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Der Mondstein



Siebentes Capitel.

Die vorstehende Correspondenz wird es zur Genüge erklären, weshalb mir keine andere Wahl gelassen ist als mich in Betreff des Todes Lady Verinder’s auf die einfache Mittheilung der Thatsache, welche den Schluß meines fünften Capitels bildet, zu beschränken.

Indem ich mich von nun an streng innerhalb der Grenzen meiner eigenen persönlichen Erfahrung zu halten habe, berichte ich zunächst, daß nach dem Tode meiner Tante ein Monat verfloß, bevor Rachel Verinder und ich uns wieder trafen. Dieses Zusammentreffen war die Veranlassung, daß ich mehrere Tage unter einem Dache mit ihr zubrachte. Während dieses Besuchs ereignete sich etwas in Betreff ihrer Verlobung mit Herrn Godfrey Ablewhite, das wichtig genug ist, um in diesen Blättern hervorgehoben zu werden. Nachdem ich diesen letzten der vielen peinlichen Vorfälle in der Familie berichtet haben werde, wird meine Ausgabe erfüllt sein; denn ich werde dann Alles erzählt haben, was ich als wirkliche, wenn auch sehr widerwillige Zeugin von den Ereignissen weiß.

Die sterblichen Ueberreste meiner Tante wurden von London nach ihrem Landsitze gebracht und dort auf dem kleinen zu der Kirche in ihrem eigenen Park gehörenden Kirchhofe begraben. Ich wurde nebst der übrigen Familie zu dem Leichenbegängnisse eingeladen. Aber es war mir bei bei meinen religiösen Anschauungen unmöglich, mich in so wenigen Tagen aus der Erschütterung welche dieser Tod bei mir versucht hatte, aufzuraffen. Ueberdies hatte ich erfahren, daß der Pfarrer von Frizinghall die Leichenrede halten werde. Ich hatte diesen verworfenen Geistlichen in früheren Tagen an Lady Verinder’s Whisttisch sitzen sehen und ich zweifle, ob ich, selbst wenn ich mich stark genug zu der Reise gefühlt hätte, mich entschlossen haben würde, der Feierlichkeit beizuwohnen.

Lady Verinder’ Tod stellte ihre Tochter unter die Obhut ihres Schwagers, des älteren Herrn Ablewhite. Das, Testament machte ihn zum Vormund bis seine Nichte sich verheirathen oder volljährig werden würde. Im Hinblick auf dieses Verhältnis; setzte Herr Godfrey, glaube ich, seinen Vater von seiner neuen Beziehung zu Rachel in Kenntniß. Wenigstens war das Geheimniß ihrer Verlobung zehn Tage nach dem Tode ihrer Mutter für ihre Familie kein Geheimniß mehr und die große Frage für den älteren Herrn Ablewhite, einem gleichfalls ganz verworfenen Menschen, war, wie er sich und seine Autorität der reichen jungen Dame, die seinen Sohn heirathen wollte, möglichst angenehm machen könne.

Rachel machte ihm gleich im Anfang durch die Schwierigkeiten zu schaffen, die sie in Betreff ihrer künftigen Wohnung erhob. Das Haus in Montague-Square war ihr durch den darin erfolgten Tod ihrer Mutter, das Haus in Yorkshire durch die Mondstein-Angelegenheit verleidet. Dem eigenen Hause ihres Vormundes in Frizinghall stand zwar keines dieser Hindernisse im Wege, aber Rachels Anwesenheit in demselben nach ihrem kürzlichen Verlust erschien als eine unbequeme Beschränkung der Zerstreuungen ihrer Cousinen, der Fräulein Ablewhite und sie bat selbst um einen Aufschub ihres Besuchs bis zu einem günstigeren Zeitpunkte. Schließlich wurde ein Vorschlag des alten Herrn Ablewhite, es mit einem möblirten Hause in Brighton zu versuchen, angenommen. Seine Frau, eine kränkliche Tochter und Rachel sollten dasselbe gemeinschaftlich bewohnen und er selbst wollte später im Jahre zu ihnen kommen. Sie würden daselbst keine andere Gesellschaft als einige alte Freunde sehen und würden seinen Sohn Godfrey, der mit dem Londoner Zuge hin- und herreisen könnte, immer zu ihrer Verfügung haben.

Ich schildere dieses Umherziehen von einer Wohnung zur andern, diese unbefriedigte Ruhelosigkeit des Körpers und diese entsetzliche Stagnation der Seele lediglich im Hinblick auf gewisse Folgen. Das Ereigniß, welches die Vorsehung zu dem Mitte! ausersehen hatte, mich und Rachel Verinder wieder zusammenzuführen, war kein anderes als das Miethen des Hauses in Brighton. Meine Tante Ablewhite ist eine große stille Frau von weißem Teint mit einer bemerkenswerthen Charaktereigenschaft. Von dem Moment ihrer Geburt an hat sie nie irgend etwas selbstständig gethan; ihr ganzes Leben hindurch hat sie sich von Jedermann helfen lassen und sich zu Jedermanns Ansichten bekannt. Ein hoffnungsloseres Wesen im geistlichen Sinne habe ich nie gesehen —— sie würde keinem aus sie geübten Einfluß auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen im Stande sein. Tante Ablewhite würde einem Priester des Dalai Lama von Tibet gerade so gut zuhören wie mir und würde seine Ansichten genau so treu widerspiegeln, wie sie jetzt die meinigen widerspiegelt. Sie erfuhr die Adresse des möblirten Hauses in Brighton, nachdem sie in einem Hotel in London abgestiegen war, sich dort auf einem Sopha ausgeruht und zu ihrem Sohn geschickt hatte. Sie engagirte die nöthigen Domestiken, indem sie eines Morgens noch während ihres Aufenthalts in London im Bett frühstückte und ihrem Kammermädchen unter der Bedingung einen freien Tag schenkte, daß das Mädchen zuerst Miß Clack bitte zu ihr zu kommen. Ich fand sie um 11 Uhr Vormittags in ihrem Schlafrock sich ruhig fächelnd. »Liebe Drusilla, ich brauche einige Domestiken. Du bist eine so gewandte Person, bitte, besorge sie mir. Ich sah mich in dem unaufgeräumten Zimmer um. Die Kirchenglocken erklangen eben zu einem Wochengottesdienst, sie gaben mir ein freundlich-vorwurfsvolles Wort an die Hand. »O Tante!« sagte ich traurig, »ist das einer christlichen englischen Frau würdig? Ist das die Art, wie wir auf dem Wege von der Zeitlichkeit zur Ewigkeit wandeln sollen?« Meine Tante antwortete: »Ich will mich ankleiden, Drusilla, wenn Du so gut sein willst, mir behilflich zu sein.« Was war da weiter zu sagen? Ich habe bei Mörderinnen Wunder gewirkt —— mit Tante Ablewhite bin ich niemals vom Flecke gekommen. »Wo ist die Liste der Domestiken, die Du brauchst?« fragte ich. Meine Tante schüttelte mit dem Kopf; ihre Energie reichte nicht einmal so weit, eine solche Liste bei sich zu behalten. »Rachel hat sie, liebes Kind« sagte sie, »drinnen im anderen Zimmer.« Ich ging in das anstoßende Zimmer und sah hier Rachel zum ersten Mal wieder seit unserm letzten Zusammentreffen im Montague-Square.

Sie sah bejammernswerth klein und mager in ihrer tiefen Trauer aus. Wenn ich eines so nichtig vergänglichen Dinges, wie der persönlichen Erscheinung, schon einmal Erwähnung thue, so darf ich wohl noch hinzufügen, daß sie eine jener unglücklichen Complexionen hatte, welche nur durch Weiß in der Toilette gehoben werden können. Aber was sind unsere Complexionen und unsere Blicke? Hindernisse und Fallstricke, liebe Schwestern, welche uns auf unserm Wege zu höhern Dingen umgarnen! Zu meiner großen Ueberraschung stand Rachel auf, als ich in’s Zimmer trat, und kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Ich freue mich, Sie zu sehen,« sagte sie. »Drusilla, ich pflegte früher sehr albern und unhöflich gegen Sie zu sein. Ich hoffe, Sie verzeihen mir das.«

Vermuthlich verriethen meine Züge das Erstaunen, welches diese Anrede bei mir hervorrief. Sie erröthete einen Augenblick und erklärte sich dann näher.

»Zu Lebzeiten meiner armen Mutter,« fuhr sie fort, »waren ihre Freunde nicht immer auch meine Freunde. Jetzt, wo ich sie verloren, habe, findet mein Herz einen Trost darin, sich Denen zuzuwenden, welche sie gerne hatte. Sie waren Eine von diesen. Versuchen Sie es, auch mir eine Freundin zu sein, wenn Sie können.«

Für jedes wohl angelegte Gemüth mußte das von ihr selbst bezeichnete Motiv geradezu anstößig sein. Da stand auf dem Boden des christlichen Englands ein junges Mädchen, das so wenig einen Begriff davon hatte, wo sie den wahren Trost für einen herben Verlust zu suchen habe, daß sie denselben bei den Freunden ihrer Mutter zu finden hoffte. Hier stand eine Verwandte von mir, in welcher ein Gefühl für ihr Unrecht gegen Andere nicht auf dem Wege der Pflicht, sondern der Empfindung und des Impulses rege geworden war! Ein Seelenzustand, der, so traurig er auch an und für sich war, doch für eine Person von meinen Erfahrungen auf dem Gebiete der Arbeit im Dienste des Herrn der Hoffnung auf Erweckung noch Raum gab. Es konnte, wie es mir schien, keinesfalls schaden, wenn ich mir über den Umfang der Wandlung, welche der Verlust ihrer Mutter in Rachel’s Charakter hervorgebracht hatte, Gewißheit verschaffte. Ich beschloß, mich ihrer Verlobung mit Herrn Godfrey Ablewhite als eines guten Probirsteins zu bedienen. Nachdem ich zuerst ihr freundliches Entgegenkommen möglichst herzlich erwidert hatte, entsprach ich ihrer Aufforderung, mich zu ihr aufs Sopha zu setzen. Wir redeten über Familienangelegenheiten und Pläne für die Zukunft, immer jedoch ohne den für ihre Zukunft entscheidendsten Plan, ihre Heirath, zu berühren. Ich mochte es versuchen wie ich wollte, die Unterhaltung auf diesen Gegenstand zu lenken, sie schien entschlossen, mir darin nicht zu willfahren. Eine direkte Berührung der Frage meinerseits würde in diesem ersten Stadium unserer Versöhnung vorzeitig erschienen sein. Ueberdies hatte ich bereits Alles, was ich wissen wollte, herausgebracht. Sie war nicht mehr die rücksichtslose und herausfordernde Person, die ich bei Gelegenheit meines Märtyrerthums in Montague-Scuare gehört und gesehen hatte. Dies war schon genug, um mich zu ermuthigen, an ihre Bekehrung zu gehen. Ich fing damit an, mich in einigen ernsten Worten gegen die übereilte Schließung des Ehebündnisses auszusprechen und gelangte auf diesem Wege zu höheren Dingen. Indem ich sie jetzt mit einem neuen Interesse betrachtete und mich der überstürzten Plötzlichkeit erinnerte, mit welcher sie auf Herrn Godfrey’s Heirathsantrag eingegangen war, empfand ich es als eine heilige Pflicht, hier mit einem Eifer einzuschreiten, der mir die beste Gewähr für die Erreichung eines nicht geringen Zieles bot. Rasches Vorgehen war, wie mir schien, hier von entscheidender Wichtigkeit. Ich kam sofort auf die für das möblirte Haus zu engagirenden Dienstboten zurück.

»Wo hast Du die Liste, liebe Rachel?«

Rachel gab sie mir.

Ich las: »Köchin", Küchenmädchen, Hausmädchen und Diener.« »Liebe Rachel, diese Dienstboten sollen nur für eine bestimmte Zeit, die Zeit, für welche Dein Vormund das Haus gemiethet hat, engagirt werden. Wir werden hier in London große Mühe haben, gute und brauchbare Leute zu finden, die bereit sein würden, auf ein solches temporäres Engagement einzugehen. Ist das Haus in Brighton schon gefunden?«

»Ja, Godfrey hat es gemiethet, und in demselben Leute gefunden, die gern von ihm als Dienstboten engagirt werden wollten. Sie schienen ihm aber für uns nicht zu genügen und er ist zurückgekommen, ohne noch irgend etwas mit ihnen abgemacht zu haben.«

»Und Du selbst hast keine Erfahrung in solchen Dingen, Rachel?«

»Durchaus keine!«

»Und Tante Ablewhite will sich auch nicht darum bemühen?«

»Nein, und Du darfst die arme gute Tante nicht darum tadeln, Drusilla. Ich glaube, sie ist die einzige wirklich glückliche Person, die mir je vorgekommen ist.«

»Es giebt verschiedene Arten, glücklich zu sein, liebes Kind. Wir müssen darüber einmal ein Wort miteinander reden. Einstweilen will ich versuchen, die Schwierigkeiten mit den Dienstboten aus dem Wege zu räumen. Deine Tante wird an die Leute im Hause einen Brief schreiben ——«

»Sie wird einen Brief unterzeichnen, wenn ich ihn für sie schreibe, was ja auf dasselbe herauskommt.«

»Ganz dasselbe. Ich bekomme den Brief und will morgen damit nach Brighton gehen.«

»Wie gütig von Dir! Wir werden Dir nachkommen, sobald Du zu unserem Empfang bereit bist und Du wirst hoffentlich eine Zeitlang als mein Gast bei uns bleiben. Brighton ist so lebendig; es wird Dir da gewiß gefallen.«

In diesen Worten erhielt ich meine Einladung und eröffnete sich mir eine herrliche Aussicht auf Gelegenheit, meinen Entschluß geltend zu machen.

Dies geschah an einem Mittwoch. Am Sonnabend Nachmittag war das Haus zum Empfang der Familie bereit. In diesen wenigen» Tagen hatte ich nicht nur die Charaktere, sondern auch die religiösen Ansichten aller der Stellen suchenden Dienstboten, die sich bei mir meldeten, geprüft, und es war mir gelungen, eine Auswahl zu treffen, bei der sich mein Gewissen beruhigen konnte. Ich fand auch, daß sich zwei ernste Freunde von mit in der Stadt aufhielten und besuchte dieselben in der Gewißheit, daß ich ihnen den frommen Zweck, der mich nach Brighton geführt hatte, getrost anvertrauen dürfe. Einer derselben, ein Geistlicher, war mir freundlich dabei behilflich, in der Kirche, in der er predigte, für unsere kleine Gesellschaft Plätze zu verschaffen. Die andere, eine einzelne Dame gleich mir, stellte mir ihre durchweg aus werthvollen Schriften bestehende Bibliothek ganz zur Disposition. Ich lieh mir von ihr ein halbes Dutzend Werke, die ich Alle mit Rücksicht auf Rachel sorgfältig ausgewählt hatte. Nachdem ich dieselben umsichtig in den verschiedenen Zimmern vertheilt hatte, welche voraussichtlich von ihr bewohnt werden würden, war ich mit meinen Vorbereitungen fertig. Das Wort Gottes in den Dienstboten, die ihr aufwarteten, das Wort Gottes in dem Prediger, dessen Kirche sie besuchen würde, und das Wort Gottes in den Büchern, die auf ihrem Tische lagen —— das war der dreifache Willkomm’ den mein Eifer für das mutterlose Mädchen bereitet hatte! Eine himmlische Ruhe erfüllte mein Gemüth an jenem Sonnabend-Nachmittag, als ich am Fenster saß und die Ankunft meiner Verwandten erwartete. Ein flüchtiges Menschengedränge zog vor meinen Augen vorüber. Ach! wie viele unter ihnen mochten wohl mit mir das unvergleichlich wohlthuende Gefühl erfüllter Pflicht theilen? Eine furchtbare Frage. Versuchen wir nicht, sie zu beantworten.

Zwischen 6 und 7 Uhr trafen die Reisenden ein. Zu meiner unbeschreiblichen Ueberraschung befand sich in ihrer Begleitung nicht, wie ich erwartet hatte, Herr Godfrey, sondern der Advocat Herr Bruff.

»Wie geht’s Ihnen, Miß Clack?« sagte er, »dieses Mal denke ich hier zu bleiben.«

Diese Anspielung aus unser letztes Zusammentreffen, bei welchem ich ihn gezwungen hatte, vor mir das Feld zu räumen, überzeugte mich, daß der alte Weltmann zu einem besondern Zweck nach Brighton gekommen sein müsse. Ich hatte ein kleines Paradies für meine geliebte Rachel bereitet, und siehe da! —— hier war auch schon die Schlange.

»Es that Godfrey außerordentlich leid, nicht mit uns gehen zu können, Drusilla,« sagte meine Tante Ablewhite. »Er ist durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten und Herr Bruff fand sich freundlich bereit, seine Stelle zu übernehmen und sich bis Montag Morgen für uns frei zu machen. Beiläufig, Herr Bruff, ich soll mir Bewegung machen und ich habe keine Neigung dazu. Das,« fügte Tante Ablewhite hinzu, indem sie aus dem Fenster nach einem in einem in einem Rollstuhl vorüberfahrenden Kranken hinwies, »ist, was ich unter Bewegung verstehe. Will man Luft haben, so kann man sie im Rollstuhl genießen und wenn man Ermüdung braucht, so ist es, denk ich, ermüdend genug, den Mann, der den Rollwagen schiebt, anzusehen.«

Rachel stand schweigend allein an einem Fenster, die Augen fest auf die See geheftet.

»Bist Du müde, liebes Kind?« fragte ich.

»Nein, nur ein wenig verstimmt,« antwortete sie; »ich habe die See oft an unserer Yorkshirer Küste in dieser Beleuchtung gesehen und ich dachte eben an vergangene Tage, Drusilla, die nie wiederkehren können.

Herr Bruff aß mit uns zu Mittag und blieb auch den ganzen Abend. Je länger ich mit ihm zusammen war, desto klarer wurde es mir, daß er nicht ohne einen bestimmten Zweck nach Brighton gekommen sei. Ich beobachtete ihn sorgfältig. Er behauptete dasselbe ruhige Beharren der Erscheinung und schwatzte den ganzen Abend dasselbe gottlose Zeug, bis es Zeit für ihn war, sich zu verabschieden. Als er Rachel die Hand zum Abschied gab, beobachtete ich, wie sein kalter und verschlagener Blick einen Augenblick mit einem sehr eigenthümlichen Ausdruck von Interesse und Aufmerksamkeit auf ihr ruhte. Offenbar stand sie in Verbindung mit dem Zweck, den er im Auge hatte. Er sagte weder zu ihr, noch zu sonst Jemandem irgend etwas Ungewöhnliches beim Weggehen. Er lud sich auf den nächsten Tag zum zweiten Frühstück ein und ging dann nach seinem Hotel.

Am nächsten Morgen war es unmöglich, meine Tante Ablewhite zu bewegen, sich rechtzeitig für die Kirche anzukleiden Ihre kranke Tochter, die nach meiner Ueberzeugung an nichts litt als an einer unheilbaren, von ihrer Mutter ererbten Trägheit, erklärte ihre Absicht, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Rachel und ich gingen allein zusammen in die Kirche. Mein reich begabter Freund hielt eine herrliche Predigt über die heidnische Gleichgültigkeit der Welt gegen die Sündhaftigkeit kleiner Sünden. Länger als eine Stunde donnerte seine, von einer klangvollen Stimme getragene Beredtsamkeit durch die heiligen Räume.

Beim Fortgehen sagte ich zu Rachel: »Hat das Wort der Predigt seinen Weg zu Deinem Herzen gefunden, liebes Kind?«

Und sie antwortete: »Nein, es hat mir nur Kopfschmerzen verursacht.«

Diese Antwort würde vielleicht Manchen entmuthigt haben, aber ich lasse mich, wenn ich eine Bahn heilbringender Wirksamkeit einmal betreten habe, durch nichts entmuthigen.

Wir fanden Tante Ablewhite und Herrn Bruff beim Frühstück. Als Rachel erklärte, ihres Kopfschmerzes wegen gar nicht frühstücken zu wollen, erspähte und ergriff der schlaue Advocat alsbald die sich ihm darbietende Gelegenheit.

»Es giebt nur ein Mittel gegen Kopfschmerzen,« sagte dieser abscheuliche Alte; »Sie müssen einen Spaziergang machen, Fräulein Rachel, das wird curiren. Ich stehe Ihnen zu Diensten, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, meinen Arm anzunehmen.«

»Mit dem größten Vergnügen; ich habe eine wahre Sehnsucht nach frischer Luft.«

»Es ist nach zwei Uhr,« bemerkte ich sanft, »und der Nachmittags-Gottesdienst fängt um drei Uhr an, Rachel.«

»Wie kannst Du denken,«« fuhr sie mich Ungestüm an, »daß ich mit solchem Kopfschmerz zum zweiten Male in die Kirche gehen werde?«

Herr Bruff öffnete ihr höflich beflissen die Thür; eine Minute später hatten sie Beide das Haus verlassen. Ich erinnere mich nicht, je die heilige Pflicht einzuschreiten so lebhaft empfunden zu haben wie in jenem Augenblick.

Aber was war hier zu thun? Ich mußte die erste Gelegenheit abwarten, die sich mir im Laufe des Tages darbieten würde.

Als ich vom Nachmittags-Gottesdienst wieder nach Hause kam, waren auch die Beiden eben von ihrem Spaziergang zurückgekehrt. Ein Blick genügte mir zu sehen, daß der Advocat das, was er hatte sagen wollen, ausgesprochen hatte. Noch nie hatte ich Rachel so schweigsam und so nachdenk1ich und noch nie hatte ich Herrn Bruff sie mit einer so ausgesuchten Aufmerksamkeit und einer so ergebenen Achtung behandeln sehen. Er hatte angeblich für heute eine Einladung zu Tisch angenommen und verabschiedete sich bei Zeiten von uns Allen, da er am nächsten Morgen schon mit dem ersten Zuge wieder nach London zu gehen beabsichtige.

»Sind Sie Ihres Entschlusses gewiß?« sagte er zu Rachel an der Thür.

»Vollkommen gewiß,« antwortete sie —— und damit ging er fort.

Kaum hatte er den Rücken gewandt, als Rachel sich in ihr Zimmer zurückzog Auch bei Tische erschien sie nicht. Ihr Kammermädchen, die Person mit den Mützenbändern, kam herunter zu melden, daß ihre Kopfschmerzen wiedergekehrt seien. Ich eilte hinaus und erbot mich durch die Thür zu allen Arten schwesterlicher Liebesdienste. Aber die Thür war und blieb verschlossen. Hier gab es einen widerstandsfähigen Boden, der der Bebauung harrte! Das Verschließen ihrer Thür war für mich nur ein ermunternder Sporn.

Als ihr am nächsten Morgen der Thee auf’s Zimmer gebracht wurde, ging ich mit hinein. Ich setzte mich zu ihr an’s Bett und sprach einige ernste Worte. Sie hörte mir mit einer schlaffen Höflichkeit zu. Ich bemerkte, daß die köstlichen Schriften meiner ernsten Freundin in einer Ecke des Tisches unordentlich zusammengepackt lagen. Ich fragte, ob sie einen Blick hineingethan habe. »Ja, und die Bücher hätten sie nicht interessirt.« Ich fragte weiter, ob sie mir erlauben wolle, einige Stellen von dem höchsten Interesse, die ihr wahrscheinlich entgangen seien, vorzulesen? »Nein, jetzt nicht, sie habe an andere Dinge zu denken.« Bei diesen Antworten beschäftigte sie sich angelegentlichst damit, mit den Garnituren ihres Nachthemds zu spielen. Es erschien offenbar nöthig, sie durch eine Anspielung auf die weltlichen Interessen, die ihr noch am Herzen lagen, aus dieser Träumerei zu reißen.

»Weißt Du, liebes Kind,« sagte ich, »ich hatte gestern einen sonderbaren Einfall in Betreff Herrn Bruff’s. Es kam mir vor, als ich Dich nach Deinem Spaziergang mit ihm sah, als ob er Dir eine schlimme Nachricht mitgetheilt haben müsse.«

Ihre Finger ließen plötzlich die Garnitur des Nachthemds fahren und ihre wilden schwarzen Augen flammten auf.

»Ganz das Gegentheil!« sagte sie, »es war eine Nachricht, die mich sehr interessirte und für deren Mittheilung ich Herrn Bruff sehr verpflichtet bin.«

»Wirklich?« sagte ich, in einem Tone freundlichen Antheils.

Ihre Finger nahmen die Garnitur wieder auf und sie wandte ihr Gesicht trotzig von mir ab. Eine ähnliche Behandlung war mir bei der Verfolgung des Gnadenwerks hunderte von Malen zu Theil geworden. Sie reizte mich dadurch nur zu einem neuen Versuch. In meinem unerschrockenen Eifer für ihr Seelenheil unternahm ich das große Wagniß, gerade heraus von ihrer Verlobung zu reden.

»Eine Nachricht, die Dich sehr interessirte?« wiederholte ich. »Ich denke mir, liebe Rachel, das muß eine Nachricht von Herrn Ablewhite gewesen sein?«

Sie fuhr aus ihrem Bett in die Höhe und wurde todtenbleich. Sie hatte offenbar eine jener ihr früher so geläufigen Insolenzen auf der Zunge. Sie bezwang sich aber, legte ihren Kopf wieder auf’s Kissen, dachte einen Augenblick nach und gab mir dann folgende merkwürdige Antwort:

»Ich werde Herrn Godfrey Ablewhite niemals heirathen!«

Nun war die Reihe an mir, erstaunt zu sein.

»Was willst Du damit sagen?« rief ich aus. »Die Heirath wird von der ganzen Familie als eine abgemachte Sache angesehen.«

»Herr Godfrey Ablewhite wird heute hier erwartet,« sagte sie in mürrischem Tone. »Warte bis er kommt und Du wirst sehen.«

»Aber, liebe Rachel ——«

Sie zog an der über ihrem Bette hängenden Glocke. Die Person mit den Mützenbändern erschien.

»Penelope, mein Bad!«

Um gerecht zu sein muß ich zugeben, daß sie damit das einzige Mittel getroffen hatte, mich aus dem Zimmer zu bringen.

Von einem rein weltlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, hätte es scheinen können, als ob meine Stellung Rachel gegenüber nicht gewöhnliche Schwierigkeiten darböte. Ich hatte darauf gerechnet, sie durch eine kleine ernste Ermahnung in Betreff ihrer Heirath auf den Weg zu höheren Dingen zu leiten. Und jetzt war, wenn man ihr glauben durfte, von einer Verheirathung bei ihr gar keine Rede. Aber, o meine Freunde! Eine werkthätige Christin von meiner Erfahrung, mit der Aussicht auf Förderung des Evangeliums, sieht die Dinge von einem höheren Standpunkte aus an. Angenommen selbst Rachel wollte die Partie, welche die Ablewhite’s, Vater und Sohn, als eine abgemachte Sache betrachtetem wirklich zurückgehen lassen, was würde die Folge sein? Die Sache konnte, wenn sie fest auf ihrem Entschluß beharrte und namentlich wenn der alte Herr Ablewhite zugegen war, nur zu einem Austausch harter Worte und schwerer Beschuldigungen auf beiden Seiten führen. Und was würde die Wirkung einer solchen stürmischen Scene sein? Eine heilsame moralische Abspannung Der entschlossene Widerstand, den sie nach ihrem Charakter allen Hindernissen entgegensetzen würde, müßte ihren Stolz und ihren Eigensinn erschöpfen. Sie würde für einen sympathischen Antheil empfänglich werden. Und ich in der Fülle meines Trostes, meiner Bereitwilligkeit ihr mit belebenden und ihrem Zustande angemessenen Worten beizustehen, würde ihr diesen Antheil in vollem Maße darbieten. Niemals hatte mir eine freundlichere Aussicht auf Förderung des Evangeliums gelächelt als diese.

Rachel kam zum Frühstück herunter, genoß aber nichts und sprach fast kein Wort. Nach dem Frühstück schlenderte sie gleichgültig durch die Zimmer, dann raffte sie sich plötzlich auf und öffnete das Clavier.

Die Musik, die sie spielte, war von der anstößigst-weltlichen Art und Ausführungen aus der Bühne entlehnt, bei deren bloßen Gedanken mir das Blut in den Adern erstarrte. Es würde voreilig gewesen sein, schon in diesem Augenblick dagegen einzuschreiten. Ich erkundigte mich unter der Hand nach der Zeit, zu welcher Herr Godfrey Ablewhite erwartet wurde und dann flüchtete ich vor der Musik und verließ das Haus.

Ich benutzte die Gelegenheit, meine beiden in Brighton ansässigen Freunde zu besuchen. Es war ein unbeschreiblicher Genuß für mich, mich der ernsten Unterhaltung mit ernsten Freunden hingeben zu können. Unaussprechlich ermuthigt und erfrischt, lenkte ich meine Schritte wieder dem Hause zu und traf dort vollkommen rechtzeitig ein, um die Ankunft unseres Gastes erwarten zu können. Ich trat in das Eßzimmer, das zu jener Tageszeit immer leer zu sein pflegte und fand mich von Angesicht zu Angesicht Herrn Godfrey Ablewhite gegenüber!

Er machte keinen Versuch, vor mir zu flüchten. Im Gegentheil. Er ging höchst beflissen auf mich zu.

»Liebe Miß Clack! Ich habe nur auf Sie gewartet. Zufällig habe ich mich von meinen Geschäften in London früher losmachen können als ich dachte und bin daher auch früher als zu der von mir bestimmten Zeit hier angekommen.«

In seinen Aeußerungen verrieth sich keine Spur von Verlegenheit, obgleich er mich hier seit der Scene in Montague-Square zum ersten Mal wiedersah. Er wußte zwar nicht, daß ich bei jener Scene zugegen gewesen war, aber wußte doch, daß meine Theilnahme an den Sitzungen des mütterlichen Hosenvereins und meine Beziehungen zu Freunden, die anderen mildthätigen Vereinen angehörten, mich von seiner schamlosen Vernachlässigung seiner Damen und seiner Armen unterrichtet haben mußten. Und doch stand er vor mir im Vollbesitz seiner lieblichen Stimme und seines unwiderstehlichen Lächelns!

»Haben Sie Rachel schon geseh’n?« fragte ich.

Er seufzte leise und ergriff meine Hand. Ich würde ihm unfehlbar meine Hand entzogen haben, wenn mich nicht die Art, wie er mir antwortete, in ein starkes Staunen versetzt hätte.

»Ich habe Rachel gesehen,« sagte er vollkommen ruhig. »Sie wissen, liebe Freundin, daß sie sich mit mir verlobt hatte? Nun, sie hat sich plötzlich enschlossen, diese Verlobung wieder aufzuheben. Sie hat sich nach reiflicher Erwägung überzeugt, daß es für ihre Gemüthsverfassung und ihr Wohl das Beste sei, einen rasch gefaßten Entschluß wieder zurückzunehmen und mich in den Stand zu sehen, eine glücklichere Wahl zu treffen. Das ist der einzige Grund, den sie angiebt, die einzige Antwort, die ich mit allen meinen Fragen aus ihr herausbringen kann.«

»Und was haben Sie gethan?« fragte ich; »haben Sie sich gefügt?»

»Ja,« sagte er mit der vollkommensten Fassung, »ich habe mich gefügt.«

Sein Benehmen unter den obwaltenden Umständen war so völlig unbegreiflich, daß ich ganz bestürzt dastand und nicht daran dachte, meine Hand aus der seinigen zurückzuziehen. Es ist überhaupt Unschicklich, irgend Jemanden anzustarren, und es ist doppelt Unschicklich, einen Herrn anzustarren. Ich beging diese beiden Unschicklichkeiten und sagte wie im Traum: »Was soll das bedeuten?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen das zu sagen,« erwiderte er; »aber setzen wir uns.«

Er führte mich zu einem Stuhl. Ich habe eine unbestimmte Erinnerung, daß er sehr zärtlich war. Ich glaube nicht, daß er mir den Arm um die Taille legte, um mich zu stützen, aber ich weiß es nicht ganz gewiß. Ich war ganz hilflos und seine Art, sich gegen Damen zu benehmen, hatte etwas höchst Gewinnendes. Genug, wir setzten uns. Dafür, wenn auch für nichts Anderes, kann ich einstehen.

»Ich habe,« fing Herr Godfrey an, »ein reizendes Mädchen, eine ausgezeichnete gesellschaftliche Stellung und ein glänzendes Einkommen« verloren und habe mich ohne Widerstreben in diesen Verlust gefunden. Sie fragen nach der Ursache meines befremdlichen Benehmens? Meine theure Freundin, es giebt keine Ursache für dieses Benehmen.«

»Keine Ursache?« wiederholte ich.

»Lassen Sie mich an Ihre Erfahrung bei Kindern appelliren, liebe Miß Clack,« fuhr er fort, »Sie beobachten an einem Kinde ein auffallendes Benehmen, dessen Grund Sie wissen möchten. Das liebe kleine Ding ist unfähig, Ihnen seine Gründe zu sagen. Eben so gut könnten Sie das Gras fragen, warum es wächst, und die Vögel, warum sie singen. Nun, sehen Sie, in dieser Angelegenheit bin ich wie das Kind, wie das Gras, wie die Vögel. Ich weiß nicht, warum ich Fräulein Verinder einen Heirathsantrag gemacht, ich weiß nicht, warum ich meine lieben Damen so schmählich vernachlässigt habe, ich weiß nicht, warum ich von dem mütterlichen Hosenverein abgefallen bin. Sie sagen zu dem Kinde: »Warum bist Du unartig gewesen?« und der kleine Engel steckt den Finger in den Mund und sagt: »Weiß ich nicht.« Genau so ist es mit mir, Miß Clack! Niemand Anderem würde ich dies eingestehen, Ihnen fühle ich mich jedoch gedrungen, es zu bekennen.«

Ich fing an, mich wieder zu erholen. Hier lag ein geistiges Problem vor. Geistige Probleme interessiren mich auf das Lebhafteste, und ich bin, wie man sich wohl denken kann, nicht ganz ohne Geschick in der Lösung der selben.

»Beste Freundin, strengen Sie Ihren Scharfsinn an und helfen Sie mir,« fuhr er fort. Sagen Sie mir, warum erscheinen mir jetzt meine Schritte in dieser Heirathsangelegenheit wie ein Traum? Warum wird es mir plötzlich wieder klar, daß mein wahres Glück darin besteht, meinen lieben Damen zu helfen, mein bescheiden nützliches Tagwerk zu verrichten und einige ernste Worte zu reden, wenn ich dazu von meinem Vorsitzenden aufgefordert werde? Wozu brauche ich eine Stellung? Ich habe ja eine Stellung. Wozu brauche ich ein Einkommen? Ich habe genug, mein Brot und Käse, mein hübsches kleines Logis und meine zwei Röcke jährlich zu bezahlen. Wozu brauche ich Fräulein Verinder? Ich habe es aus ihrem eigenen Munde gehört —— das sage ich Ihnen, liebe Freundin, im strengsten Vertrauen —— daß sie einen anderen Mann liebt und daß sie mich nur deshalb heirathen wollte, um zu versuchen, ob sie diesen andern Mann vergessen könne. Welch’ eine schaurige Verbindung wäre das gewesen! O Gott! welch’ eine traurige Verbindung! Alles das habe ich mir auf der Herfahrt gesagt, Miß Clack! Ich näherte mich Rachel mit dem Gefühl eines Verbrechers, der sein Urtheil erwartet. Als ich nun fand, daß auch sie ihren Sinn geändert habe; als sie mir vorschlug, unsere Verlobung wieder aufzuheben; fühlte ich mich, offen gestanden, unendlich erleichtert. Noch vor einem Monate hatte ich sie leidenschaftlich an mein Herz gedrückt und vor einer Stunde wirkte die Gewißheit, sie nie wieder an mein Herz drücken zu können, auf mich wie ein berauschendes Getränk. Die Sache scheint unmöglich —— es kann nicht sein! Und doch ist es so, wie ich die Ehre hatte, es Ihnen mitzutheilen, als wir, uns hier niedersetzten. Ich habe ein reizendes Mädchen, eine ausgezeichnete gesellschaftliche Stellung und ein glänzendes Einkommen verloren und habe mich ohne Widerstreben darin gefunden. Können Sie mir die Sache erklären, liebe Freundin? Ich vermag es nicht!«

Er ließ seinen herrlichen Kopf auf die Brust sinken und verzweifelte an der Lösung seines eigenen geistigen Problems.

Ich war tief gerührt. Der Fall war mir, wenn ich mich der Sprache eines geistigen Arztes bedienen darf, jetzt ganz klar. Es ist keine ungewöhnliche Erscheinung in unser aller Erfahrung, daß die reich begabtesten Menschen bisweilen auf das Niveau der dürftigsten Naturen in ihrer Umgebung herabsinken. Der Zweck, den die Vorsehung in ihrer weisen Oekonomie verfolgt, ist unzweifelhaft, menschliche Größe daran zu erinnern, daß sie sterblich ist und daß die Macht, welche diese Größe verliehen hat, sie auch wieder entziehen kann. Ich glaubte nun in dem beklagenswerthen Benehmen des theuren Herrn Godfrey, dessen unsichtbarer Zeuge ich gewesen war, eine dieser heilsamen Demüthigungen erblicken zu müssen. Und eben so klar erkannte ich den erfreulichen Durchbruch seiner bessern Natur in dem Schauder, mit welchem er vor der Idee einer Heirath mit Rachel zurückschreckte und in dem wohlthuenden Eifer, mit welchem er zu seinen Armen zurückzukehren bestrebt war.

Ich legte ihm diese Auffassung in wenigen einfachen und schwesterlichen Worten dar. Es war rührend, seine Freude darüber zu sehen. Er verglich sich, als ich fortfuhr, mit einem im Dunkel Verirrten, der wieder ans Licht gelangt. Als ich ihm eine freundliche Wiederaufnahme in den mütterlichen Hosenverein zusagte, floß das Herz unseres christlichen Helden von Dankbarkeit über. Er drückte meine Hände abwechselnd an seine Lippen. Ueberwältigt von dem Gefühl des großen Triumphs, ließ ich ihn mit meinen Händen thun, was er wollte. Ich schloß die Augen. Ich fühlte, wie mein Kopf, in einer Ekstase geistlicher Selbstvergessenheit, auf seine Schulter sank. Im nächsten Augenblick würde ich unzweifelhaft bewußtlos in seinen Armen gelegen haben, hätte mich nicht eine von außen her kommende störende Unterbrechung wieder zu mir selbst gebracht. Ein entsetzliches Gerassel von Messern und Gabeln ertönte vor der Thür und der Diener kam herein, den Tisch für das zweite Frühstück zu decken.

Herr Godfrey sprang auf und blickte nach der Uhr auf dem Kaminsims.

»Wie rasch die Zeit in Ihrer Gesellschaft enteilt!« rief er aus. »Ich werde kaum noch den Zug erreichen.«

Ich wagte es, ihn zu fragen, warum er so eilig sei, wieder nach London zu kommen. Seine Antwort erinnerte mich, daß noch schwierige Familienverhältnisse auszugleichen seien und daß noch Streitigkeiten in der Familie in Aussicht standen.

»Ich habe einen Brief von meinem Vater gehabt,« sagte er. »Geschäfte nöthigen ihn, heute von Frizinghall nach London zu gehen und er beabsichtigt diesen Abend oder morgen hierher zu kommen. Ich muß ihm mittheilen, was zwischen mir und Rachel vorgefallen ist. Sein Herz hängt an unserer Heirath; ich fürchte, es wird sehr schwer sein, ihn mit der Idee der Wiederaufhebung der Verlobung auszusöhnen. Ich muß ihn um unser Aller willen verhindern, hierher zu kommen, bevor er mit jener Idee ausgesöhnt ist. Beste und theuerste Freundin, wir werden uns wiedersehen.«

Mit diesen Worten eilte er davon. Ich eilte eben so rasch nach meinem Zimmer hinauf, um mich wieder zu fassen, bevor ich mit Tante Ablewhite und Rachel beim Frühstück zusammenträfe.

Ich weiß —— um noch einen Augenblick bei Herrn Godfrey zu verweilen —— sehr gut, daß die Alles herabziehende öffentliche Meinung ihn beschuldigt hat, aus ganz besonderen Gründen die Verlobung mit Rachel bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit aufgehoben zu haben. Es ist mir auch zu Ohren gekommen, daß man sein angelegentliches Bestreben, sich meine Achtung wieder zu erwerben, in gewissen Kreisen dem eigennützigen Wunsche zugeschrieben hat, durch meine Vermittlung seinen Frieden mit der ehrwürdigen Präsidentin des Comités des mütterlichen Hosenvereins, einer mit den Gütern dieser Welt reich gesegneten Dame und meiner sehr geliebten und vertrauten Freundin zu machen. Ich thue dieser gehässigen Gerüchte nur Erwähnung, um zu erklären, daß sie keinen Augenblick auch nur den mindesten Einfluß auf mein Gemüth geübt haben. Meinen Instructionen gemäß habe ich die Schwankungen meines Urtheils über unsern christlichen Helden dargelegt, genau wie ich sie in meinem Tagebuche verzeichnet finde. Um gerecht gegen mich selbst zu sein darf ich hier wohl hinzufügen, daß mein begabter Freund, nachdem er einmal seinen früheren Platz in meiner Achtung wieder erworben hatte, denselben nie wieder verlor. Ich schreibe mit Thränen in den Augen, voll brennenden Verlangens, mehr zu sagen. Aber nein, —— ich bin ja grausamer Weise auf die Darstellung meiner wirklichen Erlebnisse mit Personen und Dingen beschränkt. In weniger als Monatsfrist nach der Zeit, über die ich jetzt schreibe, zwangen mich Ereignisse auf dem Geldmarkt, welche selbst mein elendes kleines Einkommen verminderten, ein Exil im Auslande aufzusuchen, und ließen mir nichts als eine zärtliche Erinnerung an Herrn Godfrey, den die Verleumdung der Welt vergebens anzugreifen gesucht hat. ——

Ich muß meine Thränen trocknen und zu meiner Erzählung zurückkehren.

Ich ging zum zweiten Frühstück mit dem natürlichen Verlangen hinunter, zu sehen, wie Rachel von der Aufhebung ihrer Verlobung beeindruckt sei.

Es schien mir —— aber ich gestehe, daß ich mich auf solche Dinge schlecht verstehe —— daß die Wiedererlangung der Freiheit ihre Gedanken wieder jenem andern Manne zugelenkt hatte, den sie liebte, und daß sie gegen sich selbst aufgebracht war, weil sie sich außer Stande sah, die Wiederkehr von Gefühlen niederzukämpfen, deren sie sich heimlich schämte. Wer war der Mann? Ich hatte meine Gedanken darüber, aber es war unnütz die Zeit mit müßigen Grübeleien zu vergeuden. Ich vertröstete mich auf die Zeit, wo ich sie bekehrt haben und wo sie selbstverständlich kein Geheimniß mehr vor mir haben würde. Ich würde dann alles über den Mondstein erfahren. Auch wenn ich keinen höheren Zweck bei der Entdeckung des Sinns für geistliche Dinge in ihr verfolgt hätte, so würde die Befreiung ihres Gemüths von ihren schuldvollen Geheimnissen an sich ein genügendes Motiv für mich gewesen sein, auf meinem Wege fortzuschreiten.

Tante Ablewhite machte sich am Nachmittag ihre gewöhnliche Bewegung in einem Rollstuhl Rachel begleitete sie.

»Ich wollte ich könnte den Stuhl schieben,« rief sie unglücklich aus. »Ich wollte ich könnte mich bis zum Umfallen ermüden!«

In derselben Laune war sie noch am Abend.

Ich entdeckte in einer der köstlichen Schriften meines Freundes —— »das Leben, die Briefe und die Arbeiten Miß Jane Ann Stamper’s, 45ste" Auflage« —— Stellen, welche sich wunderbar für Rachel’s gegenwärtige Situation eigneten. Auf meinen Vorschlag, dieselben zu lesen, ging sie an’s Clavier. Man begreift, wie wenig sie von dem Wesen ernsthafter Menschen gewußt haben muß, wenn sie glaubte, meine Geduld auf diese Weise erschöpfen zu können! Ich behielt Miß Jane Ann Stamper bei mir und wartete mit der unerschütterlichsten Zuversicht auf die Zukunft die Ereignisse ab.

Der alte Herr Ablewhite erschien an jenem Abend nicht mehr. Aber ich wußte, welche Wichtigkeit seine weltliche Habgier der Heirath seines Sohnes mit Fräulein Verinder beilegte und ich war fest überzeugt —— Herr Godfrey mochte thun was er wollte es zu verhindern —— daß wir den alten Herrn am nächsten Tage bei uns sehen würden. Seine Einmischung in die Angelegenheit würde unzweifelhaft den Sturm, auf den ich rechnete und die heilsame Erschöpfung von Rachel’s Widerstandskraft herbeiführen. Ich weiß ganz gut, daß der alte Herr Ablewhite allgemein und besonders bei seinen Untergebenen im Rufe großer Gutmüthigkeit steht. Nach meiner Erfahrung verdient er diesen Ruf soweit man ihm seinen Willen läßt und nicht länger.

Am nächsten Tage wurde Tante Ablewhite, genau wie ich es vorhergesehen hatte, durch das plötzliche Erscheinen ihres Gatten in einen Zustand versetzt, der dem Erstaunen so nahe kam, wie es ihre Natur zuließ. Er war kaum eine Minute im Hause gewesen, als ihm, dieses Mal zu meinem Erstaunen, die Veranlassung zu einer unerwarteten Verwicklung in Gestalt des« Herrn Bruff auf dem Fuße folgte.

Ich erinnere mich nicht, durch die Gegenwart des Advokaten je so unangenehm berührt gewesen zu sein, wie in jenem Augenblick. Er sah aus, als ob er, völlig kampfbereit, vor keinem Hinderniß zurückschrecken würde.

»Eine sehr angenehme Ueberraschung, Herr Bruff,« sagte Herr Ablewhite, indem er sich mit seiner trügerischen Herzlichkeit an Herrn Bruff wandte. »Als ich gestern Ihr Bureau verließ, dachte ich nicht, daß ich heute die Ehre haben würde, Sie in Brighton zu sehen.«

»Ich habe unsere Unterhaltung noch einmal überdacht, nachdem Sie mich verlassen haben« erwiderte Herr Bruff, »und es fiel mir ein, daß ich Ihnen vielleicht bei dieser Gelegenheit von einigem Nutzen sein könnte. Ich konnte noch eben den Zug erreichen, fand aber den Wagen, in welchem Sie fuhren, nicht.«

Nachdem er diese Erklärung gegeben hatte, setzte er sich neben Rachel. Ich zog mich bescheiden in eine Ecke zurück, behielt aber Miß Jane Ann Stamper für vorkommende Fälle auf dem Schooß. Meine Tante saß am Fenster, sich, wie gewöhnlich, ruhig fächelnd. Herr Ablewhite stand in der Mitte des Zimmers mit seiner Glatze, die rosiger erschien, als ich sie früher gesehen und wandte sich in den zärtlichsten Ausdrücken an seine Nichte.

»Meine liebe Rachel,« sagte er, »ich habe sehr merkwürdige Dinge von Godfrey gehört und bin hergekommen, mich näher darüber zu erkundigen. Du hast Dein eigenes Wohnzimmer in diesem Hause, willst Du die Gefälligkeit haben, mich in dasselbe zu führen?«

Rachel rührte sich nicht. Ob sie entschlossen war eine Krisis herbeizuführen, oder ob sie eher pantomimischen Einflüsterung Herrn Bruff’s Gehör gab, ist mehr als ich sagen kann. Sie lehnte es ab den alten Herrn Ablewhite in ihr Wohnzimmer zu führen.

»Was Sie mir auch zu sagen wünschen,« antwortete sie, »können Sie hier, in der Gegenwart meiner Verwandten und —— dabei blickte sie auf Herrn Bruff —— »in der Gegenwart des vertrauten alten Freundes meiner Mutter sagen.«

»Ganz wie Du willst, liebes! Kind!« sagte der liebenswürdige Mr. Ablewhite. Er setzte sich. Die Uebrigen sahen ihn an als ob sie erwarteten, er werde nach 70 Jahren weltlicher Rücksichtnahme die Wahrheit sagen. Ich betrachtete seine Glatze, da ich bei andern Gelegenheiten beobachtet habe, daß seine wahre Gemüthsstimmung sich gerade an dieser Stelle zu verrathen pflegte.

»Vor einigen Wochen,« fuhr der alte Herr fort, »theilte mir mein Sohn mit, daß Fräulein Verinder ihm die Ehre erwiesen habe, sich mit ihm zu verloben. Ist es möglich, Rachel, daß er Deine Worte falsch oder zu sehr zu seinen Gunsten ausgelegt haben kann?«

»Ganz gewiß nichts« antwortete sie, »ich habe mich mit ihm verlobt.«

»Sehr offen geantwortet« sagte Herr Ablewhite, »und höchst befriedigend so weit. In Bezug auf das was vor einigen Wochen geschah, hat Godfrey sich nicht geirrt. Sein Irrthum muß daher offenbar in dem bestehen, was er mir gestern mitgetheilt hat. Jetzt wird es mir klar. Ihr Beiden habt mit einander einen Wortwechsel gehabt, wie er unter Verliebten vorkommt, und mein närrischer Sohn hat denselben für Ernst genommen. Ich hätte mich in seinem Alter besser auf dergleichen verstanden.«

Die gefallene Natur in Rachel —— die Mutter Eva so zu sagen —— begann sich bei diesen Worten zu regen.

»Bitte,« sagte sie, »Herr Ablewhite, lassen Sie uns einander nicht mißverstehen. Nichts einem Wortwechsel Aehnliches hat gestern zwischen Ihrem Sohn und mir stattgefunden. Wenn er Ihnen gesagt hat, daß ich ihm proponirt habe, unsere Verlobung wieder aufzulösen und daß er seinerseits sich einverstanden erklärt hat —— so hat er Ihnen die Wahrheit gesagt.«

Der Thermometer auf Herrn Ablewhites Glatze fing zu steigen an. Der Ausdruck seines Gesichts war liebenswürdiger als je, aber das Rosenroth auf seinem Kopf war schon um eine Nuance dunkler geworden!

»Komm’, komm’, liebes Kind!« sagte er in seinem beschwichtigendsten Tone, »sei nicht böse und sei nicht hart gegen den armen Godfrey! Er hat offenbar ein unglückliches Wort gesagt. Er war sein Lebelang unbeholfen, aber er meint es gut, Rachel, er meint es gut!«

»Herr Ablewhite, ich habe mich entweder sehr schlecht ausgedrückt, oder Sie mißverstehen mich absichtlich. Ein für allemal, es ist zwischen Ihrem Sohn und mir eine abgemachte Sache, daß wir für den Rest unsers Lebens Vetter und Cousine bleiben und nichts mehr. Ist das klar genug?«

Der Ton, in welchem sie diese Worte sprach, machte es selbst für den alten Herrn Ablewhite unmöglich, sie noch länger mißzuverstehen. Sein Thermometer stieg wiederum einen Grad, und seine Stimme hatte, als er wieder zu sprechen anfing, aufgehört das Organ eines für gutmüthig anerkannten Mannes zu sein.

»Ich muß Dich also dahin verstehen« sagte er, »daß Deine Verlobung aufgehoben ist.«

»Wenn ich bitten darf,« erwiderte Rachel.

»Ich habe es ferner als eine Thatsache zu betrachten, daß der Vorschlag, die Verlobung aufzuheben, von Dir ausgegangen ist«

»Der Vorschlag ging von mir aus« und fand, wie ich Ihnen sagte, die Zustimmung und Billigung Ihres Sohnes.«

Der Thermometer erreichte seinen höchsten Grad, das heißt das Rosenroth verwandelte sich plötzlich in Scharlach.

»Mein Sohn ist ein niedrig-gesinnter Hund!« schrie jetzt der wüthende alte Weltling »Als Genugthuung für mich, seinen Vater, nicht als Genugthuung für ihn, bitte ich Sie, Fräulein Verinder, mir zu sagen, welche Beschwerden Sie gegen Herrn Godfrey Ablewhite haben?«

Hier legte sich Herr Bruff zum ersten Male in’s Mittel.

»Sie sind nicht verpflichtet, diese Frage zu beantworten,« sagte er zu Rachel.

Sofort stürzte sich der alte Herr Ablewhite auf ihn.

»Vergessen Sie nicht, Herr Bruff,« sagte er, »daß Sie hier ein Gast sind, der sich selber eingeladen hat. Ihre Einmischung würde von besserer Wirkung gewesen sein, wenn Sie gewartet hätten, bis man dieselbe erbeten haben würde.«

Herr Bruff nahm keine Notiz von diesen Worten. Der glatte Firniß auf seinem verschmitzten alten Gesicht erlitt nie einen Bruch. Rachel dankte ihm für den Rath, den er ihr gegeben hatte, und wandte sich dann wieder gegen den alten Herrn Ablewhite mit einer Fassung in ihrem ganzen Wesen, die man in Rücksicht auf ihr Alter und ihr Geschlecht geradezu furchtbar finden mußte.

»Dieselbe Frage, die Sie eben an mich gerichtet haben, hat auch Ihr Sohn mir gethan,« sagte sie. »Ich hatte nur eine Antwort für ihn und habe auch nur eine Antwort für Sie. Ich habe ihm vorgeschlagen, uns gegenseitig unseres Wortes zu entbinden, weil ich mich durch Nachdenken überzeugt hatte, daß ich sowohl sein, wie mein Bestes fördern würde, wenn ich ein zu rasch gegebenes Versprechen zurücknähme und ihm die Freiheit seiner Wahl zurückgäbe.«

»Was hat mein Sohn gethan?« beharrte Herr Ablewhite. »Ich habe ein Recht, das zu erfahren! Was hat mein Sohn gethan?«

Sie beharrte ihrerseits ebenso eigensinnig bei dem einmal Gesagten.

»Ich habe Ihnen die einzige Erklärung gegeben, die ich Ihnen oder ihm zu geben für nothwendig halte,« antwortete sie.

»Mit andern Worten, es beliebt Ihnen, Fräulein Verinder, Ihr Spiel mit meinem Sohn zu treiben?«

Rachel schwieg einen Augenblick. Da ich dicht hinter ihr saß, vernahm ich, wie sie seufzte. Herr Bruff ergriff ihre Hand und drückte dieselbe. Sie erholte sich wieder und antwortete Herrn Ablewhite so kühn wie vorher.

»Ich habe mich schon schlimmeren Mißdeutungen als dieser ausgesetzt gesehen,« sagte sie, »und habe es ruhig ertragen. Die Zeit ist vorüber, wo man mich kränken konnte, wenn man mich eine alte Coquette nannte.«

Sie sprach diese Worte mit einer Bitterkeit des Tons, welche mich überzeugte, daß die scandalöse Mondstein-geschichte sich ihrem Gedächtniß wieder aufgedrängt haben mußte.

»Ich habe weiter nichts zu sagen,« fügte sie matt hinzu, gegen Niemanden im Zimmer gewandt, sondern von allen abgewandt, zu dem ihr zunächst befindlichen Fenster hinausblickend.

Herr Ablewhite sprang auf und stieß seinen Stuhl mit solcher Gewalt bei Seite, daß derselbe zu Boden fiel.

»Aber ich habe noch etwas zu sagen,« rief er aus, indem er mit der flachen Hand heftig auf den Tisch schlug. »Ich habe zu sagen, daß, wenn mein Sohn dieses Verfahren nicht als eine Insulte empfindet, ich thue es.«

Rachel stand auf und sah ihn mit überraschtem Staunen an.

»Insulte?« wiederholte sie. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Insulte!« wiederholte Herr Ablewhite. »Ich kenne den Grund, Fräulein Verinder, aus welchem Sie Ihr meinem Sohne gegebenes Versprechen gebrochen haben! Ich kenne ihn so gut, als ob Sie ihn ausdrücklich zugestanden hätten. Euer verfluchter Familienstolz insultirt jetzt Godfrey, wie er mich insultirte, als ich Deine Tante heirathete. Deine Familie —— Deine Bettlerfamilie —— kehrte ihr den Rücken, weil sie einen braven Mann heirathete, der sich selbst seine Stellung in der Gesellschaft und sein Vermögen erworben hat. Ich hatte keine Vorfahren. Ich stammte nicht von einer Bande gurgelabschneidender Schufte, die sich von Raub und Mord ernährten. Ich war nicht im Stande, die Zeit nachzuweisen, wo die Ablewhite’s kein Hemd auf dem Leibe hatten und ihren Namen nicht schreiben konnten. Ha! ha! ich war nicht gut genug für die Herncastle’s, als ich heirathete. Und jetzt ist mein Sohn nicht gut genug für Dich. Ich argwöhnte die Sache schon von Anfang an. Sie haben das Herncastle’sche Blut in Ihren Adern, mein verehrtes Fräulein. Ich habe die Sache von Anfang an vorausgesehen.«

»Ein sehr unwürdiger Verdacht,« bemerkte Herr Bruff. »Ich bin erstaunt, daß Sie den Muth haben, denselben auszusprechen.«

Bevor noch Herr Ablewhite Worte finden konnte, zu antworten, sprach Rachel in einem Tone geringschätzender Bitterkeit:

»Gewiß,« sagte sie, zu dem Advocaten gewandt, »ist es unter meiner Würde, darauf zu antworten. Wenn er solcher Gedanken fähig ist, so wollen wir ihn ungestört seinen Gedanken überlassen.«

Das Scharlach der Glatze des Herrn Ablewhite verwandelte steh nun in Purpur. Er schnappte nach Luft; seine Augen schweiften zwischen Rachel und Herrn Bruff mit dem Ausdruck einer wahnsinnigen Aufregung hin und her, in der er nicht zu wissen schien, wen von beiden er zuerst angreifen solle. Seine Frau, die bis zu diesem Augenblicke unbeweglich dagesessen und sich gefächelt hatte, fing an, sich zu beunruhigen und versuchte es, wiewohl ganz vergeblich, ihn zu beschwichtigen.

Ich hatte« während der ganzen Dauer dieser peinlichen Scene mehr als einmal den inneren Beruf gefühlt, mich mit einigen ernsten Worten in’s Mittel zu legen und hatte mich, einer christlichen englischen Frau sehr unwürdig, die nicht der gemeinen Klugheit, sondern dem sittlich Rechten Gehör geben soll, durch die Furcht vor den Folgen zurückhalten lassen. Bei dem Höhepunkt aber, den die Dinge jetzt erreicht hatten, erhob ich mich unbekümmert um alle Erwägungen reiner Zweckmäßigkeit. Wenn ich an die mögliche Zurückweisung meines bescheidenen Raths gedacht hätte, so würde ich vielleicht auch jetzt noch gezaudert haben. Aber für die betrübende Familienscene, deren Zeugin ich jetzt war, fand sich eine außerordentlich schöne und wunderbar zutreffende Stelle in der Correspondenz von Miß Jane Ann Stamper im 1001sten Brief über »Familienfrieden.« Ich erhob mich in meiner bescheidenen Ecke und öffnete mein köstliches Buch.

»Lieber Herr Ablewhite,« sagte ich, »ein Wort!«

In dem Augenblick, als ich durch mein Aufstehen die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf mich zog, war er ersichtlich im Begriff mir eine Grobheit zu sagen, aber meine schwesterliche Art ihn anzureden hielt ihn zurück. Er starrte mich in heidnischem Erstaunen an.

»Als einer wohlwollenden Freundin,« fuhr ich fort, »und als Einer, die seit langer Zeit gewohnt ist, Andere zu erwecken, zu überzeugen, vorzubereiten, zu erleuchten und zu stärken, gestatten Sie mir die verzeihlichste aller Freiheiten —— die Freiheit, Ihr Gemüth zu beruhigen.«

Er fing an, seine Fassung wieder zu gewinnen, er war im Begriff auszubrechen, und würde ohne Zweifel gegen jeden Andern seinen Gefühlen freien Lauf gelassen haben. Aber meine gewöhnlich so sanfte Stimme gebietet über einen wunderbar kräftigen Ton bei außerordentlichen Vorfällen. Bei dem gegenwärtigen Vorfall fühlte ich mich gebieterisch berufen, meine Stimme über die seinige zu erheben.

Ich hielt ihm mein kostbares Buch entgegen; ich wies nachdrücklich mit meinem Zeigefinger auf die offene Seite. »Nicht meine Worte!« rief ich heftig unterbrechend aus, »glauben Sie nicht, daß ich Ihre Aufmerksamkeit für meine geringen Worte in Anspruch nehme! Manna in der Wüste, Herr Ablewhite! Thau auf die versengte Erde! Worte des Trostes, Worte der Weisheit, Worte der Liebe —— die drei Mal gesegneten Worte von Miß Jane Ann Stamper!«

Hier wurde ich durch ein augenblickliches Hinderniß im Athmen zu einer Pause genöthigt. Bevor ich fortfahren konnte, schrie mir das Scheusal in Menschengestalt wüthend zu: »Miß Jane Ann Stamper soll ——!«

Es ist mir unmöglich, das furchtbare Wort niederzuschreiben, an dessen Stelle ich hier eine Lücke gelassen habe. Ich fuhr zusammen, als er es über die Lippen brachte; ich flog nach meiner kleinen Handtasche auf dem Nebentisch; ich schüttelte alle meine Tractate aus; ich ergriff ein speciell von Flüchen handelndes Tractätchen, das den Titel führt: »Still, um Gotteswillen!«; ich überreichte ihm dasselbe mit einem Ausdruck flehentlicher Bitte. Er riß es in Stücke und warf es mir über den Tisch wieder zu. Die Uebrigen erhoben sich bestürzt; in dem Gefühl der Ungewißheit über das, was folgen möchte. Ich setzte mich sofort wieder in meine Ecke. Bei einer ähnlichen Gelegenheit war Miß Jane Ann Stamper bei den Schultern gefaßt und aus dem Zimmer geschoben worden. Ich erwartete, von ihrem Geiste beseelt, eine Wiederholung ihres Märtyrerthums.

Aber nein —— es sollte nicht sein. Seine Frau war die nächste Person, an die er sich wandte.

»Wer —— wer —— wer,« sagte er vor Wuth stammelnd, »hat diese unverschämte Fanatikerin eingeladen? Du?«

Bevor Tante Ablewhite ein Wort erwidern konnte, antwortete Rachel für sie.

»Miß Clack ist hier,« sagte sie, »als mein Gast.«

Diese Worte übten eine eigenthümliche Wirkung auf Herrn Ablewhite. Sie verwandelten den rothglühenden Zorn des Mannes plötzlich in eiskalte Verachtung.

Es war klar für Jeden, daß Rachel etwas gesagt hatte, was ihn —— kurz und deutlich wie ihre Antwort gewesen war —— doch schließlich die Oberhand über sie gewinnen ließ.

»O,« sagte er, »Miß Clack ist hier als Ihr Gast in meinem Hause?«

Jetzt war die Reihe an Rachel, ihre Fassung zu verlieren. Sie wurde roth und ihre Augen glänzten vor Zorn. Sie wandte sich gegen den Advocaten und fragte, indem sie auf Herrn Ablewhite deutete, in geringschätzendem Tone: »Was meint er?«

Herr Bruff legte sich zum dritten Mal ins Mittel.

»Sie scheinen zu vergessen,« sagte er gegen Herrn Ablewhite gewandt, »daß Sie dieses Haus als Fräulein Verinder’s Vormund für dieselbe gemiethet haben.«

»Nicht so rasch!« unterbrach ihn Herr Ablewhite.

»Ich habe ein letztes Wort zu sagen, was ich schon früher würde ausgesprochen haben, wenn diese ——« er sah nach mir hinüber, zweifelhaft, mit welchem abscheulichen Namen er mich belegen solle —— »wenn diese schwatzhafte alte Jungfer uns nicht unterbrochen hätte. Ich erkläre Ihnen hiermit, Herr Bruff, daß, wenn mein Sohn nicht gut genug ist, Fräulein Verinders Gatte zu sein, ich nicht glauben kann, daß sein Vater gut genug ist, Fräulein Verinder’s Vormund zu sein. Verstehen Sie wohl, wenn ich bitten darf, daß ich die mir in Lady Verinders Testament angebotene Stellung ablehne. Dies Haus hat nothwendiger Weise in meinem Namen gemiethet werden müssen, wie es mir gefällt. Ich will Fräulein Verinder nicht drängen. Im Gegentheil, ich bitte sie, die Entfernung ihres Gastes und ihres Gepäcks ganz nach ihrer Convenienz zu bewerkstelligen.«

Er machte eine kleine Verbeugung und ging zum Zimmer hinaus.

Das war Herrn Ablewhite’s Rache an Rachel dafür, daß sie seinen Sohn nicht heirathen wollte!

In dem Augenblick, wo sich die Thür hinter ihnen schloß, äußerte sich Tante Ablewhite in einer für uns Alle wunderbar überraschenden Weise. Sie raffte sich energisch dazu auf, durch’s Zimmer zu gehen!

»Liebes Kind« sagte sie, indem sie Rachel’s Hand ergriff. »Ich müßte mich meines Mannes schämen, wenn ich nicht wüßte, daß nur sein Temperament mit Dir gesprochen hat und nicht er selbst. Du,« fuhr Tante Ablewhite zu mir in meiner Ecke gewandt mit einem andern Aufgebot von Energie fort, die sich dieses Mal nicht sowohl in ihren Gliedern als in ihren Blicken äußerte, »Du bist die boshafte Person, die ihn gereizt hat. ich hoffe weder Dich noch Deine Tractate je wiederzusehen.«

Sie ging wieder zu Rachel und küßte sie.

»Ich bitte Dich um Verzeihung, liebes Kind,« sagte sie, »im Namen meines Mannes. Was kann ich für Dich thun?«

Durch und durch verkehrt in allen Dingen, launenhaft und unvernünftig in allen Handlungen des Lebens, zerfloß Rachel in Thränen bei diesen Gemeinplätzen und erwiderte schweigend den Kuß ihrer Tante.

»Wenn Sie mir erlauben wollen, für Fräulein Verinder zu antworten,« sagte Herr Bruff, »darf ich Sie bitten, Mrs. Ablewhite, Penelope mit dem Shawl und dem Hut ihrer Herrin hinunterzuschicken. Lassen Sie uns zehn Minuten allein,« fügte er in einem leiseren Ton hinzu, »und Sie können sich darauf verlassen, daß ich die Sache zu Ihrer und Fräulein Rachel’s Befriedigung in Ordnung bringen werde.«

Das Vertrauen der Familie zu diesem Manne war merkwürdig. Ohne ein Wort weiter zu sagen, verließ Tante Ablewhite das Zimmer.

»Ach!« sagte Herr Bruff ihr nachsehend, »das Herncastle’sche Blut hat seine Fehler. Aber eine gute Erziehung hat doch ihren Werth.«

Nachdem er die rein weltliche Bemerkung gemacht, blickte er scharf nach meiner Ecke, als ob er erwartete, daß ich gehen werde; aber mein Interesse an Rachel —— ein unendlich viel höheres Interesse als das seinige —— fesselte mich an meinen Stuhl.

Herr Bruff gab seinen Versuch, mich von der Stelle zu bringen, auf, gerade wie er ihn damals bei Tante Verinder in Montague Square aufgegeben hatte. Er führte Rachel zu einem Stuhle am Fenster und sprach dort mit ihr.

»Mein liebes Fräuleins« sagte er, Herrn Ablewhite’s Benehmen hat sie natürlich choquirt und sehr überrascht. Wenn es der Mühe werth wäre, mit diesem Manne eine Frage zu erörtern, so würden wir ihm bald zeigen können, daß er nicht alles kann, was er will. Aber es ist nicht der Mühe werth. Sie hatten vollkommen Recht in dem, was Sie vorhin sagten: es ist unter unserer Würde, ihm darauf zu antworten.«

Er hielt inne und blickte sich nach meiner Ecke um. Ich saß dort ganz unbeweglich mit meinen Tractätchen im Arm und mit Miß Jane Ann Stamper auf meinem Schooß.

»Sie wissen,« fing er wieder an, indem er sich zu Rachel wandte, »daß es zu dem edlen Wesen Ihrer armen Mutter gehörte, an den sie umgebenden Leuten immer die guten und nie die schlechten Seiten herauszufinden. Sie ernannte ihren Schwager zum Vormund, weil sie an ihn glaubte und weil sie ihrer Schwester damit etwas Angenehmes zu erweisen dachte. Ich selbst hatte Herrn Ablewhite nie gut leiden können, und ich bewog Ihre Mutter, mich eine Clausel in das Testament aufnehmen zu lassen, vermöge deren ihre Executoren in gewissen Eventualitäten mit mir über die Ernennung eines andern Vormunds berathen sollten. Eine dieser Eventualitäten ist heute eingetreten, und ich befinde mich in der Lage, all dieses trockene Geschäftsdetail durch einen Auftrag meiner Frau, wie ich hoffen darf, in erwünschter Weise zu erledigen. Wollen Sie Mrs. Bruff die Ehre erweisen, ihr Gast zu sein? und wollen Sie unter meinem Dache verweilen und zu meiner Familie gehören, bis wir klugen Leute unsere Köpfe zusammengesteckt und festgestellt haben werden, was weiter geschehen soll?«

Bei diesen Worten erhob ich mich, um dazwischen zu treten.

Herr Bruff hatte genau das gethan, was ich gefürchtet hatte, als er Mrs. Ablewhite um Rachels Hut und Shawl bat. Bevor ich ein Wort einwenden konnte, hatte Rachel seine Einladung in den wärmsten Worten angenommen.

Wenn ich zugab, daß das so zwischen ihnen getroffene Arrangement zur Ausführung gebracht werde; wenn sie einmal die Schwelle von Herrn Bruffs Thür überschritt: so war es mit der Lieblingshoffnung meines Lebens, der Hoffnung mein Lieblingsschaf wieder zu der Heerde zurückzubringen, vorbei! Der bloße Gedanke an ein solches Unglück überwältigte mich. Ich warf die elenden Fesseln weltlicher Rücksichten bei Seite und sprach, wie es der Feuereifer der mich erfüllte, eingab:

»Halt!« sagte ich, »halt! Sie müssen mich hören, Herr Bruff! Sie sind nicht mit ihr verwandt, wie ich. Ich lade Sie ein —— ich fordere die Executoren auf, mich zum Vormund zu machen. Rachel, theuerste Rachel, ich biete Dir mein bescheidenes Hans; komm mit dem nächsten Zuge nach London, liebes Kind, und theile mein Haus mit mir!«

Herr Bruff erwiderte nichts. Rachel blickte mich mit einem grausamen Erstaunen an, das sie zu verbergen keinen Versuch machte.

»Sie sind sehr freundlich, Drusilla,« sagte sie; »ich hoffe Sie besuchen zu können, so oft ich nach London komme. Aber ich habe Herrn Bruff’s Einladung angenommen und ich glaube, es ist für jetzt das Beste, wenn ich unter Herrn Bruff’s Obhut bleibe.«

»O, sage das nicht!« erwiderte ich; ich kann mich nicht von Dir trennen, Rachel, ich kann mich nicht von Dir trennen.«

Ich versuchte es, sie in meine Arme zu schließen. Aber sie wich zurück. Mein Feuereifer hatte sich ihr nicht mitgetheilt; er beunruhigte sie nur.

»Offen gestanden« sagte sie, »scheint mir diese Aufregung hier sehr übel angebracht Ich verstehe sie nicht.«

»Und ich eben so wenig,« sagte Herr Bruff.

Ihre Härte, ihre gehässige, weltliche Härte empörte mich.

»Rachel, Rachel!« brach ich aus. »Bist Du noch nicht inne geworden, daß mein Herz sich danach sehnt, eine Christin aus Dir zu machen? Hat keine innere Stimme Dir gesagt, daß ich für Dich zu thun versuche, was ich eben für Deine theure Mutter zu thun versuchte, als der Tod sie meinen Händen entriß?«

Rachel trat einen Schritt näher und sah mich sehr sonderbar an.

»Ich verstehe Ihre Beziehung auf meine Mutter nicht,« sagte sie. »Miß Clack, wollen Sie die Güte haben, sich zu erklären?«

Noch bevor ich antworten konnte, trat Herr Bruff heran und versuchte, indem er Rachel seinen Arm bot, sie aus dem Zimmer zu führen.

»Sie thäten besser, mein liebes Kind, diesen Gegenstand nicht weiter zu verfolgen,« sagte er; »und Miß Clack thäte besser, sich nicht näher zu erklären.«

Wäre ich ein Stock oder ein Stein gewesen, so hätte doch eine solche Einmischung mich aufreizen müssen, für die Wahrheit zu zeugen. Empört schob ich Herrn Bruff mit eigener Hand bei Seite und legte in feierlicher und angemessener Sprache die Anschauung dar, in welcher eine gesunde Lehre kein Bedenken trägt, dem furchtbaren Unglück eines unvorbereiteten Todes in’s Auge zu sehen.

Rachel fuhr —— ich erröthe, es niederschreiben zu müssen —— mit einem Schrei des Entsetzens zurück.

»Kommen Sie!« rief sie Herrn Bruff zu, »kommen Sie um Gotteswillen, bevor das Weib noch mehr sagen kann! O, denken Sie an das harmlose, nützliche, schöne Leben meiner armen Mutter! Sie haben dem Leichenbegräbnisse beigewohnt, Herr Bruff; Sie haben gesehen, wie Jedermann sie liebte; Sie haben gesehen, wie die Armen an ihrem Grabe über den Verlust ihrer besten Freundin weinten. Und diese elende Person steht hier und will Zweifel in mir daran erwecken, daß meine Mutter die ein Engel auf Erden war, jetzt ein Engel im Himmel ist! Verlieren Sie kein Wort darüber! Kommen Sie! Es erstickt mich, dieselbe Luft mit ihr zu athmen! Es ist mir ein schrecklicher Gedanke, mich in demselben Zimmer mit ihr zu befinden!«

Taub gegen alle Vorstellungen eilte sie der Thür zu.

In demselben Augenblick trat ihre Kammerjungfer mit ihrem Hut und Shawl herein. Sie warf dieselben rasch über und sagte: »Pack’ meine Sachen und bringe sie nach Herrn Bruff’s Haus.« Ich versuchte es, mich ihr zu nähern —— ich war entrüstet und schwer gekränkt, aber ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, nicht beleidigt. ich wünschte ihr nur zu sagen: »Möge sich Dein hartes Herz erweichen! Ich vergebe Dir gern!« Sie zog ihren Schleier über’s Gesicht, entriß ihren Shawl meinen Händen, eilte zur Thür hinaus und warf mir dieselbe vor der Nase zu. Ich ertrug diese Insulte mit meiner gewohnten Seelenstärke. Ich erinnere mich dessen jetzt mit meiner gewohnten Erhabenheit über alle Empfindungen der Beleidigung.

Herr Bruff hatte zum Abschied noch ein höhnendes Wort für mich, bevor auch er zur Thür hinauseilte.

»Sie hätten besser gethan, sich nicht näher zu erklären!« sagte er, verneigte sich und verließ das Zimmer.

Die Person mit den Mützenbändern folgte: »Es ist nicht schwer zu sehen,« sagte sie. »wer sie Alle gegen einander gehetzt hat. Ich bin nur eine arme Dienerin, aber ich schäme mich in Ihre Seele!« Damit ging auch sie hinaus und schlug die Thür hinter sich zu.

Ich blieb allein im Zimmer zurück. Von ihnen Allen verworfen, von ihnen Allen verlassen, blieb ich allein im Zimmer zurück.

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Brauche ich dieser einfachen Darlegung von Thatsachen noch etwas hinzuzufügen, diesem rührenden Gemälde einer von der Welt verfolgten Christin? Nein! Mein Tagebuch erinnert mich, daß hier abermals eines der vielen bunten Capitel meines Lebens endet. Seit jenem Tage habe ich Rachel Verinder nicht wieder gesehen. Ich verzieh ihr in dem Augenblick, wo sie mich insultirte. Ich habe seitdem immer für sie gebetet. Und wenn ich sterbe, werde ich ihr, um das Maß meiner Vergeltung von Bösem mit Gutem voll zu machen, »das Leben, die Briefe und die Arbeiten von Miß Jane Ann Stamper« in meinem Testament vermachen.


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