zu Boden« stürzte. Ist das Alles wahr? Um Gotteswillen strenge Dein Gedächtniß an und sage mir: ist das Alles wahr?«

Das Klopfen meines Herzens schien einen Augenblick nachzulassen. Im nächsten Moment durchzuckte mich’s wie Feuer, als sollte ich wahnsinnig werden. Ohne an die Folgen zu denken, sprang ich wüthend auf, verzweifelt genug, um etwas zu sagen.

»Deine Fragen sind Beleidigung! Deine Blicke sind Beleidigung!« brach ich los. »Denkst Du, ich hätte ihn vergiften wollen?«

Unwillkürlich kamen mir die Worte über die Lippen. »Es waren Worte, die ein Weib in meiner Lage am allerletzten hätte sprechen sollen. Und dennoch sprach ich sie!

Erschrocken stand er aus und gab mir ein Riechfläschchen. »Pst, Pst!« sagte er. »Auch Du bist abgespannt, auch Du nervös von Allem, was heute Abend passiert ist. Du sprichst toll und entsetzlich. Guter Gott! Ist’s denn möglich, daß Du mich so ganz und gar mißverstanden hast? Fasse Dich, bitte, fasse Dich!«

Er hätte ebenso gut einem wilden Thiere sagen können, daß es sich fassen solle. War ich toll genug, jene Worte zu sprechen, so war ich nicht minder toll genug, auf das Thema von der Limonade zurückzukommen, trotz seiner flehentlichen Bitten, still zu sein.

»Ich habe Dir gesagt, was ich in das Glas that im Augenblicke, als Mr. Armadale ohnmächtig wurde«, fuhr ich fort, erpicht darauf, mich vertheidigen zu wollen, wo Niemand mich angriff. »Ich habe Dir gesagt, daß ich die Flasche Branntwein nahm, die an Deinem Bette steht, und etwas daraus in die Limonade goß. Wie habe ich wissen können, daß er einen nervösen Widerwillen vor Geruch und Geschmack von Branntwein hat? Sagte er mir nicht selbst, als er wieder zu sich kam: »Ich bin schuld daran; ich hätte Sie warnen sollen, Branntwein dazu zu nehmen«? Hat er Dich nicht selbst an die Zeit erinnert, wo er mit Dir auf der Insel Man war und der Doctor in seiner Unschuld ganz denselben Mißgriff machte, den ich heute Abend beging?«

Ich legte einen großen Nachdruck auf meine Unschuld und auch mit einigem Rechte. Wie ich auch sonst sein mag, ich darf mich rühmen, keine Heuchlerin zu sein. Soweit Branntwein in Frage kommt, war ich unschuldig Ich hatte ihn in die Limonade gethan, in reiner Unkenntniß von Armadale’s seltsamer Idiosynkrasie, um den Geschmack von etwas Anderem zu maskieren! Worauf ich mir außerdem etwas einbilde, das ist, daß ich nie von meinem Ziele abschweife.

Midwinter sah mich einen Augenblick an, als dächte er, ich sei nicht mehr bei Sinnen. Dann kam er zu mir herüber und beugte sich über mich.

»Kann Dich nicht beruhigen, daß Du meine Motive ganz falsch auslegst«, sagte er, »und daß mir nicht einfällt, Dir in der Sache Vorwürfe zu machen, so lies das da!«

Er zog ein Papier aus der Brusttasche seines Rocks und entfaltete es vor meinen Augen. Es war die Erzählung von Armadale’s Traum.

Augenblicklich war mir die ganze Last von der Brust genommen. Ich fühlte mich wieder Herrin meiner selbst und verstand ihn endlich.

»Weißt Du, was das ist?« fragte er. »Entsinnst Du Dich noch dessen, was ich Dir in Thorpe-Ambrose über Allan’s Traum gesagt habe? Ich sagte Dir damals, daß zwei der drei Visionen sich bereits erfüllt hätten. Jetzt sage ich Dir, daß in diesem Hause heute Abend auch die dritte Vision in Erfüllung gegangen ist.«

Er schlug die Blätter des Manuscripts um und wies auf die Zeilen, welche ich lesen sollte.

Ich las die folgenden oder mindestens annähernd die folgenden Worte, wie sie Midwinter aus Allan’s Munde vernommen und niedergeschrieben hatte:

»Zum dritten Male that sich die Finsternis auf und zeigte mir den Schatten des Mannes und den Schatten des Weibes bei einander. Der erstere war der vorderste, das Weib stand im Hintergrunde. Von der Stelle, wo er stand, kam ein Ton, gleich dem leisen Ausgießen einer Flüssigkeit. Ich sah, wie der Schatten den des Mannes mit einer Hand berührte und ihm mit der andern ein Glas reichte. Er nahm das Glas und gab es mir. Im Augenblicke, wo ich es an die Lippen setzen wollte, überkam mich eine tiefe Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, waren die Schatten verschwunden und das Traumgesicht zerronnen.«

Für den Moment war ich von dem wunderbaren Zusammentreffen so bestürzt wie Midwinter selbst.

Er legte die eine Hand auf das offene Manuscript und faßte mich mit der andern fest am Arme.

»Jetzt verstehst Du, warum ich zu Dir gekommen bin?« fragte er. »Jetzt weißt Du, daß die letzte Hoffnung, an welche ich mich anklammerte, die Hoffnung war, Deine Erinnerung der Ereignisse dieses Abends möchte mein Gedächtniß Lügen strafen? Jetzt weißt Du, weshalb ich Allan nicht behilflich sein will, warum ich nicht mit ihm in See gehen mag, warum ich lüge und complotire und Dich zu Lügen und Complots anstifte, um meinen liebsten und besten Freund von unserm Hause fern zu halten?«

»Hast Du Mr. Brocks Brief vergessen?« fragte ich.

Er schlug leidenschaftlich auf das offene Manuscript. »Hätte Mr. Brock erlebt, was wir heute Abend gesehen haben, er würde auch empfinden, was ich empfinde, würde sagen, was ich sage!« Seine Stimme sank zu einem geheimnißvollen Flüstern herab und seine großen schwarzen Augen funkelten, als er diese Antwort gegeben hatte. »Dreimal warnten die Schatten Allan in seinem Traume und dreimal haben nachher die Schatten in Dir und in mir Körper gewonnen«, fuhr er fort. »Du und Niemand anders stand an des Weibes Stelle am Teiche. Ich und kein Anderer war an Stelle des Mannes am Fenster. Und Du und ich zusammen standen wieder an der Beiden Stelle, welche die letzte Vision des Traums gezeigt hatte. Zu dem Zwecke ist der jammervolle Tag heraufgedämmert, wo wir uns beide zuerst erblickt haben. Zu dem Zwecke hat mich der Einfluß zu Dir gezogen, als mich mein Schutzengel vor Dir warnte und mich Deinen Anblick fliehen hieß. Auf unser beider Leben ruht ein Fluch! An unsere Fußtapfen heftet sich das Verhängniß! Allan’s ganze Zukunft hängt davon ab, daß er sofort und für immer von uns scheidet. Treibe ihn hinweg von der Stätte, wo wir wohnen, und aus der Luft, welche wir athmen. Jage ihn zu Fremden; die Schlechtesten und Gottlosesten unter ihnen werden ihm minder zum Unheile gereichen als wir! Laß seine Yacht ohne uns segeln, und wenn er uns auf seinen Knieen anfleht, ihn zu begleiten, und sage ihm, wie ich ihn in einer andern Welt lieben will, wo die Bösen aufhören, Uebles zu thun, und die Müden Ruhe finden!«

Sein Schmerz übermannte ihn, seine Stimme ward zu einem Schluchzen, als er diese letzten Worte sprach. Er nahm die Erzählung des Traums vom Tische und verließ mich so jählings, wie er hereingekommen war.

Als ich ihn die Thür schließen hörte, die ihn von mir schied, dachte ich an das zurück, was er mir über mich selbst gesagt hatte. Ueber dem Gedanken an den jammervollen Tag, wo wir uns zuerst gesehen hätten, und an den Schutzengel, der ihn vor mir gewarnt, vergaß ich alles Andere. Was ich empfand, ist gleichgültig. Ich würde es nicht gestehen, selbst wenn ich es der treuesten Freundin anvertrauen könnte. Wer fragt nach dem Elend eines Weibes, wie ich, bin? Wer glaubt daran? Ohnedies sprach er unter dem Einfluß des wahnsinnigen Aberglaubens, welcher ihn ganz in Beschlag genommen hat. Für ihn gibt es alle mögliche Entschuldigungen, für mich gibt es keine. Ich kann mir nicht helfen, ich muß ihm gut sein trotz alledem, ich muß die Folgen auf mich nehmen und darunter leiden. Es geschieht mir recht, daß ich leide, ich verdiene Niemandes Liebe und Mitleid. Gott im Himmel, wie thöricht ich bin! Und wie unnatürlich das Alles erscheinen würde, stände es in einem Romane geschrieben!

Es hat eins geschlagen. Noch immer geht Midwinter ruhelos in seinem Zimmer auf und nieder.

Wahrscheinlich ist er in Gedanken versunken. Nun, ich bin auch in Gedanken. Was soll ich zunächst nun beginnen? Ich werde warten und zusehen. Manchmal passieren seltsame Dinge, und die Ereignisse rechtfertigen vielleicht den lieben Mann im nächsten Zimmer, der den Tag verflucht, wo er mich zuerst erblickte. Vielleicht verflucht er ihn noch aus ganz andern Gründen, als er es jetzt thut. Bin ich das Weib, das der Traum bezeichnet, so wird mir in kurzem eine andere Versuchung entgegentreten, und dann wird kein Branntwein in Armadales Limonade sein, wenn ich sie ihm zum zweiten Male mische.

Den 24. October. Erst zwölf Stunden sind verflossen, seit ich das letzte Wort in mein Tagebuch eintrug, und schon ist jene andere Versuchung gekommen und hat mich überwunden.

Diesmal hatte ich keine Alternative. Sofortige Bloßstellung und augenblicklicher Untergang starrten mir in das Gesicht, ich hatte keine Wahl, ich mußte nachgeben, wollte ich mich selbst schützen. In noch deutlichem Worten, es war keine zufällige Aehnlichkeit, welche mich gestern Abend im Theater erschreckte. Der Opernchorsänger war Manuel selbst!

Kaum hatte Midwinter zehn Minuten unser Wohnzimmer verlassen, um sich in seinem Kabinet an die Arbeit zu begeben, als unsere Hausfrau mit einem schmutzigen dreieckigen Billet in der Hand erschien. Ein Blick auf die Handschrift der Adresse sagte mir genug. Er hatte mich in der Loge erkannt und das Ballet im Zwischenacte ihm Zeit gelassen, meiner Spur nach Hause zu folgen. Soviel war mir klar, noch ehe ich den Brief erbrochen hatte. In zwei Zeilen zeigte er mir an, daß er in einer zum Golf hinabführenden Seitengasse warte und daß, wenn ich nicht binnen zehn Minuten bei ihm erscheine, er dies als eine Aufforderung auslegen werde, mich in meiner Wohnung aufzusuchen.

Die Begebnisse des gestrigen Tages müssen mich wohl gestählt haben. Jedenfalls dachte und empfand ich nach der Lection des Briefes mehr wie das Weib, welches ich einst gewesen, als ich seit Monaten gedacht und empfunden habe. Ich setzte meinen Hut auf, ging die Treppe hinab und zum Hause hinaus, als sei nichts vorgefallen.

Am Eingange des Gäßchens wartete er auf mich. Im Augenblicke da wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, trat mir mein ganzes elendes früheres Leben wieder vor die Seele. Ich dachte an mein Vertrauen, das er getäuscht, ich dachte an die grausame Trauungskomödie, die er mir gespielt hatte, ich dachte an die Zeit, wo ich in Verzweiflung mir das Leben zu nehmen suchte, weil er mich, verlassen. Als ich mir alles dies ins Gedächtniß zurückrief und unwillkürlich Midwinter mit dem gemeinen, elenden Schurken vergleichen mußte, an den ich einst geglaubt hatte, da wußte ich zum ersten Male, was ein Weib empfindet, welches auch den letzten Schatten von Selbstachtung verloren hat. Hätte er mich in dem Momente insultirt, ich glaube, ich hätte mir’s gefallen lassen.

Doch es fiel ihm nicht ein, mich zu insultiren, wenigstens nicht in dem rein brutalen Sinne des Wortes. Ich war ihm auf Gnade und Ungnade anheimgegeben, und um mich das fühlen zu lassen, nahm er schlau die Maske der Reue und Hochachtung vor. Ich ließ ihn nach Lust und Neigung sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, ohne ihn nur noch einmal anzusehen, ohne daß nur mein Kleid ihn streifen durfte, während wir neben einander einer stilleren Stelle des Strandes zuwandelten. Die elende Beschaffenheit seiner Garderobe und das gierige Funkeln seiner Augen, als ich den ersten Blick auf ihn richtete, waren mir nicht entgangen, und ich wußte, es würde, wie es auch geschah, auf eine Bitte um Geld hinauslaufen.

Ja! Nachdem er mir dereinst den letzten Heller, den ich selbst besaß, und den letzten Heller, welchen ich von meiner alten Herrin erpressen konnte, abgenommen hatte, fragte er mich, während wir jetzt zusammen an der See standen, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, daß er solch einen Rock trüge, wie er ihn anhätte, und als Chorsänger sich seinen jämmerlichen Lebensunterhalt verdienen müßte!

Mein Abscheu mehr als meine Empörung veranlaßte mich endlich zum Sprechen.

»Sie brauchen Geld’, sagte ich. »Wie nun, wenn ich zu arm wäre, Ihnen welches zu geben?«

»In dem Falle«, entgegnete er, »muß ich daran denken, daß Sie selbst ein Schatz für mich sind. Ich würde mich in die schmerzliche Nothwendigkeit versetzt finden, einem der beiden Herren, die ich mit Ihnen in der Oper sah, meine Ansprüche auf Sie begreiflich zu machen, dem Herrn natürlich, den Sie jetzt mit Ihrer Gunst beglücken.«

Ich antwortete ihm nicht, denn ich hatte keine Antwort zu geben. Meine Worte wären doch nur verschwendet gewesen, hätte ich ihm seine Ansprüche an mich bestreiten wollen. Er wußte so gut wie ich, daß er auch nicht den Schatten von Anspruch an mich hatte. Allein ebenso gut wußte er, daß der bloße Versuch, einen solchen Anspruch zu erheben, mein ganzes früheres Leben nothwendig ans Licht ziehen und mich bloßstellen mußte.

Noch immer schwieg ich und sah auf die See hinaus. Warum, weiß ich nicht, vielleicht weil ich instinctgemäß lieber irgend sonst wohin sehen wollte als auf ihn.

Ein kleines Segelboot näherte sich der Küste. Den Mann, der es steuerte, verbarg das Segel, aber das Boot war so nahe, daß ich die Flagge auf dem Maste zu erkennen glaubte. Ich sah nach der Uhr. Ja, es war Armadale, der von Saum-Lucia herüberkam, uns in gewohnter Weise zu besuchen.

Ehe ich meine Uhr wieder in den Gürtel gesteckt hatte, sah ich die Mittel und Wege, mich aus der entsetzlichen Lage zu ziehen, in der ich mich befand, so deutlich vor mir, wie ich sie jetzt vor mir sehe.

Ich kehrte um und schritt einem höheren Punkte des Strandes zu, wo mehrere Fischerkähne an das Land gezogen waren, die uns den Blicken jedes unten Landenden vollkommen verbargen. Manuel sah wahrscheinlich, daß ich meine bestimmte Absicht dabei hatte, und folgte mir, ohne ein Wort zu äußern. Sobald wir unter dem Schirme der Boote sicher waren, zwang ich mich, zu meiner eigenen Rettung, ihn wieder anzusehen.

»Was würden Sie sagen«, fragte ich, »wenn ich nicht arm, sondern reich wäre? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen hundert Pfund geben könnte?«

Er stutzte. Ich sah deutlich, daß er sich nicht auf die Hälfte der erwähnten Summe Hoffnung gemacht hatte. Daß seine Zunge log, während sein Gesicht die Wahrheit sprach, und daß er mir zur Antwort gab: »Lange nicht genug«, ist überflüssig zu bemerken.

»Wie wäre es«, fuhr ich fort, ohne von Dem, was er sagte, Notiz zu nehmen, »wie wäre es, wenn ich Ihnen das Mittel zeigen könnte, wodurch Sie sich doppelt, dreimal, fünfmal soviel wie hundert Pfund zu verschaffen vermöchten? Wären Sie kühn genug, Ihre Hand auszustrecken und es zu nehmen?«

Von neuem funkelten seine Augen vor Begierde. In athemloser Erwartung meiner nächsten Worte sank seine Stimme zu einem Flüstern herab.

»Wer ist die Person?« fragte er. »Und welches Risico ist dabei?«

Ich antwortete ihm auf der Stelle in den deutlichsten Worten. Wie ich ein Stück Fleisch der wilden Bestie vorgeworfen hätte, die mich verfolgte, so warf ich ihm Armadale vor.

»Die Person ist ein reicher junger Engländer«, sagte ich. »Er hat eben die hier im Hafen liegende Yacht Dorothea gemiethet und braucht nun einen Bootsmeister und eine Mannschaft Sie sind vordem Offizier in der spanischen Marine gewesen, Sie sprechen englisch und italienisch gleich geläufig, Sie sind mit Neapel und Allem, was zu ihm gehört, gründlich bekannt. Der reiche junge Engländer kennt die Sprache nicht und der Dolmetscher, welcher ihm dient, versteht nichts vom Seewesen. Er weiß nicht mehr, wo und wie er sich hier an diesem fremden Orte die nöthige Hilfe verschaffen soll, kennt die Welt nicht besser als das Kind, das dort mit seinem Stöckchen Löcher in den Sand gräbt, und trägt all sein Geld in Creditbriefen bei sich. Soviel hinsichtlich der Person. Das Risico mögen Sie selbst schätzen.«

Mit jedem Worte, welches ich sprach, wurde der gierige Glanz in seinen Augen heller und heller. Ehe ich geendet hatte, war er schon völlig bereit, das Risico zu übernehmen.

»Wann kann ich den Engländer sehen?« fragte er hastig.

Ich näherte mich dem der See zugekehrten Ende des Kahns und bemerkte, daß Allan eben ans Land stieg.

»Sie können ihn jetzt sehen«, antwortete ich und deutete auf die Stelle.

Nach einem langen Blicke auf Armadale, der sorglos den Hang des Strandes hinan schlenderte, zog sich Manuel hinter das schützende Boot zurück. Er wartete einen Augenblick, versank in tiefes Nachdenken und stellte mir dann, diesmal im leisesten Flüstern, eine neue Frage.

»Wenn das Schiff bemannt ist«, sagte er, »und der Engländer in See sticht, wie viele Freunde werden mit ihm segeln?«

»Er hat nur zwei Freunde hier«, entgegnete ich, »den andern Herrn, den Sie in der Oper gesehen haben, und mich. Er wird uns beide einladen, ihn auf der Fahrt zu begleiten, wir werden beide aber ablehnen.«

»Stehen Sie mir dafür?«

»Ich stehe Ihnen unbedingt dafür.«

Er ging ein paar Schritte von mir fort und blieb dann, das Gesicht von mir abgewandt, abermals nachdenkend stehen. Alles, was ich sehen konnte, war, daß er seinen Hut abnahm und sich die Stirn mit dem Taschentuch abwischte, Alles, was ich hören konnte, daß er in höchster Aufregung in seiner Muttersprache zu sich selbst sprach.

Als er zu mir zurückkam, bemerkte ich eine Veränderung an ihm. Sein Gesicht überzog ein häßliches fahles Gelb und seine Augen sahen mich mit feindseligem Mißtrauen an.

»Eine letzte Frage«, sagte er und trat näher an mich heran, während er mit einem auffälligen Nachdruck fortfuhr: »Was haben Sie für ein Interesse bei der Sache?«

Ich schrak vor ihm zurück. Die Frage mahnte mich, daß ich ein Interesse bei der Sache hatte, das mit dem andern Interesse, Manuel und Midwinter von einander fern zu halten, ganz und gar nicht im Zusammenhange stand. Bis jetzt hatte ich blos daran gedacht, daß Midwinter’s Fatalismus mir den Weg gebahnt hatte, indem er von vornherein Armadale jedwedem Fremden preisgab, der diesem in seiner Verlegenheit zu Hilfe kam. Bis jetzt war das Einzige was ich im Auge hatte, der Gedanke gewesen, durch Aufopferung Armadale’s mich selbst gegen die Bloßstellung zu schützen, die mir drohte. In meinem Tagbuche lüge ich nicht. Ich heuchle nicht, daß ich keinen Augenblick Armadale’s Geldbeutel oder die Sicherheit von Armadale’s Leben in Erwägung gezogen habe. Ich haßte ihn zu wüthend, um mich um die Fallen zu kümmern, die meine Zunge ihm vielleicht unter die Füße legte. Gewiß aber hatte ich vor jener letzten Frage nicht bedacht, daß Manuel, wenn er in seiner gewissenlosen Geldgier seinen eigenen Zwecken diente, auch meine Pläne fördern. Die eine alles Andere überwiegende Sorge, mich von einer Bloßstellung vor Midwinter zu retten, hatte meinen Geist derart erfüllt, daß sie jeden andern Gedanken ausschloß.

Da ich nicht alsbald antwortete, so wiederholte Manuel seine Frage in einer andern Wendung.

»Sie haben mir Ihren Engländer vorgeworfen«, sprach er, »wie man weiland dem Cerberus seinen guten Bissen zuwarf. Würden Sie dazu so völlig bereit sein, wenn Sie nicht noch Ihre besonderen Motive dazu hätten? Ich wiederhole meine Frage; Sie haben ein Interesse bei der Sache —— worin besteht es?«

»Ich habe zweierlei Interessen«, antwortete ich. »Einmal das Interesse, Sie zu zwingen, daß Sie meine hiesige Stellung respectiren, und dann das Interesse, mich für immer und ewig von Ihrem Anblicke zu befreien? Ich sprach mit einer Kühnheit, wie er sie bisher noch nicht an mir gewohnt gewesen war. Das Bewußtsein, daß ich den Schuft zu einem Werkzeuge in meinen Händen machte und ihn zwang, blindlings meine Pläne zu fördern, während er seine eigenen Zwecke verfolgte, hoben meinen Muth; ich war wieder ich selbst.

Er lachte. »Starke Worte sind bei gewissen Gelegenheiten das Privilegium der Damen«, sagte er. »Vielleicht befreien Sie sich für immer und ewig von meinem Anblicke, vielleicht auch nicht. Wir wollen die Entscheidung darüber der Zukunft überlassen. Allein das andere Interesse, welches Sie bei der Sache haben, kann ich nicht recht begreifen. Was ich von dem Engländer und seiner Yacht wissen muß, das haben Sie mir gesagt und haben mir keine Bedingungen gestellt, ehe Sie den Mund aufthaten. Wodurch wollen Sie mich zwingen, wie Sie sagen, Ihre, hiesige Stellung zu respectiren?«

»Das will ich Ihnen erklären«, versetzte ich. »Zuerst sollen Sie meine Bedingungen hören. Ich bestehe darauf, daß Sie mich binnen fünf Minuten verlassen; ich bestehe darauf, daß Sie sich nie wieder in der Nähe des Hauses sehen lassen, wo ich wohne, und ich verbiete Ihnen, sich jemals wieder, auf welchem Wege es auch sei, mit mir oder mit dem andern Herrn in Verbindung zu setzen, welchen Sie mit mir im Theater gesehen haben?

»Und wenn ich nun nein sagte?« fiel er ein. »Was wollen Sie in diesem Falle thun?«

»In dem Falle«, antwortete ich, »werde ich dem jungen Engländer zwei Worte sagen, und Sie werden Ihren Platz im Opernchore wieder einnehmen?

»Sie sind ein kühnes Weib, daß Sie es für ausgemacht halten, ich hätte schon meine Absichten auf den Engländer und sicher dabei reüssiren würde. Wie wissen Sie ——«

»Ich kenne Sie«, sagte ich, »und das ist genug.«

Einen Augenblick schwiegen wir beide. Er sah mich an und ich ihn. Wir verstanden einander.

Er war der erste, welcher wieder das Wort nahm. Das schurkische Lächeln erstarb auf seinem Gesichte und seine Stimme sank von neuem mißtrauisch zu den leisesten Tönen herab.

»Ich nehme Ihre Bedingungen an«, sprach er. »So lange als Ihre Lippen verschlossen sind, werden es auch die meinigen sein, ausgenommen, wenn ich finde, daß Sie mich hintergangen haben. In diesem Falle ist unser Vertrag gelöst und Sie werden mich wiedersehen. Morgen werde ich mich dem Engländer mit den erforderlichen Zeugnissen vorstellen, die mir sein Vertrauen gewinnen sollen. Sagen Sie mir seinen Namen!«

Ich nannte ihn.

»Geben Sie mir seine Adresse!«

Ich gab sie ihm und wandte mich zum Gehen. Noch ehe ich aber aus dem Schutze der Boote herausgetreten war, hörte ich ihn wieder hinter mir.

»Noch ein Wort«, sagte er. »Manchmal passieren Unglücksfälle aufs der See. Interessiert Sie der Engländer genug, daß, im Falle ihm ein Unglück zustößt, Sie wissen wollen, was aus ihm geworden ist?«

Ich blieb stehen und überlegte meinerseits. Es war mir unverkennbar mißlungen, ihn zu überzeugen, daß ich, indem sich ihm Armadales Geld und in wahrscheinlicher Folge auch Armadale’s Leben preisgab, kein besonderes geheimes Interesse dabei verfolgte. Und ebenso war es jetzt klar, daß er in seiner Verschlagenheit sich selbst mit meinen geheimen Plänen in Verbindung zu bringen suchte, indem er die Wege zu einem späteren Verkehre zwischen uns anbahnen wollte. Unter den obwaltenden Umständen konnte kein Zweifel sein, wie ich ihm zu antworten hatte; Wenn der Unglücksfall auf welchen er anspielte, Armadale wirklich traf, so brauchte ich Manuel’s Vermittelung nicht, um Kenntniß davon zu erhalten. Ein leichtes Studium der Todeslisten in den Spalten der englischen Zeitungen benachrichtigte mich ja von Allem, was ich wissen wollte, und gewährte mir noch den weitem Vortheil, daß man in einer derartigen Angelegenheit auf die Wahrheit der Blätter bauen konnte. Ich dankte also Manuel in aller Form und lehnte seinen Vorschlag ab. »Da mich der Engländer nicht weiter interessiert«, sagte ich, »so hege ich auch nicht den besonderen Wunsch, von seinem Schicksale benachrichtigt zu werden.«

Er sah mich einen Augenblick aufmerksam und mit einem gewissen Interesse an, das er mir selbst noch nicht gezeigt hatte.

»Mag das Spiel, das Sie spielen«, erwiderte er, langsam und nachdrücklich sprechend, »sein, welches es will, ich mache keinen Anspruch darauf, es zu erfahren. Nichtsdestoweniger aber wage ich eine Prophezeiung: Sie werden es gewinnen. Denken Sie daran, wenn wir uns wieder treffen.« Er nahm seinen Hut ab und verneigte sich gravitätisch. »Gehen Sie Ihren Weg, Madame, und lassen Sie mich meinen gehen!«

Mit diesen Worten erlöste er mich von seinem Anblick. Ich blieb noch eine Minute, um mich in der frischen Luft wieder zu sammeln, und kehrte dann nach Hause zurück.

Der erste Gegenstand, auf den meine Augen fielen, als ich in das Wohnzimmer eintrat, war Armadale selbst.

Er hatte auf meine Heimkunft gewartet, um mich zu bitten, daß ich meinen Einfluß auf seinen Freund geltend machen möchte. Ich fragte, was er damit meinte, und erfuhr, daß Midwinter bereits gethan, was er beim nächsten Zusammensein mit Armadale hatte thun wollen. Er hatte diesem mitgetheilt, daß er mit seinem Journalartikel nicht so bald fertig werden könne, wie er gehofft, und ihm gerathen, er möchte sich eine Mannschaft für die Yacht zu verschaffen suchen, ohne auf seine Beihilfe zu warten.

Dies Vernehmend, hatte ich nun das Versprechen zu erfüllen, das ich Midwinter gegeben, als er mir mein Verfahren in dieser Angelegenheit vorgezeichnet. Armadales Aerger über meinen Beschluß, nicht zu vermitteln, äußerte sich in der vor allen andern mich am meisten beleidigenden Gestalt. Er wollte meinen wiederholten Betheuerungen, daß ich keinen Einfluß besäße, den ich zu seinen Gunsten geltend machen könne, durchaus nicht glauben. »Wäre Neelie meine Frau«, sagte er, »sie könnte mit mir Alles machen, was sie wollte, und ich bin überzeugt, wenn Sie nur wollen, Sie können mit Midwinter auch Alles machen, was Sie wollen.« Hätte der verblendete Narr wirklich die letzten schwachen Regungen von Reue und Mitleid in meinem Herzen ersticken wollen, so hätte er diesem verhängnißvollen Besuche nichts Entsprechenderes sagen können! Ich warf ihm einen Blick zu, welcher ihn, soweit ich dabei in Frage kam, energisch zum Schweigen brachte. Grollend und murrend ging er aus dem Zimmer. »Alles ganz schön«, sprach er zu sich selbst, »von der Bemannung der Yacht zu reden. Ich verstehe kein Wort von ihrem Kauderwelsch hier und der Dolmetscher denkt, ein Fischer und ein Seemann sind eins und dasselbe. Man mag mich hängen, wenn ich weiß, was ich mit dem Schiffe anfangen soll, jetzt, wo ich’s gemiethet habe!« Morgen wird er’s wahrscheinlich wissen. Und wenn er wie gewöhnlich zu uns kommt, so werde auch ich es wissen!

Den 25. October, zehn Uhr abends. Manuel hat ihn! Er hat uns so eben verlassen, nachdem er länger als eine Stunde hier gewesen ist und die ganze Zeit von nichts Anderm gesprochen hat als von seinem wunderbaren Glück, das ihn gerade die Hilfe finden ließ, wo er sie am nothwendigsten brauchte.

Heute Nachmittag war er auf dem Molo mit seinem Dolmetscher, wie es scheint, und versuchte vergeblich sich der am Strande umherlungernden Bevölkerung verständlich zu machen. Gerade als er in Verzweiflung das Beginnen aufgab, bot ein Fremder, der in der Nähe stand —— vermuthlich war ihm Manuel vom Hotel nach dem Molo gefolgt —— freundlich seine Vermittelung bei dem Geschäfte an. »Ich spreche Ihre Sprache, Sir, und die der Leute da«, sagte er, kenne Neapel gut und bin durch meinen Beruf mit dem Meere vertraut. Kann ich Ihnen dienen?« Das unvermeidliche Resultat erfolgte. In seiner gewohnten unbeholfenen Manier wälzte Armadale ohne Verzug und Bedenken alle seine Schwierigkeiten auf die Schultern des artigen Fremden. Sein neuer Freund drang indeß so ehrenhaft wie möglich darauf, erst die üblichen Formalitäten zu erfüllen, ehe er zugeben könne, daß die Sache in seine Hände gelegt würde. Er bat um die Erlaubniß, Mr. Armadale mit seinen Zeugnissen über Charakter und Befähigung aufwarten zu dürfen. Nachmittags war er dann verabredetermaßen mit allen seinen Papieren und mit der traurigsten Geschichte von seinen Leiden und Entbehrungen als politischer Flüchtling, die Armadale jemals gehört hatte, im Hotel erschienen. Die Unterredung war entscheidend. Mit dem Auftrage, die nöthige Mannschaft für die Yacht zu werben und während der beabsichtigten Versuchsreise den Posten eines Bootsmeisters zu bekleiden, verließ Manuel das Hotel.

Gespannt beobachtete ich Midwinter, während Armadale uns diese Einzelheiten erzählte, und auch dann als dieser die Zeugnisse seines neuen Bootsmeisters vorlegte, die er seinem Freunde zur Einsichtnahme mitgebracht hatte.

Für den —— Moment schienen Midwinter’s abergläubische Ahnungen sämtlich über seiner natürlichen Sorge für den Freund vergessen zu sein. Mit der scrupulösesten Gründlichkeit und dem geschäftsmäßigsten Mißtrauen prüfte er die Papiere des Fremden, nachdem er mir gesagt hatte, daß je eher je lieber Armadale in fremden Händen sein müsse. Als Midwinter die Zeugnisse zurückgab, flog ein leises Roth über sein Gesicht; er schien die Inconsequenz seines Benehmens zu empfinden und zum ersten Male zu bemerken, daß ich anwesend war und es wahrnahm. »Gegen die Zeugnisse da ist nichts einzuwenden; ich freue mich, daß Du endlich erlangt hast, was Du suchst.« Das war Alles, was er Armadale zum Abschiede sagte. Sobald als dieser den Rücken gewandt hatte, sah ich nichts mehr von Midwinter. Wiederum hat er sich für den Abend in seinem Zimmer eingeschlossen.

Nur noch eine Sorge bleibt mir übrig. Wird Midwinter fest bei seinem Entschlusse beharren, wenn die Yacht segelfertig ist, und ohne mich seine Begleitung verweigern?

Den 26. October. Schon die Vorboten des kommenden Verhängnisses. Ein Brief von Armadale an Midwinter, den dieser mir so eben zugeschickt hat. Er lautet folgendermaßen:

»Lieber Mid! Ich bin zu sehr beschäftigt, um heute kommen zu können. Um Himmelswillen mache, daß Du mit Deiner Arbeit fertig wirst! Der neue Bootsmeister ist seine Zehntausend werth. Er hat einen Engländer seiner Bekanntschaft ausfindig gemacht, der gleich als erster Matrose eintreten kann, und denkt sicher in Zeit von drei, vier Tagen die Mannschaft zusammen zu bringen. Ich sterbe vor Sehnsucht nach ein bischen Seewind, und Dir muß es auch so gehen, oder Du bist kein ordentlicher Seemann. Die Takelage ist fertig, die Provisionen kommen allmälig herbei und morgen oder übermorgen werden wir die Anker lichten können. Noch nie im Leben war ich in so guter Stimmung. Empfiehl mich Deiner Frau und sage ihr, sie würde mir eine große Gunst erweisen, wenn sie sofort käme und Alles anordnete, was sie noch in der Damenkajüte vermißt. Ganz der Deinige A. A«

Darunter war von Midwinter’s Hand geschrieben:

»Vergiß nicht, was ich Dir gesagt habe. Schreibe —— das wird ihm unsere Ablehnung milder beibringen —— und bitte ihn, uns zu entschuldigen und von der Probefahrt zu dispensieren.«

Ohne einen Augenblick zu verlieren, habe ich demgemäß geschrieben. Je eher Manuel erfährt, wie er es gewiß durch Armadale erfahren wird, daß meinerseits das Versprechen, nicht mitzufahren, bereits erfüllt ist, um so sicherer wird er sich fühlen.

Den 27. October. Ein Brief von Armadale als Antwort auf den Meinigen. Er ist voll ceremoniösen Bedauerns, daß er meine Gesellschaft auf der Fahrt entbehren soll und hofft, Midwinter werde mich noch zu einer Aenderung meines Beschlusses vermögen. Warte ein bischen, bald wirft du erfahren, daß auch Midwinter nicht mit dir segelt!

Den 30. October. Bis heute nichts Neues zu verzeichnen. Heute ist endlich die Veränderung in unserm beiderseitigen Leben eingetreten!

In der freudigsten Stimmung, voll lauten Jubels erschien Armadale diesen Morgen, um zu verkünden, daß die Yacht segelfertig sei, und zu fragen, wann Midwinter sich würde an Bord begeben können. Ich sagte ihm, er möchte bei Midwinter selbst sich danach erkundigen. Mit einer letzten Bitte, meine Ablehnung mir noch einmal zu überlegen, verließ er mich. Ich antwortete ihm mit einer letzten Entschuldigung und setzte mich dann allein ans Fenster, um das Resultat der im anstoßenden Zimmer stattfindenden Unterredung abzuwarten.

Von dem, was jetzt zwischen Midwinter und seinem Freunde vorging, hing meine ganze Zukunft ab. Bis hierher war Alles glatt und eben gegangen. Midwinter’s Entschluß oder vielmehr der Gedanke, daß Midwinter’s Fatalismus schließlich doch das Feld räumen könne, war die einzige Gefahr, die ich noch fürchtete. Ließ er sich bereden, Armadale auf seinem Ausfluge zu begleiten, dann würde Manuel’s Erbitterung gegen mich vor nichts zurückbeben, er würde sich erinnern, daß ich dafür eingestanden, Armadale werde von Neapel allein abfahren, und noch ehe das Schiff den Hafen verlassen, mein ganzes früheres Leben vor Midwinter enthüllen und bloßstellen. Wie ich daran dachte und wie Minute auf Minute langsam verstrich, ohne daß mir etwas Anderes als das unbestimmte Gesumme der Stimmen aus dem nächsten Zimmer ins Ohr drang, wurde mir die Ungewißheit fast unerträglich. Umsonst suchte ich meine Aufmerksamkeit auf das Leben unten auf der Straße zu richten. Ich sah mechanisch aus dem Fenster und gewahrte nichts.

Plötzlich, ich kann nicht sagen, nach wie langer oder wie kurzer Zeit, hörte das Stimmengesumme auf. Die Thür öffnete sich und Armadale trat allein über die Schwelle.

»Ich wünsche Ihnen wohl zu leben«, sagte er kurz, »und hoffe, wenn ich erst verheirathet bin, meine Frau wird Midwinter niemals derart der Quere kommen, wie mir Midwinter’s Frau der Quere gekommen ist!«

Er sah mich zornig an und machte mir eine zornige Verbeugung; dann wandte er sich brüsk um und ging.

Jetzt sah ich die Leute auf der Straße wieder! Ich sah die ruhige See und die Masten der Schiffe im Hafen, wo die Yacht lag! Von neuem konnte ich denken, konnte ich athmen! Die Worte, welche mich vor Manuel retteten, die Worte, die vielleicht Armadale’s Todesurtheil waren, sie waren gesprochen worden. Die Yacht segelte ohne Midwinter wie ohne mich!

Das erste Gefühl des Entzückens war fast sinne berückend. Es war indeß das Gefühl eines Moments. Wenn ich an den einsamen Midwinter drüben im Zimmer dachte, sank mir wieder der Muth.

Ich trat auf den Corridor hinaus, um zu horchen, und hörte nichts. Ich klopfte leise an die Thür und erhielt keine Antwort. Ich machte die Thür auf und sah hinein. Das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, so saß er am Tische. Ich sah ihn schweigend an und sah den Schimmer von Thränen, die ihm durch die Finger träufelten.

»Laß mich allein«, sagte er, ohne die Hände zu bewegen. »Ich muß es allein überwinden?

Ich ging wieder in das Wohnzimmer. Wer kann die Weiber verstehen? »Wir verstehen uns ja selbst nicht. Daß er mich fortschickte, schnitt mir ins Herz. Das harmloseste, das sanfteste Weib in der Welt hätte es nicht bitterer empfinden können, als ich es empfand. Und das nach dem, was ich gethan, nach dem, was ich den Augenblick zuvor, ehe ich zu ihm ins Zimmer ging, gedacht hatte! Wer vermag es zu erklären? Niemand, ich selbst am allerwenigsten.

Eine halbe Stunde später that sich die Thiir auf und ich sah ihn die Treppe hinabeilen. Ohne weitere Ueberlegung lief ich ihm nach und fragte, ob ich vielleicht mit ihm gehen solle. Er blieb nicht stehen und antwortete mir auch nicht. Ich kehrte ans Fenster zurück und sah ihn, Neapel und dem Meere den Rücken kehrend, eiligen Fußes die Straße hinabschreiten.

Vielleicht hatte er mich gar nicht gehört, das begreife ich jetzt. Für den Augenblick hielt ich sein Benehmen für unverzeihlich und ihn für lieblos und brutal gegen mich. In wahnwitziger Wuth auf ihn setzte ich meinen Hut auf, schickte nach einem Wagen und sagte, er solle mich hinfahren, wohin er wolle. Wie alle Fremde fuhr er mich nach dem Museum, damit ich mir die Statuen und Gemälde beschaue. Glühenden Gesichts stürmte ich von Saal zu Saal, während sämtliches anwesendes Publikum mich verwundert anstarrte. Wie ich wieder zu mir kam, weiß ich nicht. Ich setzte mich wieder in den Wagen und ließ mich, ich weiß nicht warum, nach Hause jagen, soviel die Pferde laufen konnten. Ich riß Hut und Mantel ab und setzte mich abermals ans Fenster. Der Anblick des Meeres kühlte mich. vergaß Midwinter und dachte an Armadale und seine Yacht. Kein Lüftchen rührte sich, keine Wolk war am Himmel, der weite Golf glatt wie ein Spiegel.

Die Sonne ging unter, die kurze Dämmerung kam und schwand. Ich trank eine Tasse Thee und dachte und träumte dabei. Als ich mich vom Tische erhob und wieder ans Fenster trat, war der Mond herausgekommen, doch das Meer lag so ruhig wie vorher.

Noch immer sah ich hinaus, als Midwinter wieder unten auf der Straße erschien. Inzwischen hatte ich mich so weit gefaßt, um mich seiner Gewohnheiten zu erinnern und zu wissen, daß er versucht haben mochte, durch eine seiner langen, einsamen Wanderungen sich die Last vom Herzen zu wälzen. Als ich ihn die Thür seines Zimmers öffnen hörte, war ich klug genug, ihn nicht wieder zu stören; gern wartete ich, wo ich war.

Kurz daraus hörte ich, wie er das Fenster aufmachte, und sah, wie er auf den Balcon hinaustrat und nach einem raschen Blick auf die See seine Hand emporhob. Für den Moment war ich zu einfältig, daran zu denken, wie er einst selbst Seemann gewesen war, und konnte darum nicht begreifen, was seine Gebärde bedeuten sollte. Neugierig wartete ich, was nun zunächst geschehen würde.

Er ging ins Zimmer zurück, kam aber nach wenigen Minuten wieder heraus und hielt wie zuvor seine Hand in die Luft. Diesmal blieb er stehen, lehnte sich über die Balustrade des Balcons und blickte mit gespannter Aufmerksamkeit beharrlich in den Mondschein hinaus.

Lange stand er unbeweglich. Dann sah ich ihn plötzlich zusammenschrecken. Im nächsten Augenblicke sank er auf die Kniee und legte die Hände gefaltet auf das Eisengitter des Balcons »Gott der Allmächtige segne und erhalte Dich, Allan«, sprach er andächtig. »Lebe wohl auf ewig!«

Ich sah auf das Meer hinaus. Eine sanfte Brise hatte sich erhoben und kräuselte das im ruhigen Mondlichte funkelnde Wasser. Ich sah wieder hin, da glitt zwischen mir und dem Reflex des Mondes ein langes schwarzes Schiff mit großen, dunkeln, geisterhaften Segeln sanft und geräuschlos wie eine Schlange über die See.

Mit der Nacht war der ersehnte Wind gekommen und Armadales Yacht hatte ihre Probefahrt begonnen.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

»London, den 19. November. Ich bin wieder allein in der großen Stadt, zum ersten Male allein seit unserer Verheirathung. Vor fast acht Tagen trat ich meine Heimreise an, Midwinter in Turin zurücklassend.

Seit Anfang dieses Monats sind die Tage so reich an Ereignissen und ich bin den größeren Theil der Zeit körperlich und geistig so abgehetzt gewesen, daß mein Tagebuch jämmerlich vernachlässigt worden ist. Wenige Notizen in solcher Eile und Verwirrung geschrieben, das; ich sie kaum selbst entziffern kann, sind Alles, was mich Schwarz auf Weiß an das erinnert, was seit Armadale’s Abreise von Neapel geschehen ist. Ich will versuchen, ob ich ohne weiteren Zeitverlust damit zu Stande kommen kann, versuchen, ob ich mir die Begebnisse in der Folge, wie sich vom Anfang dieses Monats an eins nach dem andern zugetragen hat, ins Gedächtniß zurückzurufen vermag.

Am dritten November —— wir waren damals noch in Neapel —— empfing Midwinter einen flüchtigen Brief von Armadale aus Messina. Das Wetter schrieb er, wäre prächtig gewesen und die Yacht hätte eine der schnellsten Fahrten gemacht, die man sich denken könne. Die Mannschaft wäre eine etwas rohe Bande, allein Kapitän Manuel und sein englischer Bootsmann —— der letztere der Schilderung nach der beste aller guten Kumpane —— hielte sie bewundernswerth in Zucht. Nach solchem glücklichen Anfang hatte Armadale als selbstverständlich eine Verlängerung der Fahrt angeordnet und auf des Kapitäns Rath sich entschlossen, einige Häfen des Adriatischen Meeres zu besuchen, die ihm Manuel als höchst charakteristisch und sehenswerth beschrieben hatte.

Eine Nachschrift folgte, die erklärte, daß Armadale sehr eilig geschrieben, um den nach Neapel gehenden Dampfer nicht zu versäumen, und den Brief rasch wieder geöffnet habe, um noch etwas zu bemerken, was er beinahe vergessen. Am Tage vor seiner Abfahrt sei er bei seinem Banquier gewesen, um sich noch etliche Hundert in Gold zu holen, und glaube daselbst seine Cigarrentasche liegen gelassen zu haben. Dieselbe sei ihm ein sehr werthes Andenken und Midwinter möge doch so gut sein, sie für ihn wiederzuerlangen und ihm bis zu ihrem Wiedersehen aufzuheben.

Als mich Midwinter allein gelassen hatte, dachte ich über den Inhalt des Briefes ernstlich nach. Mein Gedanke war und ist es noch, daß Manuel nicht umsonst Armadale überredet hat, in einem so wenig von Schiffen belebten Meere wie das Adriatische Meer zu kreuzen. Auch die Art und Weise, wie der geringfügige Verlust der Cigarrentasche erwähnt war, fiel mir als bedeutsam auf. Ich schloß, daß Armadale’s Creditbrief nicht durch seine eigene Vorsicht oder Geschäftskenntniß in die etlichen Hundert in Gold verwandelt worden war. Auch hierbei war Manuel’s Einfluß jedenfalls und nicht ohne Grund thätig gewesen. Die ganze schlaflose Nacht hindurch drängten sich mir in kurzen Pausen diese Erwägungen wieder und wieder auf und immer wiesen sie auf einen und denselben Weg, auf den Weg heimwärts nach England.

Wie dahin gelangen und insbesondere wie dahin ohne Midwinter’s Begleitung gelangen, das war mehr, als mein Verstand diese Nacht ausklügeln konnte. Ich versuchte und versuchte, der Schwierigkeit zu begegnen, und schlief, ohne daß mir es gelang, gegen Morgen erschöpft ein.

Ein paar Stunden später, sobald ich angekleidet war, kam Midwinter herein mit Briefen seiner Zeitungsverleger in London, die er diesen Morgen erhalten hatte. Der Redacteur hatte den Herren einen so günstigen Bericht über seinen Neapler Correspondenten abgestattet, daß sie diesen zu dem einträglicheren und bedeutenderen Posten in Turin befördern wollten. Seine neuen Inftructionen waren in dem Briefe enthalten und er sollte keine Zeit verlieren, Neapel mit seinem neuen Aufenthaltsorte zu vertauschen.

Ehe er mich noch darum fragen konnte, befreite ich ihn von aller Angst hinsichtlich meiner Zustimmung zu dem Tausche Turin besaß in meinen Augen die große Anziehung, daß es auf dem Wege nach England lag. Ich versicherte ihm sofort, daß ich, sobald er es wünsche, zur Reise bereit sei.

Er dankte mir für meine Bereitwilligkeit, mich seinen Plänen zu fügen, mit fast der alten Freundlichkeit und Herzlichkeit, wie ich sie die letzte Zeit von ihm nicht erfahren hatte. Die tags vorher von Armadales eingelaufenen guten Nachrichten schienen ihn etwas aus der dumpfen Verzweiflung aufgerüttelt zu haben, in welche er seit der Abfahrt der Yacht versunken war. Und jetzt hatte die Aussicht einer Beförderung in seinem Berufe und mehr noch, die Aussicht, den verhängnißvollen Ort verlassen zu dürfen, wo sein drittes Traumgesicht in Erfüllung gegangen war, seinem eigenen Geständnisse nach ihn noch mehr erheitert und erleichtert. Ehe er wegging, um die nöthigen Vorbereitungen zu unserer Abreise zu treffen, fragte er, ob ich vielleicht Nachrichten von meiner Familie in England erwarte und ob er Anweisung ertheilen solle, daß meine Briefe mir mit den seinigen poste restante nach Turin nachgesandt würden. Dankend nahm ich das Anerbieten an. Augenblicklich stieg mir bei seinem Antrag der Gedanke auf, daß meine fingierten Familienverhältnisse von neuem bestens verwerthet werden könnten als Grund einer unerwarteten Heimberufung nach England.

Den neunten des Monats waren wir in Turin installiert. Am dreizehnten sagte mir Midwinter, der sehr beschäftigt war, es würde ihm ein großer Zeitgewinn sein, wenn ich so gut sein wollte, auf der Post für ihn nach Briefen zu fragen, die uns etwa von Neapel nachgesandt wären. Auf die mir jetzt gebotene Gelegenheit hatte ich gewartet und war rasch entschlossen, sie ohne Säumen zu ergreifen. Weder für ihn noch für mich waren poste-restante-Briefe da; ich sagte ihm indeß bei meiner Heimkehr, daß ich einen mit sehr beunruhigenden Nachrichten von Hause erhalten habe. Meine Mutter wäre gefährlich erkrankt und man ersuche mich, unverzüglich nach England zu kommen, wenn ich sie noch sehen wolle.

Jetzt, wo ich fern von ihm bin, scheint es mir ganz unerklärlich, es ist aber nichtsdestoweniger wahr, daß ich selbst jetzt noch nicht ihm direct und absichtlich ins Gesicht lügen konnte, ohne ein Gefühl von Angst und Scham zu empfinden, was die Meisten und ich selbst auch mit einem Charakter wie der meinige für ganz unvereinbar halten dürften. Unvereinbar oder nicht, ich empfand es. Und was noch Wunderbarer, vielleicht richtiger ausgedrückt, verrückter ist, ich bin fest überzeugt, hätte er auf seinem ersten Entschlusse bestanden, mich nicht allein nach England reisen zu lassen, sondern mich selbst nach England zu begleiten, zum zweiten Male hätte ich der Versuchung den Rücken gekehrt und mich noch einmal in den alten Traum eines glücklichen und harmlosen Lebens an der Seite und in der Liebe meines Mannes einlullen lassen.

Täusche ich mich selbst hierin? Ich glaube annehmen zu müssen, daß ich’s thue; es kommt ja nichts darauf an. Was hätte geschehen können, ist gleichgültig. Was geschehen ist, das allein ist jetzt von Bedeutung.

Midwinter ließ sich endlich überzeugen, daß ich alt genug wäre, auf einer Reise nach England allein fortkommen zu können, und daß er es seinem Redacteur, der ihm seine Interessen anvertraut habe, schuldig sei, Turin nicht zu verlassen, wo er sich eben erst etabliert. Der Abschied von mir ging ihm nicht so nahe wie der Abschied von seinem Freunde. Endlich habe ich nun meine Schwäche für ihn vollkommen überwunden. Kein Mann, der mich wahrhaft liebte, würde die Pflichten gegen ein paar Zeitungseigenthümer den Pflichten gegen seine Frau vorangestellt haben. Ich hasse ihn, daß er sich von mir überzeugen ließ! Ich glaube, er war froh, mich los zu werden, ich glaube, er hat in Turin ein Weib kennen gelernt, das er liebt. Nun, mag er seiner Phantasie folgen, wenn es ihm Vergnügen macht! Ehe noch viele Tage vergehen, werde ich die Wittwe Mr. Armadale’s auf Thorpe-Ambrose sein, und was frage ich dann nach seinen Zu- und Abneigungen?

Meine Reisebegebnisse sind nicht bemerkenswerth und meine Ankunft in London steht schon auf der ersten Zeile einer neuen Seite berichtet.

Heute ist das Einzige von einiger Wichtigkeit, was ich, seitdem ich in diesem billigen und stillen Hotel hier wohne, gethan, daß ich nach dem Wirth geschickt und ihn gebeten habe, mir eine Reihe älterer Nummern der Times zur Durchsicht zu verschaffen. Höflich bot er mir an, ihn morgen früh nach einem Lokale in der City zu begleiten, wo alle Zeitungen, wie ersagte, der Reihe nach aufbewahrt werden. Bis morgen also muß ich meine Ungeduld nach Nachrichten von Armadale, so gut ich kann, bezähmen Gute Nacht denn dem hübschen Spiegelbild meiner selbst, das auf diesen Seiten erscheint!

Den 20. November. Noch kein Wort der bewußten Nachricht, weder unter den Todesanzeigen noch sonst wo in der Zeitung. Ich habe Nummer für Nummer sorgfältig durchgesehen von: Tage an, an welchem Armadale’s Brief aus Messina geschrieben war, bis auf heute, und was sich auch ereignet hat, in England ist noch nichts davon bekannt, dessen bin ich sicher. Geduld! Bis aus weiteres werde ich jeden Morgen beim Frühstück die Zeitung finden und jeder Tag kann mir zeigen, was ich vor allem sehen möchte.

Den 21. November. Wieder keine Nachricht. Um den Schein zu wahren, habe ich heute an Midwinter geschrieben.

Als ich mit dem Briefe fertig war, fühlte ich mich, ich weiß nicht warum, so jämmerlich verstimmt und niedergedrückt und hatte eine solche Sehnsucht nach etwas Gesellschaft, daß ich, weil ich sonst nicht wußte wohin, in Verzweiflung wirklich nach Pimlico ging, auf die Möglichkeit hin, Mutter Oldershaw könnte vielleicht in ihre alte Wohnung zurückgekehrt sein. Seit ich während meines früheren Londoner Aufenthalts den Ort zum letzten Male gesehen hatte, waren dort Veränderungen vorgegangen. Doctor Downward’s Seite des Hauses war noch immer unbewohnt, aber der Laden wurde für den Einzug einer Putz- und Modehändlerin hergerichtet. Als ich hineinging, um Erkundigungen einzuziehen, fand ich nur unbekannte Leute darin. Sie hatten jedoch kein Bedenken, mir auf meine Anfrage Mrs. Oldershaw’s Adresse zu geben, woraus ich schließe, daß die kleine Verlegenheit, welche sie im letzten August zwang, sich zu verbergen, inzwischen, wenigstens soweit sie davon berührt wurde, ihr Ende gefunden. Hinsichtlich des Doctors waren die Leute, oder behaupteten dies mindestens, außer Stande, mir zu sagen, was aus ihm geworden sei.

Ich weiß nicht, war es der Anblick des Platzes in Pimlico oder meine eigene Schlechtigkeit oder was sonst, was mich traurig machte. Sowie ich aber Mrs. Oldershaw’s Adresse bekommen hatte, empfand ich, daß sie die allerletzte Person in der Welt war, nach deren Wiedersehen ich Verlangen trug. Ich nahm ein Cab und fuhr nach dem Hotel zurück. Jede Stunde wächst meine Ungeduld, von Armadale zu erfahren, ich weiß kaum mehr, was ich in meiner Unruhe beginnen soll. Wann wird mir die Zukunft etwas minder dunkel erscheinen? Morgen ist Sonnabend. Wird das Sonnabendblatt den Schleier lüften?

Den 22. November. Das Sonnabendblatt hat den Schleier gelüftet! Worte sind außer Stande, mein Erstaunen, die entsetzliche Aufregung zu schildern, in der ich schreibe. Was nun geschehen ist, hatte ich mir nie gedacht, ich kann es nicht glauben, kann es mir auch nicht Vergegenwärtigen. Winde und Wogen selbst sind meine Mitschuldigen geworden! Die Yacht hat Schiffbruch erlitten und jede Seele an Bord ist umgekommen!

Das ist der Bericht, wie ich ihn aus der Zeitung von heute Morgen herausgeschnitten habe:

»Unglück auf der See. Dem königlichen Yachtgeschwader und den Versicherern ist Kunde geworden, welche zu unserm Bedauern keinem vernünftigen Zweifel mehr Raum gibt, daß am 5. des laufenden Monats die Yacht Dorothea mit Allem, was an Bord war, untergegangen ist. Die Einzelheiten der Katastrophe sind folgende: Am 6. d. stieß mit Tagesanbruch die von Venedig nach Marfala segelnde italienische Brigg Speranza beim Cap Spartivento —— an der südlichsten Spitze Italiens —— auf verschiedene im Meere schwimmende Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der Mannschaft erregten. Der vorhergehende Tag war durch einen jener plötzlichen und heftigen Stürme bezeichnet gewesen, welche diesen südlichen Meeren eigenthümlich sind, einen so heftigen, wie man seit Jahren sich nicht zu erinnern weiß. Da die Speranza selbst während des Sturms sich in höchster Gefahr befunden hatte, so schloß der Kapitän, die schwimmenden Gegenstände möchten auf die Spur eines Wracks leiten, und ein Boot ward hinabgelassen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Ein Hühnerstall, ein paar zertrümmerte Sparren und Bruchstücke einer zerbrochenen Planke waren die ersten Anzeichen von dem furchtbaren Unglück, das sich begeben hatte. Später wurden noch einige von den leichtern Stücken des Kajütenmobiliars zerrissen und beschädigt gefunden, und endlich traf man auf ein Andenken von schmerzlichem Interesse ein Life.Buoy mit einer daran befestigten verkorkten Flasche. Diese letzteren Gegenstände sowie das Kajütenmobiliar wurden an Bord der Speranza gebracht. Auf dem Buoy war der Name des Schiffs folgendermaßen angeschrieben: Dorothea, R. Y.-S. (Königl. Yacht-Geschwader). Als man die Flasche entstöpselte, fand man darin einen Streifen starken Papiers, worauf flüchtig mit Bleistift bemerkt war: »Cap Sparttivento vorüber; zwei Tage von Messina abgegangen. 5. November 4 Uhr nachmittags (die Stunde, wo nach dem Schiffsbruche der Brigg der Sturm am stärksten war). Unsere beiden Boote treiben auf der See. Das Ruder ist fort und wir haben ein Leck am Hinterdeck, so groß, daß wir’s nicht mehr verstopfen können. Gott stehe uns bei —— wir sinken. John Mitchenden, Bootsmann.« Bei seiner Ankunft in Marsala erstattete der Kapitän der Brigg dem englischen Consul seinen Bericht und übergab ihm die gefundenen Gegenstände. In Messina eingezogene Erkundigungen thaten dar, daß das unglückliche Fahrzeug dort von Neapel eingelaufen war. In Neapel stellte es sich heraus, daß die Dorothea durch den Agenten ihres Besitzers an einen englischen Gentleman, Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose in Norfolk, vermiethet worden war. Ob Mr. Armadale einige Freunde mit sich an Bord hatte, ist nicht aufzuklären gewesen. Leider unterliegt es aber keinem Zweifel, daß der unglückliche Gentleman selbst von Neapel aus an Bord der Yacht war und sich auch darauf befand, als sie Messina verließ.«

Das die Geschichte des Schiffbruchs, wie ihn die Zeitungen in den bündigsten und deutlichsten Worten erzählen. Der Kopf schwindelt mir; meine Verwirrung ist so groß, daß ich, wenn ich an einen bestimmten Gegenstand zu denken suche, an fünfzig verschiedene Dinge zugleich denke. Ich muß warten —— auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an —— ich muß warten, bis ich meiner neuen Situation ins Gesicht sehen kann, ohne daß mich der Gedanke daran schwindeln macht.

Den 23. November, acht Uhr früh. Vor einer Stunde bin ich aufgestanden und habe klar vor mir gesehen, was ich unter den gegenwärtigen Umständen zuerst zu thun habe.

Zu erfahren, was jetzt in Thorpe-Ambrose vorgeht, ist von der höchsten Wichtigkeit für mich, aber solange ich darüber im Unklaren bin, mich selbst dahin zu wagen, würde mehr als unbesonnen sein. Nur die Alternative, Jemand an Ort und Stelle um Nachricht zu bitten, bleibt mir übrig, und der Einzige, an den ich schreiben kann, ist —— Bashwood.

Eben bin ich mit dem Briefe fertig geworden. Ich habe oben darüber »Privatim und confidentiell« und unten darunter »Lydia Armadale« gesetzt. Fühlt sich der alte Narr von meinem Betragen gegen ihn tödtlich gekränkt und zeigt in seiner Erbitterung meinen Brief herum, so steht nichts darin, was mich compromittiren kann. Doch ich glaube nicht, daß er es thun wird. Ein Mann in seinem Alter verzeiht einem Weibe Alles, wenn dies ihm nur entgegenkommt. Als eine mir zu erzeigende persönliche Gunst habe ich ihn ersucht, unsere Correspondenz streng geheim zu halten. Ferner habe ich darauf angespielt, daß meine Ehe mit meinem nun verstorbenen Manne keine glückliche gewesen sei und daß ich die Thorheit, einen jungen Mann geheirathet zu haben, schmerzlich empfinde. In der Nachschrift gehe ich noch weiter und riskiere kühn diese Trostesworte: »Wenn Sie mir dazu Gelegenheit geben, mein lieber Mr. Bashwood, so kann ich Ihnen mündlich erklären, was Ihnen in meinem Verhalten gegen Sie falsch und hinterlistig erschienen sein mag.« Stände er noch diesseits der Sechzig, so wäre mir’s zweifelhaft, ob ich damit reüssirte. Allein er steht schon jenseits derselben und ich glaube, er wird mir die Gelegenheit zu mündlicher Erörterung nicht vorenthalten.

Zehn Uhr.Ich habe mir meinen Trauschein angesehen, den ich mir vorsorglich an unserm Hochzeitstage verschaffte, und zu meinem unaussprechlichen Unbehagen ein Hinderniß entdeckt, das sich meinem Auftreten als Armadale’s Wittwe entgegenstellt und das ich jetzt zum ersten Male erblicke.

Die Personalbeschreibung Midwinter’s unter seinem wahren Namen, wie sie der Trauschein gibt, entspricht in jeder wichtigen Beziehung der Person Armadales von Thorpe-Ambrose, hätte ich diesen wirklich geheirathet Name und Vorname: Allan Armadale. Alter: einundzwanzig, anstatt zweiundzwanzig, was leicht als Irrthum gelten kann. Stellung und Beruf: Junggeselle und Gentleman. Wohnung zur Zeit der Verheirathung: Franks Hotel, Darley-Street. Name und Vorname des Vaters: Allan Armadale. Stellung oder Beruf des Vaters: Gentleman. Jeder dieser einzelnen Punkte —— den kleinen Unterschied in ihrem beiderseitigen Alter ausgenommen —— paßt auf einen so gut wie auf den andern. Wie aber, wenn ich meinen Trauschein producire und ein pedantischer Rechtsanwalt darauf besteht, die Kirchenbücher selbst einzusehen? Midwinters Handschrift ist von der seines verstorbenen Freundes so total verschieden! Die Hand, in welcher er sein »Allan Armadale« in das Buch eingeschrieben hat, kann nun und nimmermehr für die Hand passieren, in der Armadale von ThorpesAmbrose seinen Namen zu unterzeichnen pflegt!

Solch einen Abgrund unter meinen Füßen, kann ich da mit Sicherheit in der Sache vorgehen? Wie kann ich davon sprechen? Wo einen erfahrenen Mann finden, an den ich mich um die nöthige Auskunft wenden dürfte? Ich muß mein Tagebuch zumachen und nachdenken.

Sieben Uhr. Meine Prospecte sind inzwischen andere geworden. Ich habe eine Warnung erhalten, die mich nicht umsonst zur Vorsicht für die Zukunft gemahnt haben soll, und bin so glücklich gewesen, mir, wie ich glaube, den erforderlichen Rath und Beistand zu verschaffen.

Umsonst suchte ich mir eine geeignetere Persönlichkeit auszudenken, an die ich mich in meiner großen Verlegenheit wenden könnte; ich mußte mithin aus der Noth eine Tugend machen und ohne Verzug Mrs. Oldershaw mit einem Besuche von ihrer theuern Lydia überraschen. Es ist wohl überflüssig hinzuzusetzen, daß ich beschlossen hatte, sie gründlich zu sondieren und mir kein Geheimniß von Wichtigkeit entschlüpfen zu lassen.

Eine mürrische und feierliche alte Dienerin ließ mich in das Haus ein. Als ich nach ihrer Herrin fragte, wurde mir mit bitterstem Nachdruckes bedeutet, welche Unschicklichkeit ich begangen habe, an einem Sonntage zukommen. Mrs. Oldershaw war zu Hause, aber lediglich, weil sie sich zu unwohl befand, um in die Kirche gehen zu können! Die Dienerin hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß ihre Herrin mich vorlassen werde. Ich hielt es im Gegentheil für sehr wahrscheinlich daß sie mich in ihrem eigenen Interesse mit einer Unterredung beehren würde, wenn ich ihr meine Karte mit ihrem »Miß Gwilt« darauf schickte, und der Erfolg bewies, daß ich Recht hatte. Nach ein paar Minuten Wartens ward ich in den Salon geführt.

Da saß, mit dem Aussehen eines Weibes, das auf der Heerstraße zum Himmel ausruht, unsere Mutter Jesabel, in einem schiefergrauen Kleide mit grauen Halbhandschuhen an den Händen, einer sehr einfachen Haube auf dem Kopfe und einem Predigtbuche auf ihrem Schooße. Himmelnd zeigte sie das Weiße ihrer Augen, als sie meiner ansichtig wurde, und die ersten Worte, welche sie sagte, waren: «.O Lydia, Lydia, warum bist Du nicht in der Kirche?«

Wäre ich weniger in Sorgen gewesen, das plötzliche Auftreten Mutter Oldershaw’s in einer ganz neuen Rolle würde mich ergötzt haben. Ich war jedoch nicht in der Stimmung zu lachen und, nachdem meine Wechsel sämtlich bezahlt, ohne alle Verbindlichkeit, die mir und meinen Worten hätte einen Zwang auflegen können. Dammes Zeug!« sagte ich. »Stecke Dein Sonntagsgesicht in die Tasche! Seit ich zuletzt von Thorpe-Ambrose schrieb, habe ich allerhand Neuigkeiten für Dich.«

Sowie ich Thorpe-Ambrose erwähnte, kam das Weiße der heuchlerischen alten Augen wieder zum Vorschein und sie weigerte sich entschieden, von meinem Thun und Treiben in Norfolk etwas Weiteres zu hören. Ich drang in sie, doch ganz umsonst. Mutter Oldershaw schüttelte blos den Kopf und stöhnte und sagte mir, ihre Beziehungen zu dem Gepränge und den Eitelkeiten der Welt seien für immer abgebrochen. »Ich bin neu geboren worden, Lydia«, sprach die unverschämte alte Hexe, während sie sich die Augen wischte. »Nichts in der Welt kann mich vermögen, von Deiner sündhaften Speculation auf die Thorheit eines reichen jungen Mannes noch etwas zu hören.«

Nach diesen Worten wäre ich auf der Stelle gegangen, hätte mich nicht noch eine Erwägung einen Augenblick länger zurückgehalten.

Man konnte leicht erkennen, daß die Umstände, welcher Art sie auch gewesen, die während meines letzten Besuchs in London Mutter Oldershaw zu einem Verstecke gezwungen hatten, ernst genug gewesen sein mochten, um sie, wenigstens scheinbar, zur Aufgabe ihres früheren Geschäfts zu veranlassen. Ebenso war es klar, daß sie es vortheilhaft gefunden hatte, wie so Viele in England, die weiche Maske heuchlicher Frömmigkeit vorzunehmen. Das ging mich indessen nichts an, und ich würde diese Betrachtungen außerhalb, nicht innerhalb des Hauses angestellt haben, hätte es nicht in meinem Interesse gelegen, die Aufrichtigkeit von Mutter Oldershaw auf die Probe zu stellen, soweit unsere frühere Verbindung davon berührt wurde. Als sie mich zu unserm unternehmen ausgerüstet, hatte ich, wie ich mich entsann, ein gewisses Document unterzeichnen müssen, welches sie an meinem Erfolge wesentlich interessierte und ihr, sobald ich Mrs. Armadale wäre, ein gut Stück Geld sicherte. Dies Papier jetzt zu einem Prüfstein für sie zu machen, war zu verführerisch, als daß ich der Verlockung hätte widerstehen können. Ich bat denn meine fromme Freundin, mir ein letztes Wort zu gestatten, ehe ich mich verabschiedete.

»Da Du jetzt an meiner sündhaften Speculation auf Thorpe-Ambrose kein Interesse mehr hast«, sagte ich, »so gibst Du mir vielleicht die Urkunde zurück, die ich unterzeichnete, als Du und ich noch nicht ganz so musterhafte Personen waren, wie Du es jetzt bist.«

Die schamlose alte Heuchlerin schloß alsbald ihre Augen und schauderte.

»Heißt das Ja oder Nein?« fragte ich.

»Aus moralischen und religiösen Gründen, Lydia, heißt es Nein«, sagte Mrs. Oldershaw.

»Aus bösen und weltlichen Gründen«, versetzte ich, »danke ich Dir, daß Du mir Deine wahre Farbe gezeigt hast?

In der That konnte jetzt kein Zweifel mehr obwalten über das Verhalten, welches sie einzuschlagen gedachte. Sie wollte keine Gefahr weiter laufen und kein Geld mehr borgen, sie wollte Sieg oder Niederlage lediglich meinen eigenen Händen überlassen. Siegte ich, so producirte sie das von mir unterzeichnete Papier und steckte ihr Geld ohne Gewissensbisse ein. In meiner gegenwärtigen Lage wäre es reine Wort- und Zeitverschwendung gewesen, hätte ich unsere Unterredung durch nutzlose Beschuldigungen meinerseits in die Länge ziehen wollen. Ich ließ mir die Sache im Stillen zur Warnung dienen und schickte mich an zu gehen.

Im Augenblick, wo ich mich aus meinem Stuhle erhob, ließ sich ein lauter Doppelschlag an der Hausthür vernehmen. Offenbar wußte Mrs. Oldershaw, was er zu bedeuten hatte. Sie stand in ungestümer Hast auf und zog die Klingel. »Ich bin zu unwohl, um irgendwen empfangen zu können«, sagte sie zu dem Dienstmädchen. »Warte noch einen Augenblick«, wandte sie sich an mich, als die Dienerin wieder die Treppe hinabgegangen war.

Es war eine kleine, sehr kleine Rache von meiner Seite, das weiß ich, allein die Genugthuung, Mutter Jesabel selbst in einer Kleinigkeit in die Quere zu kommen, konnte ich mir nicht versagen. »Ich kann nicht warten«, erwiderte ich; »Du selbst hast mich eben daran erinnert, daß ich eigentlich in der Kirche sein sollte.« Bevor sie antworten konnte, war ich schon aus dem Zimmer hinaus.

Als ich meinen Fuß aus die Stufe setzte, stand die Hausthür offen und die Stimme eines Mannes erkundigte sich, ob Mrs. Oldershaw zu Hause wäre.

Auf der Stelle erkannte ich die Stimme Doctor Downwards!«



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

»Der Doctor wiederholte die Auskunft der Dienerin in einem Tone, aus dem unverkennbar heftiger Aerger sprach, daß er nicht weiter als bis zur Hausthür vorgelassen werden sollte.

»Ihre Herrin ist nicht wohl genug, um Besuch empfangen zu können? Geben Sie ihr diese Karte«, sprach er, »und sagen Sie ihr, das nächste Mal, wenn ich käme, erwartete ich, sie werde wohl genug sein, mich empfangen zu können.«

Hätte mir seine Stimme nicht deutlich verrathen, daß er sich gegen Mrs. Oldershaw nicht eben freundlich gesinnt fühlte, so hätte ich bestimmt unsere alte Bekanntschaft nicht geltend gemacht. Allein wie die Dinge lagen, fühlte ich mich getrieben, mit ihm oder mit sonst Jedem zu sprechen, der mit Mutter Jesabel ein Hühnchen zu pflücken hatte. Das war wohl mehr als meine kleine Rancune gegen sie. Jedenfalls schlüpfte ich rasch die Treppe hinunter und hinter dem Doctor aus der Thür tretend holte ich ihn bald auf der Straße ein.

Wie ich seine Stimme erkannt hatte, so erkannte ich jetzt seinen Rücken, als ich ihm nachging. Als ich ihn indeß bei seinem Namen rief und er einigermaßen betroffen sich umdrehte und vor mir stand, war ich meinerseits betroffen. Das Gesicht des Doctors war vollkommen metamorphosirt! Sein kahler Kopf stak unter einer künstlich graumelirten Perücke. Er hatte sich den Backenbart wachsen lassen und ihn gefärbt, damit er zu seiner Haartour paßte. Eine häßliche Brille mit großen runden Gläsern thronte anstatt des zierlichen Augenglases, dessen er sich sonst zu bedienen pflegte, auf seiner Nase, und ein schwarzes Halstuch, welches ein ungeheuerer Hemdkragen überragte, erschien als der unwürdige Nachfolger der geistlich weißen Cravatte von ehedem. Nichts blieb an dem Manne, wie ich ihn einst kannte, als die behagliche Beleibtheit seiner Figur und die vertrauliche Verbindlichkeit und Sanftheit seiner Stimme und Manier.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er, sich etwas ängstlich umsehend und seine Visitenkartentasche äußerst hastig hervorziehend. »Aber, meine liebe Miß Gwilt, erlauben Sie mir, daß ich einen kleinen Irrthum Ihrerseits berichtige. Doctor Downward von Pimlieo ist todt und begraben und Sie werden mich außerordentlich verpflichten, wenn sie ihn unter keiner Bedingung je wieder erwähnen.«

Ich nahm die Karte, die er mir darbot, und entdeckte, daß ich jetzt mit »Doctor Le Doux vom Sanatorium Fairweather-Vale in Hampstead« zu sprechen hatte, wenn ich dem neuen Namen meines alten Bekannten gerecht werden wollte.

»Sie scheinen es für nöthig erachtet zu haben«, sagte ich, »sehr Vieles zu verändern, seit ich Sie zum letzten Male gesehen habe. Ihren Namen, Ihre Wohnung, Ihre persönliche Erscheinung ——«

»Und die Specialität meiner Praxis«, fiel der Doctor ein. »Ich habe von dem ursprünglichen Besitzer, einem Mann von wenig Unterenehmungsgeist und ohne Hilfsquellen, einen Namen, ein Diplom und ein zur Aufnahme von Nervenkranken bestimmtes, nur erst theilweise vollendetes Sanatorium gekauft. Wir sind bereits so weit, einigen bevorzugten Freunden einen Blick in unser Etablissement gestatten zu können; kommen Sie und besuchen Sie uns. Gehen Sie meinen Weg? Bitte, nehmen Sie meinen Arm und sagen Sie mir, welchem glücklichen Zufall ich das Vergnügen verdanke, Sie wiederzusehen?«

Ich unterrichtete ihn von den Umständen, genau wie sie statt gehabt hatten, und setzte hinzu, um mich seiner Beziehungen zu seinen früheren Verbündeten in Pimlico zu vergewissern, daß ich höchlichst erstaunt gewesen sei, vor einem so alten Bekannten, wie er es sei, Mrs. Oldershaw’s Thür verschlossen zu sehen. Vorsichtig, wie er war, that mir doch die Art und Weise, wie er meine Bemerkung aufnahm, sofort dar, daß mein Verdacht in Betreff einer Entfremdung wohlbegründet war. Sein Lächeln verschwand und ärgerlich und aufgeregt setzte er seine häßliche Brille auf seinem Nasensattel fest.

»Verzeihen Sie gefälligst, wenn ich die Beantwortung dieser Frage ganz Ihrem eigenen Scharfsinne überlasse«, sagte er. »Leider ist mir unter den obwaltenden Umständen eine Unterhaltung über Mrs. Oldershaw nichts weniger als angenehm. Eine geschäftliche Verlegenheit, die mit unserer früheren Verbindung in Pimlico im Zusammenhange sieht, ohne alles Interesse für eine elegante und geistreiche junge Dame wie Sie. Was haben Sie mir Neues zu erzählen? Haben Sie Ihre Stellung in Thorpe-Ambrose aufgegeben? Wohnen Sie jetzt in London? Kann ich in irgend einer Weise, in meinem Beruf oder sonst wie Ihnen dienen?«

Diese letzte Frage war von größerer Bedeutung für mich, als er ahnte. Bevor ich antwortete, fühlte ich die Notwendigkeit, mich von seiner Gesellschaft los zu machen und eine kleine Frist zur Ueberlegung zu gewinnen.

»Sie haben mich gütig um meinen Besuch gebeten, Doctor«, sagte ich. »Sehr wahrscheinlich, daß ich in Ihrem stillen Hause in Hampstead Ihnen etwas zu sagen habe, was ich Ihnen in der lärmenden Straße hier nicht sagen kann. Wann treffe ich Sie in Ihrem Sanatorium? Vielleicht zu einer späteren Stunde noch heute?«

Der Doctor versicherte mir, er sei eben auf dem Nachhausewege begriffen, und bat mich, selbst die Stunde meines Besuchs zu bestimmen. »Nachmittags«, sagte ich, und eine anderweitige Verabredung vorschützend, rief ich den ersten der vorüberfahrenden Omnibusse an. »Vergessen Sie die Adresse nicht«, sprach der Doctor, während er mir in den Wagen half. »Ich habe ja Ihre Karte«, antwortete ich, und so schieden wir.

Ich begab mich nach dem Hotel zurück und in mein Zimmer, wo ich mich sehr ernstem Nachdenken überließ.

So unverrückt wie zuvor stand mir das ernste Hinderniß der Unterschrift im Trauungsregister noch immer im Wege. Alle Hoffnung, bei Mrs. Oldershaw Hilfe zu finden, war dahin. Fortan konnte ich sie nur als eine im Verborgenen lauernde Feindin betrachten, die Feindin, die, wie ich jetzt nicht mehr zweifeln konnte, mich verfolgt und belauert hatte, als ich das letzte Mal in London war. Wohin konnte ich mich sonst um den Rath wenden, den mich meine unselige Geschichts- und Gesetzunkenntniß bei Erfahreneren, als ich es bin, zu suchen zwingt? Konnte ich zu dem Sachwalter gehen, den ich consultirte, als ich Mitwinter gern unter meinem Mädchennamen heirathen wollte? unmöglich! Ganz abgesehen von der kalten Aufnahme, die er mir bei meinem letzten Besuche zu Theil werden ließ, bezog sich der Rath, den ich diesmal brauchte —— bemäntle ich die Thatsachen noch so sehr —— auf die Vollführung eines Betrugs, eines Betrugs, wie ihn kein respectabler Rechtsanwalt fördern helfen würde, der noch Namen und Charakter zu verlieren hat. Gab es sonst eine andere competente Persönlichkeit, an die ich denken konnte? Es gab eine und nur diese eine —— den Doctor, welcher in Pimlico gestorben und in Hampstead wieder ausgelebt war.

Ich wußte, daß er keine Scrupel kannte, daß er die Geschäftserfahrung besaß, die mir abging, und so gescheidt, verschlagen und weitsichtig war wie nur irgend ein Mann in London. Ueberdies hatte ich heute Morgen zwei wichtige Entdeckungen gemacht, die ihn berührten. Erstens stand er auf keinem guten Fuße mit Mrs. Oldershaw, was alle Gefahr ausschloß, daß wenn ich ihm traute, sich die Beiden wider mich verbinden möchten. Zweitens nöthigten ihn die Verhältnisse noch immer, sich unter falscher Hülle sorgfältig zu verstecken, woraus mir eine Gewalt über ihn erwuchs, wie er sie in keiner Beziehung je größer über mich gewinnen konnte. Unter solchen Umständen war es so nach für meine Zwecke der rechte, der einzige Mann, und dennoch trug ich Bedenken, zu ihm zu gehen, zauderte eine volle Stunde und länger, ohne zu wissen warum.

Es war zwei Uhr, als ich mich endlich entschloß, dem Doctor einen Besuch zu machen. Nachdem ich hierauf fast noch eine ganze Stunde mit der Ueberlegung verbracht hatte, wie weit ich ihn ins Vertrauen ziehen sollte, sandte ich schließlich nach einem Cab und machte mich nach drei Uhr auf den Weg nach Hampstead.

Ich hatte einige Schwierigkeit, das Sanatorium zu finden.

Fairweather-Vale stellte sich als eine ganz neue Gegend dar, südlich unter dem Plateau von Hampstead gelegen. Der Tag war trübe und der Ort sah sehr trist aus. Den Zugang zu demselben bildete eine alte Allee, die vordem die Parkavenue eines Landsitzes gewesen sein mochte. An ihrem Ende gelangten wir zu einer Wildniß von freiem Lande, aus dem hier und da halbfertige Villen aufragten und wo ein häßliches Ensemble von Bretern, Schubkarren und Baumaterialien aller Art nach rechts und links den Weg versperrte. In einem Winkel dieser Scene der Verwüstung stand ein trübseliges, hochaufgeschossenes, großes Haus mit schwarzbraunem Stuck überkleidet und von einem kahlen, unfertigen Garten umgeben, ohne Busch oder Blume darin —— ein schauerlicher Anblick. An der offenstehenden eisernen Thür, die in die Umzäunung führte, befand sich eine neue Messingplatte, auf welcher in großen schwarzen Buchstaben Sanatorium zu lesen war. Der Droschkenkutscher zog die Glocke, ihr Schall hallte durch das öde Haus wie eine Todtenglocke, und der bleiche, verwitterte, alte, schwarzgekleidete Diener, der auf das Geläute erschien, sah aus, als wäre er eben dem Grabe entstiegen, um seine Pförtnerpflicht zu erfüllen. Der Geruch von nassem Pflaster und neuem Firniß strömte mir aus dem Hause zu, während von mir der kältende Hauch der feuchten Novemberluft in dieses eindrang. Im Augenblicke selbst achtete ich nicht darauf, wie ich indeß jetzt schreibe, entsinne Ich mich, daß mich schauderte, als ich die Schwelle überschritt.

Ich gab dem Diener als meinen Namen Mrs. Armadale an und wurde in den Wartesaal geführt. Die Feuchtigkeit ließ selbst das Feuer auf dem Kaminroste nicht aufkommen. Die einzigen Bücher, welche auf dem Tische lagen, waren des Doctors eigene Schriften, in nüchternen schwarzbraunen Einbänden, und der einzige Gegenstand, der die Wände schmückte, war das fremde Diplom unter Glas und Rahmen, welches der Doctor zugleich mit dem fremden Namen käuflich an sich gebracht hatte.

Nach ein paar Minuten trat der Eigenthümer des Sanatoriums ein und hielt in freudigem Erstaunen, als er mich erblickte, die Hände in die Höhe.

»Ich hatte keine Idee, wer Mrs. Armadale wäre«, sagte er« »Meine liebe Dame, haben Sie auch Ihren Namen gewechselt? Wie hinterlistig von Ihnen, mir bei unserm Zusammentreffen diesen Morgen nichts davon zu sagen! Kommen Sie in mein Privatzimmer, es kann mir nicht einfallen, eine alte und theure Freundin wie Sie in dem allgemeinen Patientenwartezimmer zu empfangen.«

Das Privatzimmer des Doctors lag nach hinten heraus und sah auf Felder und Bäume, die wohl dem Untergang geweiht, aber vom Baumeister noch nicht zerstört waren. Schreckliche Gegenstände in Glas, Messing und Leder, verschlungen und gewunden, als wären sie fühlende Wesen, die sich vor Schmerz und Todesangst krümmten, nahmen das eine Ende des Zimmers ein. Ein großer Bücherschrank mit Glasthüren erstreckte sich über die ganze gegenüberliegende Wand und zeigte auf seinen Regalen lange Reihen von Glasgefäßen, worin in einer gelben Flüssigkeit formlose todte Geschöpfe von einem monotonen Weiß schwammen. Ueber dem Kamin hing eine Sammlung photographischer Portraits von Männern und Frauen in zwei großen Rahmen, die in kleinem Zwischenraume neben einander angebracht waren. Der Rahmen zur Linken stellte in Bildern en face die verschiedenen Wirkungen von Nervenleiden vor, der zur Rechten die Verheerungen, welche der Wahnsinn im Gesichte der Menschen hervorbringt; den Zwischenraum zwischen beiden zierte ein elegant illuminiertes Blatt mit dem altehrwürdigen Motiv: »Besser vorgebeugt als curirt.«

»Da bin ich mit meinem galvanischen Apparat und meinen präparierten anatomischen Raritäten und was sonst noch dazu gehört«, begann der Doctor, während er mich in einen Stuhl neben dem Kamin drückte. »Und gerade über Ihnen bittet mein »System« stumm um Ihr Interesse, in einer Gestalt, die ich ihnen jetzt ganz offen und rückhaltslos darlegen will. Das Haus hier ist kein Irrenhaus, meine liebe Freundin. Mögen Andere den Wahnsinn behandeln, wie sie Wollens ich komme ihm zuvor. Bis jetzt sind noch keine Kranken im Hause, allein wir leben in einer Zeit, wo Nervenzerrüttung —— eine Schwester des Wahnsinns —— in steter Zunahme begriffen ist, und bald genug werden sich Leidende einstellen. Ich kann warten, wie Harvey und wie Jenner gewartet hat. Jetzt aber stemmen Sie Ihre Füße hier auf das Kamingitter und erzählen Sie mir von Ihnen selbst. Natürlich sind Sie verheirathet? Und was für ein hübscher Name! Empfangen Sie meine besten und herzlichsten Glückwünsche Sie besitzen die beiden größten Segnungen, welche das Geschick dem Weibe spenden kann: einen Gatten und ein Daheim!«

Bei der ersten passenden Gelegenheit unterbrach ich den genialen Fluß von des Doctors Beredtsamkeit.

»Ich bin verheirathet; die Verhältnisse sind jedoch keineswegs gewöhnlicher Art«, sagte ich ernst. »Meine derzeitige Lage weiß nichts von den Segnungen, wie sie in der Regel und der Annahme nach dem Weibe zu Theil werden. Bereits bin ich in einer Situation, die ihre sehr ernsten Verlegenheiten hat, und binnen kurzem dürfte ich mich sogar in einer Lage befinden, wo mir sehr ernste Gefahren drohen.«

Der Doctor schob seinen Stuhl etwas näher zu mir heran und fiel sofort in seine alte ärztliche Manier und seinen alten confidentiellen Ton.

»Wenn Sie mich consultiren wollen«, sagte er sanft, »so wissen Sie ja, daß ich in letzter Zeit sehr gefährliche Geheimnisse zu bewahren verstanden habe, und auch das ist Ihnen bekannt, daß ich zwei an einem Rathgeber sehr werthvolle Eigenschaften besitze. Ich erschrecke nicht so leicht und es kann mir unbedingt vertraut werden.«

Selbst jetzt, in der elften Stunde, wo ich mit ihm allein in seinem Privatzimmer saß, zögerte ich noch. Es war mir so neu und ungewohnt, Jemand anders als mir selbst zu trauen! Und doch, wie konnte ich es umgehen, in einer Verlegenheit, wo es sich um eine Frage von Recht und Gesetz handelte, Jemand anders zu Rathe zu ziehen?

«Ganz wie Sie wollen, das wissen Sie«, setzte der Doctor hinzu. »Ich fordere vertrauliche Mittheilungen nie heraus, ich pflege sie nur zu empfangen.«

Da gab’s nun keinen Ausweg mehr; ich war nicht gekommen, zu zögern, sondern zu sprechen. Ich riskierte es und sprach:

»Die Angelegenheit, in der ich Sie gern consultiren möchte, liegt nicht, wie Sie zu denken scheinen, innerhalb des Vereichs Ihrer ärztlichen Praxis. Ich glaube indeß, Sie werden mir Beistand gewähren können, wenn ich Ihrer größeren Praxis als Mann von Welt vertraue. Zuvor aber mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie bestimmt überrasche und möglicherweise erschrecke, ehe ich mit meiner Geschichte zu Ende bin.«

Nach dieser Einleitung begann ich meine Rede und sagte ihm, was ich beschlossen hatte, ihm zu sagen, nicht mehr.

Von vornherein machte ich kein Geheimniß daraus, daß ich willens sei, Armadales Wittwe vorzustellen, und nannte ohne Rückhalt —— ich wußte ja, daß der Doctor auf das Bureau gehen und selbst das Testament einsehen konnte —— das hübsche Einkommen, das mir im Falle meines Erfolgs ausgesetzt werden würde. Einige Umstände, die in nächster Linie bedacht sein wollten, hielt ich für nothwendig zu verändern oder zu verheimlichen. Ich zeigte ihm das Zeitungsblatt, das den Untergang der Yacht berichtete, von den Begebnissen in Neapel aber sagte ich ihm nichts; setzte ihn von der Gleichheit der beiden Namen in Kenntniß, ihn in dem Wahne lassend, sie sei eine zufällige; erzählte ihm, als wichtiges Moment in der Sache, daß mein Mann außer mir vor Jedem seinen wahren Namen verheimlicht habe; um aber jedweden Verkehr zwischen ihnen zu verhindern, verbarg ich ihm sorgfältig, unter was für einem angenommenen Namen Midwinter die ganze Zeit seines Lebens existiert hatte. Ich bekannte, daß ich meinen Gatten auf dem Festlande zurückgelassen; als indes; der Doctor danach fragte, ließ ich ihn schließen —— mit aller meiner Entschlossenheit konnte ich es ihm nicht positiv sagen —— daß Mitwinter um den beabsichtigten Betrug wisse und daß er sich geflissentlich fern halte, um mich durch seine Gegenwart nicht zu compromittiren. Nachdem diese Schwierigkeit geebnet oder, wie ich’s jetzt fühle, diese Niederträchtigkeit begangen war, kehrte ich zur Wahrheit zurück. Einen nach dem andern erwähnte ich alle die Umstände, von denen meine geheime Heirath begleitet war und die Armadales und Midwinter’s Thun und Treiben betrafen, um darzulegen, daß jede Entdeckung der falschen Rolle, welche ich zu spielen gedachte, durch die Evidenz Anderer eine pure Unmöglichkeit sei. »So viel«, sagte ich, »über mein Vorhaben. Jetzt muß ich Ihnen ohne Umschweif von einem sehr ernstlichen Hinderniß erzählen, das mir im Wege steht.«

Der Doctor, welcher mir bis hierher ohne Unterbrechung seinerseits zugehört hatte, bat mich nun, ihm ein paar Worte zu gestatten, ehe ich fortführe.

Die paar Worte waren sämtlich Fragen, gescheidte, forschende, argwöhnische Fragen, die ich jedoch fast; ohne jeglichen Rückhalt beantworten konnte, denn sie bezogen sich beinahe alle auf die Verhältnisse, unter welchen meine Verheirathung stattgefunden, und auf die Chancen pro oder contra, die mein rechtmäßiger Gatte hätte, wenn es ihm später einfallen sollte, seine Ansprüche an mich geltend zu machen.

Zuerst erwiderte ich dem Doctor, daß ich in Thorpe-Ambrose Alles so einzurichten gewußt habe, um allgemein das Gerücht zu verbreiten, als hätte ich Armadale heirathen wollen; sodann, daß das frühere Leben meines Mannes nicht der Art gewesen sei, ihn in den Augen der Welt vortheilhaft zu präsentieren, und drittens, daß wir ohne anwesende Zeugen, die uns kannten, in einer großen Pfarrkirche an dem nämlichen Morgen getraut worden seien, an welchem zwei andere Paare verbunden worden wären, von den Dutzenden und aber Dutzenden von Paaren gar nicht zu reden, die seitdem in der selben Kirche copulirt worden, sodaß sich die Erinnerung an uns bei den officiell betheiligten Personen längst verwischt haben müsse. Als ich dem Doctor diese Facta mitgetheilt und er sich ferner vergewissert hatte, daß Midwinter und ich unmittelbar nach der kirchlichen Ceremonie ins Ausland und unter Fremde gereist waren, und daß die Mannschaft der Yacht, auf der Armadale —— vor meiner Verheirathung —— von Sommersetshire abgefahren, jetzt auf Schiffen diente, welche die Reise um die Welt machten, da zeigte sich sein Vertrauen auf meine Aussichten deutlich auf seinem Gesichte. »Soweit ich es beurtheilen kann«, sagte er, »würde Ihr Mann, wenn Sie einmal die Stelle von Mr. Armadale’s Wittwe eingenommen haben, seine Ansprüche auf Sie auf nichts Anderes als auf seine eigene nackte Behauptung gründen können. Und dem, denke ich, werden Sie ruhig Trotz zu bieten vermögen. Entschuldigen Sie, wenn ich anscheinend einem Gentleman mißtraue. Es könnten indeß zwischen Ihnen und ihm später einmal Mißverständnisse eintreten, und darum ist es höchst wünschenswerth vorher genau zu wissen, was er unter solchen Umständen vermöchte oder nicht vermöchte. Jetzt aber, wo wir mit dem Haupthinderniß fertig sind, das ich auf Ihrem Wege zum Erfolge erblicke, lassen Sie uns auf das Hinderniß kommen, das Sie ferner vor Augen haben.«

Ich kam sehr gern darauf. Der Ton, in dem er von Midwinter sprach, berührte mich außerordentlich unangenehm, obschon ich selbst daran schuld war, und weckte in mir für den Augenblick etwas von dem alten thörichten Gefühl, das ich längst auf immer zur Ruhe gebettet wähnte. Begierig ergriff ich die Gelegenheit, das Gesprächsthema zu wechseln, und erwähnte die Verschiedenheit der Handschrift, in der Midwinter den Namen Allan Armadale ins Kirchenbuch eingetragen hatte, von der Handschrift, in der Armadale von Thorpe-Ambrose seinen Namen zu unterzeichnen pflegte, mit einem Eifer, welchen der Doctor mit Ergötzen zu bemerken schien.

»Ist das Alles?« fragte er zu meiner unendlichen Ueberraschung und Erleichterung als ich geendet hatte. »Meine theure Dame, bitte, beruhigen Sie sich! Wenn die Sachwalter des seligen Mr. Armadale eine Urkunde Ihrer Verheirathung begehren, so werden sie sich nicht an das Kirchenbuch wenden, das kann ich Ihnen Versprechen?

»Was!« rief ich erstaunt aus. »Meinen Sie, daß der Eintrag in das Kirchenbuch kein Beweis meiner Verheirathung sei?«

»Es ist ein Beweis«, antwortete der Doctor, »daß Sie mit Jemand getraut worden sind, allein kein Beweis, daß Sie Mr. Armadale von Thorpe-Ambrose geheirathet haben. Jack Rokes oder Tom Styles —— entschuldigen Sie diesen trivialen Vergleich —— hätten sich den Erlaubnißschein verschaffen und zur Kirche begeben können, um sich mit Ihnen unter Mr. Armadale’s Namen trauen zu lassen, und das Kirchenbuch —— wie könnte es anders! —— hätte in solchem Falle unschuldig an dem Betrug Theil nehmen müssen. Ich sehe, das befremdet Sie, aber, meine Verehrteste, als Sie mit mir in diese interessante Verhandlung traten, da hat es mich befremdet, wie ich jetzt nur gestehen will, daß Sie so viel Aufhebens über die seltsame Gleichheit der beiden Namen machten. Sie hätten das sehr kühne und romantische unternehmen, mit welchem Sie gegenwärtig beschäftigt sind, ganz ebenso gut beginnen können, wenn sie auch Ihren jetzigen Gatten gar nicht geheirathet hätten. Jeder andere beliebige Mann hätte die Stelle vertreten, vorausgesetzt, daß er bereitwillig gewesen wäre, zu dem Zwecke Mr. Armadale’s Namen anzunehmen.«

Ich wurde ärgerlich über diese Worte des Doctors. »Nicht jeder beliebige Manns versetzte ich heftig, »würde mir zu meinem Vorhaben gedient haben; ohne die Gleichheit der beiden Namen wäre ich nun und nimmermehr auf die Idee gekommen!«

Der Doctor gab zu, daß er zu weit gegangen sei. »Ich gestehe«, sagte er, »daß ich an diese persönliche Ansicht von der Sache nicht gedacht habe. Indeß lassen Sie uns aus unser eigentliches Thema zurückkommen. Im Laufe meines, wie ich es wohl nennen kann, abenteuerlichen ärztlichen Lebens bin ich mehr als einmal mit den Herren vom Jus zusammengekommen und habe mannichfache Gelegenheit gehabt, ihr Verhalten in der, wenn ich mich so ausdrücken soll, häuslichen Jurisprudenz zu beobachten. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich Ihnen sage, daß der Beweis, welchen Mr. Armadales Vertreter verlangen werden, der Ausspruch eines Zeugen des Acts sein wird, welcher die Identität von Braut und Bräutigam aus seiner eigenen persönlichen Bekanntschaft bestätigen kann?

»Ich habe Ihnen schon mitgetheilt«, nahm ich das Wort, »daß keine solche Person zugegen gewesen ist.«

»Ganz recht«, versetzte der Doctor »In dem Falle thut Ihnen, ehe Sie mit Sicherheit einen weiteren Schritt in der Sache wagen können, vor allem ein rasch fabricirter Zeuge von seltenen moralischen und persönlichen Eigenschaften noth, dem man zutrauen kann, daß er sich den erforderlichen Charakter zu verleihen weiß und vor einer Behörde die nothwendige Erklärung abgibt. Kennen Sie etwa eine solche Person?« fragte der Doctor, indem er sich in seinen Stuhl zurückwarf und mich in höchster Unschuld ansah.

»Ich kenne nur Sie«, sagte ich.

Der Doctor lächelte. »Ganz wie ein Frauenzimmer! bemerkte er mit empörendem Humor. »Im Augenblicke, wo es sein Ziel erblickt, stürzt es sich kopfüber auf den nächsten Weg, der dahin führt. O, das weibliche Geschlecht, das Geschlecht!«

»Denken Sie nicht an das Geschlecht«, sprudelte ich ungeduldig heraus. «Ich verlange eine ernste Antwort —— ja oder nein?«

Der Doctor stand auf und zeigte in höchster Gravität und Würde mit der Hand im Zimmer umher. »Sie sehen dies große Etablissement«, begann er; »vielleicht können Sie einigermaßen schätzen, wie viel für mich auf dem Spiele steht, daß es gedeiht und prosperiert. Ihr vortrefflicher natürlicher Verstand wird Ihnen sagen, daß der Chef dieses Sanatoriums ein Mann von unbeflecktem Charakter sein muß ——«

»Warum so viele Worte verschwenden«, fiel ich ein, »wo ein einziges genügt. Sie meinen nein!«

Der Chef des Sanatoriums fiel sofort in den Charakter meines vertrauten Freundes zurück.

»Meine liebe Madame«, sagte er, »augenblicklich heißt es nicht ja und heißt es nicht nein. Lassen Sie mir Zeit bis Morgen Nachmittag. Bis dahin verpflichte ich mich, zu einem von Beidem bereit zu sein, entweder mich sofort aus diesem Handel herauszuziehen oder mit Herz und Seele mich daran zu betheiligen. Sind Sie damit einverstanden? Gut, so können wir also bis morgen das Thema fallen lassen. Wo darf ich Ihnen aufwarten, wenn ich meinen Entschluß gefaßt habe?«

Ich hatte kein Bedenken, ihm meine Adresse zu geben. Im Hotel hatte ich mich vorsorglich als Mrs. Armadale eingeschrieben und Midwinter das nächste Postamt genannt, wohin er die Antworten auf meine Briefe richten solle. Wir stellten die Stunde fest, wo der Doctor bei mir vorsprechen sollte, und als dies abgethan, erhob ich mich, zu gehen, alle Anerbietungen von Erfrischungen und ebenso alle Anträge, mich im Etablissement umherführen zu wollen, ausschlagend. Daß er, nachdem wir uns doch gegenseitig vollkommen verstanden hatten, noch immer den Schein bewahren wollte, ärgerte mich. Sobald ich konnte, eilte ich hinweg und zu meinem Tagebuche und meinem Gasthofzimmer heim.

Morgen werden wir sehen, wie die Sache abläuft. Ich glaube, mein Vertrauter Freund wird ja sagen.

Ich habe recht vermuthet, der Doctor hat ja gesagt, allein unter Bedingungen, die ich nicht geahnt habe. Die Bedingung, unter der mir seine Dienste zu Gebote stehen, besteht in nichts Geringerem, als daß ich ihm, sobald ich die Stelle von Armadale’s Wittwe wirklich einnehme, die Hälfte meiner ersten Jahresrente, mit andern Worten sechshundert Pfund bezahlen muß!

Auf alle nur erdenkliche Weise protestierte ich gegen eine so übertriebene Forderung. Alles umsonst. Der Doctor entgegnete mir mit der verbindlichsten Offenheit. Nichts, sagte er, als die Verlegenheit, in der er sich zufällig befinde, würde ihn überhaupt vermocht haben können, sich mit der Sache zu befassen. Er müsse offen bekennen, daß er durch den Ankauf und die Einrichtung des Sanatoriums nicht blos seine eigenen, sondern auch die Mittel Anderer erschöpft habe, welche er als Förderer seines Unternehmens bezeichnete. Unter solchen Umständen wären sechshundert Pfund für ihn ein Kapital. Für diese Summe wolle er das Risico laufen, mir zu rathen und zu helfen; kein Heller weniger könnte ihn reizen. Und damit gab er die Angelegenheit mit seinen besten und freundschaftlichsten Wünschen ganz in meine Hände.

Der Ausgang war, wie er eben nicht anders sein konnte. Mir blieb keine Wahl, ich mußte seine Bedingung annehmen und mit ihm auf der Stelle die Sache in Richtigkeit bringen. Sowie wir einmal im Reinen waren, ließ er das Gras nicht unter seinen Füßen wachsen, diese Gerechtigkeit muß ich ihm wiederfahren lassen. Rasch rief er nach Tinte, Feder und Papier, um noch mit der Nachtpost den Feldzug auf Thorpe-Ambrose zu eröffnen.

Wir vereinigten uns über die Form des Briefs, welchen ich schrieb und den er ungesäumt copirte. Von vornherein ging ich auf keine Details ein; ich behauptete einfach, daß ich die Wittwe des verstorbenen Armadale, daß ich insgeheim mit ihm verheirathet gewesen, daß ich, nachdem er Neapel und seine Yacht verlassen habe, nach England heimgekehrt sei und mir erlaube, eine Copie meines Trauscheins beizulegen, als eine Sache der Form, wie sie wohl gewöhnlich erfüllt werde. Der Brief war an die »Vertreter des seligen Allan Armadale, Esq., von Thorpe-Ambrose in Norfolk« adressiert und der Doctor selbst nahm ihn mit und trug ihn auf die Post.

Jetzt, wo der erste Schritt gethan ist, sehe ich nicht mehr so ungeduldig und aufgeregt dem Erfolge entgegen, wie ich erst gedacht hatte. Midwinter’s Bild verfolgt mich wie ein Gespenst; um den Schein zu bewahren, habe ich ihm, wie früher schon, wieder geschrieben. Es wird mein letzter Brief sein, glaube ich. Mein Muth ist erschüttert, meine Seele beklommen, wenn ich an Turin zurückdenke. Der Tag der Abrechnung mit ihm, einst fern und zweifelhaft, wer weiß, wie bald er mir nun kommen mag. Und da vertraue ich noch immer auf den Zufall!

Den 25. November. Heute um zwei Uhr kam der Doctor wie verabredet. Er ist bei seinen Advocaten gewesen, natürlich ohne sie ins Vertrauen zu ziehen, einfach, um ihnen den Beweis meiner Verheirathung vorzulegen. Dass Resultat ist so ausgefallen, wie er es mir vorausgesagt hat. Der Punkt, um welchen sich die ganze Geschichte drehen wird, wenn man meinen Anspruch bestreitet, wird die Frage der Identität sein, und es dürfte nothwendig werden für den Zeugen, daß er noch vor Ablauf der Woche seine Erklärung vor der Behörde abgibt.

Bei so bewandten Umständen erachtet es der Doctor für unerläßlich, daß wir uns einander leicht erreichen können, und schlägt mir vor, in seiner Nachbarschaft mir eine ruhige Wohnung zu verschaffen. Ich bin völlig bereit, überall hinzugehen, denn wie ich so viele Einbildungen habe, so bilde ich mir auch ein, daß ich für Midwinter vollständiger verloren sein werde, wenn ich mich aus der Gegend weg begebe, wohin er seine Briefe an mich adressiert. Die letzte Nacht, die ich nicht schlafen konnte, dachte ich an ihn. Heute Morgen habe ich endgültig beschlossen, nicht mehr an ihn zu schreiben.

Nach einer halben Stunde verließ ich den Doctor. Zuvor fragte er mich noch, ob ich ihn nicht nach Hampstead begleiten wolle, um mich gleich nach einer Wohnung umzuthun. Ich theilte ihm mit, daß mich noch Geschäfte in London zurückhielten »Morgen oder übermorgen werden Sie erfahren, was für Geschäfte dies sind«, antwortete ich ihm, als er sich danach erkundigte.

Wieder allein, ward ich von einem nervösen Zittern befallen. Mein Geschäft, das beiläufig für eine Frau ein sehr wichtiges war, ermahnte mich unwillkürlich an Midwinter. Die Idee einer neuen Wohnung hatte mich an die Nothwendigkeit erinnert, mich meinem neuen Charakter gemäß zu kleiden, die Zeit war gekommen, wo ich mir meine Wittwentrauer besorgen mußte.

Zuerst hatte ich mich mit Geld zu versehen. Nur durch den Verkauf des Rubinringes, den mir Armadale zum Hochzeitsgeschenk gemacht hatte, erhielt ich, was ich brauchte. Es stellte sich heraus, daß es ein werthvollerer Juwel war, als ich geglaubt hatte, sodaß ich wahrscheinlich auf einige Zeit aller finanziellen Verlegenheit überhoben bin.

Vom Goldschmied verfügte ich mich zu dem bekannten großen Trauermagazine in Regent-Street. In vierundzwanzig Stunden, wenn ich ihnen nicht mehr Zeit lassen könne, haben sie sich dort verbindlich gemacht, mich vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz zu stecken. Mit einem neuen fieberhaften Schauer verließ ich den Laden, und um an diesem bewegten Tage noch mehr Aufregung zu haben, fand ich bei meiner Rückkunft im Hotel eine Ueberraschung meiner harrend. Ein ältlicher Herr, so sagte man mir, warte auf mich. Ich machte mein Zimmer auf und —— da saß der alte Bashwood.

Am Morgen hatte er meinen Brief empfangen und war, diesen in Person zu beantworten, sofort mit dem nächsten Zug nach London gefahren. Wohl hatte ich viel von ihm erwartet, so viel aber doch nicht. Es schmeichelte mir, für den Moment, gestehe ich, schmeichelte es mir.

Die Entzückungen und Vorwürfe, das Schluchzen und Weinen, die langweiligen Expectorationen des elenden alten Geschöpfes über die einsamen Tage, die er, verlassen von mir, in dumpfem Brüten in Thorpe-Ambrose verbracht habe, übergehe ich. Zu Zeiten ward er ganz beredt, seine Beredtsamkeit aber kann ich hier nicht brauchen. Natürlich setzte ich mich erst mit ihm auseinander und sondierte seine Empfindungen, ehe ich ihn fragte, was er mir Neues bringe. Welche Wohlthat manchmal die Eitelkeit des Weibes ist! In meinem Bemühen, liebenswürdig zu sein, vergaß ich fast meine Gefahren und Verpflichtungen. Ein paar Minuten fühlte ich selbst einen kleinen Kitzel des Triumphs. Und es war ein Triumph, selbst einem alten Manne gegenüber! In einer Viertelstunde hing er lächelnd und schmunzelnd und wie verzückt an meinen unbedeutendsten Worten und antwortete auf alle meine Fragen wie ein gutes kleines Kind.

Da ist der Bericht der Thorpe-Ambroser Zustände und Verhältnisse, wie ich ihn Brocken für Brocken dem alten Manne entlockte.

Die Kunde von Armadales Tod hat bereits Miß Milroy erreicht. Sie ist vollkommen zu Boden geschmettert davon, sodaß ihr Vater sie hat aus der Pension nehmen müssen. Jetzt ist sie wieder zu Hause und der Arzt besucht sie täglich. Bedaure ich sie? Ja! Ich bedaure sie gerade so sehr, wie sie einst mich bedauert hat!

Die Zustände im Herrenhause, die ich ziemlich unbegreiflicher Art erwartete, sind völlig unverständlich und sicher nicht eben ermuthigend. Erst gestern sind die Sachwalter beider Parteien zu einer Vereinbarung gelangt. Mr. Darch, der Anwalt der Blanchards und vordem Armadale’s bitterer Feind, vertritt die Interessen von Miß Blanchard, welche die nächste Erbin des Gutes ist und, wie es scheint, vor einiger Zeit sich in eigenen Angelegenheiten in London aufgehalten hat. Mr. Smart von Norwich, ursprünglich nur beauftragt, Bashwoods Intendantur zu controliren, vertritt den verstorbenen Armadale. Der erstere hat den Besitz des Gutes und das Recht, die Pachtsummen am nächsten Weihnachtsfeiertage in Empfang zu nehmen, für seine Clientin beansprucht. Mr. Smart seinerseits räumt ein, daß alle Umstände für Mr. Darch sprechen, da er keinen Grund findet, Armadales Tod zu bestreiten, und wird den Intentionen Mr. Darch’s keinen Widerstand entgegensetzen, wenn dieser alle Verantwortlichkeit einer Besitzergreifung für Miß Blanchard übernehmen will. Dies hat nun Mr. Darch bereits gethan, und das Gut ist factisch schon in Miß Blanchard’s Besitze.

Wie Bashwood meint, wird aus diesem Uebereinkommen folgen, daß Mr. Darch die Entscheidung über meinen Anspruch auf die Stellung und das Einkommen der Wittwe in die Hand bekommt. Das Einkommen, welches auf den Grundbesitz hypothekarisch eingetragen ist, muß somit aus Miß Blanchard’s Tasche kommen und seine Auszahlung folglich in den Bereich ihres Rechtsanwalts fallen. Morgen wird sich wahrscheinlich ergeben, ob diese Ansicht richtig ist, denn heute Morgen wird mein Schreiben an Armadale’s Vertreter im Herrenhause übergeben worden sein.

Das war’s, was mir der alte Bashwood zu berichten hatte. Nachdem ich meinen Einfluß auf ihn mir wieder gesichert und Alles, was er wußte, in Erfahrung gebracht hatte, kam es nun zunächst darauf an, wie ich in Zukunft seine Dienste für mich zweckmäßig verwenden sollte. Er stand mir ganz zu Gebote, denn sein Posten war bereits von Miß Blanchard’s Intendanten eingenommen worden, und bat mich dringend, in London bleiben und da meine Interessen wahrnehmen zu dürfen. Es, wäre nicht die geringste Gefahr damit verknüpft gewesen, wenn ich ihm darin willfahrte, denn natürlich hatte ich seine Ueberzeugung daß ich wirklich Armadale’s Wittwe sei, nicht erschüttert. Allein jetzt, wo ich den Doctor mit seinen Mitteln und Wegen mir helfend zur Seite wußte, brauchte ich weiter keinen Beistand in London, und überdies kam mir der Gedanke, Bashwood dürfte mir nützlicher werden können, wenn ich ihn nach Norfolk heimschickte und dort auf meine Interessen sehen ließ.

Er schnitt ein sehr betrübtes Gesicht —— offenbar hatte er neuerdings der Wittwe den Hof machen wollen! —— als ich ihn von meinem desfalls getroffenen Entschlusse unterrichtete; indeß ein paar überredende Worte und ein leiser Wink, daß er, wenn er jetzt gehorsam meinen Wünschen nachkäme, vielleicht für die Zukunft Hoffnungen nähren dürfte, thaten Wunder, ihn von der Nothwendigkeit meiner Bitte zu überzeugen. Rathlos ersuchte er mich um Verhaltungsmaßregeln, als es Zeit wurde, daß er ging, um mit dem Abendzuge nach Hause zu fahren. Ich konnte ihm keine geben, denn ich hatte ja noch keine Idee, was die Herren Advocaten thun oder lassen würden. «Wenn nun aber etwas passiert«, wandte er ein, »etwas, was ich nicht verstehe, was soll ich dann, so fern von Ihnen, anfangen?« Ich konnte ihm nur eine Antwort ertheilen. »Fangen Sie gar nichts an«, sagte ich. »Was es auch sein mag, halten Sie Ihren Mund darüber und schreiben Sie oder kommen Sie unverzüglich zu mir nach London, um meinen Rath einzuholen.« Mit diesen Abschiedsweisungen und mit dem Abkommen, daß wir einen regelmäßigen Briefwechsel unterhalten wollten, ließ ich ihn meine Hand küssen und schickte ihn auf die Eisenbahn.

Jetzt, wo ich wieder allein bin und über die Unterredung mit meinem ältlichen Bewunderer ruhig nachdenken kann, erinnere ich mich, daß ich in Bashwood’s Art und Weise eine gewisse Veränderung bemerkte, die ich mir nicht recht erklären konnte und noch immer nicht recht erklären kann.

Selbst in seiner ersten Aufregung über unser Wiedersehen kam es mir vor, als ob seine Augen, während ich mit ihm sprach, mit einem ganz eigenthümlichen Interesse auf mir ruhten. Außerdem ließ er bei der Schilderung seines einsamen Lebens in Thorpe-Ambrose ein paar Worte fallen, aus denen hervorzugehen schien, daß ihn in seiner Verlassenheit ein gewisses Vertrauen auf unsere künftigen Beziehungen, wenn wir uns nur erst einmal wiedergesehen hätten, aufrecht erhalten habe. Wäre er ein jüngerer und kühnerer Mann und wäre solch eine Entdeckung überhaupt möglich, so würde ich fast argwöhnen, er habe etwas von meinem früheren Leben ausspioniert und fühle sich nun im Stillen sicher, mich in der Gewalt zu haben, falls ich wieder Miene machen sollte, ihn zu verlassen und zu betrügen. Solch ein Gedanke in Verbindung mit dem alten Bashwood ist jedoch geradezu abgeschmackt! Vielleicht macht mich die Ungewißheit und Angst meiner gegenwärtigen Lage nervenkrank, vielleicht sehe ich in meiner Aufregung allerlei Trug- und Schreckbilder. Sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls habe ich mich mit ernsteren Dingen zu beschäftigen als mit dem alten Bashwood. Wahrscheinlich morgen schon sagt mir die Post, was Armadale’s Vertreter von den Ansprüchen seiner Wittwe denken.

Den 26. November. Diesen Morgen ist die Antwort eingelaufen, wie Bashwood vermuthete, in einem Briefe von Mr. Darch. Der grämliche alte Advocat beantwortet mein Schreiben in drei Zeilen. Bevor er irgendwelche Schritte thun oder seine Ansicht über die Sache aussprechen könne, müsse er sich sowohl von der Identität der Personen wie von der Echtheit des Trauscheins überzeugt haben, weshalb es wünschenswerth sein dürfe, ihn an meine Rechtsfreunde zu verweisen, ehe die Sache weiter verfolgt werde.

Zwei Uhr. Kurz nach zwölf Uhr kam der Doctor und theilte mir mit, daß er kaum zwanzig Minuten vom Sanatorium entfernt eine Wohnung für mich gefunden habe. Ich meinerseits zeigte ihm darauf Mr. Darch’s Brief. Auf der Stelle ging er damit zu seinen Advocaten und brachte mir die nöthige Auskunft bezüglich meines weiteren Verhaltens. Ohne auf den Wunsch nach ferneren Beweisen für meine Verheirathung ein Wort zu erwidern, habe ich Mr. Darch’s Zuschrift einfach damit beantwortet, daß ich ihm die Adresse meiner Rechtsbeistände oder vielmehr der Sachwalter des Doctors übersandte. Mehr kann heute nicht geschehen. Morgen haben wir wichtigere Begebnisse zu erwarten, denn morgen wird der Doctor seine Erklärung vor der Behörde abgeben und morgen werde ich in Wittwentrauer meine neue Wohnung beziehen.

Den 27. November. Fairweather-Vale-Villen. Die Erklärung ist mit allen nothwendigen Formalitäten abgegeben worden, und ich habe in meiner Wittwentracht von meinen neuen Zimmern Besitz ergriffen.

Dieser neue Act des Dramas und die riskante Rolle, welche ich darin spiele, sollten mich in Aufregung versetzen, Merkwürdig aber, ich bin ruhig und deprimiert. Der Gedanke an Midwinter ist mir in meine neue Wohnung gefolgt und liegt mir augenblicklich schwer auf dem Herzen. Vor einem zufälligen Ereigniß, das vielleicht in der Zwischenzeit geschieht, ehe ich öffentlich als Armadale’s Wittwe austreten kann, fürchte ich mich nicht, aber wenn die Zeit kommt und wenn Midwinters ausfindig macht, was früher oder später eintreten muß, wie ich meine falsche Rolle spiele und in der usurpierten Stelle mich eingerichtet habe, was soll, so frage ich mich, alsdann geschehen? Darauf habe ich nur die Antwort, welche ich mir heute Morgen gab, als ich meine Wittwenkleider anlegte: jetzt wie damals überkommt mich das Vorgefühl, daß er mich umbringen wird. Ach, wäre es nicht zu spät, die Sache aufzugeben! Abgeschmackt! Ich will mein Tagebuch zumachen.

Den 28. November.Mr. Darch hat von sich hören lassen; unsere Rechtsfreunde haben ihm in Erwiderung die Erklärung übersandt.

Als mir der Doctor dies mittheilte, fragte ich ihn, ob seine Advocaten meine gegenwärtige Adresse hätten, und bat, da dies nicht der Fall, auch fernerhin sie vor ihnen geheim halten zu wollen. Der Doctor lachte. »Fürchten Sie, daß uns Mr. Darch etwas anhaben und Sie persönlich angreifen könnte?« fragte er.

Um ihn am leichtesten zur Erfüllung meiner Bitte zu bewegen, that ich, als wenn dem so wäre. »Ja«, sagte ich, «ich fürchte mich vor Mr. Darch.«

Seit der Doctor mich verlassen, hat sich meine Stimmung gehoben. Es ist ein angenehmes Gefühl von Sicherheit, wenn man weiß, daß kein Fremder unsere Adresse kennt. Ich fühle mich heute so leicht in meinem Gemüthe, daß ich bemerkte, wie gut mir die Trauer steht, und gegen meine Hausleute die Liebenswürdige spielte.

Vergangene Nacht beunruhigte mich Midwinter wieder ein wenig; ich habe jedoch den gespensterhaften Wahn überwunden, von dem ich gestern besessen war. Gewalt fürchte ich jetzt nicht mehr von ihm, sollte er entdecken, was ich gethan habe, und noch weniger ist zu besorgen, daß er sich soweit erniedrigen wird, seinen Anspruch auf eine Frau geltend zu machen, welche ihn dergestalt betrogen hat. Die einzige harte Prüfung, die mir, wenn der Tag des Gerichts kommt, auferlegt sein wird, ist, in seiner Gegenwart meinen falschen Charakter aufrecht zu erhalte Ist dies geschehen, dann werde ich in seiner Verachtung, in seinem Abscheu vor mir gerade meine Sicherheit finden. An jenem Tage, wo ich ihn ins Gesicht verleugnet, habe ich ihn zum letzten Male in seinem Leben gesehen.

Werde ich es über mich gewinnen, ihn ins Gesicht zu verleugnen? Werde ich im Stande sein, ihn anzusehen, zu ihm zu sprechen, als wäre er mir nie mehr gewesen denn ein Freund? Wie kann ich’s wissen, ehe die Zeit kommt! Hat es je solch eine verblendete Thörin gegeben, wie ich bin, die da immer von ihm schreibt, wo doch das Schreiben mich stets von neuem an ihn zu denken zwingt? Ich will einen Entschluß fassen: von heute an soll sein Name nie wieder in diesen Blättern erscheinen.

Montag, den 1. December. Der letzte Monat des abgestandenen alten Jahres achtzehnhunderteinundfünfzig! Gestattete ich mir einen Rückblick, welch jämmerliches Jahr würde ich all den andern jämmerlichen Jahren, die dahin sind, angereiht sehen! Allein ich habe beschlossen, nur vorwärts zu schauen, und denke, ich will dabei bleiben.

Von den letzten beiden Tagen habe ich nichts weiter zu berichten, als daß ich am 29. an Bashwood dachte und ihm meine neue Adresse mittheilte. Diesen Morgen haben unsere Rechtsfreunde neue Nachrichten von Mr. Darch erhalten. Er bekennt sich zum Empfange der Erklärung, setzt aber die Mittheilung der Entscheidung, zu welcher er gelangt ist, noch aus, bis er sich mit den Vollstreckern von Mr. Blanchards letztem Willen benommen und von seiner Clientin selbst endgültige Instructionen erhalten hat. Die Advocaten des Doctors behaupten, daß dies Schreiben nur ein Kunstgriff sei, um Zeit zu gewinnen, zu welchem Zweck, können sie natürlich nicht errathen. Der Doctor selbst sagt scherzend: »Es ist ein gewöhnlicher Advocatenkniff, um eine lange Rechnung machen zu können? Mein eigener Gedanke ist, daß Mr. Darch argwöhnt, etwas sei nicht in Ordnung, und daß er allerdings Zeit gewinnen will ——

Abends zehn Uhr. Soweit, bis zu diesem uuvollendeten Satze hatte ich, gegen vier Uhr nachmittags, geschrieben, als ich durch das Rollen einer Droschke aufgeschreckt wurde, die gerade auf unser Haus zufuhr. Ich trat ans Fenster und kam eben zur rechten Zeit, um den alten Bashwood mit einer Lebhaftigkeit aus dem Wagen steigen zu sehen, welche ich ihm nimmermehr zugetraut hätte. So wenig hatte ich eine Ahnung von der furchtbaren Entdeckung, die ich in der nächsten Minute machen sollte, daß ich mich zum Spiegel wandte und dachte, was wohl der alte Herr zu meiner Wittwenhaube sagen würde.

Sowie er ins Zimmer trat, sah ich den Augenblick, daß ein ernstes Unheil geschehen war. Seine Augen rollten wild, seine Perrücke war schief. Mit einem eigenthümlichen Gemisch von Bangigkeit und Aufregung näherte er sich mir. »Ich habe befolgt, was Sie mir gesagt haben«, flüsterte er athemlos. »Ich habe meinen Mund darüber gehalten und komme nun direct zu Ihnen!« Ehe ich antworten konnte, faßte er mich bei der Hand einer Kühnheit, die mir etwas ganz Neues an ihm war. »Ach, wie kann ich’s Ihnen beibringen!« rief er aus. »Ich bin außer mir, wenn ich daran denke!«

Sobald Sie sprechen können, sprechen Sie«, sagte ich und pflanzte ihn in einen Lehnstuhl. »Auf Ihrem Gesichte sehe ich, daß Sie mir unerwartete Nachrichten aus Thorpe-Ambrose bringen?

Er steckte die Hand in die Brusttasche seines Rocks und zog einen Brief heraus. Dann sah er mich an. »Nach —— Nach —— Nachrichten, die Sie nicht erwarten«, stotterte er; doch nicht aus Thorpe-Ambrose.«

»Nicht aus Thorpe-Ambrose?«

»Nein —— von der See!«

Bei diesen Worten dämmerte mir die Wahrheit auf. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte blos meine Hand nach dem Briefe ausstrecken.

Noch zauderte er, ihn mir zu geben. »Ich wag’s nicht, ich wag’s nicht«, sprach er geistesabwesend zu sich selbst. »Der Schlag könnte ihr Tod sein!«

Ich riß ihm den Brief aus der Hand. Ein Blick auf die Handschrift der Adresse war genug! Meine Hände sanken auf den Schooß, den Brief krampfhaft umklammernd. Regungslos, sprachlos, ohne ein Wort von dem zu hören, was Bashwood mir sagte, saß ich wie versteinert da und kam langsam zum Bewußtsein der entsetzlichen Wahrheit. Der Mann, dessen Wittwe ich spielen wollte, lebte und konnte mir die Stirn bieten! Umsonst hatte ich den Trank in Neapel gemischt, umsonst hatte ich ihn in Manuel’s Hände geliefert! Zweimal hatte ich ihm die Todesfalle gelegt und zweimal war er mir entronnen!

Wieder zum Bewußtsein der Außenwelt kommend, fand ich Bashwood weinend mir zu Füßen liegen.

»Sie sehen so zornig aus«, murmelte er trostlos. Sind Sie bös auf mich? Ach, wenn Sie wüßten, welche Hoffnungen ich nährte, als wir einander neulich wiedersahen, und wie grausam dieser Brief sie alle zu Boden schmettert!«

Ich stieß das elende alte Geschöpf von mir, doch sehr sanft. »Pst!« sagte ich. »Stören Sie mich jetzt nicht! Ich muß mich fassen, muß den Brief lesen.«

Unterwürfig schritt er nach dem andern Ende des Zimmers. Sobald mein Auge nicht mehr auf ihm ruhte, hörte ich, wie er mit schwächlicher Bosheit zu sich selbst sprach: »Hätte die See meine Gedanken gehabt, sie hätte ihn verschlungen!«

Langsam entfaltete ich den Brief, mich, während ich dies that, völlig unfähig fühlend, meine Aufmerksamkeit auf die Zeilen zu richten, die zu lesen ich doch so brennendes Verlangen trug. Warum aber länger bei Empfindungen verweilen, die sich nicht beschreiben lassen? Es wird zweckmäßiger sein, wenn ich zu späterer Vergleichung den Brief hier wörtlich meinem Tagebuche einverleibe.

»Mr. Bashwood.

Fiume in Illyrien, 21. Nov. 1851.

Datum und Adresse meines Briefes werden Sie in Erstaunen setzen, und noch mehr werden Sie erstaunen, wenn Sie vernehmen, wie es kommt, daß ich Ihnen aus einem Hafen des Adriatischen Meeres schreibe.

Ich bin das Opfer eines schurkischen Attentats von Raub und Mord geworden. Der Raub ist gelungen, und lediglich Gottes Gnade hat den Mord nicht auch gelingen lassen.

Vor etwas länger als einem Monat miethete ich in Neapel eine Yacht und —— wie froh bin ich jetzt in diesem Gedanken! —— segelte, ohne einen Freund oder Bekannten zum Begleiter zu haben, nach Messina. Von Messina machte ich einen kleinen Kreuzzug nach dem Adriatischen Meere. Zwei Tage in See, wurden wir von einem Sturme ereilt; in diesen Gegenden kommen und gehen Stürme mit Blitzesschnelle. Das Schiff hielt sich brav; ich muß gestehen, Thränen treten mir in die Augen, wenn ich es nun auf dem Grunde des Meeres denken muß! Gegen Sonnenuntergang ließ das Unwetter nach und um Mitternacht war die See bis auf eine lange sanfte Brandung so glatt wie nur möglich. Etwas ermüdet —— ich hatte mit arbeiten helfen, solange der Sturm dauerte —— ging ich in meine Kajüte hinunter und war in fünf Minuten eingeschlafen. Zwei Stunden später erweckte mich das Geräusch eines durch eine Spalte in dem am oberen Ende der Thür angebrachten Ventilator in die Kajüte fallenden Gegenstandes. Ich sprang auf und fand einen um einen Schlüssel gewickelten Papierstreifen, auf dessen innerer Seite von einer nicht sehr leicht zu lesenden Hand etwas geschrieben war.

Bis zu dieser Stunde hatte ich nicht den Schatten von Verdacht, daß ich mich mit einer Bande von mörderischen Vagabunden (einen ausgenommen) auf offener See befand, die vor nichts zurückbebte. Ich war vielmehr mit meinem Bootsmeister (dem größten Schurken von allen) sehr gut verkommen und noch besser mit dem ersten Matrosen, einem Engländer. Da die Matrosen sonst samt und sonders Ausländer waren, konnte ich nicht viel mit ihnen verkehren. Sie verrichteten ihre Arbeit, und weder Streitereien noch andere Unannehmlichkeiten fielen vor. Hätte, ehe ich in der Nacht nach dem Sturme zu Bette ging, mir Jemand gesagt, der Bootsmeister, die Mannschaft und der erste Matrose, der ursprünglich nicht besser war als die Uebrigen, hätten sich alle verschworen, mir das Geld zu rauben, welches ich mit mir auf dem Schiffe hatte, und mich dann in meinem eigenen Schiffe zu ertränken, ich hätte ihm gerade ins Gesicht gelacht. Das behalten Sie im Auge, und dann stellen Sie sich vor, denn sagen kann ich’s Ihnen wahrhaftig nicht, was ich gedacht haben muß, als ich das um den Schlüssel gewickelte Papier aufmachte und Folgendes las, was ich hier wörtlich abschreibe.

»Sir, bleiben Sie in Ihrem Bett, bis Sie hören, daß das Boot von der Steuerbordseite abstößt, oder Sie sind ein todter Mann. Ihr Geld ist Ihnen gestohlen, und im Verlauf von fünf Minuten wird die Yacht durchlöchert und die Kajütenluke zugenagelt sein. Todte können nicht reden, und der Bootsmeister hat im Sinne, Beweisstücke auf dem Meere umhertreiben zu lassen, daß das Schiff mit Mann und Maus zu Grunde gegangen ist. Das war sein Plan von Anfang an und wir alle waren dabei betheiligt. Aber ich kann’s nicht über’s Herz bringen, Ihnen nicht eine Chance des Entrinnens an die Hand zu geben. Freilich ist’s nur eine zweifelhafte Chance, doch mehr kann ich nicht thun. Wollte ich mir nicht den Anschein geben, daß ich mitthäte mit der Bande, so würde ich selbst umgebracht werden. In diesem Papiere finden Sie den Schlüssel zu Ihrer Kajütenthür. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie oben den Hammer hören. Ich werde es selbst thun und nur kurze Nägel nehmen. Warten Sie, bis Sie das Boot mit uns allen abstoßen hören, und dann stemmen Sie die Luke mit Ihrem Rücken auf. Eine Viertelstunde, nachdem die Löcher hineingebohrt sind, wird sich das Schiff noch über Wasser halten. Gleiten Sie dann auf der backbordseite ins Meer und lassen Sie das Schiff zwischen sich und dem Boote. Sie werden eine Menge loser Planken und Balken finden, die, absichtlich hineingeworfen, umherschwimmen und an denen Sie sich halten können. Es ist eine schöne Nacht und ruhige See und vielleicht Aussicht vorhanden, daß, solange Sie noch leben, ein vorbeisegelndes Schiff Sie entdeckt und aufnimmt. Ich kann nicht mehr thun. Ihr aufrichtig ergebener J. M.«

Als ich an diese letzten Worte kam, hörte ich, wie man über mir die Luke zunagelte Ich glaube nicht, feiger zu sein als die meisten andern Menschen, allein für den Augenblick troff mir der Schweiße von der Stirn. Ehe jedoch das Hämmern vorüber, war ich wieder der Alte und ertappte mich, wie ich an Jemand in England dachte, der mir sehr theuer ist. Ich sagte zu mir selbst: »Um ihretwillen will ich um mein Leben kämpfen, obgleich die Chancen wider mich sind.«

Ich that einen Brief von dieser Person in eins der verstöpselten Flacons meines Toilettenkastens zugleich mit der Warnung des Matrosen für den Fall, daß ich am Leben bliebe und ihn wiedersähe. Dies und eine Flasche Whisky hing ich mir an einer Schlinge um den Hals, und nachdem ich mich in meiner Verwirrung erst angekleidet hatte, kam ich auf einen bessern Gedanken und legte, um schwimmen zu können, bis auf Hemd und Beinkleider Alles wieder ab. Während ich das gethan, war inzwischen das Hämmern vorüber und solch eine Stille eingetreten, daß ich das Wasser in das durchlöcherte Schiff rauschen hören konnte. Darauf kam das Geräusch des von der Steuerbordseite abstoßenden Bootes mit den Schurken darin. Ich wartete, bis ich das Plätschern der Ruder vernahm, und stemmte dann meinen Rücken unter die Luke. Der Matrose hatte sein Versprechen gehalten; ich konnte sie leicht aufdrücken, kroch unter dem Schutze der Bollwerke auf allen Vieren quer über das Deck und schlüpfte auf der Backbordseite ins Meer. Allerhand Gegenstände trieben darin umher; ich packte den ersten besten, den ich erreichen konnte —— es war ein Hühnerstall —— und schwamm ein paar hundert Schritte weit, immer die Yacht zwischen mir und dem Boote lassend. Soweit gelangt, wurde ich von einem Fieberschauer überfallen, und in Angst, es möchte nun der Krampf eintreten, hielt ich still und nahm einen derben Schluck aus meiner Flasche. Als ich die Flasche wieder zumachte, drehte ich mich einen Augenblick und schaute zurück —— eben war die Yacht im Sinken begriffen. Eine Minute darauf war nichts mehr zwischen mir und dem Boote zu erblicken, als die Stücke des Wracks, welche absichtlich ins Meer geworfen worden waren. Der Mond schien, und wenn sie ein Fernglas im Boote gehabt hätten, so würden sie wohl meinen Kopf gesehen haben, obgleich ich den Hühnerstall immer thunlichst zwischen mir und ihnen zu halten suchte.

Sie ruderten scharf und ich hörte laute streitende Stimmen unter ihnen. Nach einer Weile, die mir eine Ewigkeit schien, entdeckte ich, worum sie sich stritten. Die Spitze des Bootes stand auf einmal mir zugekehrt. Offenbar hatte ein Halunke, der gescheidter war als die Andern —— wahrscheinlich der Bootsmeister —— sie überreden zurückzurudern nach der Stelle, wo die Yacht gesunken war, um sich zu vergewissern, ob ich auch wirklich mit ihr untergegangen sei. Schon waren sie mir bis auf halben Weg nahe und ich hatte mich verloren gegeben, als ich einen jähen Schrei hörte und plötzlich den Lauf des Bootes gehemmt sah. Ein paar Minuten darauf war das Boot wieder umgewandt, und sie ruderten aus Leibeskräften von mir ab, wie Männer, die um ihr Leben kämpfen.

Ich sah nach dem Lande zu, entdeckte indeß nichts. Ich sah nach der andern Seite und fand jetzt, was die Mannschaft des Bootes noch vor mir gesehen hatte, ein Segel in der Entfernung, das, je länger ich hinblickte, im Mondscheine immer heller und größer wurde. In einer Viertelstunde befand sich das Fahrzeug im Bereich meiner Stimme und die Mannschaft zog mich an Bord.

Es waren sämtlich Ausländer und sie betäubten mich förmlich durch ihr Kauderwelsch. Ich versuchte es mit Zeichen, ehe ich jedoch mich verständlich machen konnte, überfiel mich ein neuer Fieberfrost und ich ward in die Kajüte hinunter geschafft. Zweifelsohne hielt das Schiff seinen Curs, denn irgend etwas bestimmt zu wissen, war ich nicht in der Verfassung. Ehe noch der Morgen anbrach, lag ich in heftigem Fieber, und von da an kann ich mich auf nichts mehr deutlich besinnen, bis ich endlich hier wieder zur Besinnung kam und mich in der Pflege eines ungarischen Kaufmanns fand, des Rheders des Schiffes, das mich aufgenommen hatte. Er spricht englisch so gut oder besser als ich und hat mich mit einer Liebe behandelt, für deren Lob ich keine Worte habe. Als junger Mann ist er selbst in England gewesen, um sich zum Kaufmann auszubilden, und sagt, er denke so gern an unser Vaterland zurück, daß sein Herz für jeden Engländer schlage. Er hat mich mit Kleidern ausgestattet und mir Geld geliehen, damit ich abreisen kann, sobald als der Arzt mir gestattet, nach der Heimat aufzubrechen. Wenn ich keinen Rückfall bekomme, werde ich von jetzt ab in einer Woche reisefähig sein. Kann ich in Triest die Mallepost erreichen und die Strapaze aushalten, so werde ich acht oder höchstens zehn Tage, nachdem Sie diesen meinen Brief empfangen haben, wieder in Thorpe-Ambrose sein. Sie werden mir zugeben, daß es ein entsetzlich langer Brief ist, allein ich kann’s nicht ändern; es kommt mir vor, als hätte ich meine alte Kunst vergessen, mich kurz zu fassen und gleich auf der ersten Seite fertig zu werden. Indeß jetzt bin ich bald zu Ende, denn es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen zu sagen, warum ich Ihnen von dem, was mir widerfahren, schreibe, anstatt bis zu meiner Rückkunft zu warten und Ihnen dann Alles mündlich zu erzählen.

Es dünkt mich, daß mein Kopf noch von der Krankheit angegriffen, ist. Jedenfalls fiel mir diesen Morgen ein, daß es kaum wahrscheinlich ist, ein Schiff werde die Stelle passiert haben, wo die Yacht unterging, um die Möbel und andere Gegenstände, die aus ihr in der See umhertreiben, zu finden und mitzunehmen. Sollte dies aber doch zufällig geschehen sein, so dürfte sich vielleicht die falsche Nachricht von meinem Tode in England verbreitet haben. Wäre dies geschehen —— hoffentlich ist’s nur eine unbegründete Furcht von meiner Seite —— so gehen Sie auf der Stelle ins Parkhäuschen zum Major Milroy. Zeigen Sie ihm diesen Brief —— er ist gerade so gut für ihn wie für Sie geschrieben —— geben Sie ihm dann das eingeschlossene Billet und fragen Sie ihn, ob nicht die Umstände meine Hoffnung rechtfertigten, daß er es seiner Tochter senden werde. Ich kann nicht erörtern, warum ich nicht direct an den Major schreibe, nur sagen, daß gewisse Rücksichten, die ich mich zu beobachten verpflichtet habe, mich zu diesem mittelbaren Wege veranlassen.

Ich bitte um keine Antwort auf mein Schreiben, denn ehe Ihr Brief mir in diesem abgelegenen Orte zukommen könnte, bin ich hoffentlich lange auf dem Heimwege. Was Sie auch sonst thun, gehen Sie unverzüglich zu Major Milroy. Gehen Sie, gleichviel, ob der Untergang der Yacht in England bekannt ist oder nicht.

Aufrichtig der Ihrige

Allan Armadale.«

An den Schluß des Briefes gelangt, blickte ich auf und sah jetzt erst, daß Bashwood aus seinem Stuhle aufgestanden war und sich mir gerade gegenübergestellt hatte. Mit dem forschenden Ausdruck eines Menschen, der meine Gedanken zu lesen suchte, studierte er eifrig mein Gesicht Schuldbewußt schlug er seine Augen nieder, wenn die meinigen ihnen begegneten, und wich zu seinem Stuhle zurück. In dem Glauben, daß ich mit Armadale wirklich verheirathet sei, betrachtete er zu ergründen, ob die Kunde von Armadale’s Rettung aus dem Meere mir als gute oder schlechte Nachricht erschien. Mit ihm in Erörterungen einzutreten, war jetzt keine Zeit; das Erste, was geschehen mußte, war vielmehr, unverweilt mich mit dem Doctor in Vernehmen zu setzen. Ich rief Bashwood zu mir her und gab ihm die Hand.

»Sie haben mir einen Dienst geleistet«, sagte ich, »der unsere Freundschaft noch mehr befestigt. Noch heute werde ich Ihnen hierüber und über andere Dinge, die für uns beide von Belang sind, Mittheilungen machen. Für jetzt bitte ich Sie, mir Mr. Armadale’s Brief, den ich Ihnen unversehrt zurückbringen werde, zu leihen und hier meine Zurückkunft abzuwarten. Wollen Sie mir diesen Gefallen thun, Mr. Bashwood?«

Alles, was ich verlangte, wolle er thun, antwortete er. Ich ging dann in mein Schlafzimmer und holte mir Hut und Shawl.

»Ehe ich Sie verlasse, beruhigen Sie mich noch über einen Punkt«, sprach ich. »Sie haben den Brief außer mir Niemand sonst gezeigt?«

»Keine Seele hat ihn gesehen, außer uns Zweien!«

»Was haben Sie mit dem für Miß Milroy beigelegten Billet angefangen?

Er brachte es aus seiner Tasche zum Vorschein. Ich überlief es rasch, sah, daß nichts von der allergeringsten Bedeutung darin stand, und warf es auf der Stelle ins Feuer. Dies gethan, ließ ich Bashwood in meinem Zimmer und verfügte mich, Armdale’s Brief in der Hand, zum Sanatorium.

Der Doctor war ausgegangen, und der Diener konnte mir nicht gewiß sagen, wann er wieder zu Hause sein würde. Ich begab mich denn in sein Arbeitszimmer und schrieb, um ihn auf die Kunde vorzubereiten, die ich brachte, ein paar Zeilen an ihn, welche ich zusammen mit Armadale’s Brief in ein Couvert einsiegelte. In einer Stunde würde ich wieder vorsprechen, sagte ich dem Diener.

Ehe ich wußte, was der Doctor jetzt zu thun gedachte, hatte es keinen Zweck, nach Hause zu gehen und mit Bashwood zu sprechen. So wanderte ich mit einem dumpfen, der Erstarrung ähnlichen Gefühle, das nicht nur jedes Denken, sondern auch die Empfindung körperlicher Ermüdung verhinderte, in der Gegend umher, neue Straßen und Plätze auf und ab. Ich erinnerte mich, daß mich vor Jahren ganz das nämliche Gefühl übermannte, damals als ich von den Gefängnißbeamten vor den Gerichtshof geführt ward, um hier auf Tod und Leben gerichtet zu werden. Auf die seltsamste Art trat mir diese ganze Scene wieder vor die Seele, als wäre es eine Scene gewesen, in der eine andere Person die Hauptrolle gespielt hätte. Ein paarmal wunderte ich mich in dumpfer Gleichgültigkeit, daß man mich nicht gehängt hatte!

Ins Sanatorium zurückgekehrt, vernahm ich, daß der Doctor seit einer halben Stunde wieder zu Hause sei und in seinem Zimmer mich sehnsüchtig erwarte.

Ich trat dort ein und fand ihn, den Kopf geneigt und die Hände auf seinen Knieen, am Feuer sitzen. Neben ihm auf dem Tische sah ich außer Armadales Brief und meinem Billet ein aufgeschlagenes Eisenbahncursbuch liegen, gerade im kleinen Lichtkreise, den die brennende Lampe warf. Dachte er an Flucht? Auf seinem Gesichte, als er auf- und mich anblickte, war unmöglich zu lesen, über was er nachsann, oder welchen Schlag ihm die Kunde von Armadales Leben versetzt hatte.

»Setzen Sie sich hier ans Kamin«, redete er mich an. »Es ist heute sehr rauh und unfreundlich.«

Schweigend nahm ich Platz, schweigend saß seinerseits, sich die Kniee am Feuer wärmend, der Doctor da.

»Haben Sie mir nichts zu sagen?« fragte ich.

Er stand auf und nahm plötzlich den Schirm von der Lampe, sodaß das volle Licht auf mein Gesicht fiel.

»Sie sehen nicht wohl aus«, sprach er. »Was fehlt Ihnen?«

»Mein Kopf ist mir schwer und meine Augen schmerzen«, erwiderte ich. »Wohl das Wetter.«

Es war merkwürdig, wie wir uns beide immer weiter und weiter von dem einen alles Andere absorbierenden Gegenstande entfernten, zu dessen Besprechung wir doch ausdrücklich zusammengekommen waren!

»Ich denke, eine Tasse Thee würde Ihnen gut thun«, bemerkte der Doctor.

Ich meinte es auch, und er bestellte den Thee. Bis dieser kam, ging er im Zimmer auf und nieder und ich blieb ruhig am Feuer sitzen, und keins von uns sprach ein Wort.

Der Thee belebte mich und der Doctor bemerkte, daß ich besser auszusehen beginne. Dann setzte er sich mir gegenüber an den Tisch und fing endlich zu sprechen an.

»Hätte ich jetzt tausend Pfund«, sagte er, »ich würde sie bis zum letzten darum geben, wenn ich mich in Ihre verzweifelte Speculation auf Mr. Armadale’s Tod nicht mit eingelassen hätte!«

Ganz seiner gewöhnlichen Manier zuwider stieß er diese Worte auffallend kurz, fast heftig heraus. War er selbst in Angst oder wollte er mir Angst einjagen? Er sollte sich darüber von vornherein erklären, das stand bei mir fest. »Halt, einen Augenblick, Doctor«, sagte ich deshalb. »Glauben Sie, daß ich an dem Geschehenen schuld bin?«

»Bestimmt nicht«, entgegnete er steif. Weder Sie noch irgendwer konnte voraussehen, was passiert ist. Wenn ich sage, ich würde tausend Pfund darum geben, wenn ich aus dem Handel heraus wäre, so mache ich Niemand einen Vorwurf als mir selbst, und wenn ich Ihnen dann sage, aß ich, einmal für allemal, nicht zulassen werde mich Mr. Armadale’s Wiederaufstehung aus der See ruinieren soll, ohne daß ich dagegen ankämpfe, so spreche ich so deutlich und wahr, wie nur je ein Mensch deutlich und wahr gesprochen hat, meine beste Dame. Glauben Sie nicht, daß ich in der Gefahr, welche uns jetzt gemeinsam droht, selbstsüchtig meine Interessen von den Ihrigen scheide; ich gebe Ihnen einfach den Unterschied in der Gefahr an, die jedes von uns läuft. Sie haben nicht alle Ihre Mittel in ein Sanatorium gesteckt, und Sie haben keine falsche Erklärung vor der Behörde abgegeben, die vom Gesetze ganz wie Meineid bestraft wird.«

Ich unterbrach ihn wieder. Seine Selbstsucht that mir wohler als sein Thee, sie hob meine Stimmung gewaltig. »Wie wär’s«, sagte ich, »wenn wir Ihr Risico und mein Risico jetzt beiseite ließen und zur Sache kämen? Was meinen Sie, wenn wir darum kämpfen? Ich sehe ein Eisenbahncursbuch da auf Ihrem Tische Heißt darum kämpfen etwa fortlaufen?«

»Fortlaufen?« wiederholte der Doctor. »Sie scheinen zu vergessen, daß jeder Heller, den ich auf Erden mein nenne, in dem Etablissement hier steckt.«

»Sie bleiben also hier?« fragte ich.

»Ohne Zweifel!«

»Und was meinen Sie, wenn Mr. Armadale nach England kommt?«

Eine einsame Fliege, die letzte ihres Geschlechts, welche der Winter verschont hatte, summte matt dem Doctor um das Gesicht herum. Er fing sie, ehe er mir antwortete, und hielt sie, in seiner geschlossenen Hand über den Tisch hin.

»Wenn diese Fliege da Armadale hieße«, sagte er, »und wenn Sie ihn so erwischt hätten, wie ich sie erwischt habe, was würden Sie dann thun?«

Seine Augen, mit denen er mich ernst fixierte, hefteten sich darauf bezeichnend auf meine Wittwentracht; ich auch sah darauf, als er hinblickte. Ein Schauer von dem alten tödtlichen Hasse und dem alten mörderischen Entschlusse durchrieselte mich wieder.

»Ich würde ihn umbringen«, gab ich zur Antwort.

Die Fliege noch immer in der Hand, sprang der Doctor von seinem Sitze auf und sah mich, etwas zu theatralisch, mit dem Ausdrucke höchsten Schreckens an.

»Ihn umbringen!« wiederholte er in einem Anfall tugendhafter Bestürzung »Gewaltthat, mörderische Gewaltthat in meinem Sanatorium! Sie machen mich sprachlos vor Erstaunen!«

Ich erhaschte einen Blick seines Auges, während er mit studierter Beredtsamkeit seinen Schrecken ausdrückte, wie es mich mit einer forschenden Neugier ansah, die mit der Heftigkeit seiner Sprache und mit dem Feuer seines Tons einigermaßen contrastirte. Als sich unsere Augen begegneten, lachte er unbehaglich und nahm, noch ehe er seine Lippen zum Weitersprechen öffnete, sein sanftes, vertrauliches Wesen wieder an.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte er. »Ich hätte Sie besser kennen sollen, als daß ich eine Dame zu buchstäblich beim Worte zu nehmen hätte. Erlauben Sie mir indeß zu erinnern, daß die Umstände zu ernster Natur sind, um irgend etwas zu rechtfertigen, was wie Uebertreibung oder gar wie Scherz aussieht. Ohne weitere Vorrede sollen Sie hören, was ich vorschlage.« Er hielt inne und brauchte wieder die noch immer in seiner Hand gefangen gehaltene Fliege zum Gleichniß. »Da ist Mr. Armadale. Ich kann ihn herauslassen oder festhalten, ganz wie es mir beliebt, und er weiß es. Ich sage zu ihm, fuhr der Doctor fort, die Fliege anredend: Garantieren Sie mir, Mr. Armadale, daß weder gegen diese Dame hier noch gegen mich selbst Schritte irgendwelcher Art gethan werden sollen, und ich will Sie aus meiner Hand herauslassen. Versprechen Sie mir das nicht, so werde ich Sie, sei die Gefahr, welche sie wolle, darin behalten. Können Sie noch zweifeln, was Mr. Armadale früher oder später sicher antworten wird? Können Sie zweifeln; fuhr er fort und gab der Fliege, um dem Worte die That folgen zu lassen, ihre Freiheit wieder, »daß es zur völligen Genugthuung aller Parteien so enden wird?«

»Zuvörderst will ich nicht sagen, ob ich zweifle oder nicht«, antwortete ich. »Erlauben Sie mir, mich vor allem zu versichern, ob ich Sie recht verstehe. Wenn ich nicht irre, so schlagen Sie vor, Mr. Armadale hier in diesem Hause einzusperren und ihn nicht eher wieder herauszulassen, als bis er sich mit den Bedingungen einverstanden erklärt, welche wir ihm in unserm Interesse auflegen müssen? Darf ich Sie unter diesen Umständen fragen, wie Sie ihn in die Falle zu bringen denken, die Sie für ihn hier aufgestellt haben?«

»Zunächst schlage ich vor«, erwiderte der Doctor, die Hand aus das Eisenbahncursbuch legend, »nachzusehen, zu welcher Stunde jeden Abend dieses Monats die mit der Flut correspondirenden Züge von Dover und Folkstone an der Station von London-Bridge eintreffen; sodann Jemand, der Mr. Armadale kennt und dem wir beide trauen dürfen, dorthin zu postieren, damit er die Ankunft der Züge abwartet und unsern Mann empfängt, sobald dieser aus dem Waggon steigt.«

»Haben Sie schon daran gedacht«, fragte ich, »wer diese Person sein soll?«

»Ich habe«, sagte der Doctor und nahm Armadale’s Brief in die Hand, »an die Person gedacht, an welche dies Schreiben gerichtet ist.«

Die Antwort frappierte mich. War es möglich, daß er und Bashwood sich kannten? Das fragte ich auf der Stelle.

»Bis heute habe ich nie den Namen des Herrn nennen hören«, entgegnete der Dotter. »Ich habe einfach den inductiven Proceß des Geistes verfolgt, den wir dem unsterblichen Bacon verdanken. Wie kommt dieser höchst wichtige Brief in Ihren Besitz? Ich kann Sie nicht mit der Annahme kränken, daß Sie ihn gestohlen haben; folglich haben Sie ihn mit Erlaubniß und Autorisation des betreffenden Adressaten an sich genommen; mithin ist dieser in Ihrem Vertrauen und folglich ist er die erste Person, an welche ich denke. Sie sehen den Geistesproceß, nicht wahr? Gut. Gestatten Sie mir nun, ehe wir weitergehen, ein paar Fragen in Betreff Mr. Bashwood’s.«

Wie immer gingen die Fragen des Doctors direct auf die Sache los. Meine Antworten theilten ihm mit, daß Mr. Bashwood zu Armadale im Verhältnisse eines Intendanten stehe; daß er diesen Morgen den Brief in Thorpe-Ambrose empfangen und mit dem ersten Zuge ihn mir überbracht; daß er vor seiner Abfahrt weder mit Major Milroy noch sonst Jemand gesprochen, noch weniger den Brief irgendwem gezeigt; daß ich mir diesen seinen Dienst nicht durch Offenbarung meines Geheimnisses erkauft; daß ich mit ihm als Armadale’s Wittwe correspondirt und verkehrt; daß er unter diesen Umständen den Brief einzig und allein geheim gehalten, weil ich ihm geboten, wenn irgend etwas Besonderes in Thorpe-Ambrose vorfallen sollte, sich still zu verhalten, bis er zuerst meinen Rath eingeholt, und daß ich endlich als Grund, warum er in dieser Angelegenheit wie in allen andern streng nach meinen Instructionen gehandelt habe, nur den angeben könne, daß Mr. Bashwood mir und meinen Interessen blind ergeben sei.

Die Augen des Doktors sahen mich unter seiner Brille hervor mißtrauisch an.

»Worin«, fragte er, »liegt das Geheimniß dieser blinden Hingebung Mr. Bashwoods an Ihre Interessen?»

Aus Mitleiden mit Bashwood, nicht mit mir zögerte ich einen Augenblick. »Wenn Sie es denn wissen wollen«, antwortete ich, »Mr. Bashwood ist in mich verliebt.«

»Ach, ach!« rief der Doctor mit einer Miene der Erleichterung aus. »Jetzt fange ich an zu begreifen. Ist er ein junger Mann?«

»Ein alter.«

Der Doctor warf sich in seinen Stuhl zurück und kicherte leise. »Um« so besser!« sagte er. »Das ist ganz der Mann, den wir brauchen. Wer wäre so gegeeignet wie Mr. Armadale’s Intendanz ihn bei seiner Rückkunft auf dem Bahnhofe zu empfangen, und wer besser im Stande, Mr. Bashwood auf die gehörige Art zu beeinflussen, als der reizende Gegenstand von Mr. Bashwood’s Bewunderung?«

Daß Bashwood der rechte Mann war, um den Plan des Doctors zu fördern, und daß mein Einfluß ihn dazu vermögen würde, darüber konnte kein Zweifel obwalten. Hierin lag die Schwierigkeit nicht, sie lag in jener unbeantwortet gebliebenen Frage, ich dem Doctor vor einer Minute vorgelegt hatte. Ich stellte sie ihm von neuem.

»Gesetzt auch, Mr. Armadale’s Intendant findet seinen Herrn auf dem Bahnhofe«, sagte ich, »darf ich noch einmal fragen, wie Mr. Amadale überredet werden soll, hierher zu kommen?«

»Halten Sie mich nicht für ungalant«, versetzte der Doctor in der artigsten Manier von der Welt, »wenn ich meinerseits frage, wie können die Männer zu neun Zehnteln zu ihren thörichtsten Handlungen vermocht werden? Durch Ihr reizendes Geschlecht. Die schwache Seite jedes Mannes ist seine weibliche Seite. Wir haben nur diese weibliche Seite Mr. Amadale’s ausfindig zu machen, ihn sanft daran zu kitzeln und ihn an seidener Schnur auf unsern Weg zu leiten. Ich sehe hier«, fuhr er fort, während er Armadale’s Brief aufmachte, »eine Anspielung auf eine junge Dame. Das erscheint mir vielversprechend. Wo ist das an Miß Milroy gerichtete Billet, von dem Mr. Armadale spricht ?«

Anstatt ihm zu antworten, sprang ich in plötzlicher Erregung auf. Im Augenblicke, wo er Miß Milroy’s Namen nannte, kam mir Alles, was ich von Bashwood über Miß Milroy’s Krankheit und die Ursache der letzteren gehört hatte, auf einmal wieder ins Gedächtniß. So deutlich, wie ich den Doctor an der andern Seite des Tisches mir gegenüber sitzen und seine Verwunderung über die plötzlich in mir vorgehende Veränderung sah, ebenso deutlich sah ich jetzt das Mittel vor mir, um Armadale in das Sanatorium locken zu können. Welch eine Wollust war es, daß endlich Miß Milroy meinen Zwecken dienstbar zu machen vermochte!

»Lassen wir das Billet!« sagte ich. »Um alle Zufälligkeiten zu vermeiden, habe ich’s verbrannt. Ich kann Ihnen Alles und mehr sagen, als was Sie aus dem Billet ersehen haben würden. Miß Milroy endet alle Schwierigkeiten! Sie ist insgeheim mit ihm verlobt, hat die falsche Kunde von seinem Tode vernommen und ist seitdem ernstlich krank in Thorpe-Ambrose gewesen. Wenn ihn Bashwood auf dem Bahnhofe trifft, so ist sicher feine allererste Frage ——«

»Ich sehe es!« fiel der Doctor rasch ein. »Mr. Bashwood hat nichts weiter zu thun, als der Wahrheit ein ganz klein wenig Dichtung zuzusetzen. Wenn er seinem Herrn sagt, daß die falsche Nachricht bis zu Miß Milroy gedrungen ist, so braucht er nur hinzuzufügen, daß der Schlag ihren Kopf angegriffen hat und daß sie sich unter ärztlicher Pflege hier befindet. Vortrefflich! Vortrefflich! So rasch, wie ihn nur der rascheste Droschkengaul von London hierher bringen kann, werden wir ihn in unserm Sanatorium haben. Und bedenken Sie, keine Gefahr, nicht die Nothwendigkeit, uns andern Leuten anvertrauen zu müssen! Das Sanatorium ist kein Irrenhaus, kein concessionirtes Etablissement und keine ärztlichen Atteste sind erforderlich! Meine verehrte Dame, ich gratuliere Ihnen, ich gratuliere mir selbst. Gestatten Sie mir, Ihnen das Eisenbahncursbuch mit meinen besten Empfehlungen für Mr. Bashwood zu übergeben. Aus weiterer Rücksicht für ihn habe ich ihm schon die richtige Seite darin eingeknickt.«

Es fiel mir ein, daß ich Bashwood schon sehr lange hatte auf mich warten lassen. Ich nahm das Buch und wünschte dem Doctor ohne weitere Ceremonie guten Abend. Als er mir höflich die Thür aufmachte, kam er, ohne die geringste Nothwendigkeit und ohne daß ich meinerseits nur durch ein Wort dazu Anlaß gegeben hatte, wieder auf den Ausbruch tugendhafter Entrüstung, der ihm zu Anfang unserer Unterredung entschlüpft war.

»Hoffentlich«, sagte er, »werden Sie meinen gänzlichen Mangel an Takt und Verständniß gütig vergessen und vergeben, den ich —— kurz den ich mir zu Schulden kommen ließ, als ich die Fliege fing. Ich erröthe, wahrhaftig, ich erröthe förmlich über meine eigene Dummheit, den kleinen Scherz einer Dame buchstäblich zu nehmen! Gewaltthat in meinem Sanatorium!« rief der Doctor aus, mich von neuem mit seinen Blicken fixierend, »Gewaltthat in unserm aufgeklärten Jahrhundert! Hat es je so etwas Lächerliches gegeben? Nehmen Sie den Mantel fest um, ehe Sie hinausgehen —— es ist so kalt und rauh! Soll ich Sie begleiten? Soll ich Ihnen meinen Diener mitgeben? Ach, Sie sind immer selbstständig gewesen, immer Ihr eigener Schutz! Soll ich morgen früh bei Ihnen vorkommen und hören, was Sie mit Mr. Bashwood ausgemacht haben?«

»Ja«, sagte ich und machte mich endlich von ihm los. Auf meinem Zimmer wartete der ältliche Herr, wie das Dienstmädchen sagte, noch immer ruhig auf mich.

Viel Worte über das zu verschwenden, was zwischen mir und Bashwood vorging, habe ich entweder den Muth nicht oder die Geduld, ich weiß nicht, welches von beiden. Es war so leicht, so verächtlich leicht, die Fäden an der armen alten Puppe zu ziehen, wie man nur wollte! Ich stieß auf keine der Schwierigkeiten, auf die ich bei einem jüngeren oder einem vor Verliebtheit minder blinden Mann gestoßen sein würde. Ihm die Anspielungen auf Miß Milroy, die ihn natürlich verdutzt hatte, zu erklären, das überließ ich einer späteren Zeit, ich gab mir nicht einmal die Mühe, einen plausiblen Grund zu erfinden, warum er Armadale auf dem Bahnhofe ablauern und ihn durch eine Kriegslist in des Doctors Sanatorium locken sollte. Alles, was ich zu thun für nothwendig erachtete, war, daß ich ihn auf das verwies, was ich ihm bei meiner Ankunft geschrieben und was ich ihm nachmals gesagt hatte, als er im Hotel erschienen war, meinen Brief persönlich zu beantworten.

»Daß meine Ehe keine glückliche gewesen ist«, sprach Ich, »wissen Sie schon. Machen Sie sich hieraus selbst Ihren Schluß und drängen Sie mich nicht, Ihnen zu sagen, ob mir die Kunde von Armadale’s Errettung aus der See so willkommen ist, wie sie von Rechtswegen seiner Gattin sein sollte!« Das genügte, sein altes, welkes Gesicht in Glut zu setzen und seine welken alten Hoffnungen neu zu beleben. Ich brauchte nur hinzuzusetzen, »Wenn Sie thun wollen, was ich von Ihnen verlange, einerlei, wie unbegreiflich und mysteriös, Ihnen mein Begehren erscheinen mag, und wenn, meinen Versicherungen glauben, daß Sie selbst Gefahr laufen und die rechte Erklärung zur rechten Zeit erhalten werden, dann werden Sie sich einen solchen Anspruch auf meine Dankbarkeit und Rücksicht erworben haben, wie ihn noch nie ein Mann auf Erden hatte.« Nur diese Worte hatte ich zu sagen und sie mit einem Blicke und einem verstohlenen Händedruck zu begleiten, und er lag mir zu Füßen, blindlings bereit, mir zu willfahren. Wüßte er, woran ich selbst dachte —— doch das macht nichts aus, er wußte eben nichts.

Schon sind Stunden vergangen, seit ich ihn mit den nöthigen Verhaltungsmaßregeln, mit dem Cursbuche und mit seinem Gelöbniß des Stillschweigens nach dem nahe dem Bahnhofe gelegenen Hotel geschickt habe, wo er warten soll, bis Armadale auf dem Perron erscheint. Alle Aufregung von diesem Abend ist verschwunden und das dumpfe, beklemmende Gefühl beherrscht mich wieder. Erschöpft sich meine Energie, gerade wo ich sie am nöthigsten brauche? Das möchte ich wissen. Oder will mich eine Ahnung Von kommendem Unheil beschleichen, das ich noch nicht recht begreife?

Ich wäre in der Stimmung, über solchen Gedanken und Aufzeichnungen noch stundenlang zu sitzen, wenn es nur mein Tagebuch zulassen wollte. Allein meine Feder ist so fleißig gewesen, daß das Ende des Buchs da ist. Ich bin am letzten freien Plätzchen der letzten Seite angelangt, und ich mag nun wollen oder nicht, diesmal muß ich das Buch für immer zumachen, wenn ich’s heute Abend schließe.

Fahre wohl, du mein alter Freund und Genosse an so manchem elenden Tage! Ich besitze sonst nichts, was ich lieben könnte, es scheint mir daher fast, als wenn ich dich unvernünftigerweise lieb hätte.

Wie thöricht ich bin!«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Am Abende des zweiten December nahm Mr. Bashwood zum ersten Male seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe der Südostbahn ein. Es war sechs Tage früher als der Zeitpunkt, welchen Allan selbst zu seiner Rückkunft bestimmt hatte; allein der Doctor hatte es nach seiner ärztlichen Erfahrung gerade für wahrscheinlich gehalten, daß »Mr. Armadale in seinem beneidenswerthen Alter so eigensinnig sein möchte, eher zu genesen, als sein Arzt vorausgesehen hätte«. Der Vorsicht halber wurde daher Mr. Bashwood angewiesen, sein Warten auf dem Bahnhofe schon tags darauf, nachdem er den Brief seines Herrn empfangen, zu beginnen.

Vom zweiten bis zum siebenten December wartete der Verwalter pünktlich auf dem Bahnhofe, sah die Züge ankommen und überzeugte sich zu seiner Genugthuung Abend für Abend, daß ihm die Reisenden sämtlich fremd waren. Vom zweiten bis zum siebenten December empfing Miß Gwilt —— um auf den Namen zurückzukommen, unter dem sie uns am besten bekannt ist —— seinen täglichen Bericht, den er manchmal persönlich abstattete, manchmal brieflich übersandte. Der Doctor, welchem die Berichte mitgetheilt wurden, nahm sie seinerseits bis zum Morgen des achten mit unerschüttertem Vertrauen in die getroffenen Vorsichtsmaßregeln entgegen. An diesem Tage hatte die Aufregung der beständigen Ungewißheit Miß Gwilt’s wandelbare Stimmung sehr zum Schlimmen verändert, was Jeder in ihrer Umgebung wahrnahm und was merkwürdig genug sich in dem Wesen des Doctors ebenso auffällig widerspiegelte, als er ihr seinen gewöhnlichen Besuch machte. Durch ein so außerordentliches Zusammentreffen, daß seine Feinde es überhaupt für ganz und gar kein Zusammentreffen gehalten haben dürften, kam an dem Morgen, wo Miß Gwilt die Geduld auszugehen begann, dem Doctor zum ersten Male sein Vertrauen abhanden.

»Natürlich keine Nachricht«, sagte er, indem er sich mit einem schweren Seufzer niederließ. »Gut! gut!«

Miß Gwilt sah ihn von ihrer Arbeit her aufgeregt an.

»Sie scheinen mir heute Morgen wunderbar kleinlaut«, sagte sie. »Vor was fürchten Sie sich denn jetzt?«

»Einem Manne«, antwortete der Doctor, »selbst wenn er einem so wesentlich friedlichen Berufe angehört, wie es der meinige ist, macht man nicht so leichthin den Vorwurf der Furcht. Ich fürchte mich nicht, ich bin nur, wie Sie zuerst richtiger bemerkten, kleinlaut. Sie wissen, ich bin von Natur sanguinischen Temperaments und erkenne nur heute, was ich ohne gewohnte Zuversicht schon vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte.«

Ungeduldig warf Miß Gwilt ihre Arbeit hin. »Wenn Worte Geld kosteten«, versetzte sie, »so würde dies Ihnen zu einem sehr kostspieligen Luxus werden.«

»Was ich vor acht Tagen erkannt haben würde und erkannt haben müßte«, wiederholte der Doctor, ohne von der Unterbrechung die geringste Notiz zu nehmen. »Um mich deutlicher auszusprechen, ich fühle mich keineswegs mehr so sicher, wie ich’s war, daß Mr. Armadale sich ohne Widerstreben den Bedingungen fügen wird, die ich ihm in meinem Interesse —— in geringerem Grade auch in Ihrem —— auferlegen muß. Merken Sie wohl auf! Ich stelle es nicht in Frage, daß es uns gelingen wird, ihn in das Sanatorium zu locken, ich zweifle blos, daß er ganz so traitable sein wird, als ich ursprünglich annahm, wenn wir ihn drin haben. Denken Sie«, fuhr er fort, zum ersten Male aufblickend und Miß Gwilt forschend fixierend, »denken Sie, er ist verwegen, halsstarrig, wie Sie’s nennen wollen, und hält aus, hält wochenlang, monatelang aus, wie Menschen in einer der seinigen ähnlichen Lage schon ausgehalten haben. Was folgt daraus? Die Gefahr, ihn in gezwungenem Versteck zu halten, ihn, wenn ich so sagen soll, zu unterdrücken, wächst in steigender Potenz und wird enorm! Im Augenblick ist nun mein Haus wirklich zur Aufnahme von Kranken bereit; schon im Laufe einer Woche dürften Patienten sich einstellen, dürften mit Mr. Armadale oder Mr. Armadale dürfte mit ihnen verkehren, ein Billet könnte herausgeschmuggelt und der Commission zur Feststellung des Wahnsinns in die Hände gespielt werden. Selbst in dem Falle eines nicht concessionirten Etablissements wie das meinige ist, haben diese Herren —— nein, diese patentierten Despoten in einem Lande der Freiheit —— nur den Lordkanzler um einen Befehl anzugehen, um ohne weiteres in mein Sanatorium einzudringen und das ganze Haus vom Dache bis zum Keller zu durchsuchen. Um Himmelswillen, in mein Sanatorium eindringen! Ich verzage nicht, ich will Sie nicht erschrecken, ich behaupte nicht, daß die Mittel, die wir zu unserer eigenen Sicherheit ergreifen, nicht die besten sind, welche uns überhaupt zur Verfügung stehen, ich bitte, sich nur die Commission in meiner Anstalt denken und die Folgen davon ins Auge fassen zu wollen. Die Folgen!« wiederholte der Doctor, indem er sich ernst erhob und seinen Hut nahm, als wolle er das Zimmer verlassen.

»Haben Sie mir nichts weiter zu sagen?« fragte Miß Gwilt.

»Haben Sie Ihrerseits einige Bemerkungen zu machen?« erwiderte der Doctor.

Den Hut in der Hand stand er wartend da. Eine volle Minute sahen sich beide schweigend an.

Miß Gwilt nahm zuerst wieder das Wort.

»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie, mit einem Male ihre Fassung wiedergewinnend.

»Verzeihen Sie gefälligst«, entgegnete der Doctor, die Hand ans Ohr legend. »Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sollten Sie zufällig heute Morgen wieder eine Fliege fangen«, sagte Miß Gwilt ihren Worten einen bitter-sarkastischen Nachdruck gebend, »so wäre ich vielleicht im Stande, Sie wieder durch einen kleinen Scherz in Schrecken zu jagen.«

Höflich protestierend hielt der Doctor beide Hände empor und sah aus, als wollte sich seine gute Laune wieder einstellen.

»Es ist grausam«, murmelte er sanft, »daß Sie mir selbst jetzt noch nicht meinen unseligen Mißgriff vergeben haben!«

»Was haben Sie mir sonst noch zu sagen?« sprach Miß Gwilt »Ich wartete darauf.« Mit höhnischer Miene drehte sie ihren Stuhl nach dem Fenster um und nahm, während sie sprach, ihre Arbeit wieder auf.

Der Doktor stellte sich hinter sie und legte seine Hand auf die Lehne ihres Stuhls.

»Zuerst möchte ich eine Frage an Sie richten«, sagte er, »und sodann eine nothwendige Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Wenn Sie mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren wollen, stelle ich jetzt zuvörderst meine Frage.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Sie wissen, daß Mr. Armadale noch am Leben ist, und wissen auch, daß er nach England zurückkehrt. Warum tragen Sie nach wie vor Ihre Witwenkleidung?«

Ohne einen Augenblick zu zögern, antwortete sie ihm, emsig fort nähend:

»Weil ich wie Sie sanguinischen Temperaments bin; ich denke mich bis zuletzt auf das Kapitel der Zufälligkeiten zu verlassen. Mr. Armadale kann ja noch auf seinem Heimwege sterben.«

»Gesetzt aber, er kommt lebendig nach Hause, was dann?«

»Dann bleibt immer noch eine andere Chance übrig.«

»Bitte, was für eine?«

»Er kann in Ihrem Sanatorium sterben.«

»Madame!« remonstrirte der Doctor in dem tiefen Baß, den er für seine Ausbrüche tugendhafter Entrüstung aufzusparen pflegte. »Halt! Sie haben vom Kapitel der Zufälligkeiten gesprochen«, ging er weiter, in seinen sanfteren Conversationston zurückfallend. »Ja, ja! Natürlich! Diesmal Verstehe ich Sie. Selbst die Heilkunst ist von Zufälligkeiten abhängig, selbst solch ein Sanatorium wie das meinige kann vom Tode überrascht werden. Ganz richtig, ganz richtig!« sagte der Doctor, in höchster Unparteilichkeit diese Concession machend. »Es gibt ein Kapitel der Zufälligkeiten, ich räume das ein, wenn Sie sich darauf verlassen wollen. Geben Sie Acht! Ich sage ausdrücklich, wenn Sie sich darauf verlassen wollen.«

Abermals trat ein Moment des Schweigens ein, eines so tiefen Schweigens, daß im ganzen Zimmer kein Laut zu vernehmen war, als der Ton, welchen Miß Gwilt’s Nadel hervorbrachte, wenn sie den Faden durch die Leinwand zog.

»Fahren Sie fort«, sprach endlich Miß Gwilt. »Sie sind noch nicht fertig.«

»Allerdings«, sagte der Doktor. »Nachdem ich meine Frage gestellt, muß ich Ihnen jetzt meine Vorsichtsmaßregel vorschlagen. Daß ich meinerseits nicht gesonnen bin, mich auf das Kapitel von den Zufälligkeiten zu verlassen, werden Sie daraus ersehen. Ich habe mir überlegt, daß Sie und ich, räumlich gesprochen, für eine Eventualität nicht so passend situirt sind, als es der Fall sein sollte. Vor der Hand sind in dieser indeß rasch aufblühenden Gegend Droschken noch eine Seltenheit; ich habe zwanzig Minuten zu Ihnen, Sie haben zwanzig Minuten zu mir zu gehen. Wie Sie wissen, kenne ich meinerseits Mr. Armadale’s Charakter nicht; es kann daher die Notwendigkeit, die sehr dringende Nothwendigkeit eintreten, einmal rasch an Ihre genauere Kenntniß desselben zu appellieren. »Wie aber soll ich das bewerkstelligen, wenn wir uns nicht immer, unter einem und demselben Dache, erreichen können? In unserm beiderseitigen Interesse erlaube ich mir deshalb, meine verehrte Dame, die Bitte, daß Sie auf eine gewisse Zeit eine Insassin meines Sanatoriums werden möchten.«

Miß Gwilt’s behende Nadel kam plötzlich zum Stillstand. »Ich verstehe Sie«, sagte sie, wieder so ruhig wie zuvor.

»Entschuldigen Sie«, entgegnete der Doctor, der in einem neuen jähen Anfall von Taubheit abermals die Hand vor das Ohr hielt.

Sie lachte vor sich hin —— ein entsetzliches heimliches Lachen, das selbst den Doctor erschreckte, sodaß er schnell die Hand vom Ohre wegnahm.

»Eine Insassin Ihres Sanatoriums?« wiederholte sie. »Sie nehmen doch sonst in allen Stücken auf den Anstand Rücksicht und suchen den Schein zu wahren —— meinen Sie dies zu thun, wenn Sie mich in Ihr Haus aufnehmen?«

»Ganz gewiß!« versetzte der Doctor enthusiastisch. »Ich bin erstaunt, daß Sie nur so fragen können! Haben Sie je einen bedeutenden Mann meines Berufs gekannt, der dem äußern Schein ins Gesicht schlug? Wenn Sie mir die Ehre erzeigen, meiner Aufforderung Folge zu leisten, so werden Sie mein Sanatorium in dem Charakter beziehen, der von allen am wenigsten bemäkelt werden kann —— als Patientin.«

»Wann wünschen Sie meine Antwort zu erhalten?«

»Können Sie sich heute noch entschließen?«

»Nein!«

»Morgen?«

»Ja. —— Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«

»Nichts mehr.«

»So verlassen Sie mich also. Ich kümmere mich nicht um den Schein. Ich will allein sein und sage dies. Guten Morgen!«

»Ach, das Geschlecht, das Geschlecht!« rief der Doctor in wieder vollkommen guter Laune aus. »So entzückend impulsiv, so entzückend ohne Rücksicht auf das, was die Leute sagen und wie sie es sagen! Ja, ja! Guten Morgen!«

Als die Hausthür sich hinter ihm geschlossen hatte, trat sie ans Fenster und sah ihm voll Verachtung nach.

»Zuerst ist’s Armadale selbst gewesen«, sagte sie, »der mich dazu getrieben hat. Dann war’s Manuel. Du feiger Schurke da unten, sollst du mich zum dritten und letzten Male dazu treiben?«

Sie wandte sich vom Fenster ab und betrachtete sich ihre Wittwenkleidung gedankenvoll im Spiegel.

Die Stunden des Tages vergingen, und sie konnte sich zu nichts entschließen. Die Nacht kam heran, und sie schwankte noch immer. Der neue Morgen dämnrerte, und die fürchterliche Frage war noch ungelöst.

Da brachte die Morgenpost ihr einen Brief. Es war Mr. Bashwood’s gewöhnlicher Bericht. Wieder und wieder hatte er vergeblich aus Allan’s Ankunft gewartet.

»Ich will länger Zeit haben«, rief sie leidenschaftlich. »Kein Mensch auf der Welt soll mich mehr drängen, als ich will!«

Beim Frühstück, am Morgen des neunten, wurde der Doctor von einem Besuche Miß Gwilt’s überrascht.

»Ich muß noch einen Tag Frist halten«, sagte sie, sobald der Diener hinter ihr die Thür zugemacht hatte.

Der Doctor sah sie an, bevor er antwortete, und las auf ihrem Gesichte wie gefährlich es war, sie zum Aeußersten zu treiben.

»Die Zeit verstreicht«, remonstrirte er so überredend wie möglich. »Mr. Armadale kann trotz alledem heute Abend hier sein«

»Ich muß noch einen Tag Frist haben!« wiederholte sie laut und leidenschaftlich.

»Zugestanden!« sagte der Doctor und blickte ängstlich nach der Thür »Sprechen Sie nicht zu laut, meine Leute könnten es hören. Merken Sie sich«, setzte er hinzu, »ich verlasse mich auf Ihre Ehre, daß Sie mich morgen nicht um einen ferneren Aufschub drängen!«

»Sie sollten sich lieber aus meine Verzweiflung verlassen!« sprach sie und ging.

Der Doctor blätterte die Schale von seinem Ei ab und lächelte.

»Recht so, meine Beste!« dachte er. »Ich weiß noch, wohin Sie in früheren Zeiten Ihre Verzweiflung geführt hat, und ich glaube sicher zu sein, sie führt Sie denselben Weg auch jetzt.«

Am nämlichen Abende dreiviertel auf acht Uhr nahm Mr. Bashwood wie gewöhnlich seinen Beobachtungsposten auf dem Bahnhofe von London-Bridge ein.

Er war in heiterster Stimmung; er lächelte und schmunzelte vor unwiderstehlicher Lust. Das Bewußtsein, daß er vermöge seiner Kenntniß von Miß Gwilt’s früherer Laufbahn ein Mittel in Reserve hatte, seinen Einfluß bei ihr geltend zu machen, trug keine Schuld an der Veränderung, die jetzt sichtlich mit ihm vorgegangen war. In seinem einsamen Leben in Thorpe-Ambrose hatte es seinen Muth aufrecht erhalten und ihm die größere Sicherheit in seinem Wesen gegeben, welche selbst Miß Gwilt bemerkt hatte; von dem Augenblicke aber, wo er seinen alten Platz in ihrer Gunst wieder gewann, war ihm die Ueberzeugung seiner Macht durch die elektrische Gewalt ihrer Berührung und ihres Blicks ganz entschwunden. Seine Eitelkeit —— eine Eitelkeit, die bei Männern seines Alters nur versteckte Verzweiflung ist —— hatte ihn jetzt von neuem bis in den siebenten Himmel thörichter Glückseligkeit erhoben. Er glaubte wieder an sie, wie er an den flotten neuen Winterpaletot glaubte, den er trug, wie an das zierliche Stöckchen, welches er in seiner Hand schwang Er summte vor sich hin! Das abgelebte alte Geschöpf, das seit seinen Kindertagen nicht mehr gesungen hatte, summte, während es den Perron hinab schritt, die wenigen Brocken vor sich hin, deren es sich von einem abgenutzten alten Liede noch entsinnen konnte.

Der Zug mußte heute schon um acht Uhr eintreffen. Fünf Minuten nach dem Glockenschlage pfiff die Locomotive; noch fünf Minuten, und die Passagiere stiegen aus den Coupés.

Den ihm ertheilten Verhaltungsmaßregeln getreu, schritt Mr. Bashwood, so schnell es ihm die Menschenmenge erlaubte, an der Wagenreihe hin, und da er auf die erste Prüfung hin kein bekanntes Gesicht entdeckte, so gesellte er sich zu weiterer Forschung zu den im Wartesaale des Zollhauses auf ihre Abfertigung harrenden Reisenden.

Er hatte sich rings im Saale umgesehen und abermals überzeugt, daß ihm sämtliche der hier versammelten Personen fremd waren, als er hinter sich eine Stimme vernahm, welche ausrief: »Ist das nicht Mr. Bashwood?«

In gespannter Erwartung drehte er sich um und fand sich dem Manne gegenüber, den er hier zu treffen am allerwenigsten erwartet hatte.

Es war Midwinter.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Midwinter, dem Bashwood’s Verlegenheit nicht entging, wie er sofort die Veränderung in dessen äußerer Erscheinung bemerkt hatte, sprach zuerst.

»Ich sehe, ich habe Sie überrascht«, sagte er. »Sie haben sich wohl nach Jemand anders umgesehen? Haben Sie Nachricht von Allan? Ist er schon auf dem Heimwege?«

Die Frage nach Allan, die doch in diesem Augenblicke bei Midwinters Beziehungen zu jenem so ganz natürlich war, trug nur zur Erhöhung von Bashwood’s Verlegenheit bei. Da er nicht wußte, wie er sich aus dieser kritischen Stellung ziehen sollte, nahm er einfach seine Zuflucht zum Leugnen.

»Ich weiß nichts von Mr. Armadale, ach Gott, Sir, nein, ich weiß gar nichts von ihm«, antwortete er ohne Noth hastig und eifrig. »Willkommen in England, Sir«, fuhr er fort, in seiner ängstlichen, geschwätzigen Manier zu einem andern Thema überspringend. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie im Auslande waren. Es ist so lange, daß wir das Vergnügen —— daß ich das Vergnügen gehabt habe. Hat es Ihnen auf dem Continente gefallen, Sir? Ach, so von den unsern verschiedene Sitten, so verschieden, ja, ja, ja, so ganz verschieden! Werden Sie jetzt wieder lange in England bleiben?«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete Midwinter. »Ich habe» meine eigentlichen Pläne aufgeben und ganz unerwartet nach England kommen müssen.« Er hielt inne und fügte dann leiser hinzu: »Eine ernstliche Sorge hat mich hierher geführt; ehe ich von dieser Sorge nicht befreit bin, weiß ich nicht, was ich vornehmen werde.

Das Licht einer Gaslaterne fiel bei diesen Worten auf sein Gesicht, und erst jetzt bemerkte Mr. Bashwood, daß Midwinter höchst angegriffen und überhaupt traurig verändert aussah.

»Das thut mir leid, Sir, sehr, sehr leid. Könnte ich Ihnen vielleicht irgendwie von Nutzen sein ——« brachte Bashwood vor, theils einigermaßen unter dem Einflusse seiner ängstlichen Höflichkeit, theils in Erinnerung an das, was in früheren Tagen Midwinter für ihn in Thorpe-Ambrose gethan hatte.

Midwinter dankte ihm und wandte sich wehmüthig ab. »Leider werden Sie mir kaum etwas helfen können, Mr. Bashwood, nichtsdestoweniger aber bin ich Ihnen für Ihr Anerbieten sehr verbunden.« Er schwieg und sann eine Weile nach. »Wenn sie nun nicht krank wäre? Wenn ihr anderes Unheil zugestoßen sein sollte?« sprach er zu sich selbst und kehrte sein Gesicht wieder dem Verwalter zu. »Hat sie ihre Mutter verlassen, dann dürfte ihre Spur wohl zu finden sein, wenn man sich in Thorpe-Ambrose erkundigte.«

Augenblicklich war Bashwood’s Neugier erweckt. Um Miß Gwilt’s Willen interessierte ihn jetzt das ganze weibliche Geschlecht.

»Eine Dame, Sir?« fragte er. »Sehen Sie sich nach einer Dame um?«

»Nach meiner Frau«, antwortete Midwinter einfach.

»Sie sind verheirathet, Sir?« rief Bashwood aus. »Verheirathet, seitdem ich zum letzten Male das Vergnügen hatte, Sie zu sehen? Darf ich mir die Freiheit nehmen zu fragen ——«

Unbehaglich schlug Midwinter die Augen nieder.

»Sie haben die Dame vordem gekannt«, sagte er; »ich habe Miß Gwilt geheirathet.«

Der Intendant fuhr zurück, wie er vor einer auf seinen Kopf gerichteten geladenen Pistole zurückgefahren sein würde. Seine Augen stierten, als hätte er plötzlich den Verstand verloren, und das nervöse Zittern, dem er unterworfen war, durchbebte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.

»Was haben Sie?« fragte Midwinter. Keine Antwort erfolgte.

»Was liegt denn so Erschreckliches darin«, fuhr er etwas ungeduldig fort, »daß Miß Gwilt meine Frau ist?«

»Ihre Frau?« wiederholte Bashwood verblüfft. »Mrs. Armadale!« Mit einer gewaltsamen Anstrengung hielt er sich im Zaume und sagte nichts weiter.

War der Verwalter starr vor Erstaunen gewesen, so war es jetzt Midwinter nicht weniger, wie sich auf seinem Gesichte deutlich ausprägte. Der Name, unter welchem er seine Frau heimlich geheirathet hatte, war über die Lippen des Mannes gegangen, dem er zuletzt von allen Menschen in der Welt sein Geheimniß anvertraut haben würde! Er nahm Mr. Bashwood beim Arme und führte ihn nach einer minder belebten Gegend des großen Bahnhofs, als die war, wo sie bisher mit einander gesprochen hatten.

»Sie haben so eben meine Frau erwähnt und im selben Athem von Mrs. Armadale gesprochen«, sagte er. »Was meinten Sie damit?«

Wiederum keine Antwort. Ganz unfähig, mehr zu begreifen, als daß er sich in eine ernste Verwickelung hineingezogen sah, die ihm ein vollständiges Geheimniß war, suchte sich Mr. Bashwood von dem Griffe loszumachen, der seinen Arm festhielt, allein umsonst.

Streng wiederholte Midwinter seine Frage. »Ich frage Sie noch einmal«, sprach er, »was wollten Sie damit sagen?«

»Nichts, Sir! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich habe nichts damit gemeint!« Er fühlte, wie die Hand seinen Arm fester packte, er sah, selbst im Dunkel des abgelegenen Winkels, in dem sie standen, daß Midwinter’s Jähzorn aufzulodern begann und nicht mit ihm zu spaßen war. Die Gefahr, die ihm drohte, gab ihm das einzige Mittel in die Hand, welches ein feiger Mensch bereit zu haben pflegt, wenn er sich gezwungen sieht, einer plötzlichen Bedrängniß die Spitze zu bieten, die Lüge. »Ich wollte nur sagen«, stotterte er heraus und strengte sich in Verzweiflung an, Blick und Rede den Anstrich der Vertraulichkeit zu geben, »daß Mr. Armadale überrascht sein würde ——«

»Sie sagten Mrs. Armadale!«

»Nein, Sir, auf mein Ehrenwort, auf mein heiliges Ehrenwort, Sie irren sich; wahrhaftig, Sie irren sich! Ich sagte Mr. Armadale. Wie hätte ich denn auch anders sagen können? Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen; ich bin pressiert; ich versichere Ihnen, ganz entsetzlich pressiert!«

Midwinter hielt ihn noch einen Augenblick fest und entschloß sich in diesem Augenblick, was er zu zu thun habe.

Wie es sich in der That verhielt, hatte er angegeben, daß Sorge um seine Frau das Motiv gewesen, welches ihn zur Rückreise nach England veranlaßt, eine Sorge, die ihm natürlich hatte kommen müssen, weil er auf einmal länger als eine Woche ohne Nachricht von ihr geblieben war, nachdem sie ihm vorher jeden zweiten oder dritten Tag geschrieben hatte. Der erste unbestimmt-schreckliche Argwohn, daß ihr Schweigen einen andern Grund haben könne als Unfall oder Krankheit, hatte ihn plötzlich mit eisiger Kälte durchschauert, sowie er hörte, daß Bashwood den Namen Mrs. Armadale mit dem Gedanken an seine Frau in Verbindung brachte. Kleine Unregelmäßigkeiten in ihren Briefen, die ihm bis dahin nur eigenthümlich erschienen waren, fielen ihm jetzt wieder ein und dünkten ihm ebenfalls verdächtig. Bis jetzt hatte er den Gründen Glauben geschenkt, die sie ihm angab, als sie ihn ersuchte, seine Briefe an ein gewisses Postbureau zu adressieren, ohne ihm eine bestimmte Wohnung zu nennen. Nunmehr dünkten ihm auch diese Gründe nichts als bloßer Vorwand zu sein. Bis jetzt war er willens gewesen, bei seiner Ankunft in London blos an dem einzigen Orte nach ihr zu forschen, der ihm einen Faden zu ihrer Auffindung darbot, in dem Hause, das sie ihm als die Wohnung ihrer Mutter bezeichnet hatte. Nunmehr beschloß er, aus einem Motiv, das er sich selbst nicht weiter zu erklären wagte, das aber jede andere Erwägung seines Geistes überwand, vor allen Dingen das Räthsel zu lösen, wie Bashwood in ein Geheimniß hatte eingeweiht werden können, das ein eheliches Geheimniß zwischen ihm und seiner Frau war. An einen Mann von Bashwood’s Art und Weise und Bashwoods gegenwärtiger Gemüthsverfassung sich deshalb direct zu wenden, wäre offenbar ein fruchtloses unternehmen gewesen. So war denn Midwinter die Waffe der Täuschung buchstäblich in die Hand gezwungen worden. Er ließ Bashwood’s Arm los und acceptirte dessen Erklärung.

»Verzeihen Sie«, sagte er; »ich zweifle nicht mehr, daß ich falsch gehört habe. Bitte, schreiben Sie meine Heftigkeit meiner großen Sorge und Erschöpfung zu. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Der Bahnhof war mittlerweile fast ganz leer geworden, die mit dem Zuge gekommenen Passagiere waren alle im Wartesaale des Zollhauses bei der Revision ihres Gepäcks versammelt. Es war mithin nichts Leichtes, ostensibel sich von Bashwood zu verabschieden und in Wahrheit ihn doch im Auge zu behalten. Allein Midwinter’s frühere Zigeunerexistenz hatte ihn mit dergleichen Kriegslisten vertraut gemacht, wie er sie jetzt in Anwendung bringen mußte. An der Reihe der leeren Waggons hinab schreitend, öffnete er die Thür von einem derselben, als wolle er nach einem darin zurückgelassenen Gegenstande sehen, und entdeckte, wie Bashwood der Droschkenlinie zueilte, die auf der andern Seite des Perrons aufgestellt war. Im Nu war auch Midwinter hindurch und um die lange Wagenreihe herum, sodaß er vom Perron aus nicht gesehen werden konnte. Im Augenblick, wo Bashwood in die erste Droschke durch den rechten Wagenschlag stieg, glitt Midwinter rasch in die zweite Droschke durch den linken. »Doppelte Taxe«, sagte er dem Kutscher, »wenn Sie den Wagen vor uns nicht aus dem Gesichte verlieren und ihm folgen, wohin er auch fährt. Eine Minute später befanden sich beide Droschken bereits auf ihrer Tour aus dem Bahnhofe hinaus.

Im Wachhäuschen am Thor saß der Beamte und notierte die Bestimmungsorte der vorüberrollenden Wagen. Midwinter hörte, daß sein Kutscher »Hampstead!« rief, als er am Fenster des Beamten vorbeikam.

»Warum nannten Sie Humpstead?« fragte er, als sie sich außerhalb des Bahnhofs befanden.

»Weil der Mann vor mir Hampstead genannt hat, Sir«, antwortete der Kutscher.

Immer und immer wieder auf ihrem langen Wege nach der nordwestlichen Vorstadt fragte Midwinter, ob das Cab noch in Sicht sei. Wieder und immer wieder antwortete der Mann: »Gerade vor uns.«

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als der Kutscher endlich die Pferde anhielt. Midwinter stieg aus und sah die Droschke vor ihnen vor einer Hausthür warten. Sobald er sich überzeugt hatte, daß der andere Kutscher wirklich der von Bashwood genommene war, zahlte er die versprochene Belohnung und entließ seine eigene Droschke.

Ein paarmal ging er vor dem Hause auf und nieder. Der unbestimmte fürchterliche Verdacht, der auf dem Bahnhofe in ihm aufgestiegen war, hatte inzwischen eine feste Gestalt angenommen, vor der er sich entsetzte Ohne den Schatten eines plausiblen Grundes zu haben, mußte er an der Treue seiner Frau blind zweifeln und ebenso blind argwöhnen, daß Bashwood dabei die Rolle des Unterhändlers spiele. In purem Schrecken vor seiner krankhaften Einbildung beschloß er sich die Nummer des Hauses und den Namen der Straße zu notieren, in welcher er sich eben befand, und dann, um seiner Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sofort sich nach der Wohnung zu verfügen, die sie ihm als die Adresse ihrer Mutter angegeben hatte. Er hatte sein Notizbuch aus der Tasche genommen und ging der Straßenecke zu, als er den Kutscher bemerkte, der Bashwood gefahren hatte, wie derselbe ihn mit einem Ausdruck von forschender Ueberraschung ansah. Sofort kam ihm der Gedanke, die Gelegenheit zu benutzen und den Droschkenkutscher auszufragen. Er zog eine halbe Krone aus seinem Portemonnaie und gab sie dem Mann, der bereitwillig seine Hand ausstreckte.

»Ist der Herr, den Sie von der Bahn gefahren haben, in das Haus dort gegangen?« fragte er.

»Ja, Sir.«

»Haben Sie ihn nach Jemand fragen hören, als die Thür aufgemacht wurde?«

»Er fragte nach einer Dame, Sir. Mrs. ——« Der Mann überlegte. »Es war kein gewöhnlicher Name; ich würde ihn gleich wiedererkennen, wenn er mir genannt würde.«

»War es Midwinter?«

»Nein, Sir.«

»Armadale?«

»Richtig, der war’s. Mrs. Armadale.«

»Sie sind sicher, daß es Mrs. und nicht Mr. war?«

»So sicher, wie ein Mann sein kann, der nicht besonders darauf Acht gegeben hat.«

Der Zweifel, welcher in dieser letzten Antwort lag, bestimmte Midwinter, die Sache auf der Stelle ins Klare zu bringen. Er stieg die Stufen vor dem Hause hinan. Als er die Hand erhob, um die neben der Thür angebrachte Klingel zu ziehen, überwältigte ihn momentan seine heftige Aufregung; ein eigenthümliches Gefühl, als springe etwas von seinem Herzen nach seinem Kopfe, machte ihn schwindeln. Er mußte sich am Treppengeländer festhalten und, das Gesicht der frischen Abendluft preisgebend, warten, bis der Anfall vorüber war. Dann erst schellte er.

»Ist« ——« er wollte nach Mrs. Armadale fragen, als ihm das Dienstmädchen die Thür geöffnet hatte, aber er brachte den Namen trotz aller Anstrengung nicht über die Lippen — »ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er.

»Ja, Sir.«

Das Mädchen wies nach einem Hinterzimmer und führte ihn zu einer alten Dame mit verbindlichen Manieren und einem hellen Augenpaar.

»Das ist ein Mißverständniß«, sagte Midwinterr. »Ich wollte zu ——« Noch einmal versuchte er den Namen auszusprechen, und nochmals war er außer Stande, ihn über seine Lippen zu bringen.

»Mrs. Armadale?« half ihm die alte Dame lächelnd ein.

»Ja.«

»Führe den Herrn hinauf, Jenny.«

Das Mädchen ging mit ihm ins erste Stock.

»Soll ich einen Namen melden?«

»Nein, keinen Namen.«

Mr. Bashwood war eben erst mit seinem Rapport über das auf dem Bahnhofe Vorgefallene fertig, seine stolze Gebieterin saß noch sprachlos da von dem Schlag, der sie plötzlich getroffen hatte, als sich die Thür des Zimmers aufthat und ohne ein Wort vorheriger Meldung Midwinter auf der Schwelle erschien. Er that einen Schritt in das Gemach hinein und schloß mechanisch hinter sich die Thür. In tiefstem Schweigen stand er da und seinem Weibe gegenüber, es vom Kopf bis zu den Füßen mit einem forschenden Blicke ansehend, der fürchterlich war in seiner unnatürlichen Selbstbeherrschung.

In tiefstem Schweigen erhob sie ihrerseits sich von ihrem Stuhle. In tiefstem Schweigen stand sie hoch aufgerichtet auf dem Kaminteppich ihrem Gatten in Wittwenkleidung gegenüber.

Er trat einen Schritt näher zu ihr heran, blieb dann aber stehen und zeigte mit seinem magern braunen Finger auf ihre Kleidung.

»Was soll das bedeuten?« fragten, ohne seine fürchterliche Selbstbeherrschung zu verlieren und ohne seine ausgestreckte Hand zu bewegen.

Bei dem Klange seiner Stimme hörte das rasche Wogen ihres Busens, welches bis jetzt das einzige äußere Zeichen der sie quälenden Todesangst gewesen war, mit einem Male auf. In undurchdringlichem Schweigen, athemlos stand sie da, als hätte seine Frage ihr den Todesstoß versetzt und seine zeigende Hand sie versteinert.

Er trat noch einen Schritt näher und wiederholte seine Worte noch leiser und gelassener als vorher.

Noch ein Augenblick des Schweigens, noch ein Augenblick der Unbeweglichkeit, und sie wäre vielleicht gerettet gewesen. Aber ihre verhängnißvolle Charakterstärke trug schließlich über die Katastrophe ihres und seines Geschicks den Sieg davon. Bleich und ruhig, hager und alt, begegnete sie der entsetzlichen Krisis mit einem furchtbaren Muthe und sprach die unwiderruflichen Worte, welche ihm ins Gesicht hinein ihn verleugneten.

»Mr. Midwinter«, sagte sie in unnatürlich hartem und unnatürlich scharfem Tone, »Unsere Bekanntschaft berechtigt Sie schwerlich solchergestalt zu mir zu sprechen.« Das waren ihre Worte, die sie sprach, ohne ihre Augen, die starr auf den Boden geheftet waren, zu ihm zu erheben. Als sie ihre Antwort gegeben hatte, schwand auch der letzte Schein von Farbe aus ihrem Gesichte.

Eine Pause trat ein. Noch immer unverwandt sie ansehend, suchte Midwinter sich in seinem Geiste die Sprache zurecht zu legen, welcher sie sich gegen ihn bedient hatte. »Sie nennt mich Mr. Midwinter«, flüsterte er langsam. »Sie spricht von unserer Bekanntschaft.« Er hielt inne und sah sich rings im Zimmer um. Jetzt erst bemerkten seine umherschweifenden Augen Mr. Bashwood; er gewahrte, daß der Verwalter am Kamine stand und ihn zitternd ansah.

»Ich habe Ihnen früher einmal einen Dienst geleistet«, sagte er, »und Sie haben mir damals gesagt, sie seien kein undankbarer Mensch. Sind Sie so dankbar, daß Sie mir antworten wollen, wenn ich Sie etwas frage?«

Er hielt wieder etwas inne. Bashwood stand noch immer zitternd am Kamine und fixierte ihn schweigend.

»Ich bemerke«, fuhr Midwinter fort, »daß Sie mich ansehen. »Ist etwa eine Veränderung mit mir vorgegangen, von der ich selbst nichts weiß? Sehe ich vielleicht Dinge, die Sie nicht sehen? Höre ich Worte, welche Sie nicht hören? Sehe ich aus oder spreche ich wie ein Mann, der von Sinnen gekommen ist?«

Wiederum hielt er inne und wiederum brach Niemand das Schweigen. Seine Augen begannen zu funkeln und das wildheiße Blut, das er von seiner Mutter geerbt hatte, stieg ihm langsam und dunkel in die aschfarbenen Wangen.

»Ist das Weib da«, fragte er, »dasselbe, welches Sie einst als Miß Gwilt gekannt haben?«

Noch einmal nahm seine Frau ihren verhängnißvollen Muth zusammen, noch einmal sprach sie ihre verhängnißvollen Worte.

»Sie zwingen mich, Ihnen zu wiederholen«, sagte sie, »daß Sie unsere Bekanntschaft zur Anmaßung verleitet und daß Sie vergessen, was Sie mir schuldig sind!«

Mit einer wilden Wuth, die Bashwood’s Lippen einen Angstschrei entlockte, drehte er sich nach ihr um.

»Bist Du mein Weib oder bist Du es nicht?« fragte er, die Zähne zusammenbeißend.

Zum ersten Male richtete sie ihre Augen auf ihn. Die ganze Hölle der eigenen Verzweiflung ihrer verlorenen Seele sprach aus dem trotzigen Blick, mit dem sie ihn fest ansah.

»Ich bin nicht Ihr Weib«, sprach sie.

Er taumelte zurück, während seine Hand wie die eines im Dunkeln tappenden Menschen nach etwas tastete, woran er sich halten könne. Schwer lehnte er sich endlich an die Wand des Zimmers und starrte das Weib an, das an feinem Herzen geruht und ihn jetzt ins Gesicht hinein verleugnet hatte.

Von Entsetzen getroffen schlüpfte Bashwood an ihre Seite. »Gehen Sie da hinein!« flüsterte er, indem er sie an die Flügelthür zu ziehen suchte, die ins anstoßende Zimmer führte. »Um Gotteswillen machen Sie schnell! Er bringt Sie sonst um!l«

Sie stieß den alten Mann mit. ihrer Hand zurück, sah ihn an mit plötzlich aufleuchtendem Gesicht und antwortete ihm mit Lippen, um die sich langsam ein fürchterliches Lächeln legte.

»Lassen Sie ihn mich umbringen!« sagte sie.

Als diese Worte über ihre Lippen kamen, stürzte Midwinter mit einem Schrei, der durch das Haus gellte, von der Wand aus sie zu. Die Wuth eines Wahnsinnigen flammte aus seinen gläsernen Augen und griff nach ihr mit seinen drohenden Händen. Bis auf Armeslänge kam er an sie heran, dann blieb er plötzlich stehen und das dunkle Roth erstarb aus seinem Gesichte Seine Augenlider senkten sich, seine ausgestreckten Hände zitterten und fielen hilflos herab. Er fiel um wie eine Leiche und lag wie ein Todter in den Armen des Weibes, welches ihn verleugnet hatte.

Sie kniete aus den Teppich nieder, legte seinen Kopf auf ihre Kniee und umklammerte den Arm Bashwood’s, der zu ihrer Hilfe herbeigeeilt war, fest wie eine Schraube. »Gehen Sie zum Doctor«, sagte sie, »und halten Sie die Leute im Hause fern, bis er kommt.« Aus ihren Augen und aus ihrer Stimme sprach etwas, das Jedem gerathen haben würde, ihr stillschweigend zu gehorchen. Stillschweigend gehorchte Bashwood und eilte aus dem Zimmer.

Im Augenblicke, wo sie allein war, hob sie Midwinter von ihren Knieen in die Höhe. Mit beiden Armen ihn umfangend, legte die unglückliche sein lebloses Gesicht an das ihre und wiegte ihn an ihrem Busen in einem Uebermaß von schmerzlicher Liebe, für welche es keine erleichternden Thränen gab, in einer leidenschaftlichen Reue, die sich mit Worten nicht schildern läßt. Schweigend hielt sie ihn an ihrer Brust, schweigend bedeckte sie seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen mit Küssen. Kein Laut entschlüpfte ihr, bis sie draußen hastige Schritte die Treppe herauskommen hörte. Dann entrang sich ein leiser Jammerschrei ihrem Munde, als sie ihn zum letzten Male ansah und seinen Kopf wieder auf ihre Kniee legte, ehe die Fremden eintraten.

Zuerst kamen die Hauswirthin und Bashwood; der Arzt, ein in derselben Straße wohnender Chirurg, folgte ihnen auf dem Fuße. Der Schrecken und die Schönheit ihres Gesichts, als sie aufblickte, nahmen ihn für den Augenblick so ausschließlich in Anspruch, daß er erstaunt stehen blieb. Sie mußte ihn erst heranwinken und ihm den Bewußtlosen zeigen, ehe sich seine Aufmerksamkeit von ihr ab und dem Kranken zuwandte.

»Ist er todt?« fragte sie.

Der Wundarzt schaffte Midwinter auf das Sopha und ließ die Fenster öffnen. »Es ist eine Ohnmacht«, sprach er, »nichts weiter.«

Bei dieser Antwort verließ sie ihre Kraft zum ersten Male. Sie seufzte tief auf und lehnte sich, eine Stütze suchend, an den Kaminsims. Bashwood war der Einzige, der bemerkte, daß sie vor Erschöpfung umzusinken drohte. Er führte sie nach einem Lehnstuhl ans andere Ende des Zimmers und überließ der Wirthin, dem Arzte die erforderlichen Belebungsmittel darzureichen.

»Wollen Sie hier warten, bis er wieder zu sich kommt?« flüsterte der Verwalter, zitternd nach dem Sopha blickend.

Die Frage weckte sie aus ihrer Betäubung zum Gefühle ihrer Lage, zum Bewußtsein der Nothwendigkeiten, welche diese Lage ihr erbarmungslos auflegte. Mit einem tiefen Seufzer sah sie nach dem Sopha, überlegte einen Augenblick und beantwortete Bashwoods Frage mit einer solchen ihrerseits.

»Ist das Cab noch unten, mit dem Sie vom Bahnhofe gekommen sind?«

»Ja.«

»Fahren Sie sogleich ans Thor des Sanatoriums und warten Sie dort, bis ich selbst komme.«

Mr. Bashwood zögerte. Sie heftete die Augen auf ihn und trieb ihn mit einem einzigen Blicke aus dem Zimmer.

»Der Herr kommt zu sich Madame«, sagte die Wirthin, als Bashwood hinaus war. »Eben hat er wieder geathmet.«

Sie nickte blos, stand aus und überlegte von neuem, blickte zum zweiten Male nach dem Sopha und ging dann durch die Flügelthür in ihr Schlafzimmer.

Bald war die körperliche Wiederherstellung des Kranken gesichert. Vor der Hand blieb jetzt nichts mehr zu thun übrig, als zu warten und ihn allmälig zum Bewußtsein des Geschehenen kommen zu lassen.

»Wo ist sie?« waren die ersten Worte, die er zu dem Arzte und der Wirthin sagte, welche ihn sorglich beobachtete.

Die Wirthin klopfte an die Flügelthür, erhielt aber keine Antwort. Sie ging hinein und fand das Zimmer leer. Auf dem Toilettentische lag ein kleiner Streifen Papier und darauf das Honorar für den Doctor. Das Papier enthielt die nachstehenden, offenbar in großer Eile geschriebenen Zeilen: »Nach dem, was vorgefallen, kann ich heute Nacht unmöglich hier bleiben. Morgen will ich wiederkommen, mein Gepäck zu holen und zu bezahlen, was ich Ihnen schulde.«

»Wo ist sie?« fragte Midwinter wieder, als die Wirthin allein in das Wohnzimmer zurückkam.

»Fort, Sir.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wenn Sie Ihre Handschrift kennen, Sir«, antwortete die alte Dame, einigermaßen über den ihr gemachten Vorwurf der Unwahrheit pikiert, und überreichte ihm den Papierstreifen, »so werden Sie dem da vielleicht glauben.«

Er sah auf das Papier. »Verzeihen Sie«, sagte er, ihr das Billet zurückgebend. »Von ganzem Herzen bitte ich Sie um Verzeihung.«

Es war etwas in seinem Gesicht, als er dies sprach, was die Aufregung der alten Dame mehr als beschwichtigte, ein plötzliches Mitleid mit dem Manne, der sie beleidigt hatte, überkam sie. »Ich fürchte, dem Allem liegt ein entsetzlicher Kummer zu Gründe«, sagte sie einfach. »Haben Sie etwas an die Dame zu bestellen, wenn sie wiederkommt?«

Midwinter erhob sich und stützte sich einen Augenblick auf das Sopha. »Ich will morgen selbst meine Botschaft«bringen«, sagte er; »ehe sie Ihr Haus verläßt, muß ich sie sehen«

Der Arzt begleitete den Patienten bis aus die Straße. »Darf ich Sie nach Hause geleiten?« fragte er freundlich. »Sie thaten besser, nicht zu Fuße zu gehen; es ist so weit. Sie dürfen sich nicht überanstrengen, dürfen sich heute Abend nicht erkälten.«

Midwinter nahm seine Hand und dankte ihm. »Ans Gehen und an kalte Nächte bin ich gewöhnt, Sir«, sagte er, »und ermatte nicht leicht, selbst wenn ich so angegriffen und erschöpft aussehe wie jetzt. Wenn Sie mir den nächsten Weg zeigen wollen, der aus dieser Straße ins Freie führt, denke ich, die Stille des Landes und die Stille der Nacht sollen mir gut thun. Morgen habe ich Schweres zu vollbringen«, setzte er leise hinzu, »und ich glaube, ich kann nicht ruhen noch schlafen, als bis ich darüber ernstlich nachgedacht habe.«

Der Arzt begriff, daß er es mit keinem gewöhnlichen Mann zu thun hatte. Ohne weitere Bemerkungen beschrieb er Midwinter den einzuschlagenden Weg und sagte ihm an seinem Hause gute Nacht.

Wieder allein, blieb Midwinter stehen und blickte schweigend zum Himmel auf. Dieser hatte sich aufgeklärt und die Sterne waren erschienen, die Sterne, die ihn damals zuerst sein Zigeunerherr kennen gelehrt hatte. Zum ersten Male dachte er in wehmüthiger Sehnsucht an seine Knabentage zurück. »Ach das alte liebe Leben!« dachte er schmerzlich. »Heute erst weiß ich, wie glücklich es war!«

Er raffte sich auf und schritt ins Freie hinaus, in die Einsamkeit und Dunkelheit, die jenseits der Straße sich vor ihm öffneten.

»Heute hat sie ihren Gatten verleugnet«, sagte er mit erglühendem Gesicht; »morgen soll sie ihren Herrn kennen lernen.«



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

Die Droschke hielt am Thore, als Mrs. Gwilt sich dem Sanatorium näherte. Bashwood stieg aus und ging ihr entgegen. Sie nahm seinen Arm und führte ihn, damit sie der Kutscher nicht hören konnte, ein paar Schritte abseits.

»Denken Sie von mir, was Sie wollen«, sagte sie, ihren dichten schwarzen Schleier über das Gesicht herabziehend, »aber sprechen Sie heute Abend nicht mit mir. Fahren Sie nach Ihrem Hotel zurück, als wäre nichts passiert. Warten Sie morgen wie gewöhnlich auf den Zug und kommen Sie nachher zu mir ins Sanatorium. Gehen Sie, ohne weiter ein Wort zu sagen, und ich werde glauben, daß es einen Menschen auf der Erde gibt, der mich wirklich liebt. Bleiben Sie und fragen Sie mich, so sage ich Ihnen auf immer Lebewohl!«

Sie zeigte auf das Cab. Eine Minute später war es abgefahren und führte Bashwood nach seinem Gasthofe zurück.

Langsam wandelte sie durch das eiserne Gitterthor dem Hause zu. Ein Schauder durch rieselte sie, als sie die Klinge! zog. Sie lachte bitter. »Wieder schaudern!« sagte sie zu sich selbst. »Wer hätte gedacht, daß noch so viel Empfindung in mir geblieben wäre?«

Einmal in seinem Leben sprach das Gesicht des Doctors die Wahrheit, als sich zwischen zehn und elf Uhr abends die Thür seines Studierzimmers öffnete und Miß Gwilt eintrat.

»Gott erbarme sich!« rief er aus und sah sie mit dem höchsten Erstaunen an; »was hat dies zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten«, antwortete sie, »daß ich mich anstatt morgen früh schon heute Abend entschlossen habe. Sie, der Sie die Frauen so gut kennen, sollten doch wissen, daß sie immer ihren Impulsen folgen; ich bin hier, weil mir’s eben in den Sinn kam. Nehmen Sie oder verlassen Sie mich nun, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Sie nehmen oder verlassen?« wiederholte der «Doctor, seine Geistesgegenwart wiedererlangend. »Meine verehrte Dame, wie furchtbar, dies so auszusprechen! Auf der Stelle soll Ihr Zimmer bereit sein! Wo ist Ihr Gepäck? Soll ich danach schicken? Nein? Sie können sich diese Nacht ohne Ihre Sachen behelfen? Welche bewundernswerthe Bravour! Sie wollen es morgen selbst holen? Was für eine außerordentliche Selbstständigkeit! Setzen Sie Ihren Hut ab und kommen Sie ans Feuer! Was kann ich Ihnen vorsetzen?«

»Setzen Sie mir den stärksten Schlaftrunk vor, den Sie noch je in Ihrem Leben bereitet haben«, entgegnete sie, »und lassen Sie mich allein, bis die Zeit kommt, wo ich ihn nehmen muß. Ich werde in vollem Ernste Ihre Kranke sein«, setzte sie heftig hinzu, als der Doctor ihr erwidern wollte. »Wenn Sie mich heute Abend reizen, so werde ich die Tollste von allen Ihren Tollen sein.«

Augenblicklich wurde der Chef des Sanatoriums berufsmäßig ernst und kurz.

»Setzen Sie sich dort in die dunkle Ecke«, sagte er; »keine Seele soll Sie stören. In einer halben Stunde wird Ihr Zimmer bereit sein und Ihr Schlaftrunk auf dem Tische stehen. « —— Es ist für sie ein härterer Kampf gewesen, als ich geahnt habe!« dachte er, als er aus dem Zimmer ging und über den Vorsaal nach der gegenüberliegenden Hausapotheke schritt. »Gott im Himmel, was hat sie noch mit dem Gewissen zu thun nach einem Leben, wie das ihre gewesen ist!«

Die Apotheke war mit all den neuesten Erfindungen und Verbesserungen von medicinischen Apparaten und Geräthen ausgestattet, eine der Wände indeß war frei von Regalen und hier füllte den leeren Raum ein hübscher alter Schrein von geschnitztem Holze aus, der äußerlich mit dem sonst nur utilitarisch einfach aussehenden Lokale sehr contrastirte. Zu beiden Seiten des Schrankes waren zwei Sprachrohre in die Wand eingelassen, die mit den oberen Räumlichkeiten des Hauses communicirten und mit »Hauslaborant« und »Erste Krankenwärterin« bezeichnet waren. In das zweite dieser Rohre sprach der Doctor hinein, sowie er ins Zimmer getreten war. Eine ältliche Frau erschien, nahm den Befehl zur Instandsetzung von Mrs. Armadale’s Schlafzimmer entgegen und zog sich wieder zurück.

Jetzt schloß der Doctor die mittlere Abtheilung des Schrankes auf, welche eine Reihe von Flaschen enthielt, in denen die in der Medicin gebräuchlichen verschiedenen Gifte aufbewahrt wurden. Nachdem er die für den Schlaftrunk erforderliche Opiumtinctur herausgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, ging er noch einmal an den Schrank, sah sich eine Weile darin um, schüttelte zweifelnd den Kopf und trat dann vor die offenen Regale auf der andern Seite. Hier hob er nach einiger weiteren Ueberlegung eine der großen Flaschen herunter, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, stellte dann die Flasche ebenfalls auf den Tisch und öffnete hierauf ein anderes Fach des Schrankes, in dem sich allerhand böhmische Krystallflaschen befanden. Von ihnen wählte er ein mit Glasstöpsel versehenes hohes und enges rubinrothes Flacon aus. Dies füllte er mit der gelben Flüssigkeit, sodaß in der großen Flasche nur noch ein kleiner Rest blieb, der eben den Boden bedeckte, und schloß es dann wieder in das Fach ein, aus welchem er es herausgenommen hatte. Auch die Flasche selbst stellte er wieder an ihren Platz, nicht ohne jedoch zuvor aus einem daneben stehenden Becken Wasser hineingegossen zu haben, in welches er kleine Quantitäten chemischer Flüssigkeiten tröpfelte, sodaß dem Anschein nach der Inhalt der Flasche noch ganz derselbe war wie zuvor, ehe er diese zum größeren Theil entleert hatte. Endlich waren alle diese Operationen geschehen und der Doktor lachte leise, während er an das zweite Sprachrohr trat, um den Hausapotheker zu citiren.

Mit der gehörigen weißen Schürze angethan erschien dieser. Der Doctor schrieb gravitätisch das Recept zu einem Schlaftrunke und händigte es seinem Assistenten ein.

»Wird unverzüglich gebraucht, Benjamin«, sagte er in sanftem und melancholischem Tone. »Für eine kranke Dame, Mrs. Armadale, Zimmer 21 im zweiten Stock. Ach Bester, Bester«, seufzte er, »ein schlimmer Fall, Benjamin, ein schlimmer Fall!« Er schlug das funkelnagelneue Journal des Etablissements auf und trug den Fall in voller Länge nebst einer kurzen Angabe des Recepts ein. »Sind Sie fertig mit dem Laudanum? Stellen Sie es wieder hinein und schließen Sie den Schrank zu. Den Schlüssel geben Sie mir. Auf den Trank schreiben Sie: »,Vor Bettgehen zu nehmen«, und bringen Sie ihn der ersten Wärterin, Benjamin, der ersten Wärterin, hören Sie?«

Während des Doctors Lippen feierlich diese Instructionen ertheilten, waren seine Hände damit beschäftigt, unter dem Pulte, auf welchem das Journal lag, einen Kasten hervorzuziehen. Hieraus nahm er mehrere buntgedruckte Eintrittskarten »zur Besichtigung des Sanatoriums in den Stunden von zwei bis vier Uhr nachmittags« und füllte darauf das Datum des nächsten Tages »10. December« aus. Als er ein Dutzend solcher Karten in ein Dutzend lithografierter Einladungsschreiben gewickelt und in ein Dutzend Couverts gesteckt hatte, adressierte er die Briefe an ein dutzend Familien der Nachbarschaft, von denen er ein Verzeichniß besaß. Anstatt sich wieder eines der Sprachrohre zu bedienen, schellte er diesmal, um den Diener zu berufen, dem er die Billets zur Besorgung für nächsten Morgen übergab. »So wird’s gehen, denke ich«, sagte der Doctor, nachdem der Bediente sich entfernt hatte; »es wird gehen, denke ich.« Während er noch in seine Betrachtungen versunken war, erschien die erste Wärterin wieder, um zu melden, daß das Schlafzimmer der Dame bereit sei, und darauf begab sich der Doctor wieder in sein Studierzimmer, um Miß Gwilt diese Mittheilung in aller Form zu machen.

Noch immer saß diese auf ihrem alten Platze. Ohne ein Wort zu sagen oder nur ihren Schleier aufzuschlagen, erhob sie sich jetzt aus ihrer dunkeln Ecke und glitt wie ein Geist aus dem Zimmer.

Kurze Zeit darauf kam die erste Wärterin wieder die Treppe herab.

»Die Dame hat mir befohlen«, sagte sie leise, »sie morgen früh um sieben Uhr zu wecken. Sie will ihre Sachen selbst holen und, sobald sie angekleidet ist, eine Droschke haben. Was soll ich thun?«

»Thun Sie, was Ihnen die Dame sagt««, entgegnete der Doctor. »Man kann« sich ruhig darauf verlassen, daß sie sich im Sanatorium wieder einstellt.«

Die Frühstücksstunde der Anstalt war halb neun Uhr. Bis dahin hatte Miß Gwilt in ihrer vormaligen Wohnung Alles in Ordnung gebracht und war mit ihren Habseligkeiten zurückgekehrt. Der Doctor war ganz erstaunt über die Pünklichkeit seiner Patientin.

»Warum strapazieren Sie sich so?« fragte er, als sie sich am Frühstückstische trafen. »Warum sind Sie in solcher Eile, meine liebe Dame, wo Sie doch den ganzen Morgen vor sich hatten?«

»Nichts als Ruhelosigkeit«, gab sie zur Antwort. »Je länger ich lebe, desto ungeduldiger werde ich.«

Der Doctor, der bemerkt hatte, daß ihr Gesicht, ehe sie sprach, merkwürdig bleich und alt aussah, gewahrte, daß auch, als sie ihm antwortete, der sonst in nicht gewöhnlichem Grade bewegliche Ausdruck ihrer Züge von der Anstrengung des Sprechens ganz unberührt blieb. Nichts von dem gewöhnlichen Mienenspiel um ihre Lippen, nichts von dem gewöhnlichen Leben in ihren Augen; noch nie hatte er sie so undurchdringlich, kalt und gesehen gesehen wie jetzt. »Endlich ist sie mit sich im Reinen«, dachte er. »Was ich ihr gestern Abend nicht sagen konnte, heute Morgen kann ich es ihr sagen.«

Ein bedeutungsvoller Blick, auf ihre Wittwentoilette leitete die bevorstehenden Bemerkungen ein. »Jetzt, wo Sie Ihre« Sachen haben«, begann er würdevoll, »hielt ich es, wenn Sie erlauben, für passender, Sie legten die Haube da ab und zögen ein anderes Kleid an.«

»Warum?«

»Entsinnen Sie sich noch dessen«, fragte der Doctor, »was Sie mir vor ein paar Tagen gesagt haben? Sie sagten, es wäre ja möglich, daß Mr. Armadale in meinem Sanatorium stürbe.«

»Wenn Sie wollen, sag’ ich’s noch einmal.«

»Etwas Unwahrscheinlicheres«, fuhr der Doctor fort, wie immer taub gegen alle ihm nicht gelegenen Unterbrechungen, »läßt sich schwerlich vorstellen! Indeß solange es möglich ist, muß man es doch im Auge behalten. Sagen wir also, er stirbt, stirbt plötzlich und unerwartet, sodaß eine Todtenschau hier im Hause nothwendig wird. Was haben wir in einem solchen Falle zu thun? Wir müssen die Rollen fort spielen, die wir übernommen haben, Sie als seine Wittwe und ich als der Zeuge Ihrer Trauung, und in diesen Rollen müssen wir uns dem gründlichsten Verhör unterwerfen. Sollte das ganz und gar Unwahrscheinliche geschehen. daß er stirb, gerade wo wir seinen Tod wünschen und brauchen, so ist meine Idee, ja ich kann sagen, mein Entschluß, einzuräumen, daß wir von seiner Errettung aus dem Meere gewußt, und zu bekennen, daß wir Mr. Bashwood angewiesen haben, ihn durch falsche Nachrichten hinsichtlich Miß Milroy’s in die Anstalt hier zu locken. Wenn dann die unvermeidliche Frage nach dem Warum erfolgt, so meine ich, wir behaupten: er habe schon bald nach Ihrer Verheirathung Symptome von Geistesstörung gezeigt; sein Wahn bestehe darin, daß er diese seine Verheirathung mit Ihnen in Abrede stelle und erkläre, er sei mit Miß Milroy verlobt; Sie seien deshalb so erschrocken, als Sie von seinem Entkommen und seiner Rückkehr nach England gehört, daß Sie sich in einem Zustande von Nervenaufregung befanden, welcher meine Behandlung erfordere; auf Ihr Ersuchen und um Sie zu beruhigen, hätte ich ihn als Arzt besucht und ihn still ins Haus gebracht, dadurch daß ich, was in solchem Falle vollkommen zu rechtfertigen, auf seine fixe Idee eingegangen, und ich könne endlich bescheinigen, daß er von einem jener geheimnißvollen Geistesleiden befallen wäre, die, durchaus unheilbar und höchst verhängnißvoll, für die Medicin noch unergründliche Räthsel seien. Das wäre, bei dem nur sehr entfernt möglichen Ereignisse, das wir vorausgesetzt haben, in Ihrem und meinem Interesse unzweifelhaft das einzig richtige Verfahren und eine Toilette, wie Sie sie jetzt tragen, unter den obwaltenden Umständen, ganz und gar nicht am Platze.«

»Soll ich ie sofort ablegen?« fragte sie und stand, ohne auf das ihr so eben Mitgetheilte die mindeste Antwort zu geben, vom Frühstückstische auf.

»Jedenfalls nur heute vor zwei Uhr nachmittags.«

Sie sah ihn mit matten Blicken an, aus denen etwas wie Neugier sprach, und fragte nur: »Warum vor zwei Uhr?«

»Weil heute einer meiner Besuchstage ist, und die Besuchszeit ist von zwei bis vier Uhr.«

»Was gehen mich ihre Besucher an?«

»Einfach dies. Ich dachte es für wichtig, daß vollkommen respectable und vollkommen unparteiische Zeugen Sie in der Rolle einer Kranken in meiner Anstalt sehen.«

»Ihr Beweggrund scheint mir weit hergeholt. Haben Sie dabei weiter kein Motiv?«

»Meine liebe, liebe Dame«, remonstrirte der Dator, »habe ich denn vor Ihnen Geheimnisse? Sie sollten mich doch wohl besser kennen.«

»Ja«, sagte sie mit dem Tone der Verachtung. »Es ist sehr bornirt von mir, daß ich Sie diesmal nicht verstehe. Lassen Sie mir’s hinauf sagen, wenn Sie mich brauchen.« Damit ging sie auf ihr Zimmer.

Zwei Uhr hatte es geschlagen, und eine Viertelstunde darauf fanden sich die Besucher ein. So kurz vorher auch die Einladung gekommen war, so trostlos auch das Sanatorium von außen sich darstellte, so waren trotzdem die weiblichen Mitglieder der Familien, an welche der Doctor seine Aufforderung gerichtet, zahlreich der Aufforderung gefolgt. In dem jämmerlich einförmigen Leben, das ein großer Theil der Mittelklassen in England führt, ist den Frauen Alles und Jedes willkommen, was ihnen eine harmlose Zuflucht gegen die bestehende Tyrannei des Grundsatzes gewährt, daß alle menschliche Glückseligkeit zu Hause anfange und ende. Während die gebieterischen Anforderungen eines Handelsstaates die Vertreter des stärkeren Geschlechts unter den Besuchern des Doctors auf einen hinfälligen alten Mann und auf einen schläfrigen Knaben beschränkte, hatten nicht weniger als sechzehn Weiber, alte und junge, ledige und verheirathete —— die guten Seelen! —— die goldene Gelegenheit ergriffen, einmal aus dem Hause herauszukommen. Einträchtig verbunden in dem Wunsche, der sie samt und sonders erfüllte, erstens sich gegenseitig und sodann das Sanatorium in Augenschein zu nehmen, strömten sie, eine schön geputzte Procession, sich den leisen Anschein gebend, als sei jede undamenhafte Erregung tief unter ihrer Würde, höchst charakteristisch und höchst bedauerlich anzusehen, durch das Eisenthor des Doctors herein.

In der Halle empfing der Besitzer, Miß Gwilt am Arme, seine Besucher. Als wenn solch ein Wesen gar nicht existiert hätte, sahen die neugierigen Augen sämtlicher Weiber der Gesellschaft über den Doctor hinweg und verschlangen die merkwürdige Dame vom Kopf bis zu den Füßen mit ihren gierigen Blicken.

»Meine erste Kranke«, sagte der Doctor und stellte Miß Gwilt vor. »Die Dame hier ist erst gestern Abend angekommen und benutzt die Gelegenheit —— den ganzen Vormittag habe ich dazu leider keine Zeit gehabt —— sich das Sanatorium mit anzusehen. Erlauben Sie mir, Madame«, sprach er weiter, Miß Gwilt loslassend und der ältesten Dame unter den Anwesenden den Arm bietend. »Nervenerschütterung infolge häuslichen Kummers«, flüsterte er vertraulich. »Eine liebe Frau! Trauriger Fall!« Er seufzte leise und führte die alte Dame durch die Halle.

Die Heerde der Besucher folgte. Miß Gwilt begleitete sie schweigend und ging unter ihnen, doch nicht als zu ihnen gehörend, allein als die letzte von allen.

»Wie Sie bemerkt haben werden, meine Damen und Herren«, redete der Doctor an der Treppe, sich rundherum verneigend, sein Publikum an, »sind die Gartenanlagen noch zum Theil unvollendet. Da wir die Haide von Hampstead so nahe haben und Fahren und Reiten zu meinem Systeme gehören, lege ich auf den Garten keinen so großen Werth. Ebenso brauche ich Ihre Aufmerksamkeit für das Erdgeschoß meines Etablissements, in dem wir uns jetzt befinden, nur wenig in Anspruch zu nehmen. Der Wartesaal und das Arbeitszimmer auf dieser Seite hier und die kleine Apotheke, für die ich mir alsbald Ihr Interesse erbitte, sind fertig, das große Gesellschaftszimmer ist indeß noch in der Ausschmückung begriffen. In demselben, natürlich erst wenn die Wände trocken sind, keinen Augenblick früher, werden sich meine Kranken zu heiterer Geselligkeit versammeln. Nichts wird außerdem gespart werden, was, wie diese kleinen Gesellschaften, das Leben verbessern, erheben, schmücken kann. Jeden Abend zum Beispiel soll für die, welche sie lieben, Musik stattfinden.«

Bei dieser Stelle der Ansprache des Doktors machte sich eine kleine Bewegung unter den Besuchern bemerklich. Eine Familienmutter unterbrach ihn. Sie wollte wissen, ob jeden Abend, auch des Sonntags, Musik statthaben sollte, und wenn dies Letztere der Fall, welche Musik dann aufgeführt würde.

»Geistliche Musik, selbstverständlich, Madame«, sagte der Doctor. »Am Sonntagsabend Händel, gewöhnlich auch wohl minder heitere Piecen von Haydn. Doch ich wollte bemerken, daß Musik nicht die einzige Unterhaltung ist, welche ich meinen Nervenkranken biete. Für die, welche lieber lesen, ist für erheiternde Lectüre gesorgt.«

Wieder ließ sich eine Bewegung unter den Anwesenden verspüren. Eine zweite Familienmutter bat um Auskunft, ob erheiternde Lectüre so viel bedeuten solle wie Romane.

»Blos solche Romane, die ich selbst ausgewählt und gelesen habe«, antwortete der Doctor. »Nichts Trauriges, Madame! Gewiß gibt es im wirklichen Leben des Traurigen die Hülle und Fülle, allein gerade deshalb wollen wir ihm nicht auch in Büchern begegnen. Der englische Novellist, der Zugang finden will zu meinem Hause —— kein ausländischer Romanschreiber wird zugelassen —— muß seine Kunst so verstehen, wie sie in unsern Tagen der geistesgesunde Leser versteht. Er muß wissen, daß unser heutiger reinerer Geschmack, unsere heutige höhere Moralität ihn auf zweierlei beschränkt, wenn er für uns ein Buch schreibt. Alles, was wir von ihm fordern, ist, daß er uns dann und wann lachen macht und immer in behagliche Stimmung versetzt.«

Hier zeigte sich eine dritte Bewegung unter den Besuchern, diesmal jedoch einzig und allein infolge des allgemeinen Beifalls, welchen die so eben vernommenen Ansichten fanden. In weiser Vorsicht störte der Doctor den guten Eindruck nicht, den er hervorgebracht hatte, sondern ließ das Thema vom Gesellschaftssaale fallen und führte die Anwesenden die Treppe hinauf. Wie vorhin schritt Miß Gwilt als die letzte von allen schweigend hinterdrein. Eine nach der andern sahen sie die Dame an und wollten mit ihr sprechen, etwas ihnen völlig Unerklärliches aber, was sie auf ihrem Gesichte lasen, hemmte die wohlgemeinten Worte, die sich ihnen auf die Lippen drängen wollten. Der Eindruck überwog, daß der Chef des Sanatoriums ihnen zartfühlend die Wahrheit Verborgen halte —— daß seine erste Patientin wahnsinnig sei.

Mit den passenden Erholungspausen für die alte Dame an seinem Arme, der das Athmen Beschwerde machte, geleitete er die Versammlung direct nach dem obersten Stock des Hauses. Auf dem Corridor machte er inmitten seiner Besucher Halt, wies mit der Hand auf die bezifferten Thüren zu beiden Seiten und forderte das Publikum auf, ganz nach Lust und Belieben eins oder sämtliche der Gemächer in Augenschein zu nehmen.

»Nummer eins bis drei, meine Damen und Herren«, begann der Doctor, »bezeichnen die Schlafzimmer des Wärterpersonals Nummer vier bis acht sind die Zimmer für Patienten aus den ärmeren Klassen, die ich zu Bedingungen aufnehme, welche lediglich meine Kosten decken, nichts weiter. Für solche ärmere Personen unter meinen leidenden Mitmenschen sind persönliche Frömmigkeit und die Empfehlung zweier Geistlichen zur Aufnahme unerläßlich. Das die einzigen Bedingungen, die ich stelle, aber auf ihnen bestehe ich. Bitte, beobachten Sie, daß alle Zimmer ventiliert und sämtliche Bettstellen von Eisen sind, und bemerken Sie gütigst, während wir wieder in das untere Stock hinabsteigen, daß die Thür dort im Nothfall jede Verbindung zwischen der dritten und der zweiten Etage abschließt. Die Zimmer dieser letzteren sind, mit Ausnahme meiner eigenen, ganz für die Aufnahme von weiblichen Kranken bestimmt. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß die größere Empfindlichkeit oder Empfindungsfähigkeit der weiblichen Constitution im Hinblick auf die größere Reinheit und freiere Circulation der Luft die höhere Lage des Schlafzimmers erheischt. Hier befinden sich die Damen unmittelbar unter meiner Behandlung, während mein Assistenzarzt, dessen Ankunft ich in acht Tagen erwarte, für die Herren im unteren Stocke sorgt. Bemerken Sie wieder beim Hinabsteigen in diese untere oder erste Etage eine Thür, welche außer mir und dem Hilfsarzte Jedermann einen Verkehr zwischen diesen beiden Stockwerken des Nachts unmöglich macht. Und nun, wo wir die Herrenstation der Anstalt erreicht und Sie ihre Einrichtung kennen gelernt haben, gestatten Sie mir, Sie in mein System selbst einzuweihen. Ich kann Ihnen gleich ein praktisches Beispiel davon geben, indem ich Ihnen ein unter meiner speciellen Leitung ausgestattetes Zimmer zeige, das ich für die Behandlung der complicirtesten Nervenleiden und Nervenzerrüttungen bestimmt habe, die etwa meiner Obhut anvertraut werden.«

Er öffnete die Thür eines am Ende des Corridors gelegenen, mit Nummer Vier bezifferten Zimmers. »Sehen Sie hinein, meine Damen und Herren«, sagte er, »und wenn Sie etwas bemerken, was Ihnen auffällt, so erwähnen Sie es gefälligst.«

Der Raum war nicht sehr groß, ein breites Fenster aber machte ihn sehr hell. Comfortable möbliert als Schlafzimmer, unterschied er sich sonst von andern Zimmern ähnlicher Art blos in einem Punkte: er hatte keinen Kamin. Auf ihre betreffende Frage wurden die Besucher bedeutet, daß das Zimmer im Winter mittels heißen Wassers geheizt werde, und dann gebeten, wieder auf den Corridor hinauszutreten, um sich unter sachverständiger Belehrung mit der besonderen Einrichtung des Raums bekannt zu machen, die ihnen allein entgehen dürfte.

»Zuvörderst, meine Damen und Herren«, sagte der Doctor, »ein Wort, buchstäblich nur ein Wort über Nervenstörung im Allgemeinen. Wie pflegt die Behandlung vor sich zu gehen, wenn, setzen wir den Fall, Seelenleiden Ihre körperliche Gesundheit untergraben hat und Sie sich an Ihren Arzt wenden? Er sieht Sie, hört Sie und verschreibt Ihnen zweierlei, ein Recept auf dem Papiere, das in der Apotheke bereitet wird, und ein anderes mündlich, in dem glücklichen Momente, wo Sie ihm sein Honorar bezahlen; dies letztere besteht in der allgemeinen Empfehlung, sich nicht aufzuregen. Mit diesem vortrefflichen Rathe verläßt Sie der Doctor und ersucht Sie, sich nur aller weiteren Sorge wegen Ihres Leidens zu entschlagen, bis er wiederkommt. Da tritt jetzt mein System ein und hilft Ihnen. Wenn ich sehe, es ist nothwendig, daß Sie sich geistig ruhig verhalten, so packe ich den Stier bei den Hörnern und verrichte das Erforderliche für Sie. Ich versetze Sie in eine Sphäre der Thätigkeit, wo die zehntausend Kleinigkeiten, welche nervöse Leute zu Hause irritieren, ausdrücklich berücksichtigt und aus dem Wege geräumt sind; undurchdringliche moralische Bollwerke sind aufgerichtet zwischen dem Aerger und Ihnen. Finden Sie mir hier in diesem Hause eine Thür, die knarrt, wenn Sie kommen! Finden Sie mir einen dienstbaren Geist in diesem Hause, der mit dem Theegeschirr klappert, wenn er es abräumt! Entdecken Sie mir kläffende Hunde, krähende Hähne, hämmernde Arbeiter, schreiende Kinder hier, und ich mache mich verbindlich, morgenden Tags mein Sanatorium zu schließen! Sind solche Störungen nervösen Personen etwa angenehme Unterhaltungen? Fragen Sie einmal bei ihnen nach! Können Sie dergleichen Störungen zu Hause entgehen? Fragen Sie einmal! Wird nicht ein zehn Minuten langes Hundegebell oder Kindergeheul Alles wieder in Frage stellen, was eine monatelange ärztliche Behandlung dem Nervenleidenden etwa genützt hat? Kein competenter Arzt in England wird dies zu leugnen wagen! Aus diesen einfachen Grundsätzen basiert nun mein System. Meiner Ansicht nach ist die ärztliche Behandlung der Nervenleiden blos ein Unterstützungsmittel für die moralische. Diese moralische Behandlung aber finden Sie hier bei mir; diese moralische Behandlung, wie sie den ganzen Tag hindurch unablässig prakticirt wird, folgt dem Kranken in sein Schlafzimmer des Nachts und beschwichtigt, stärkt und heilt ihn, ohne daß er es selbst gewahr wird. Sie sollen sogleich erfahren wie.« Der Doctor pausierte, um zu verschnaufen, und sah sich zum ersten Male, seit seine Besucher bei ihm waren, nach Miß Gwilt um. Zum ersten Male mischte sie ihrerseits sich unter die Anwesenden und sah ihn wieder an. Nach einem kurzen Hüsteln fuhr der Doctor fort:

»Nehmen Sie an, meine Damen und Herren, mein Kranker sei so eben erst in die Anstalt gekommen. Sein Geist ist nichts als ein Chaos von nervösen Einbildungen und Capricen, die seine Angehörigen und Freunde beim besten Willen unbewußt genährt und gereizt haben. Sie haben sich zum Beispiel des Nachts vor ihm gefürchtet, haben ihn gezwungen, Jemand im selben Zimmer mit ihm schlafen zu lassen, oder ihm verboten, seine Thür zu verschließen, um im Nothfall zu ihm kommen zu können. Den ersten Abend nun sagt er zu mir: « «Hören Sie, ich will Niemand mit in meinem Zimmer haben!« — »Gewiß nicht!« — »Meine Thür muß ich verschließen dürfen!« — »Versteht sich von selbst!« Er geht hinein, verschließt seine Thür und ist besänftigt und beruhigt, weil man ihm seinen Willen gelassen, dem Vertrauen wie dem Schlafe zugänglich. »Alles gut und schön«, werden Sie sagen; »allein gesetzt, es passiert ihm etwas, er hat einen Krampfanfall oder dergleichen in der Nacht, was dann?« Sie werden es sehen. Halloh, mein junger Freund«, rief der Doctor, plötzlich den schläfrigen kleinen Knaben anredend, »wir wollen einmal mit einander spielen. Du sollst der arme kranke Mann sein und ich bin der gute Doctor. Geh da in das Zimmer hinein und mache die Thür zu. Schön, das ist ein braver Junge! Hast Du zugeschlossen? Sehr gut. Glaubst Du, daß ich zu Dir kommen kann, wenn ich will? Ich warte hübsch, bis Du eingeschlafen bist, dann drücke ich auf diesen kleinen weißen Knopf hier, der im Muster der Tapete verschwindet; geräuschlos schiebt sich drinnen der Riegel des Schlosses zurück und ich gehe ins Zimmer, so oft ich eben Lust habe. Ganz so geschieht es mit dem Fenster. Mein capriciöser Kranker will es des Nachts nicht öffnen, wenn es Vielleicht gut für ihn wäre. »Machen Sie es zu, lieber Herr, unter allen Umständen!» sage ich ihm freundlich, und sobald er schläft, ziehe ich an dem in der Ecke der Wand verborgenen Griff, und leise geht das Fenster auf, wie Sie sehen. Nehmen wir jetzt an, der Patient gefällt sich gerade im Gegentheil in der Caprice, das Fenster während der Nacht nicht schließen zu wollen. Lassen Sie ihn nur machen! Wenn er in seinem Bette liegt, ziehe ich an einem andern Griff, dem hier, und geräuschlos und im Nu fällt das Fenster zu. Nichts, was ihn reizt, meine Damen und Herren, absolut nichts, was ihn reizen kann! Doch ich bin noch nicht fertig mit ihm. Trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln kann es geschehen, daß einmal eine epidemische Krankheit ihren Weg in mein Sanatorium findet und die Luftreinigung des Krankenzimmers unerläßlich wird. Nun kann aber der Kranke außer seinem Nervenleiden noch mit andern Uebeln zu kämpfen haben, zum Beispiel mit asthmatischen Beschwerden; in dem einen Falle wird Räucherung im andern eine größere Zuführung von Sauerstoff ihm Erleichterung gewähren. Der typhöse Kranke sagt: »Ich will nicht im Rauche ersticken!«, der Asthmatiker verliert den Athem bei dem entsetzlichen Gedanken, daß eine chemische Explosion im Zimmer losgehen soll. Geräuschlos räuchere ich den erstern und ebenso geräuschlos oxygenisire ich den andern mittels eines einfachen Apparats, welcher außen in der Ecke hier angebracht ist. Ein hölzernes Futteral umhüllt ihn, zu welchem ich allein den Schlüssel habe, und durch eine Röhre communicirt er mit dem inneren Raum des Zimmers. Sehen Sie sich den Apparat an!«

Mit einem Blick auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel des hölzernen Kastens auf und enthüllte nichts Merkwürdigeres als einen großen Steinkrug, in dessen Korkstöpsel ein gläserner Trichter und ein mit der Wand communicirendes Rohr eingefügt waren. Mit einem abermaligen Blicke auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel wieder zu und fragte so sanft wie nur möglich, ob man jetzt sein System verstände.

»Ich könnte Sie noch«, nahm er wieder das Wort, als er seinen Besuch die Treppe hinabführte »mit verschiedenen andern Vorrichtungen der nämlichen Art bekannt machen, allein es wäre doch nur eine Wiederholung des bereits Gesehenen. Ein Nervenleidender, welchem man immer den Willen läßt, ist ein Nervenleidender, der sich niemals ärgert und aufregt, und ein Nervenleidender, welcher sich niemals ärgert und aufregt, ist geheilt. Da haben Sie meine Theorie in nuce! Kommen Sie, meine Damen, und sehen Sie sich die Apotheke an, erst die Apotheke und dann die Küche.«

Von neuem schlüpfte Miß Gwilt hinter die Besucher und wartete hier, das Zimmer, welches der Doctor geöffnet, und den Apparat, den er aufgeschlossen hatte. fest ins Auge fassend. Ohne daß ein Wort zwischen den Beiden gefallen wäre, hatte sie ihn abermals verstanden. So gut, als wenn er es ihr ausdrücklich eingestanden hätte, wußte sie, daß er ihr schlau die erforderliche Versuchung in den Weg führte, vor Zeugen, die, falls etwas Ernstliches passierte, den anscheinend so unschuldigen Vorgang bekunden konnten. Der Apparat, ursprünglich construirt, um den medicinischen Schrullen des Doctors zu dienen, konnte offenbar noch andere Zwecke erfüllen, von welchen sich dieser selbst bis jetzt wahrscheinlich nichts hatte träumen lassen. Und jedenfalls wurde ihr, noch ehe der Tag vorüber, dieser andere Gebrauch im rechten Momente vor dem rechten Zeugen offenbart. »Diesmal wird Armadale sterben«, sagte sie zu sich selbst, als sie langsam die Treppe hinabging. »Durch meine Hand wird ihn der Doctor umbringen.«

In der Apotheke gesellte sie sich wieder zu den Besuchern. Alle Damen bewunderten die Schönheit des alterthümlichen Schrankes, und in natürlicher Folge wollten alle sehen, was darin war. Nachdem er erst einen raschen Blick auf Miß Gwilt geworfen hatte, schüttelte der Doctor gutgelaunt den Kopf. »Es ist nichts darin«, sagte er, »was Sie interessieren kann, nichts als armselige kleine Flaschen mit den in der Medicin gebräuchlichen Giften, die ich unter Schloß und Riegel halte. Kommen Sie lieber in die Küche, meine Damen, und beehren Sie mich unten mit Ihrem Rathe über die Haushaltungsangelegenheiten.« Während die Gesellschaft durch das Vorhaus schritt, warf er abermals einen Blick auf Miß Gwilt, welcher deutlich sagte: »Warten Sie hier!«

Im Verlauf einer weitem Viertelstunde hatte der Doctor seine Ansichten über Küche und Diät entwickelt; die Besucher, gebührend mit Prospecten versehen, verabschiedeten sich von ihm an der Thür. »Wirklich ein geistiger Genuß!« sprachen sie zu einander, als sie, eine schmuck gekleidete Procession, aus dem Gitterthor strömen. »Und was für ein ausgezeichneter Mann!«

Zerstreut vor sich hinsummend, kehrte der Doctor zur Apotheke zurück und vergaß ganz, daß Miß Gwilt in einer Ecke der Halle aus ihn wartete. Nach kurzem Zaudern folgte sie ihm. Der Gehilfe war im Zimmer, im Augenblicke erst von seinem Herrn beschieden, als sie eintrat.

»Doctor«, sagte sie kalt und mechanisch, als wenn sie eine eingelernte Lectüre aussagte, »wie die andern Damen hätte ich sehr gern gesehen, was in Ihrem hübschen Schranke ist. Wollen Sie jetzt, wo die Andern fort sind, mir nicht zeigen, was sich darin befindet?«

Der Doctor lachte in seiner angenehmsten Weise.

»Die alte Geschichte«, sprach er. »Blaubart’s verschlossene Kammer und Weiberneugier! —— Bleiben Sie, Benjamin, bleiben Sie. —— Meine liebe Dame, welches Interesse können Sie denn an einer Arzneiflasche nehmen, weil diese eben zufällig eine Giftflasche ist?«

Zum zweiten Male sagte sie ihre Lectüre auf.

»Es interessiert mich, mir die Flaschen zu besehen«, entgegnete sie, »und dabei zu denken, welche furchtbaren Dinge sie anrichten könnten, wenn sie in mancher Leute Hände kämen.«

Mit einem mitleidigen Lächeln sah der Doctor seinen Gehilfen an.

»Wundersam, Benjamin«, sagte er; »der unwissenschaftliche Geist faßt selbst unsere Arzneien romantisch auf. Meine Verehrte«, wandte er sich wieder an Miß Gwilt, »wenn nur das Gift und das Unheil, welches es stiften könnte, Sie an der Sache interessieren, so brauche ich Ihnen nicht erst meinen Schrank aufzuschließen. Sie brauchen sich nur in den Regalen umzusehen, die rund um das Zimmer laufen. In diesen Flaschen befinden sich alle möglichen medicinischen Flüssigkeiten und Substanzen, die, an sich meist harmlos und nützlich, in Verbindung mit andern Substanzen und andern Flüssigkeiten so gräßliche und tödtliche Gifte werden können wie nur irgend eins, das ich dort unter Schloß und Riegel halte.«

Sie sah ihn. einen Augenblick an und schritt dann auf die andere Seite des Zimmers hinüber.

»Zeigen Sie mir eins!« bat sie.

Noch immer gutgelaunt lächelnd, willfahrte der Doctor seiner Nervenkranken. Er wies auf die Flasche, aus der er gestern im Stillen die Flüssigkeit ausgegossen und die er mit einer die Farbe sorgfältig nachahmenden Mixtur seiner eigenen Fabrikation wieder gefüllt hatte.

»Sehen Sie die Flasche dort?« fragte er, »die dicke, runde, behaglich aussehende Flasche? Auf den Namen der Flüssigkeit darin kommt es nicht an, wir halten uns an die Flasche und unterscheiden Sie, wenn Sie so wollen, von andern durch einen Namen unserer eigenen Erfindung. Wie wäre es, wenn wir sie unsern starken Freund nennten? Vortrefflich. Unser starker Freund ist an sich eine ganz harmlose und nützliche Arznei; Tag für Tag wird er in der ganzen civilisirten Welt Zehntausenden von Patienten verordnet. Er hat noch keine romantische Rolle vor Grichtshöfen gespielt, noch kein athemloses Interesse in Romanen erregt, noch nicht auf der Bühne die Zuschauer in Schrecken gesetzt. Da ist er, ein unschuldiges, harmloses Geschöpf, das Niemand die Nothwendigkeit auflegt, ihn hinter Schloß und Riegel zu legen. Bringen Sie ihn aber mit etwas Anderm in Berührung, machen Sie ihn mit einer gewissen gewöhnlichen mineralischen Substanz bekannt, die aller Welt leicht zugänglich ist, nehmen Sie etwa sechs Dosen von unserm starken Freund und gießen Sie diese in Zwischenräumen von ungefähr fünf Minuten nacheinander auf die Mineralstückchem die ich eben erwähnte. Bei jedem Aufguß werden Mengen kleiner Blasen entstehen; fangen Sie nun das Gas dieser Blasen auf und führen es in ein verschlossenes Zimmer über, wenn dann auch Simson selbst in diesem verschlossenen Zimmer wäre, unser starker Freund wird ihn in einer halben Stunde tödten, wird ihn langsam tödten, ohne daß er etwas sieht, ohne daß er etwas riecht, ohne etwas Anderes zu fühlen als Schläfrigkeit, wird ihn tödten und dem Collegium der Aerzte nichts erzählen, wenn es seine Todtenschau abhält, nichts weiter, als daß er am Schlagfluß oder Lungenlähmung gestorben ist! Was meinen Sie, meine liebe Dame, klingt das nicht geheimnißvoll und romantisch? Interessiert Sie jetzt unser harmloser starker Freund nicht ganz ebenso, als erfreute er sich der nämlichen fürchterlichen Popularität wie Arsenik und Strychnin, die ich dort im Schranke eingeschlossen habe? Denken Sie nicht, daß ich übertreibe! Denken Sie nicht, daß ich eine Geschichte erfinde, um Sie los zu werden, wie die Kinder sagen! Fragen Sie Benjamin da«, sagte der Doctor, an seinen Gehilfen appellierend, während seine Augen Miß Gwilt fixierten. »Fragen Sie Benjamin«, wiederholte er und legte auf die folgenden Worte den stärksten Nachdruck, »fragen Sie, ob sechs Dosen aus jener Flasche, von fünf zu fünf Minuten aufgegossen, unter den Ihnen erörterten Bedingungen nicht die Wirkung hervorbringen würden, die ich Ihnen geschildert habe.«

Der Apotheker, der Miß Gwilt aus der Ferne bescheiden bewunderte, stand erröthend auf, offenbar geschmeichelt von der kleinen Aufmerksamkeit, die ihn mit in das Gespräch gezogen hatte.

»Der Herr Doctor hat ganz Recht, Madame«, redete er unter seiner besten Verbeugung Miß Gwilt an; »das erzeugte Gas würde in einer halben Stunde vollkommen «seine Schuldigkeit thun. Und«, setzte er hinzu, um seinerseits einige chemische Kenntniß an den Tag legen zu können, »das nach Ablauf einer halben Stunde ausgeströmte Volumen des Gases würde, wenn ich mich nicht täusche, Sir, in weniger als fünf Minuten schon Jedem gefährlich werden, der das Zimmer beträte.«

»Ohne Zweifel, Benjamin«, entgegnete der Doctor. »Für jetzt aber, denke ich, haben wir genug der Chemie gehabt«, wandte er sich an Miß Gwilt. »So sehr mir am Herzen liegt, Verehrteste, jeden Ihrer selbst flüchtigen Wünsche zu befriedigen, erlaube ich mir doch ein erfreulicheres Thema vorzuschlagen. Ich dachte, wir verließen die Apotheke, ehe sie Ihrem forschenden Geiste noch andere Fragen eingibt. Nein? Sie wollen ein Experiment sehen? Sie möchten gern sehen, wie die kleinen Blasen erzeugt werden? Gut, gut! Da ist nichts Arges dabei. Wir wollen Mrs. Armadale die Blasen zeigen«, fuhr er im Tone eines Vaters fort, der einem verzogenen Kind den Willen thut. »Sehen Sie, ob Sie ein paar Stücke von dem, was wir brauchen, finden können, Benjamin. »Ich glaube wohl, die Arbeiter, die nachlässigen Burschen, haben etwas der Art im Hause oder im Garten zurückgelassen.

Der Hausapotheker ging aus dem Zimmer.

Sobald er den Rücken gewandt hatte, begann der Doctor mit dem Gebaren eines Mannes, der etwas eilig braucht und nicht gleich weiß, wo er es suchen soll, an verschiedenen Stellen der Apotheke eine Reihe von Kästen auf- und zuzuschließen. »Gott im Himmel!« rief er aus, plötzlich vor dem Kasten stehen bleibend, aus dem er gestern seine Einladungskarten herausgenommen hatte, »was ist das? Ein Schlüssel? So wahr ich lebe, ein zweiter Schlüssel zu meinem Räucherungsapparat oben! Ach Beste, Beste, wie nachlässig ich werde«, sagte der Doctor, sich rasch nach Miß Gwilt umdrehend; »ich habe auch nicht die leiseste Ahnung von der Existenz dieses zweiten Schlüssels gehabt; ich würde ihn nicht vermißt haben, ich versichere Ihnen, ich hätte ihn nicht vermißt, wenn mir ihn Jemand aus dem Kasten genommen hätte!« Ohne den Kasten zu verschließen oder das Schlüsselduplicat an sich zu nehmen, trippelte er geschäftig nach der andern Seite des Zimmers.

Schweigend hatte ihm Miß Gwilt zugehört, schweigend glitt sie an den Kasten, schweigend nahm sie den Schlüssel heraus und versteckte ihn in ihrer Schürzentasche.

Der Apotheker brachte in einer Schüssel die gewünschten Steinbrocken »Ich danke Ihnen, Benjamin«, sagte der Doctor »Gießen Sie gefälligst Wasser darauf, während ich die Flasche herunterhole.«

Wie manchmal in den bestorganisierten Familien böse Zufälligkeiten eintreten, so überkommt oft die Ungeschicklichkeit die vollkommenst geschulten Hände. Als der Doctor die Flasche vom Regale herunternehmen wollte, entglitt ihm die Flasche und zerschellte auf dem Boden in Stücke.

»Ach, meine Finger!« rief der Doctor in komischem Aerger. »Wie kann mir so ein fataler Streich passieren? Doch, doch —— ’s ist nun nicht mehr zu ändern. Haben Sie noch etwas davon, Benjamin?«

»Nicht einen Tropfen, Sir.«

»Nicht einen Tropfen!« wiederholte der Doctor. »Meine beste Dame, wie kann ich mich bei Ihnen unschuldigen? Für heute hat meine Ungeschicklichkeit unser kleines Experiment unmöglich gemacht. Erinnern Sie mich daran, Benjamin, daß wir morgen wieder etwas bestellen und bemühen Sie sich nicht, die Scherben aufzulesen. Einer hölzernen Diele und einem drohenden Wischlappen gegenüber ist unser starker Freund harmlos genug! Es thut mir so leid, so aufrichtig leid, daß ich in Ihnen vergebliche Erwartungen erregt habe.« Mit diesen Beruhigungsworten bot er Miß Gwilt den Arm und führte sie aus der Apotheke hinaus.

»Sind Sie jetzt mit mir fertig?« fragte sie, als sie durch die Halle gingen.

»Ach, Gott, wie Sie das auffassen!« rief der Doctor aus. »Um sechs Uhr speisen wir zu Mittag«, setzte er in vollendeter Höflichkeit hinzu, als sie sich in schweigender Verachtung von ihm abwandte und die Treppe nach ihrem Zimmer hinaufstieg.

Eine Uhr der geräuschlosesten Art, unfähig, reizbare Nerven zu afficiren, hing auf dem ersten Treppenabsatz an der Wand. Im Augenblicke, wo die Weiser auf dreiviertel sechs zeigten, wurde das Schweigen des öden oberen Stockwerks durch das Rauschen von Miß Gwilt’s Kleide unterbrochen. Sie bewegte sich längs des Corridors der ersten Etage, blieb bei dem vor Nummer vier in der Wand angebrachten Apparat stehen, horchte eine Minute und schloß dann den Deckel auf.

Der offene Deckel warf einen Schatten auf das Innere des Behältnisses. Was sie zuerst sah, war nichts Anderes, als was sie schon gesehen hatte: der Krug, die Röhre und der im Korkstöpsel eingefügte Trichter. Sie entfernte den letzteren und bemerkte auf dem dicht daneben befindlichen Fensterstocke einen Stab, an dessen Spitze zum Anzünden des Gases ein Stückchen Wachsstock befestigt war. Diesen Stock nahm sie und ihn durch die vorher von dem Trichter geschlossene Oeffnung in den Krug einführend, bewegte sie ihn in diesem auf und nieder. Ein schwaches Plätschern und der kratzende Ton an harten Körpern, die sie umrührte, drangen an ihr Ohr. Sie zog den Stab wieder heraus und berührte das daran haftende Naß vorsichtig mit der Zunge. Diesmal war die Vorsicht unnöthig gewesen, die Flüssigkeit war Wasser.

Den Trichter wieder an seinem Platz befestigend, gewahrte sie in dem schwach beleuchteten Raume neben dem Kruge einen matt schimmernden Gegenstand. Sie hob ihn heraus und brachte ein Flacon von Rubinglas zum Vorschein. Die Flüssigkeit, mit der es gefüllt war, ließ sich durch das durchscheinende hellere Krystallglas erkennen; an der einen Seite der Flasche zeigten sich sechs dünne Papierstreifen angeheftet, welche den Inhalt in sechs gleiche Theile theilten.

Jetzt war es keinem Zweifel mehr unterworfen, daß der Apparat insgeheim für sie hergerichtet worden war, der Apparat, zu dem sie außer dem Doctor einzig und allein den Schlüssel besaß.

Sie stellte das Flacon wieder hin und verschloß den Kasten. Ein paar Sekunden blieb sie, den Schlüssel in der Hand, noch stehen und sah sich die Vorrichtung an. Mit einem Male kehrte die Farbe auf ihre Wangen und mit ihr ihre natürliche Lebhaftigkeit zurück. Athemlos eilte sie auf ihr Zimmer im zweiten Stocke; mit raschen Händen riß sie den Mantel aus dem Kleiderschranke und nahm den Hut aus der Schachtel. »Ich bin nicht im Gefängniß« brach sie heftig aus. »Noch habe ich den Gebrauch meiner Glieder! Sobald ich erst wieder aus diesem Hause bin, kann ich gehen, wohin ich will!«

Den Mantel um die Schultern, den Hut in der Hand schritt sie nach der Thür. Noch einen Augenblick, und sie wäre draußen auf dem Corridor gewesen. In diesem Moment trat ihr der Gedanke an ihren Gatten wieder vor die Seele, an ihn, den sie ins Gesicht hinein verleugnet hatte. Sofort hemmte sie ihren Lauf und schleuderte Mantel und Hut auf ihr Bett. »Nein«, sagte sie, »der Abgrund zwischen uns ist gegraben, das Schlimmste schon vollbracht!«

Da klopfte es an die Thür. Höflich mahnte sie draußen die Stimme des Doctors, daß es sechs Uhr sei.

Sie öffnete die Thür und hielt ihn auf.

»Um welche Zeit trifft heute der Zug ein?« fragte sie flüsternd.

»Um zehn Uhr«, antwortete der Doctor so unbefangen und laut, daß alle Welt ihn hätte hören können.

»Was für ein Zimmer soll Mr. Armadale eingeräumt werden, wenn er kommt?«

»Welches Zimmer möchten Sie für ihn haben?«

»Nummer vier.«

Bis zuletzt wahrte der Doctor den Schein.

»Sei es denn Nummer vier«, sagte er verbindlich, »vorausgesetzt natürlich, daß Nummer vier zur Zeit unbesetzt ist.«

Der Abend verstrich und die Nacht brach herein.

Einige Minuten vor zehn war Bashwood wieder auf seinem Posten, um abermals den kommenden Zug abzuwarten.

Der dienstthuende Inspector, der ihn von Angesicht kannte und sich nachgerade überzeugt hatte, daß Bashwood’s regelmäßige Anwesenheit auf dem Bahnhofe keine Speculationen auf die Koffer und Geldbeutel der Reisenden involviere, nahm heute Nacht zweierlei wahr. Erstens sah Bashwood, anstatt seine gewöhnliche Heiterkeit zu zeigen, sorgenvoll und niedergeschlagen aus, und sodann wurde derselbe, während er auf den Zug lauerte, seinerseits von einem schmächtigen brünetten Mann mittlerer Größe belauscht, der den Abend vorher sein Gepäck das mit dem Namen Midwinter etikettiert war, im Zollhause zurückgelassen und vor einer Stunde sich eingefunden hatte, um es abzuholen.

Was hatte Midwinter nach dem Bahnhofe geführt und warum wartete auch er auf den Zug? Nachdem er in vergangener Nacht seine einsame Wanderung bis Hendon ausgedehnt, hatte er im Dorfwirthshause Unterkunft gesucht und war aus reiner Erschöpfung erst in jenen späteren Morgenstunden eingeschlafen, die seine Frau wohlweislich zu benutzen verstanden hatte. Als er nachher wieder in der Wohnung derselben erschien, konnte ihm die Hauswirthin blos mittheilen, daß ihre Mietherin bereits vor länger als zwei Stunden Alles abgemacht und sich —— wohin, das konnte sie nicht sagen —— alsbald wieder entfernt habe.

Nach einigen weiteren Erkundigungen mußte sich Midwinter leider überzeugen, daß er vor der Hand die Spur seines Weibes als verloren zu betrachten habe. Düster verließ er das Haus und setzte mechanisch seinen Weg nach den lebhaftem und centralern Theilen der Hauptstadt fort. Jetzt, wo sich ihm der Charakter seiner Frau enthüllt hatte, noch unter der ihm gegebenen Adresse ihrer Mutter nachzufragen, wäre ein vollkommen fruchtloses Beginnen gewesen. Entschlossen, sie trotz alledem aufzuspüren, durchwanderte er die Straßen, aber die Mittel dazu wollten sich nicht finden lassen, bis das Gefühl seiner Erschöpfung sich von neuem geltend machte. In das erste beste Hotel eintretend, an dem er vorüberkam, erinnerte ihn ein zufälliger Streit des Kellners mit einem Gaste wegen eines abhanden gekommenen Koffers an sein eigenes Gepäck, das er auf dem Bahnhofe gelassen, und sofort dachte er auch an die seltsamen Umstände, unter denen er Bashwood auf dem Perron getroffen hatte. Im nächsten Augenblicke leuchtete es ihm ein, wie vergeblich sein Suchen in den Straßen sei; noch ein paar Sekunden, und er beschloß, zu probieren, ob er den Verwalter nicht zufällig wieder auf dem Bahnhofe finden könne, wo der Mann augenscheinlich auf die Ankunft Jemandes lauerte, den er schon mit dem gestrigen, Tage erwartet hatte.

Von der Nachricht von Allan’s Wellentode nichts wissend, bei der gestrigen furchtbaren Unterredung mit seiner Frau unbekannt geblieben mit der Absicht, die sie mit ihrer Wittwentracht verfolgte, hatte Midwinter seinen ersten vagen Verdacht ihrer Untreue jetzt zu der unwandelbaren Ueberzeugung entwickelt, daß sie ihn betrog. Nur eine Auslegung aber vermochte er ihrem unerhörten Benehmen gegen ihn zu geben, nur einen Grund sah er dafür, daß sie den Namen angenommen, unter dem er sie geheirathet hatte. Aus ihrem Verhalten mußte er unvermeidlich folgern, daß sie in eine gemeine Intrigue verwickelt sei und daß sie schlau und gemein sich die Stellung zu sichern gewußt habe, in der, das wußte sie, wie in keiner andern es ihm widerstrebte, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Mit dieser Ueberzeugung lauerte er jetzt auf Bashwood, im festen Glauben, daß dem feilen Diener ihrer Laster das Versteck seiner Frau bekannt sein müsse, und in dem unbestimmten Argwohn, der unbekannte Mann, welcher ihn gekränkt hatte, und der unbekannte Reisende, auf dessen Ankunft Bashwood harrte, möchten eine und dieselbe Person sein.

Der Zug kam spät heute Abend, und als er endlich in den Bahnhof einfuhr, war das Wagengedränge ärger denn je. Midwinter sah sich in die allgemeine Verwirrung auf dem Perron verwickelt und in der Anstrengung, sich aus ihr herauszuwinden, verlor er Bashwood zum ersten Male aus dem Gesichte.

Ein paar Minuten waren verflossen, ehe er den Verwalter wieder ausfindig machen konnte, wie derselbe sich eifrig mit einem Mann in einem zottigen Rocke unterhielt, der ihm den Rücken zukehrte. Alle Vorsicht und Zurückhaltung vergessend, die er vor Ankunft des Zuges sich selbst ausgelegt hatte, ging Midwinter sofort auf sie zu. Bashwood sah das drohende Gesicht des Nahenden und trat schweigend zurück. Der Mann im zottigen Rocke wandte sich um; er sah dahin, wohin der Verwalter seine Blicke richtete, und im vollen Lichte der Gaslaternen entdeckte Midwinter Allan’s Gesicht.

Für den Augenblick standen beide sprachlos da und sahen sich einander an. Allan war der erste, der sich von seinem Erstaunen erholte.

»Gott sei Dank!« sprach er warm. »Ich frage nicht, wie Du hierher kommst, es ist mir genug, daß Du gekommen bist. Ich habe schon jammervolle Nachrichten erhalten; nur Du kannst mich trösten und mir’s tragen helfen!« Bei den letzten Worten versagte ihm die Stimme; er mußte schweigen.

Der Ton, in dem er gesprochen, rüttelte Midwinter so weit auf, daß das alte Interesse für den Freund, —— welches einst das höchste aller seiner Interessen gewesen, wieder in ihm erwachte. Zum ersten Male, seit dieser ihn befallen, beherrschte er seinen eigenen Kummer und fragte, Allan sanft beiseite ziehend, was geschehen sei.

Allan erzählte ihm von dem falschen Gerüchte seines Todes, das sich verbreitet habe und bis zu Miß Milroy’s Ohren gedrungen sei, und wie in beklagenswerther Folge dieses Schlags die Majorstochter in der Nachbarschaft von London habe in ärztliche Behandlung gegeben werden müssen.

Ehe er seinerseits das Wort nahm, sah sich Midwinter mißtrauisch um. Bashwood war ihnen gefolgt und lauschte, was sie nun sprechen würden.

»Hat er hier aus Deine Ankunft gewartet, um Dir’s von Miß Milroy zu erzählen?« fragte Midwinter und blickte von Bashwood zu Allan.

»Ja«, antwortete Allan. »Abend für Abend ist er so gut gewesen, hier zu warten, um mich zu treffen und mir die Nachricht schonend beizubringen.«

Midwinter schwieg. Umsonst suchte er den Schluß, welchen er aus seines Weibes Verhalten gezogen, mit der Entdeckung zu vereinbaren, daß Allan der Mann war, auf dessen Ankunft Bashwood gewartet hatte. Die einzige Aussicht, die sich jetzt ihm darbot, dem Geheimniß näher auf die Spur zu kommen, war, den Verwalter in dem einzigen Punkte zu attackieren, wo sich derselbe dem Angriffe bloßgestellt hatte. Gestern Abend hatte Bashwood unbedingt geleugnet, etwas von Allan’s derzeitigem Thun und Treiben zu wissen oder an dessen Rückkehr nach England ein persönliches Interesse zu haben. Hatte er somit Bashwood auf einer Lüge ertappt, so argwöhnte er auf der Stelle, daß jener jetzt auch Allan belüge. Unverzüglich ergriff er also die Gelegenheit, die hinsichtlich Miß Milroy’s gemachte Angabe näher zu prüfen.

»Wie sind Sie zu dieser traurigen Kunde gekommen?« forschte er, sich plötzlich an Bashwood wendend.

»Natürlich durch den Major«, erwiderte Allan, bevor der Verwalter antworten konnte.

»Wer ist der Arzt, der Miß Milroy behandelt?« fuhr Midwinter fort an Bashwood das Wort zu richten.

Wiederum gab der Verwalter keine Antwort, wiederum antwortete Allan für ihn.

»Es ist ein Mann mit fremdem Namen«, sagte Allan; »er hat ein Sanatorium bei Hampstead. Wie sagten Sie daß der Ort heiße, Mr. Bashwood?«

»Fairweather-Vale, Sir«, entgegnete der Verwalter, nothgedrungen, doch ersichtlich unwillig seinem Herrn Rede stehend.

Bei der Adresse des Sanatoriums fiel Midwinter unverzüglich ein, daß er gestern Abend seine Frau in einer von den Fairweather Villen ausgespürt hatte. Jetzt dämmerte ihm durch das Dunkel ein schwaches Licht auf. Der Instinct, der mit der Noth kommt, ehe noch der langsamere Proceß des Denkens sich vollziehen kann, führte ihn mit einem Schlage zu dem Schlusse, daß Bashwood, der gestern sicher unter dem Einflusse seiner, Midwinter’s, Frau gehandelt hatte, auch jetzt wieder das Werkzeug derselben sein dürfte. Mit der sich immer mehr in ihm befestigenden Ueberzeugung, daß Bashwood’s Angabe eine Lüge und seine Frau dabei betheiligt sei, beharrte er darauf, dieser Angabe näher auf den Grund zu kommen.

»Ist der Major in Norfolk«, fragte er, »oder ist er bei seiner Tochter in London?«

»Ja Norfolk«, sagte Bashwood, mehr Allan’s forschendem Blicke als Midwinter’s Frage antwortend. Dann sah er dem letzteren zum ersten Male ins Gesicht und setzte hastig hinzu: »Ich protestiere gegen ein Kreuzverhör, Sir. Ich weiß, was ich Mr. Armadale gesagt habe, mehr aber nicht.«

Die Worte und der Ton, in dem sie gesprochen wurden, waren gleich verschieden von Bashwood’s gewöhnlicher Sprache und gewöhnlichem Tone. In seinem Gesichte lag eine düstere Niedergeschlagenheit, in seinen Augen, als sie Midwinter ansah ein heimliches Mißtrauen und Mißvergnügen, wie es dieser noch nie an ihm bemerkt hatte. Ehe er aus die seltsame Rede Bashwoods antworten konnte, fiel Allan ein.

»Halte mich nicht für ungeduldig«, sagte er, »aber es wird spät und es ist ein weiter Weg nach Hampstead. Ich fürchte, das Sanatorium wird sonst schon geschlossen sein.«

Midwinter erschrak. »Du willst doch nicht heute Abend noch das Sanatorium aufsuchen?« rief er aus.

Allan nahm die Hand seines Freundes und drückte sie derb. »Hättest Du sie so lieb wie ich«, flüsterte er, »dann würdest Du nicht ruhen, könntest nicht schlafen, bis Du den Doctor gesehen und das Gute oder Schlimme gehört hättest, was er Dir mitzutheilen hat. Armes, liebes Herz! Wer weiß, wenn sie mich am Leben und gesund sieht ——« Die Thränen traten ihm in die Augen und schweigend wandte er den Kopf ab.

Midwinter sah den Verwalter an. »Bleiben Sie zurück!« herrschte er. »Ich habe mit Mr. Armadale zu sprechen.« Bashwood zog sich aus Hör-« doch nicht aus Gesichtsweite zurück, und Midwinter legte liebevoll seine Hand dem Freunde auf die Schultern.

»Allan«, begann er, »ich habe Gründe ——« Er hielt inne. Konnte er die Gründe angeben, bevor er sie selbst bestätigt gefunden hatte, dazu in der gegenwärtigen Stunde und unter diesen Umständen? Unmöglich! »Ich habe Gründe«, fing er wieder an, »Dir zu rathen, nicht zu bereitwillig zu glauben, was Bashwood sagt. Sage ihm das nicht, aber betrachte es als Warnung.«

Verwundert sah Allan seinen Freund an. »Du bist’s gewesen, der Mr. Bashwood immer gern hatte!« rief er aus. »Du hast ihm getraut, als er zuerst ins Herrenhaus kam!«

»Vielleicht habe ich damit nicht recht gethan, Allan, und vielleicht hast Du Recht gehabt. Willst Du nicht wenigstens warten, bis wir an Major Milroy telegraphieren und seine Antwort erhalten können? Willst Du nicht mindestens die Nacht vergehen lassen?«

»Ich werde wahnsinnig werden, wenn ich die Nacht über warte«, sagte Allan. »Du hast mich noch ängstlicher gemacht, als ich schon war. Wenn ich mit Bashwood nicht darüber sprechen soll, so muß und will ich nach dem Sanatorium gehen und vom Doctor selbst in Erfahrung bringen, ob sie dort ist oder nicht.«

Midwinter sah, daß er umsonst sprach. In Allan’s Interesse blieb ihm jetzt blos ein Weg übrig. »Willst Du mich mit Dir gehen lassen?« fragte er.

Allan’s Gesicht leuchtete auf. »Du lieber, guter Mensch!« rief er aus. »Gerade darum wollte ich Dich eben bitten.«

Midwinter winkte dem Verwalter. »Mr. Armadale geht nach dem Sanatorium«, sagte er, »und ich denke ihn zu begleiten. Holen Sie eine Droschke und kommen Sie mit uns.«

Dem Verwalter, dem streng eingeprägt war, wenn Allan käme, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und der in seinem eigenen Interesse Midwinter’s unerwartetes Erscheinen erklären mußte, blieb keine Wahl übrig, als zu gehorchen. In mürrischer Unterwerfung that er denn, was ihm befohlen war. Die Schlüssel zu Allan’s Gepäck wurden dem fremden Kurier übergeben, den er mitgebracht hatte, und dem Manne geboten, im Eisenbahnhotel die weiteren Befehle seines Herrn abzuwarten, und so fuhren Midwinter und Allan, Bashwood auf dem Bocke neben dem Kutscher, aus dem Bahnhofe.

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Zwischen elf und zwölf Uhr in dieser Nacht hörte Miß Gwilt, welche allein am Corridorfenster ihrer Etage stand, das Rollen nahender Räder. Es wurde lauter und lauter und am eisernen Gitter hörte es auf. Sie sah, wie eine Droschke hier hielt.

Gegen Abend war der Himmel umwölkt gewesen, jetzt bellte er sich auf und der Mond kam zum Vorschein. Um besser zu sehen und zu hören, machte sie das Fenster auf und sah Allan aus dem Wagen steigen und dann mit einer darin sitzenden Person sprechen. Ehe sie diese selbst noch wahrnehmen konnte, sagte ihr die aus dem Cab heraus antwortende Stimme, daß Allan’s Begleiter ihr Mann sei.

Dieselbe Betäubung, die sie gestern bei ihrem Wiedersehen befallen hatte, befiel sie auch jetzt. Bleich und still, hager und alt stand sie am Fenster, wie sie dagestanden hatte, als sie sich ihm in ihrer Witwenkleidung gegenüber befand.

Mr. Bashwood, der sich rasch die Treppe hinaufgestohlen hatte, um ihr seinen Rapport abzustatten, sah sofort, als er sie erblickte, daß dieser Rapport unnöthig sei. »Es ist nicht meine Schuld«, war Alles, was er sagte, als sie langsam den Kopf wandte und ihn ansah. »Sie haben sich getroffen und es war unmöglich, sie wieder zu trennen.«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und ersuchte ihn, still zu sein. »Warten Sie ein wenig«, sagte sie; »ich weiß bereits Alles.«

Darauf schritt sie langsam dem entferntesten Ende des Corridors zu, kehrte um und kam langsam mit finsterer Stirn und gesenktem Haupte wieder zu ihm; all ihre Anmuth und Schönheit war bis auf die ihr angeborene Grazie in ihren Bewegungen von ihr gewichen.

»Wollen Sie mit mir sprechen?« fragte sie. Ihr Geist schweifte weit von ihm weg und ihre Augen starrten ins Leere.

Wie noch nie« in ihrer Gegenwart raffte er seinen Muth zusammen.

»Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung«, schrie er mit fürchterlicher Heftigkeit. »Sehen Sie mich nicht so an, jetzt, wo ich’s entdeckt habe!«

»Was haben Sie entdeckt?« fragte sie mit der Miene momentanen Erstaunens, das indeß wieder verschwand, ehe er so viel Luft finden konnte, um ihr zu antworten.

»Mr. Armadale ist nicht der Mann, der Sie mir entrissen hat«, entgegnete er. »Mr. Midwinter ist es. Gestern habe ich’s bereits auf Ihrem Gesichte gelesen und jetzt lese ich’s wieder. Warum haben Sie »Armadale« unterzeichnet, als Sie mir schrieben? Warum nennen Sie sich noch immer Mrs. Armadale?«

In langen Zwischenpausen brachte er diese Worte heraus, und die Anstrengung, Her machte, ihrem Einflusse auf ihn zu widerstehen, war zugleich entsetzlich und kläglich anzusehen.

Sie sah ihn mit sanftem Blicken an. »Hätte ich Sie doch bemitleidet, als wir uns kennen lernten, wie ich Sie jetzt bemitleide!« sagte sie freundlich.

Verzweifelt mühte er sich ab, ihr zu sagen, was er auf der Fahrt vom Bahnhofe hierher ihr zu sagen sich vorgenommen hatte, Worte, welche dunkel andeuten sollten, daß er ihre Vergangenheit kenne, Worte, ihr anzukündigen, daß, was sie auch thun, auf welche Schandthaten sie sinnen möchte, sie doch zweimal überlegen solle, ehe sie ihn wieder hintergehe und verlasse. So hatte er sich gelobt mit ihr zu sprechen. Im Geiste hatte er sich schon Ausdrücke gewählt, hatte bereits die Sätze geformt und geordnet, nichts fehlte mehr, als durch das Sprechen selbst das Ganze zu krönen, und selbst jetzt, nach Allem, was er schon gesagt und gewagt hatte, ging dies über sein Vermögen! Trostlos stand er da und sah sie an, sodaß er ihr Mitleiden erregte, trostlos weinte er die stummen weibischen Thränen, die den Augen alter Männer entfallen.

Freundlich, doch ohne das leiseste Zeichen von Aufregung ergriff sie seine Hand.

»Auf mein Begehren haben Sie schon gewartet«, sagte sie mild. »Warten Sie bis morgen und Sie werden Alles wissen. Wenn Sie sonst nichts glauben, was ich Ihnen gesagt habe, dem, was ich Ihnen jetzt sage, können Sie glauben. Heute Nacht geht es zu Ende.«

Da ließ sich er Schritt des Doctors auf der Treppe hören. Mit in unsäglicher Erwartung klopfendem Herzen zog sich Bashwood zurück. »Heute Nacht gehts zu Ende!« sprach er zu sich selbst, während er sich nach der entgegengesetzten Seite des Corridors bewegte.

»Lassen Sie sich nicht stören, Sir«, sagte der Doctor verbindlich, als er eintrat. »Ich habe mit Mrs. Armadale nichts zu sprechen, was nicht Sie oder Jedermann sonst hören könnte.«

Ohne zu antworten, setzte Bashwood seinen Weg an das entfernteste Ende des Corridors fort, indem er bei sich immer wiederholte: »Heute Nacht geht’s zu Ende!« Der Doctor gesellte sich zu Miß Gwilt.

»Ohne Zweifel haben Sie gehört«, begann er in seinem sanftesten Tone, »daß Mr. Armadale angekommen ist. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, meine theure Dame, daß nicht der geringste Grund vorhanden ist, daß Sie sich nervös aufregen. Ich habe ihn auf das beste beschwichtigt und er ist so ruhig und traitable, wie sich es seine besten Freunde nur wünschen können. Ich habe ihm mitgetheilt, daß heute Abend ihm keine Zusammenkunft mit der jungen Dame gestattet werden könne, daß er aber darauf rechnen dürfe, sie morgen früh bei Zeiten, sobald sie aufgestanden sei, zu sehen, natürlich unter den erforderlichen Vorsicht Maßregeln. Da kein Gasthof in der Nähe und die günstige Stunde ganz plötzlich eintreten kann, verstand es sich unter den obwalte eigenthümlichen Umständen von selbst, daß ich ihm die Gastfreundschaft des Sanatoriums anbot. Mit der allergrößten Dankbarkeit hat er sie angenommen und mir zugleich höchst gentlemännisch und rührend für die Mühe gedankt, die ich mir gegeben, ihn zu beruhigen. Ganz erfreulich, ganz zufriedenstellend bis hierher! Doch gab es dabei noch einen kleinen Haken —— jetzt ist er glücklich beseitigt —— den ich zu erwähnen für nothwendig erachtet, ehe wir uns sämtlich zur Ruhe begeben.«

Nachdem er sich in diesen Worten und so, daß Bashwood sie hören konnte, für die bereits früher an gekündigte Aussage im Falle von Allan’s plötzlichem Tode im Sanatorium den Weg gebahnt hatte, war er im Begriffe, weiter zu sprechen, als von unten heraus der Ton wie von einer Thür, die man zu öffnen versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Unverzüglich ging er die Treppe hinab und schloß die Verbindungsthür zwischen dem ersten und dem zweiten Stock auf, die er beim Herausgehen selbst zugeschlossen hatte. Allein die Person, die sich an der Thür versucht hatte, wenn dies wirklich der Fall gewesen, war zu schnell für ihn. Er sah den Corridor hinab und über die Treppe in das Vorhaus, entdeckte indeß nichts. So kehrte er, nachdem er die Verbindungsthür zum zweiten Male verschlossen hatte, zu Miß Gwilt zurück.

»Verzeihen Sie mir«, nahm er wieder das Wort; »es war mir, als hörte ich unten etwas. Hinsichtlich des kleinen Hakens, von dem ich so eben hatte sprechen wollen, muß ich Ihnen mittheilen, daß Mr. Armadale einen Freund mi gebracht hat, der den wunderlichen Namen Midwinter führt. Kennen Sie den Herrn?« fragte er mit einer argwöhnischen Besorgniß in seinen Blicken, welche die studierte Gleichgültigkeit in seinem Tone eigenthümlich Lügen strafte.

»Ich kenne ihn als einen alten Freund Mr. Armadale’s«,« sagte sie. »Bleibt er ——« Die Stimme versagte ihr und ihre Augen senkten sich vor den forschenden Blicken des Doktors. Sie beherrschte aber die momentane Schwäche und vollendete ihre Frage. »Bleibt er auch die Nacht hier?«

»Mr. Midwinter ist ein Mann von rauhen Manieren und mißtrauischem Temperament«, entgegnete der Doctor, sie unverwandt ansehend. »Sobald als Mr. Armadale meine Einladung angenommen hatte, bestand er seinerseits brüsk genug darauf, ebenfalls hier zu bleiben.«

Er hielt inne, um den Eindruck wahrzunehmen, den seine Worte auf sie machten. Da sie vorsichtig vermieden hatte, den angenommenen Namen ihres Mannes ihm zu nennen, so tappte natürlich der Doctor völlig im finsteren und sein Verdacht war nothwendig der allervagsten Art. Er hatte gehört, wie ihr die Stimme versagte, gesehen, wie sie die Farbe wechselte, er argwöhnte, daß sie hinsichtlich Midwinter’s eine gewisse Reserve beobachte, weiter nichts.

»Haben Sie ihm gewillfahrt?« fragte sie »An Ihrer Stelle hätte ich ihm die Thür gewiesen.«

Die unerschütterliche Gelassenheit ihres Tons sagte dem Doctor, daß heute Abend ihre Selbstbeherrschung nicht wieder zu afficiren war.

»Hätte ich nur meine eigenen Empfindungen zu berücksichtigen gehabt«, erwiderte er, »so berge ich Ihnen nicht, daß ich, wie Sie sich ausdrücken, Mr. Midwinter die Thür gewiesen haben würde. Als ich mich aber deshalb an Mr. Armadale wandte, sah ich, daß dieser vor einer Trennung von seinem Freunde die größte Angst hatte. Unter diesen Umständen blieb nichts Anderes übrig, als ihm wieder zu willfahren. Sich ihm zu widersetzen, ganz abgesehen von meinem natürlichen Widerwillen gegen Skandal und Unruhe in meinem Hause, wie sie mir ein Temperament wie das seines Freundes in Aussicht stellte«, setzte er hinzu, diesmal der Wahrheit nahe kommend, »an eine solche Verantwortlichkeit durfte keinen Augenblick gedacht werden. Demnach bleibt denn Mr. Midwinter heute Nacht im Hause und nimmt —— er besteht darauf, sollte ich vielmehr sagen —— nimmt das Zimmer neben dem Mr. Armadale’s ein. Rathen Sie mir, meine verehrte Dame«, schloß der Doctor so laut und nachdrücklich, als er konnte, »welche Zimmer sollen wir ihnen im ersten Stock anweisen?«

»Bringen Sie Mr. Armadale nach Nummer vier.«

»Und seinen Freund neben ihn nach Nummer drei?« fragte der Doctor. »Gut, ganz gut! Das sind vielleicht die behaglichsten Zimmer. Auf der Stelle will ich die nöthigen Anordnungen treffen. Eilen Sie nicht fort, Mr. Bashwood«, rief er munter aus, als er an die Treppe gekommen war. »Ich habe den Schlüssel meines Gehilfen unten auf dem Fensterstock liegen lassen, und Miß Gwilt kann Sie jederzeit hinauslassen. Bleiben Sie nicht so lange auf, Mrs. Armadale! Ihr Nervensystem verlangt viel Schlaf. Gott schütze Sie, gute Nacht!«

Noch immer in Gedanken versunken, in unaussprechlicher Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, schritt Bashwood aus seiner Ecke auf sie zu.

»Soll ich gehen?« fragte er.

»Nein, Sie sollen bleiben. Ich habe Ihnen gesagt, daß, wenn Sie warteten, Sie morgen Alles erfahren sollten. Warten Sie hier.«

Er zögerte und sah sich um. »Der Doctor«, stammelte er, »ich dachte, der Doctor hätte gesagt ——«

Der Doctor wird sich in nichts mischen, was ich diese Nacht hier im Hause thue. Ich sage Ihnen, bleiben Sie da. Im oberen Stock gibt’s freie Zimmer genug. Nehmen Sie eins davon.«

Abermals kam das Zittern über Bashwood, als er sie ansah.

»Darf ich fragen ——«, begann er.

»Nichts dürfen Sie fragen.«

»Wollen Sie nicht so gut sein, mir zu sagen ——«

»Nichts will ich Ihnen sagen, bevor die Nacht vorüber und der Morgen gekommen ist.«

Seine Neugier überwand seine Furcht. Er ließ sich nicht abschrecken.

»Ist’s etwas Furchtbares, so furchtbar, daß Sie mir’s nicht sagen können?«

Sie verlor die Geduld und stampfte mit dem Fuße. »Gehen Sie!« sagte sie, rasch den Schlüssel vom Fensterstocke nehmend. »Sie thun ganz ruht, wenn Sie mir mißtrauen, ganz recht, wenn Sie mir im Dunkeln nicht weiter folgen. Gehen Sie, ehe das Haus geschlossen wird; ich kann ohne Sie auskommen.« Den Schlüssel in der einen, den Leuchter in der andern Hand schritt sie der Treppe zu.

Schweigend folgte ihr Bashwood Niemand, der ihre Vergangenheit kannte, konnte es entgehen, daß sie zum Aeußersten getrieben war und mit Bewußtsein am Rande eines Verbrechens stand. Im ersten Schrecken über diese Entdeckung machte er sich von der Gewalt los, die sie über ihn besaß, er dachte und handelte wie ein Mann, der wieder einen eigenen Willen hatte.

Sie steckte den Schlüssel in die Thür und wandte sich, von dem Lichte der Kerze voll beschienen, zu ihm um. »Vergessen Sie mich und vergeben Sie mir«, sagte sie. »Wir sehen uns nicht wieder.« Sie öffnete die Thür und gab ihm die Hand. Ihrem Blicke, ihren Worten hatte er widerstanden, der magnetische Zauber ihrer Berührung aber besiegte ihn schließlich. »Ich kann Sie nicht verlassen«, sagte er, verzweiflungsvoll die Hand drückend, die sie ihm bot; »was muß ich thun?«

»Kommen und sehen Sie«, antwortete sie, ohne ihm nur einen Augenblick zur Ueberlegung zu lassen.

Mit fester Hand führte sie ihn über den Corridor der ersten Etage vor das Zimmer Nummer vier. »Merken Sie sich das Zimmer da«, flüsterte sie. Nach einem raschen Blicke auf die Treppe, um sich zu vergewissern, daß auch Niemand dort sei, ging sie wieder an das entgegengesetzte Ende des Corridors. Hier, dem Fenster gegenüber, durch welches der Gang sein Licht erhielt, befand sich ein kleines Zimmer mit einem Gitter oben in der Thür, das zum Schlafzimmer für den erwarteten Assistenzarzt des Doctors bestimmt war. Bei der Lage des Zimmers konnte man durch das Gitter die Schlafräume zu beiden Seiten des Corridors übersehen, sodaß der Hilfsarzt im Stande war, alle etwaigen Unregelmäßigkeiten seitens der seiner Obhut Untergebenen Kranken wahrzunehmen, ohne selbst bemerkt zu werden. Miß Gwilt machte die Thür auf und führte ihn in dies leere Zimmer.

»Warten Sie hier«, sagte sie, »während ich die Treppe hinaufgehe, und schließen Sie sich ein, wenn Sie das wollen. Sie selbst werden zwar drinnen im Dunkeln sein, aber draußen auf dem Corridor brennt das Gas. Fassen Sie an dem Gitter Posto und vergewissern Sie sich, daß Mr. Armadale in das Zimmer geht, welches ich Ihnen so eben bezeichnet habe, und es nachher nicht wieder verläßt. Wenn Sie das Zimmer, ehe ich wiederkomme, nur eine Sekunde aus den Augen verlieren, so werden Sie es Zeit Ihres Lebens zu bereuen haben. Thun Sie aber, wie ich Ihnen sage, so sollen Sie mich morgen wiedersehen und selbst Ihren Lohn fordern dürfen. Rasch mit Ihrer Antwort! Ja oder Nein?«

In Worten konnte er nicht erwidern. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie entzückt. Darauf ging sie. Von seinem Platze vom Gitter aus sah er sie über den Corridor nach der Treppe schlüpfen, durch deren Thür sie verschwand. Dann war Alles still.

Bald ließen sich indeß weibliche Stimmen hören. Es waren die zweier Dienstmädchen, die erschienen, die Betten in Nummer drei und vier zu überziehen. Die Mädchen waren außerordentlich guter Laune und lachten und plauderten durch die offenen Thüren der Zimmer hindurch lustig mit einander. Endlich kämen die Kunden des Herrn, meinten sie; wenn es so fortginge, würde das Haus bald ein freundliches Ansehen bekommen.

Nach einer Weile waren die Betten zurecht gemacht und die Mädchen eilten nach dem Erdgeschosse zurück, wo die Schlafräume des Dienstpersonals lagen. Dann war wieder Alles still.

Jetzt hörte man die Stimme des Doctors. Er erschien am Eingange des Corridors und zeigte Allan und Midwinter den Weg nach ihren Zimmern. Alle zusammen traten in Nummer vier ein. Wenige Minuten darauf kam der Doktor allein wieder heraus, wartete, bis Midwinter ihm folgte, und wies mit einer förmlichen Verneigung aus Nummer drei. Ohne ein Wort zu sagen, ging Midwinter in sein Zimmer und schloß sich darin ein. Der Doctor schritt der Treppenthür zu, schloß sie auf, wartete horchend auf dem Corridor und pfiff leise vor sich hin.

Vorsichtig gedämpfte Stimmen drangen aus der Halle herauf. Der Anstaltsapotheker und die erste Wärterin erschienen ihrerseits, um sich nach ihren im obersten Stockwerke des Hauses befindlichen Schlafzimmern zu begeben. Der Mann verbeugte sich stumm, als er an dem Doctor vorbeiging, stumm knixte die Wärterin und folgte ihm. Mit einer höflichen Handbewegung erwiderte der Doctor die ihm gebotenen Grüße, und wiederum allein, blieb er abermals horchend stehen, pfiff von neuem leise vor sich hin, schritt darauf nach der Thür von Nummer vier und öffnete den in der Ecke an der Wand angebrachten Räucherungsapparat. Als er in diesen hineinsah, hörte sein Pfeifen auf. Er nahm ein langes Flacon von Rubinglas heraus, prüfte es am Gaslichte, stellte es wieder an den alten Platz und machte den Kasten zu. Sobald dies geschehen, schlich er auf den Zehen zu der offenen Treppenthür, schritt hindurch und schloß sie wie gewöhnlich von innen.

Bashwood hatte ihn beim Apparat gesehen, hatte bemerkt, in welcher Weise er seinen Rückzug durch die Treppenthür bewerkstelligte —— von neuem klopfte ihm das Herz vor unsäglicher Spannung. Die Angst preßte ihm kalten Schweiß aus die Stirn und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Schlüssel, der innen in der Thür seines Zimmers stak. In arger Furcht vor dem, was da kommen möchte, drehte er ihn herum und wartete zitternd.

Langsam dehnten sich ihm die Minuten —— und nichts passierte. Das Todesschweigen war ihm fürchterlich, die Einsamkeit des öden Corridors dünkte ihm voll Verrath und Verbrechen. Er begann zu zählen, um seinen Geist abzulenken von seiner Situation, um sich die immer steigende Angst vom Halse zu halten. Langsam folgten sich die Zahlen, die er flüsterte, von eins bis hundert, und immer geschah nichts. Schon hatte er das zweite Hundert begonnen, schon war er bis zwanzig gekommen, als, ohne daß vorher nur ein Laut Kunde gegeben hätte, daß er sich in seinem Zimmer bewegte, Midwinter plötzlich aus dem Corridor erschien.

Er blieb einen Augenblick stehen und horchte, dann ging er an die Treppe und sah in die Halle hinab. Dann probierte er, zum zweiten Male heute Abend, das Schloß an der Treppenthür, und zum zweiten Male fand er es verschlossen. Er überlegte eine Minute, probierte darauf zunächst die Schlafzimmerthüren zur Rechten, alsdann die zur Linken, blickte in ein Zimmer nach dem andern und sah, daß sie leer waren, und kam endlich an die Thür des Gemaches, in welchem Bashwood sich versteckt hielt. Auch hier leistete das Schloß ihm Widerstand. Er lauschte und sah zum Gitter empor. Kein Laut regte, kein Licht zeigte sich drinnen. »Soll ich die Thür einschlagen«, sagte er zu sich selbst, »und mir Gewißheit verschaffen? Nein, es würde dem Doctor einen Anhalt an die Hand geben, mich aus dem Hause zu weisen.« Er entfernte sich und schritt dem Fenster bei der Treppe, ganz am Ende des Corridors, zu. Hier zog der Räucherungsapparat seine Aufmerksamkeit aus sich. Nachdem er umsonst versucht hatte, den Kasten zu öffnen, schien sein Argwohn zu erwachen. Er durchsuchte alle Thüren des Corridors und bemerkte, daß sich neben keiner andern eine ähnliche Vorrichtung befand. Von neuem ging er ans Fenster und betrachtete sich den Apparat von neuem, um sich endlich mit einer Gebärde abzuwenden, welche deutlich erkennen ließ, daß er das Räthsel dieser Vorrichtung vergeblich zu lösen suchte.

Dergestalt überall scheiternd, machte er doch noch keine Anstalt, sich wieder in sein Schlafzimmer zu verfügen. Die Augen auf Allan’s Zimmer heftend, blieb er nachdenklich am Fenster stehen. Hätte Bashwood, der ihn durch das Gitter verstohlen belauschte, ebenso gut Midwinter in die Seele blicken können, wie er dessen Körper sah, wohl möchte alsdann ihm das Herz noch stärker geklopft haben, wie es ihm vor kaum mehr erträglicher Spannung schon jetzt klopfte.

Worüber sann Midwinter, als er in tiefer Nacht einsam dastand in dem fremden Hause?

Er sann, wie er allmälig die Zusammenhanglosen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, auf einen Punkt beziehen könne. Von Anfang an überzeugt, daß irgend eine verborgene Gefahr Allan im Sanatorium drohe, dehnte er seinen Verdacht, freilich vag und unbestimmt, zunächst auf die ganze Lokalität aus, auf seine Frau, von der er fest glaubte, daß sie sich jetzt unter einem Dache mit ihm befinde; auf den Doctor, welcher so offenbar wie Bashwood selbst in ihr Vertrauen gezogen war; jetzt verengerte er die Grenzen seines Argwohns, er concentrirte diesen nunmehr beharrlich auf Allan’s Zimmer. Umsonst hatte er seinen Verstand angestrengt, die Kränkung, die ihm gestern selbst zugefügt worden war, mit seinem Argwohne bezüglich eines gegen Allan gerichteten Complots in Verbindung zu bringen; jetzt gab er dies Beginnen als fruchtlos auf, und wirr und schwirr im Kopfe von vielem Sinnen und Grübeln, nahm er seine Zuflucht zu den Thatsachen, die ihm seit seiner Ankunft im Sanatorium entgegengetreten waren. Alles, was er unten wahrgenommen hatte, wies darauf hin, daß durch ihren Aufenthalt im Sanatorium ein geheimer Plan gefördert werden sollte; nach Allem, was er oben wahrnahm, stand der Schlupfwinkel, wo die Gefahr lauerte, mit Allan’s Zimmer in Zusammenhang. Zu dieser Folgerung gelangen und den Entschluß fassen, das Complott, welcher es auch sei, dadurch zu vereiteln, daß er selbst Allan’s Stelle einnahm, war bei Midwinter das Werk einer Minute. Der wirklichen Gefahr gegenüber machte sich die große Natur des Mannes instinctiv von der Schwäche frei, mit welcher sie in glücklichem und bessern Zeiten behaftet gewesen war. Der einzige Zweifel, der ihn noch quälte, als er am Fenster stand und sann, war der, ob er auch Allan zu einem Zimmertausche werde bewegen können, ohne eine Erklärung geben zu müssen, die Allan die Wahrheit ahnen lassen könnte.

In dem Augenblicke jedoch, in dem seine Blicke noch auf das Zimmer geheftet blieben, war der Zweifel gelöst, er fand den unbedeutenden, doch hinreichenden Grund, welchen er suchte. Bashwood sah, wie er schnell nach der Thür ging, und hörte ihn leise anklopfen und flüstern: »Allan, bist Du schon zu Bette?«

»Nein«, antwortete es drinnen; »komm herein.«

Eben schien Midwinter im Begriffe zu stehen, die Thür aufzumachen, als er plötzlich inne hielt, wie wenn ihm plötzlich etwas einfiele. »Warte einen Augenblick, sagte er durch die Thür und schritt dann stracks auf das letzte Zimmer zu. »Ist da drinnen Jemand, der uns belauert«, rief er laut, »so soll er uns durch das da belauern!« Er nahm sein Taschentuch heraus und stopfte es zwischen die Drahtstäbe des Gitters, sodaß die Oeffnung vollkommen geschlossen war. So hatte er den drinnen lauernden Spion —— wenn wirklich einer drin war —— gezwungen, entweder sich durch Wegnehmen des Tuchs zu verrathen oder für Alles, was zunächst geschehen konnte, blind zu bleiben, und nun erst trat er bei Allan ein.

»Du weißt, was für elende Nerven ich habe«, begann er, »und wie jämmerlich ich selbst in meinen besten Tagen schlafe. Heute kann ich wieder einmal nicht schlafen; das Fenster in meinem Zimmer rasselt bei jedem Windstöße. Ich wünschte, es wäre so fest wie Deines hier.«

»Mein lieber Junge«, rief Allan, »ich mache mir aus einem klappernden Fenster nichts. Laß uns mit den Zimmern tauschen! Unsinn! Warum entschuldigst Du Dich gegen mich? Weiß ich nicht, wie leicht so erregbare Nerven wie Deine von Kleinigkeiten afficirt werden? Nun der Doctor mich hinsichtlich der armen lieben Neelie beruhigt hat, beginne ich die Strapazen der Reise zu spüren, und ich stehe dafür, daß ich, sei es, wo es wolle, bis in den hellen Tag hinein schlafen werde.« Er nahm seine Reisetasche. »Wir müssen uns beeilen«, setzte er hinzu, indem er auf seine Kerze wies. »Man hat mir nicht viel Licht zum Zubettgehen gegeben.«

»Sei ganz still, Allan«, sagte Midwinter, ihm die Thür öffnend. »Wir dürfen in so später Stunde das Haus nicht stören.«

»Ja, ja«, entgegnete Allan flüsternd »Gute Nacht! Hoffentlich schläfst Du nun so gut, wie ich schlafen werde.«

Midwinter begleitete ihn nach Nummer drei und bemerkte, daß seine eigene Kerze, die er darin hatte stehen lassen, nicht größer war als die Allan’s. »Gute Nacht«, sagte er und trat wieder auf den Corridor heraus.

Von neuem ging er auf das Gitter zu und horchte von neuem. Das Taschentuch war noch genau so darin, wie er es hineingestopft hatte, und noch immer kein Laut drinnen zu vernehmen. In tiefen Gedanken schritt er über den Corridor seinem neuen Zimmer zu. Gab es kein anderes Mittel als das, welches er versucht hatte? Keins. Jedwede offene Vertheidigung oder Schutzmaßregel wäre da, wo die Art der Gefahr und die Seite, woher sie kam, gleich unbekannt blieben, an und für sich nutzlos gewesen, und mehr als nutzlos, weil sie die Leute im Hause aufmerksam gemacht und veranlaßt hätte, auf ihrer Hut zu sein. Das Einzige was Midwinter zum Schutze seines Freundes thun konnte, dem er seinen auf keine bestimmte Thatsache gegründeten Verdacht nicht mittheilen durfte und dessen Vertrauen auf den äußerlich so bieder sich darstellenden Doctor er nicht erschüttern mochte, blieb die Vertauschung der Zimmer und die einzig zu befolgende Politik die Politik des Zuwartens. »Auf eins kann ich bauen«, sagte er zu sich selbst, als er zum letzten Male den Corridor überblickte; »ich kann darauf bauen, daß ich wach bleibe.

Nach einem Blicke auf die gegenüber tickende Wanduhr begab er sich nach Nummer vier. Man hörte das Geräusch der sich schließenden Thür und des vorgeschobenen Riegels, dann lag von neuem das ganze Haus in Grabesschweigen.

Nach und nach überwand das Grausen vor der Stille und Finsternis in Bashwood die Furcht, das Taschentuch zu berühren. Vorsichtig zog er einen Zipfel desselben heraus, wartete, sah sich um und faßte sich endlich das Herz, das ganze Taschentuch durch die Drahtstäbe des Gitters zu sich hereinzuziehen. Er steckte es in die Tasche, dachte aber sogleich an die Folgen, die es haben könne, wenn man es bei ihm fände, und warf es in einen Winkel des Zimmers. Er zitterte dabei, sah furchtsam nach seiner Uhr und stellte sich wieder ans Gitter, um auf Miß Gwilt zu warten.

Es war dreiviertel auf eins; der Mond stand jetzt der Hauptfronte des Sanatoriums gerade gegenüber. Von Zeit zu Zeit fiel sein Licht hell auf das Corridorfenster, wenn die Zwischenräume in den jagenden Wolken es durchließen. Der Wind hatte sich erhoben und sang leise seinen trübseligen Gesang, wenn er über die öde Umgebung des Hauses strich.

Als der Zeiger der Uhr aus ein Viertel zwei wies, trat Miß Gwilt leise in den Corridon »Kommen Sie heraus«, flüsterte sie durch das Gitter, »und folgen Sie mir. Sie ging an die Treppe zurück, die sie eben herabgekommen war, stieß die Thür sanft auf und führte Bashwood, der inzwischen sein Zimmer verlassen hatte, nach dem Treppenabsatz vor der zweiten Gage. Hier fragte sie ihn, was sie unten zu fragen nicht gewagt hatte.

»Ist Mr. Armadale in Nummer vier untergebracht worden?«

Ohne zu sprechen, nickte er mit dem Kopfe.

»Antworten Sie mir in Worten. Hat Mr. Armadale seitdem das Zimmer verlassen?«

»Nein«, entgegnete er.

»Haben Sie, seit ich von Ihnen ging, auch das Zimmer niemals aus den Augen gelassen?«

»Niemals«, lautete seine Antwort.

Etwas Eigenthümliches in seinem Wesen, etwas Ungewohntes im Tone seiner Stimme zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie nahm ihren Leuchter von einem nahestehenden Tische, auf den sie denselben gestellt hatte, und ließ den Schein des Lichts auf sein Gesicht fallen. Seine Augen stierten, die Zähne klapperten ihm, Alles verrieth die Angst, in der er sich befand, nichts aber sagte ihr, daß diese Angst von dem Bewußtsein seiner Schuld, von dem Bewußtsein herrührte, daß er sie zum ersten Male in seinem Leben betrogen hatte. Hätte sie ihm nicht so unumwunden gedroht, hätte sie minder rückhaltslos von dem Zusammensein gesprochen, das ihn am nächsten Morgen belohnen sollte, dann hätte er vielleicht die Wahrheit gestanden. So hatten seine schlimmsten Befürchtungen und seine liebsten Hoffnungen das gleiche Interesse, ihr jene verhängnißvolle Lüge zu sagen, die er ihr auch jetzt wiederholte, als sie ihre Frage zum zweiten Male an ihn richtete.

Sie sah ihn an, den Mann, von dem sie am allerwenigsten erwartete, daß er sie betrügen würde, den Mann, den sie selbst betrogen hatte.

»Sie scheinen mir überreizt«, sprach sie gelassen. »Die Nacht ist über Ihre Kräfte gegangen. Gehen Sie hinauf und ruhen Sie aus. Sie werden die Thür von einem der Zimmer offen finden; das nehmen Sie. Gute Nacht!«

Damit reichte sie ihm die Hand und wollte gehen. Verzweiflungsvoll hielt er sie zurück. Die Angst vor dem, was geschehen möchte, wenn sie allein gelassen würde, zwang ihm die-Worte auf die Lippen, zu denen ihm zu einer andern Zeit der Muth gefehlt haben würde.

»Thun Sie’s nicht«, flehte er flüsternd, »ach, thun Sie’s nicht, gehen Sie heute Nacht nicht hinunter!«

Sie ließ seine Hand los und bedeutete ihn, die Kerze zu nehmen. »Morgen sollen Sie mich sprechen«, sagte sie. »Heute kein Wort mehr!«

Wie immer beherrschte ihn ihr starker Wille auch im letzten Augenblicke. Er nahm die Kerze, wartete aber und folgte ihr mit gierigen Blicken, während sie die Treppe hinabstieg. Die Kälte der Decembernacht schien durch alle Wärme des Hauses ihren Weg bis zu ihr gefunden zu haben. Sie hatte einen langen dicken schwarzen Shwal umgethan und ihn fest um ihre Brust gezogen. Der Flechtenkranz zu dem sie ihr Haar zu ordnen pflegte, schien ihrem Kopfe zu schwer geworden zu sein; sie hatte ihn aufgelöst und über ihre Schultern fallen lassen. Der alte Mann betrachtete ihr wallendes Haar, wie es roth auf dem schwarzen Shawle lag, betrachtete ihre schlanke Hand mit den langen feinen Fingern, betrachtete die verführerische Grazie jeder ihrer Bewegungen, die sie ihm weiter und weiter entführten. »Die Nacht wird rasch vergehen«, dachte er, als sie ihm aus den Blicken entschwand; »ich werde von ihr träumen, bis der Morgen kommt.«

Sie verschloß die Treppenthür und horchte, nichts rührte sich; dann ging sie langsam den Corridor hinab bis zum Fenster. An den Fensterstock gelehnt, sah sie in die Nacht hinaus. Der Mond war eben hinter Wolken verborgen, nichts in der Finsternis draußen zu erkennen als die zerstreuten Gaslichter in der Vorstadt. Sie wandte sich wieder vom Fenster ab und sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten nach eins.

Zum letzten Male zwang sich ihr der Gedanke auf, der ihr gekommen war, als sie wußte, daß ihr Gatte im Hause war; zum letzten Male sagte ihr die innere Stimme: »Ueberlege, ob es keinen andern Weg gibt!«

Sie sann, bis der Minutenzeiger auf halb wies. »Nein!« sagte sie, noch immer an ihren Gatten denkend. »Nein, es gibt nur den Weg, es bis zu Ende zu vollbringen. Er wird ungethan lassen, um deswillen er hierher gekommen; er wird die Worte ungesprochen lassen, die zu sagen er erschienen ist, sobald er erfährt, daß seine Schritte einen öffentlichen Skandal hervorrufen und seine Worte mich dem Schafott überantworten werden!« Ein höheres Roth erglühte auf ihrem Gesicht und sie lächelte mit einer entsetzlichen Ironie, als sie jetzt nach der Thür des Zimmers blickte. »In einer halben Stunde«, sagte sie, »werde ich Deine Witwe sein!«

Sie schloß den Kasten des Apparats auf und nahm das rothe Flacon in die Hand. Nach einem Blicke auf die Uhr, um zu sehen, welche Zeit es sei, tröpfelte sie in den gläsernen Trichter die erste der sechs Portionen, wie sie die Papierstreifen für sie abgemessen hatten.

Als sie das Flacon wieder hinstellte, legte sie das Ohr an die Mündung des Trichters. Kein Laut ließ sich vernehmen, schweigend wie der Tod selbst vollbrachte der tödtliche Proceß sein Werk. Als sie sich empor richtete und aufsah, schien der Mond hell zum Fenster herein und das Aechzen des Windes war verstummt.

Ach die Zeit, die lange Zeit! Wäre es doch wenigstens mit dieser ersten Dosis abgethan gewesen!

Sie ging hinab in das Vorhaus, sie wanderte auf und nieder und horchte an der offenen Thür, die in die Küche hinabführte. Dann kam sie wieder heraus und stieg wieder hinunter. Die Zeit schien still zu stehen, das Warten war zum Wahnsinnig werden.

Die Zwischenzeit verstrich. Als sie das Flacon zum zweiten Male nahm und die zweite Dosis in den Trichter goß, jagten die Wolken über den Mond und verdunkelten das Nachtbild draußen vor dem Fenster.

Die Unruhe, die sie treppauf und treppab und hin und her in der Halle getrieben hatte, wich so plötzlich von ihr, wie sie erschienen war. Am Fensterstocke lehnend und, ohne sich irgend eines Gedankens bewußt zu werden, in die schwarze Nacht hinaus starrend, wartete sie die zweite Zwischenpause ab. Aus einer entfernten Gegend der Vorstadt trug der Wind das langgezogene Geheul eines ins Ohr. Mit dumpfer Aufmerksamkeit folgte sie dem Tone, bis er allmälig erstarb, und lauschte mit noch dumpferer Erwartung, bis er sich wieder erhob. Wie Blei lagen ihre Arme auf dem Fensterstock, ohne die Kälte zu empfinden, drückte sie ihre Stirn an die Scheiben. Erst als der Mond wieder hell aus dem Gewölke hervortrat, kam ihr das Bewußtsein der Situation wieder. Schnell drehte sie sich um und sah nach der Uhr. Sieben Minuten waren seit dem Auströpfeln der zweiten Dosis verflossen.

Als sie die Flasche ergriff und den Trichter zum dritten Male füllte, ward sie sich des Moments wieder voll bewußt. Fieberhitze entzündete ihr Blut und stieg ihr glühend in die Wangen. Schnell und leise, die Arme unter dem Shawl gekreuzt und mit dem Auge Sekunde um Sekunde die Uhr verfolgend, schritt sie den Corridor auf und nieder.

Drei von den nächsten fünf Minuten waren vorüber und wieder brachte fie das Warten fast von Sinnen. Der Corridor wurde der unüberwindlichen Unruhe ihrer Glieder zu eng. Sie ging abermals in die Halle hinab und rannte darin im Kreise umher wie ein wildes Thier im Käfig. Beim dritten Umgang fühlte sie, daß etwas leise ihr Kleid berührte. Die Hauskatze war durch die offene Küchenthür hereingekommem eine große, dreifarbige, gesellige Katze, die behaglich schnurrte, und folgte ihr als Begleiterin. Sie nahm das Thier auf den Arm, das seinen weichen Kopf an ihrem Kinne rieb, als sie sich zu ihm niederbog. »Armadale haßt die Katzen«, flüsterte sie dem Thiere ins Ohr; »komm und sieh ihn sterben!« Im nächsten Augenblick erschrak sie vor ihrer eigenen fürchterlichen Phantasie. Zusammenschaudernd ließ sie die Katze fallen und jagte sie mit drohender Hand hinaus. Eine Minute blieb sie stehen, dann stürmte sie Hals über Kopf die Treppe hinauf. Der Gedanke an ihren Mann hatte sich ihr wieder gewaltsam aufgedrängt, er drohte ihr mit einer Gefahr, die ihr zuvor noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Wie, wenn er nicht schliefe? Wie, wenn er plötzlich herauskäme und sie mit dem Flacon in der Hand fände?

Sie schlich an die Thür von Nummer drei und horchte. Das langsame regelmäßige Athmen eines Schlafenden ließ sich vernehmen. Erleichtert und beruhigt wartete sie einen Augenblick, that einen Schritt auf Nummer vier zu und blieb dann wieder stehen. An dieser Thür brauchte sie nicht zu horchen. So gewiß wie der Tod nachher, kam in der vergifteten Luft zuerst der Schlaf, hatte ihr der Doctor gesagt. Sie warf einen Seitenblick auf die Uhr; es war Zeit zur vierten Dosis.

Ihre Hände zitterten heftig, als sie den Trichter zum vierten Male füllte. Die Angst vor ihrem Manne machte ihr wieder das Herz klopfen. Wie, wenn ihn ein Geräusch aufstörte, ehe die sechste Dosis ausgegossen war? Wie, wenn er, wie sie es so oft an ihm gesehen hatte, plötzlich auch ohne Geräusch erwachte?

Ihre Augen irrten im Corridor umher. Das Zimmer, wo sich Bashwood versteckt gehalten hatte, bot sich ihr jetzt selbst als Schlupfwinkel. »Ich könnte da hineingehen!« dachte sie. »Hat er den Schlüssel stecken lassen?« Sie machte die Thür auf und sah das auf den Boden geworfene Taschentuch. War es Bashwood’s Tuch, das er zufällig hatte liegen lassen? Sie musterte die Zipfel; im zweiten fand sie den Namen ihres Gatten!

Im ersten Momente wollte sie die Treppe hinauf, um Bashwood zu wecken und auf Erklärung zu dringen. Im nächsten Augenblicke dachte sie an das rothe Flacon und an die Gefahr, den Corridor zu verlassen. Sie wandte sich um und sah nach Nummer drei. Nach dem Taschentuche zu schließen, war ihr Mann ohne allen Zweifel außerhalb des Zimmers gewesen und Bashwood hatte ihr nichts davon gesagt. War er jetzt in seinem Zimmer? Im Sturme ihrer Aufregung vergaß sie, als ihr diese Frage durch den Kopf schwirrte, die Entdeckung, die sie selbst kaum vor einer Minute gemacht hatte. Von neuem horchte sie an der Thür, von neuem hörte sie das regelmäßige Athmen des Schlafenden. Das erste Mal hatte das Zeugniß ihrer Ohren hingereicht, sie zu besänftigen; diesmal, bei ihrem zehnfach gesteigerten Argwohn und ihrem Schrecken, wollte sie auch das Zeugniß ihrer Augen haben.

»Alle Thüren in diesem Hause lassen sich geräuschlos öffnen«, sagte sie zu sich selbst; »ich brauche nicht zu besorgen, daß er aufwacht.« Leise und ganz allmälig machte sie die unverschlossene Thür auf und sah hinein, sobald diese weit genug aufstand. In dem wenigen Lichte, das ins Zimmer fiel, nur der Kopf des Schläfers auf dem Kissen sichtbar. Hob sich dieser ganz so dunkel vom weißen Pfühle ab wie der Kopf ihres Gatten, wenn er im Bett lag? Ging der Athem so leise wie der ihres Mannes, wenn er schlief?

Sie machte die Thür weiter auf und sah bei hellerem Lichte hinein.

Da lag der Mann, nach dessen Leben sie zum dritten Male getrachtet hatte, und schlief sanft und ruhig in dem Zimmer, das ihrem Gatten überwiesen worden war, und in der Luft, die Niemand ein Leid zufügen konnte!

Der Schluß, den sie hieraus unvermeidlich ziehen mußte, übermannte sie sofort. Die Hände krampfhaft emporhebend, taumelte sie in den Corridor zurück. Die Thür von Allan’s Zimmer fiel ins Schloß, doch nicht laut genug, um ihn aufzuwecken. Sie wandte sich um, als sie das Geräusch hörte; wie betäubt stand sie da und starrte danach hin. Dann, noch ehe ihre Vernunft sich wieder sammelte, trieb sie ihr Instinct zum Handeln. In zwei Schritten war sie an der Thür von Nummer vier.

Die Thür war verschlossen.

Wild und schwer fiel sie mit beiden Händen über die Wand her, um nach dem Knopfe zu suchen, auf den sie den Doctor hatte drücken sehen, als er seinen Besuchern das Zimmer zeigte. Zweimal entging er ihr, beim dritten Male halfen die Augen den Händen, sie fand den Knopf und drückte darauf. Der Regel drinnen sprang zurück, und die Thür fügte sich ihr.

Ohne einen Augenblick zu zaudern, ging sie in das Zimmer. Obgleich die Thür auf war, obgleich seit dem vierten Aufguß eine so kurze Zeit verflossen war, daß sich kaum erst die halbe Menge des erforderlichen Gases entwickelt hatte, so schlug ihr doch die vergiftete Lust entgegen wie der Griff einer Hand um ihre Kehle, wie ein eiserner Ring um ihren Kopf. Sie fand Midwinter am Fuß des Bettes aus dem Teppich liegen, den Kopf und den einen Arm der Thüre zu, als wäre er beim ersten Gefühl von Betäubung aufgestanden und über dem Versuch, das Zimmer zu verlassen, umgesunken. Mit jener verzweiflungsvollen Kraftanstrengung, deren Frauen in Fällen der Noth fähig sind, hob sie ihn auf und zog ihn auf den Corridor hinaus. Das Hirn wirbelte ihr, als sie ihn niederlegte und auf ihren Knieen nach dem Zimmer zurückkroch, um die giftige Luft vom Gange abzusperren. Nachdem sie die Thür geschlossen hatte, wartete sie, ohne daß sie sich getraute ihn anzusehen, bis sie wieder ihre Kraft so weit gesammelt hatte, um sich zu erheben und ans Fenster über der Treppe zu gelangen. Sobald sie dies ausgerissen hatte, sobald die frische Luft des frühen Wintermorgens hereinwehte, wagte sie sich zu ihm zurück und richtete seinen Kopf empor, zum ersten Male ihm voll ins Gesicht blickend.

War es der Tod, der dies fahle Grau über seine Stirn und seine Wangen breitete und die düstere Bleifarbe ihm auf Augenlider und Lippen goß?

Sie lockerte seine Cravatte und knöpfte seine Weste auf, um Hals und Brust besser zugänglich zu machen. Ihre Hand auf seinem Herzen, mit ihrer Brust seinen Kopf unterstützend, sodaß er gerade auf das offene Fenster gerichtet war, wartete sie auf das, was geschehen würde. Eine Weile verstrich, eine Zeit von wenigen Minuten und doch lang genug, ihr ganzes Eheleben mit ihm ihr ins Gedächtniß zurückzurufen, lang genug, um den Entschluß zu zeitigen, der jetzt in ihrer Seele aufstieg, als das einzige Ergebniß, welches aus jenem Rückblick entstehen konnte. Wie ihre Augen auf ihm ruhten, prägte sich allmälig eine wunderbare Ruhe in ihren Zügen aus. Sie sah aus, als ob sie eben sowohl auf seines Wiederherstellung als auf die Gewißheit seines Todes gefaßt sei.

Kein Schrei, keine Thräne war ihr noch entschlüpft, kein Schrei, keine Thräne entrang sich ihr, als sie nach einer kleinen Weile das erste matte Schlagen seines Herzens und den ersten schwachen Athemzug an seinen Lippen hörte. Stumm beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Als sie wieder aufblickte, war die grimme Verzweiflung aus ihrem Antlitz gewichen. Etwas Strahlendes glänzte in ihren Augen, das ihr ganzes Gesicht wie mit einem inneren Lichte übergoß und sie wieder weiblich und lieblich machte.

Sie legte ihn nieder, nahm ihren Shawl ab und faltete daraus ein Kissen für seinen Kopf zusammen. »Es hätte schwer werden können, Herz«, sagte sie, als sie fühlte, wie der Athem in seiner Brust lauter und lauter wurde. »Du hast’s nun leicht gemacht.«

Sie stand auf, und den Blick wendend, bemerkte sie das Flacon da, wo sie es seit der vierten Dosis gelassen hatte. »Ach«, dachte sie ruhig, »ich hatte meinen besten Freund vergessen, ich hatte vergessen, daß noch mehr aufzugießen ist.«

Mit fester Hand, mit gelassenem, aufmerksamen Gesicht füllte sie den Trichter zum fünften Male. »Noch fünf Minuten«, sagte sie, als sie nach einem Blick auf die Uhr das Fläschchen wieder beiseite stellte.

Sie versank in Gedanken, Gedanken, welche die ernste und milde Fassung in ihren Zügen nur erhöhten. »Soll ich ihm ein Abschiedswort schreiben?« fragte sie sich selbst. »Soll ich ihm die Wahrheit sagen, ehe ich auf ewig von ihm gehe?«

Ihr kleiner goldener Bleistifthalter hing mit andern Spielereien an ihrer Uhrkette. Nachdem sie eine Sekunde lang sich umgesehen hatte, kniete sie vor ihrem Gatten nieder steckte ihre Hand in die Brusttasche seines Rocks.

Seine Brieftasche war darin; einige Papiere fielen heraus, als sie das Schlößchen derselben aufdrückte. Eins war der Brief, den Mr. Brock von seinem Sterbebette aus ihm geschrieben hatte. Sie schlug die beiden Blätter um, auf denen der Pfarrer geschrieben hatte, was nunmehr in Erfüllung gegangen war, und fand auf dem letzten Blatte noch eine freie Seite. Auf diese Seite schrieb sie, neben ihrem Gatten knieend, ihre Abschiedszeilen:

»Ich bin schlechter, als Du, selbst wenn Du das Schlechteste von mir glaubst, denken kannst. Du hast Armadale gerettet, dadurch daß Du heute Nacht das Zimmer mit ihm getauscht, und hast ihn vor mir gerettet! Jetzt kannst Du Dir denken, wessen Wittwe ich vorstellen wollte, wenn Du nicht sein Leben beschützt hättest, und wirst nun wissen, welches elende Geschöpf Du heirathetest, als Du das Weib nahmst, das jetzt diese Zeilen schreibt. Und doch hatte ich unschuldige Momente, und dann liebte ich Dich heiß. Vergiß mich, mein süßes Herz, in der Liebe zu einem bessern Weibe, als ich es bin! Vielleicht hätte ich dies bessere Weib selbst werden können, hätte ich nicht ein so jammervolles Leben gelebt, ehe wir uns kennen lernten. Jetzt kommt darauf nicht viel an. Das Einzige, was ich thun kann, das viele Böse, was ich gegen Dich verübt habe, wieder gut zu machen, ist, daß ich mein Leben hingebe. Jetzt, wo ich weiß, daß Du leben bleiben wirst, wird mir das Sterben nicht schwer. Selbst meine Verruchtheit hat ein Verdienst —— sie ist gescheitert mit ihren Anschlägen. Ich bin ja niemals ein glückliches Weib gewesen!«

Sie faltete den Brief wieder und gab ihm die Blätter in die Hand, um so seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sobald er wieder zu sich käme. Als sie sachte seine Finger um das Papier schloß und aussah, war die letzte Minute der letzten Zwischenzeit gekommen und starrte ihr von der Uhr herab entgegen.

Sie, neigte sich über ihn und gab ihm den Abschiedskuß.

»Lebe, mein Engel, lebe!« murmelte sie zärtlich, während ihre Lippen leise die seinen streiften. »Das ganze Leben liegt noch vor Dir, ein glückliches Leben und ein ehrenvolles Leben, wenn Du von mir frei bist.«

Mit einem legten zögernden sanften Kusse strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Es ist kein Verdienst, daß ich Dich geliebt habe«, sagte sie. »Du bist ja einer von den Männern, welche alle Weiber lieb haben.« Sie seufzte und ging von ihm; es war ihre letzte Schwäche gewesen. Dann nickte sie der Wanduhr zu, als wäre dies ein lebendiges Wesen gewesen, das mit ihr sprach, und füllte den Trichter zum letzten Male und bis auf den letzten Tropfen, der sich im Flacon befand.

»O Gott, vergib mir!« sagte sie. »O Christus, bezeuge, daß ich gelitten habe!«

Noch einen Augenblick blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen, zögerte, um den letzten Blick in diese Welt zu thun, und dieser letzte Blick galt ihm.

»Fahre wohl!« sprach sie sanft.

Die Thür des Zimmers öffnete sich und schloß sich hinter ihr. Eine Minute tiefen Schweigens dann plötzlich ein dumpfes Geräusch, wie das Geräusch eines fallenden Körpers.

Dann wiederum tiefes Schweigen.

~~~~~~~~~~

Stetig ihrem vorgeschriebenen Laufe folgend, durchliefen die Zeiger der Uhr Minute um Minute. Es war die zehnte Minute, nachdem sich die Thür geöffnet und wieder geschlossen hatte, als Midwinter auf seinem Kissen sich regte und im Bemühen, sich aufzurichten, den Brief in seiner Hand bemerkte.

Im selben Augenblicke wurde ein Schlüssel in der Treppenthür umgedreht. Erwartungsvoll erschien der Doctor und sah erwartungsvoll nach dem verhängnißvollen Zimmer —— da entdeckte er das Flacon auf dem Fensterstock und den am Boden hingestreckten Mann, der sich eben zu erbeben suchte.«



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Mr. Pedgift sen. (Thorpe-Ambrose) an
Mr. Pedgift jun.(Paris).

»High-Street, den 20. December.

Mein lieber Augustus!

Gestern habe ich Deinen Brief empfangen. Du scheinst Deine Jugend, wie Du’s nennst, nach Herzenslust zu genießen. Gut! Genieße Deine Ferienzeit. Als ich in Deinem Alter war, habe ich auch meine Jugend aufs beste genossen und, merkwürdig! ich habe es noch nicht vergessen.

Du fragst mich nach Neuigkeiten und bittest besonders um nähere Auskunft über die mysteriöse Geschichte im Sanatorium.

Die Neugier, mein lieber Sohn, ist eine Eigenschaft, die, namentlich in unserm Berufe, manchmal zu großen Resultaten führt; ob sie indes in diesem Falle viel ergibt, möchte ich bezweifeln. Alles, was ich über das Sanatoriumgeheimniß weiß, das weiß ich von Mr. Armadale, und in mehr als einem wichtigen Punkte tappt er völlig im Dunkeln. Wie sie in das Haus gelockt worden sind, habe ich Dir schon erzählt, ebenso, wie sie die Nacht dort zugebracht haben. Hierzu kann ich jetzt fügen, daß Mr. Midwinter bestimmt etwas passierte, was ihn seines Bewußtseins beraubte, und daß der Doctor, der in die Sache verwickelt zu sein scheint, sich aufs hohe Pferd setzt und in seinem Sanatorium nicht behelligt sein will. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß das elende Weib, wie es nun auch zu seinem Tode gekommen, todt gefunden worden ist, daß eine Leichenschau die Sache näher untersucht, daß es sich herausgestellt, daß sie als Kranke im Hause aufgenommen worden, und daß das medicinische Gutachten sich dahin ausgesprochen hat, sie sei infolge eines Schlagflusses gestorben. Meine Ansicht aber ist, daß Mr. Midwinter seine besonderen Gründe haben mag, mit dem Zeugniß, das er wohl hätte geben können, nicht vor die Oeffentlichkeit zu treten. Ebenso habe ich Grund zu argwohnen, daß Mr. Armadale aus Rücksicht für ihn mit seinen Aussagen zurückgehalten hat, und daß das Verdict bei der Leichenschau, ohne daß ich darum Jemand einen Vorwurf machen will, wie so viele andere bei ähnlichen Anlässen, einer ganz oberflächlichen Untersuchung der Sache entsprungen ist.

Nach meiner festen Ueberzeugung ist der Schlüssel des ganzen Räthsels darin zu suchen, daß das elende Geschöpf versuchte, als Mr. Armadale’s Wittwe zu figuriren, sobald sie die Kunde von seinem vermeintlichen Tode in den Zeitungen las. Warum aber und durch welche unbegreifliche Finten sie Mr. Midwinter bewogen hat, sie, wie der Trauschein darthut, unter Mr. Armadale’s Namen zu heirathen, vermag sich Mr. Armadale selbst nicht zu erklären. Aus dem einfachen Grunde, weil die Leichenschau sich nur auf die aus ihren Tod bezüglichen Umstände beschränkte, kam dieser Punkt bei der Untersuchung nicht zur Sprache. Auf die Bitte seines Freundes hat Mr. Armadale alsbald Miß Blanchard seinen Besuch gemacht und durch sie den alten Darch bitten lassen, über den Anspruch, der wegen des Wittweneinkommens bei ihm erhoben worden ist, unverbrüchliches Schweigen zu beobachten. Da der Anspruch niemals anerkannt worden ist, so hat sich selbst unser steifnackiger Herr College unverzüglich herbeigelassen, dem Anliegen zu willfahren. Demgemäß wurde die Angabe des Doctors, daß seine Kranke die Wittwe eines Gentleman Namens Armadale sei, unangefochten gelassen und so die Sache vertuscht. Sie ist auf dem großen Kirchhofe beerdigt worden, der sich in der Nähe ihrer Todesstätte befindet. Niemand als Mr. Midwinter und Mr. Armadale, der durchaus mitgehen wollte, hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und auf ihrem Grabstein steht nichts weiter eingeschrieben als die Anfangsbuchstaben eines Taufnamens und das Datum ihres Todes. So ruht sie endlich nach allem Bösen, was sie gethan, und so haben die beiden Männer, denen sie Uebles zugefügt, ihr vergeben.

Du fragst ferner, ob Grund zu der Annahme vorhanden sei, daß der Doctor aus der Geschichte wirklich mit so reinen Händen hervorgeht, wie sie aussehen? Mein lieber Augustus, ich glaube, der Doctor ist schon in mehr schlimme Händel verwickelt gewesen, als wir je werden ausfindig machen können, und hat von dem Stillschweigen, das sich Mr. Midwinter und Mr. Armadale selbst auferlegt, seinen Nutzen zu ziehen gewußt, wie Schurken immer aus dem Mißgeschick und der Noth ehrlicher Leute ihren Nutzen zu ziehen wissen. Es steht fest, daß er wider die falsche Angabe hinsichtlich Miß Milroy’s nichts einzuwenden fand, und nach meiner Old-Bailey-Praxis ist das hinreichend für mich. Evidenz gegen ihn ist nicht das Jota da, und was eine Vergeltung anlangt, so kann ich nur von Herzen wünschen, daß sie in dem langen Laufe, den sie zusammen machen werden, schließlich die schlauere von beiden sein möge. Für jetzt ist dazu nicht viel Aussicht vorhanden. Wie ich höre, beabsichtigen die Freunde und Bewunderer des Doctors ihm ein Zeugniß zu überreichen, worin ihre Theilnahme bei dem traurigen Begebniß, das auf die Eröffnung seines Sanatoriums einen so tiefen Schatten geworfen, und ihr ungemindertes Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und seine ärztliche Befähigung ausgedrückt werden sollen.

Wir leben, Augustus, in einer Zeit, welche das Gedeihen jedweder Schurkerei, die so vorsichtig ist, den nöthigen guten Schein zu wahren, außerordentlich begünstigt. In unserm aufgeklärten neunzehnten Jahrhundert betrachte ich den Doctor als einen Mann der in die Höhe kommen wird.

Um jetzt auf angenehmere Gegenstände als das Sanatorium zu kommen, will ich Dir mittheilen, daß Miß Neelie so frisch und gesund ist wie früher und nach meiner bescheidenen Meinung hübscher aussieht als je. Sie befindet sich unter der Obhut einer verwandten Dame in London, und Mr. Armadale überzeugt sie, falls sie es etwa vergessen wollte, Tag für Tag von dem Factum seines Daseins. Im Frühling soll ihre Hochzeit stattfinden, wenn nicht vielleicht Mrs. Milroy’s Tod die Festlichkeit aufschiebt; die Aerzte sind nämlich der Ansicht, daß die arme Dame endlich ihrer Auflösung entgegengeht. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, wie sie sagen. Sie ist übrigens im höchsten Grade verwandelt, ruhig und sanft und mit ihrem Manne und ihrer Tochter äußerst zärtlich und liebevoll; nach dem Urtheile der Aerzte ist aber eben diese Wandelung ein Anzeichen ihres nahen Todes. Dem Major kann man dies schwer beibringen; er sieht nur, daß sie wieder ihrem bessern Selbst gleicht, wieder so wird wie damals, als er sie geheirathet, und stundenlang sitzt er an ihrem Bette und erzählt ihr von seiner wunderbaren Uhr.

Mr. Midwinter, von dem Du wohl zunächst etwas erfahren willst, geht rasch seiner Genesung entgegen. Nachdem er anfangs den Aerzten, nach deren Meinung er an einer bedenklichen Nervenerschütterung litt, über deren Ursachen der Kranke das hartnäckigste Schweigen beobachtete, ernstliche Besorgnisse eingeflößt hatte, erholt er sich jetzt, wie nur, um abermals den Ausspruch der Doctoren zu citiren, Menschen von seinem reizbaren Temperamente sich erholen können. Er und Mr. Armadale haben zusammen eine stille Wohnung bezogen; ich habe ihn besucht, als ich das letzte Mal in London war. Sein Gesicht zeigte noch die Spuren von Gram und Leiden, die an einem so jungen Manne traurig anzusehen waren, allein er sprach von sich selbst und seiner Zukunft mit einem Muthe und einer frohen Zuversicht, um die ihn Männer, doppelt so alt wie er, nach dem, was er, wie ich vermuthe, zu leiden gehabt hat, beneiden dürften. Verstehe ich mich nur etwas auf Menschen, so ist er kein gewöhnlicher Mensch, und wir werden noch Ungewöhnliches von ihm hören.

Du wirst Dich wundern, wie ich nach London gekommen bin. Ich bin mit einem Retourbillet (vom Sonnabend bis zum Montag) hinaufgefahren, um in der streitigen Sache mit unsern Agenten zu conferiren. Es war ein harter Streit, doch, merkwürdig genug, fiel mir gerade, als ich gehen wollte, der richtige Gesichtspunkt ein; ich nahm wieder in meinem Stuhle Platz und brachte die Frage in wenigen Minuten zur Entscheidung. Natürlich logierte ich in unserm Hotel in Covent-Garden. William, der Kellner, erkundigte sich nach Dir mit der Herzlichkeit eines Vaters, —— und Mathilde, das Stubenmädchen, erzählte mir, daß Du sie bei Deiner letzten Anwesenheit in London fast beredet hättest, sich einen hohlen Zahn herausnehmen zu lassen. Ich hatte den zweiten Sohn unseres Agenten (den jungen Menschen, dem Du den Scherznamen Mustapha geegeben, als er einen solchen Heidenlärm wegen der türkischen Papiere erhob) am Sonntage zu Tische geladen. Abends passierte ein kleiner Vorfall, der, als im Zusammenhange stehend mit einer gewissen alten Dame, welche nicht zu Hause war, als Ihr, Du und Mr. Armadale, früher einmal ihre Wohnung in Pimlico aufsuchtet, vielleicht bemerkenswerth ist.

Wie alle Ihr jungen Leute von heute wurde Mustapha nach Tische unruhig. »Lassen Sie uns eine öffentliche Belustigung besuchen, Mr. Pedgift«, sagte er. »Oeffentliche Belustigung? Wie, am Sonntagabend?« erwiderte ich. »Ganz recht, Sir«, sagte er. »Gewiß, das Schauspiel auf der Bühne verbietet man Sonntags, aber das Schauspiel auf der Kanzel hindert man nicht. Kommen Sie und lassen Sie uns unsern neuesten Sonntagsdarsteller sehen.« Da er keinen Wein mehr trinken wollte, so blieb mir nichts übrig, als mit ihm zu gehen.

Wir begaben uns direct nach einer Straße des Westend und fanden sie mit Equipagen verbarrikadiert. Wäre es nicht eben Sonntag gewesen, so hätte ich gedacht, wir gingen in die Oper. »Was habe ich Ihnen gesagt?« spricht Mustapha, während er mich an eine offene Thür zieht, an welcher unter einem mächtigen Gassterne ein Zettel der Vorstellung angeheftet ist. Ich hatte gerade Zeit wahrzunehmen, daß wir uns zu einer der Sonntagsabendpredigten über den Prunk und die Eitelkeiten der Welt begaben, die ein »Sünder, der ihnen einst gedient hat«, abhält, als Mustapha mich an den Ellenbogen stieß und flüstert: »Eine halbe Krone ist der fashionable Preis.« Als ich mich umsah fand ich mich zwischen zwei gesetzten alten Herren mit Tellern in den Händen, die mit dem fashionablen Preis bereits außerordentlich gefüllt waren. Mustapha bevorzugte den einen, ich den andern Teller. Dann gingen wir durch zwei Thüren in einen langen Saal, der gedrängt voll Menschen war, und dort auf der Tribüne stand als Redner der Versammlung nicht ein Mann, sondern eine Frau, und die Frau war Mrs. Oldershaw! In Deinem ganzen Leben hast Du keine größere Beredtsamkeit gehört. Sie war, solange wir auch zuhörten, niemals um ein Wort oder einen Satz verlegen, und was den Inhalt ihrer Rede angeht, so kann ich sie als eine Erzählung von Mrs. Oldershaw’s Praxis unter gefallenen Weibern darstellen, die mit frommen und reuevollen Flosken verschwenderisch verziert war. Du wirst fragen, wer denn das Publikum ausmachte? Vor allen Dingen Weiber, Augustus, und so wahr ich selig zu werden hoffe, sämtliche alte Vetteln der fashionablen Welt, die Mrs. Oldershaw zu ihrer Zeit gefirnißt und emailliert hatte. Jetzt saßen sie keck auf den ersten Plätzen mit ihren rothgeschminkten Backen und befanden sich in einem Zustande andächtigen Amusements, der wunderbar anzusehen war! Ich wartete das Ende der Rede nicht ab und dachte bei mir, als ich hinausging, an das, was Shakespeare irgendwo sagt: »Herr mein Gott, was für Narren sind wir Sterbliche!«

Habe ich Dir noch etwas zu erzählen? Nur noch eins, soweit ich mich besinnen kann.

Der unselige alte Bashwood hat die Besorgnisse wahr gemacht, die ich, wie Du weißt, seinetwegen hegte, als er von London hierher zurückgebracht wurde. Es ist nicht der geringste Zweifel mehr, daß er wirklich das ganze bischen Verstand verloren hat, das er einst besaß. Er ist vollkommen unschädlich und vollkommen glücklich und würde uns gar keine Noth machen, wenn wir ihn nur abhalten könnten, in seinem neuen Anzug schmunzelnd und lächelnd umherzugehen und alle Welt zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit dem schönsten Weibe in England einzuladen. Natürlich endet die Geschichte damit, daß ihn die Gassenjungen zu ihrer Zielscheibe wählen und daß er tagtäglich Schmutzbedeckt nach Hause kommt. Sowie seine Kleider wieder gereinigt sind, fällt er in seinen Lieblingswahn zurück und stolziert vor der Kirchenthür in der Rolle eines Bräutigams einher, der auf Miß Gwilt wartet. Wir müssen sehen, daß wir den armen Burschen für die kurze Zeit, welche er noch zu leben hat, irgendwo unterbringen. Wer hätte gedacht, daß ein Mann in seinen Jahren sich noch verlieben und daß das Unheil, welches die Schönheit jenes Weibes angestiftet hat, aus unsern alten Schreiber einen so traurigen Einfluß ausüben könnte!

Für jetzt aber Adieu, mein lieber Sohn. Wenn Du in Paris eine besonders hübsche Tabaksdose siehst, so denke, daß Dein Vater, obschon er Ehrengaben perhorrescirt, gegen ein Geschenk von seinem Sohne nichts einzuwenden hat.

Dein Dich liebender
A. Pedgift sen.

Nachschrift.Höchst wahrscheinlich ist der Streit, dessen, wie Du erwähnst, die französischen Zeitungen gedenken, jener verhängnißvolle Streit unter fremden Matrosen auf einer der Liparischen Inseln, bei dem ihr Kapitän ums Leben kam, wirklich ein Streit zwischen jenen Bösewichten gewesen, welche Mr. Armadale beraubten und seine Yacht in den Grund bohrten. Zum Glück für die menschliche Gesellschaft können diese Kerle nicht immer den äußern Schein wahren und in ihrem Falle erreichte die Vergeltung gelegentlich einmal die Schurken.«



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Achtes Kapitel.

Der Frühling war bis zum Ende des April vorgeschritten. Es war am Abend vor Allan’s Hochzeitstage. Midwinter und Allan hatten im Herrenhaus bis spät in die Nacht hinein zusammengesessen und geplaudert, sodaß es längst zwölf geschlagen hatte und der Hochzeitstag bereits einige Stunden alt war.

Zum größten Theil hatte sich ihr Gespräch um die Absichten und Projecte des Bräutigams gedreht. Erst als beide aufstanden, um sich zur Ruhe zu begeben, drang Allan darauf, daß nun auch Midwinter von sich und seinen Plänen spreche. »Von meiner Zukunft haben wir nun genug und übergenug geredet«, begann er in seiner kurzen geraden Weise. »Sprechen wir nun einmal von Deiner, Midwinter. Ich weiß, Du hast mir versprochen, daß Deine literarischen Bestrebungen uns nicht trennen sollen, und daß, wenn Du etwa zur See gehst, Du bei Deiner Rückkunft nicht vergißt, daß mein Haus Deine Heimat ist. Da wir aber heute zum letzten Male in unserer alten Weise bei einander sind, so möchte ich, das gestehe ich, gern wissen ——« Die Stimme versagte ihm und seine blauen Augen wurden feucht. Er ließ den Satz unbeendet.

Midwinter ergriff seine Hand und half ihm ein, wie er in frühem Zeiten ihm so oft die fehlenden Worte eingeholfen hatte.

»Du möchtest gern wissen, Allan«, sagte er, »daß ich kein krankes Herz zu Deinem Hochzeitstage mitbringe? Wenn Du mich etwas in die Vergangenheit zurückgreifen lassen willst, so denke ich Dich zufrieden stellen zu können.«

Sie setzten sich wieder. Allan sah, daß Midwinter bewegt war. »Warum Dich schmerzlich aufregen?« sagte er herzlich; »Warum die Vergangenheit heraufbeschwören?«

»Aus zwei Gründen, Allan. Längst hätte ich Dir für das Stillschweigen danken sollen, welches Du um meinetwillen in einer Sache beobachtet hast, die Dir sehr seltsam erschienen sein muß. Du weißt, wie der Name im Kirchenbuch lautet, unter dem meine Verheirathung eingetragen steht, und dennoch hast Du, um mich nicht in Verlegenheit zu setzen, vermieden, davon zu sprechen. Ehe Du in Dein neues Leben trittst, laß uns darüber zu einer ersten und letzten Verständigung kommen. Ich bitte ich, aus reiner Güte gegen mich die Versicherung zu genehmigen, wie seltsam Dir die Sache auch erscheinen mag, daß mich dabei kein Vorwurf trifft, und ich ersuche Dich zu glauben, daß die Gründe, welche ich habe, die Geschichte unaufgeklärt zu lassen, Gründe sind, welche Mr. Brock selbst, wenn er noch lebte, billigen würde.«

Dergestalt bewahrte er das Geheimniß der beiden Namen und tastete das Andenken an Allan’s Mutter, das jenem heilig war, nicht an.

»Noch ein Wort«, fuhr er fort, »ein Wort, das uns aus der Gegenwart in die Zukunft entführen wird. Es steht geschrieben und wahr geschrieben, daß aus dem Bösen Gutes kommen kann. Aus dem Schrecken und dem Elend jener Nacht, die Du kennst, ist die Beseitigung eines Zweifels erwachsen, welcher durch grundlose Angst Deinet- und meinetwegen dereinst mein Leben zu einem jammervollen machte. Jetzt werden keine Schatten, die mein Aberglaube heraufbeschwört, wieder zwischen uns treten. Aufrichtig darf ich Dir versichern, daß ich jetzt mehr willens bin wie damals, als wir uns zusammen auf der Insel Man befanden, die Sache, wenn ich mich so ausdrücken soll, vom rationellen Gesichtspunkte aus zu betrachten. Obwohl ich weiß, wie in unser aller Leben manchmal die Umstände gar wunderbar zusammentreffen, so lasse ich doch kein zufälliges Zusammentreffen des einen oder andern Umstandes als eine Erfüllung der Gesichte Deines Traums gelten. Früher glaubte ich, daß Dein Traum Dir gesandt wäre, um Dein Mißtrauen gegen den freundlosen Menschen zu erwecken, den Du als Bruder an Dein Herz gezogen hattest; jetzt weiß ich, daß er Dir als rechtzeitiger Wink kam, ihn noch fester an Dich zu ketten. Ist dies im Stande, Dir die Genugthuung zu verschaffen, daß auch ich hoffnungsvoll in einem neuen Leben entgegengehe; und daß, solange wir leben, Deine Liebe und die meinige nie wieder von einander lassen werden?«

Sie schüttelten sich stumm die Hände. Allan fand zuerst wieder Worte, wenige Worte herzlicher Betheuerung, die besten, die er dem Freunde sagen konnte.

»Alles, was ich von der Vergangenheit wissen wollte«, sprach er, »habe ich nun gehört, und weiß, was ich hauptsächlich hinsichtlich der Zukunft zu erfahren wünschte. Alle Welt sagt, Midwinter, daß eine große Laufbahn vor Dir liegt, und ich glaube, daß alle Welt Recht hat. Wer weiß, was für große Dinge geschehen mögen, ehe wir beide viele Jahre älter sind!«

»Wer braucht es zu wissen?« erwiderte Midwinter gelassen. »Mag geschehen, was da will, Gott ist allgütig, Gott ist allweise So, mein theurer Freund, schrieb er einst an mich. In diesem Glauben kann ich ohne Murren auf die Jahre zurückblicken, die dahin sind, und ohne Zweifel den Jahren entgegensehen, welche kommen werden.«

Er erhob sich und schritt dem Fenster zu. Ueber ihrem Gespräche war die Nacht vergangen. Das erste Licht des neuen Tages grüßte ihn und ruhte zärtlich auf seinem Antlitz.



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