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Namenlos



Siebentes Capitel.

Den Abend, wo Magdalene und Mrs. Wragge von ihrem Spaziergang in der Dunkelheit zurückkamen, hielt der Hauptmann noch ganz spät Magdalenem als sie eben nach oben gehen wollte, an und setzte sie von den Vorkommnissen des Tages in Kenntniß. Er sprach sich ferner dahin aus, daß seiner Meinung nach die Zeit gekommen sei, Mr. Noël Vanstone mit dem geringst denkbaren Verzug zu einer Erklärung zu bringen. Sie antwortete ihm einfach, sie verstände ihn wohl und würde thun, was er von ihr verlangte. Hauptmann Wragge ersuchte sie für diesen Fall, ihm den Gefallen zu thun, in seiner und Mr. Noël Vanstone's Gesellschaft den andern Morgen sieben Uhr früh einen Spaziergang zu machen.

—— Ich will mich fertig machen, versetzte sie. Gibt es noch etwas Anderes?

Es gab nichts weiter. Magdalene wünschte ihm eine gute Nacht und zog sich auf ihr Zimmer zurück.

Sie hatte dieselbe Abneigung, in des Hauptmanns Gesellschaft länger als gerade unumgänglich nöthig war, die drei Tage ihrer Einschließung im Hause über gezeigt.

Während dieser ganzen Zeit hatte sie, ohne Mrs. Wragges Gesellschaft im Mindesten überdrüssig zu bekommen, ruhig, sogar eifrig an der einzigen alles Andere bei Seite lassenden Beschäftigung Theil genommen. Sie, die sie in früheren Zeiten unter der Einförmigkeit des Lebens auf Combe-Raven geseufzt und gelitten hatte, nahm nun ohne Murren die Einförmigkeit ihres Lebens an Mrs. Wragge's Arbeitstisch hin. Sie, die sie in vergangenen Tagen schon den bloßen Anblick von Nadel und Zwirn verabscheut hatte, die sie noch nie bis jetzt ein selbstgefertigtes Kleidungsstück getragen hatte, mühte sich jetzt bei der Anfertigung von Mrs. Wragge's Kleid so eifrig ab, trug so geduldig Mrs. Wragge's Faseleien, als ob der einzige Gegenstand und Zweck ihres Daseins die glückliche Vollendung des einen Anzugs gewesen wäre. Es war ihr eben Alles und Jedes willkommen, auch die alltäglichen Schwierigkeiten, ein Kleid passend herzustellen, das kleine, unablässige Geschwätz des armen halbnärrischen Wesens, das auf ihren Beistand so stolz war und sich in ihrer Gesellschaft so glücklich fühlte: Alles war ihr willkommen, das ihr den Blick in die nächste Zukunft versperrte, in die Bestimmung, zu welcher sie sich selbst verurtheilt hatte. Dieses schwerverwundete Herz ward durch eine solche Kleinigkeit, als der Druck der rauhen freundschaftlichen Hand ihrer Gesellschafterin, besänftigt, dies Verzweifelte Gemüth wurde, wenn die Nacht sie von einander trennte, durch Mrs. Wragge's Kuß erfreut.

Die einsame Stellung des Hauptmanns im Hause wirkte keineswegs niederschlagend auf den allezeit leichtgemuthen und ruhigen Geist desselben. Anstatt böse zu sein über Magdalenens geflissentliches Meiden seiner Gesellschaft hatte er nur die Erfolge im Auge und freute sich höchlich derselben. Je mehr sie ihn um seines Weibes willen vernachlässigte, desto nützlicher machte sie sich als Mrs. Wragges selbst bestellte Wächterin. Er hatte mehr als einmal ernstlich im Willen gehabt, das Zugeständnis zurückzunehmen, das ihm abgezwungen worden war, und seine Frau auf seine eigene Verantwortung hin sich aus dem Wege zu schaffen, und hatte den Gedanken lediglich deßwegen aufgegeben, weil er entdeckte, daß Magdalenens Entschluß, Mrs. Wragge in ihrer Gesellschaft bei sich zu behalten, wirklich ein ernster war. So lange die Beiden beisammen waren, konnte er seine Hauptbesorgniß schlummern lassen. Sie blieben auf seinen eigenen Wunsch eingeschlossen, so lange er außer dem Hause war und was auch Mrs. Wragge immer anfangen möchte, Magdalene sollte nicht eher wieder öffnen, als bis er nach Hause käme. Diesen Abend genoß denn Hauptmann Wragge seine Cigarre mit Ruhe im Gemüthe und schlürfte seinen mit Wasser gemischten Brandy, in glücklicher Unkenntniß der Falle, welche ihm Mrs. Lecount für den Morgen in Bereitschaft hielt.

Pünktlich um sieben Uhr erschien Mr. Noël Vanstone. In dem Augenblicke, als er ins Zimmer trat, bemerkte Hauptmann Wragge eine Veränderung in Gesicht und Wesen seines Gastes.

— Aha, Etwas nicht in Ordnung! dachte der Hauptmann. Wir sind noch nicht fertig mit Mrs. Lecount.

—— Wie geht es Miss Bygrave diesen Morgen, frug Mr. Noël Vanstone. Doch hoffentlich wohl genug für unsern Morgenspaziergang.

Seine halb geschlossenen Augen, matt und wässerig in Folge des Morgenlichts und der Morgenluft, schauten heimlich suchend im Zimmer, und er änderte, als er diese höflichen Fragen stellte, fortwährend unruhig seinen Platz von einem Stuhle zum andern.

—— Meine Nichte befindet sich wohler, sie zieht sich eben für den Spaziergang an, erwiderte der Hauptmann, indem er seinen unruhigen kleinen Freund unausgesetzt beobachtete, während er sprach. —— Mr. Vanstone, setzte er plötzlich hinzu, ich bin ein gerader Engländer, entschuldigen Sie meine schlichte, derbe Art und Weise, mich auszusprechen. Sie kommen mir heute Morgen nicht so gemüthlich entgegen als gewöhnlich. Es ist etwas Zwang in Ihren Zügen! Ich traue Ihrer Haushälterin nicht über den Weg! Sir! —— Hat sie unsere Befürchtungen wahr gemacht? Hat sie versucht Ihr Gemüth gegen mich oder meine Nichte aufzuhetzen?

Wenn Mr. Noël Vanstone Mrs. Lecount's Weisung Folge geleistet und ihr kleines Stückchen Briefpapier zusammengefaltet in seiner Tasche behalten hätte, bis die Zeit kam, wo er es benutzen sollte, so würde Hauptmann Wragges absichtlich derbes Eindringen ihn vielleicht nicht unvorbereitet auf eine Antwort gefunden haben. Allein die Neugier hatte die Oberhand über ihn gewonnen, er hatte das Papierchen noch den Abend geöffnet und den Morgen wieder, und dies hatte sein Gemüth viel zu unruhig gemacht, als daß er im Besitz seiner gewöhnlichen Geistesgegenwart gewesen wäre. Er zögerte, und seine Antwort, als er endlich eine solche vorbringen konnte, begann mit einer Ausflucht.

Hauptmann Wragge gebot ihm Einhalt, ehe er noch seinen ersten Satz fertig hatte.

—— Verzeihen Sie, Sir, sagte der Hauptmann in seinem stolzesten Tone. Wenn Sie Geheimnisse zu bewahren haben, so haben Sie das nur einfach zu sagen, und ich bin fertig mit Ihnen. Ich dränge mich in Niemandes Geheimnisse. Zugleich, Mr. Vanstone, müssen Sie mir jedoch erlauben, Sie daran erinneren zu dürfen, daß ich mich gestern ohne allen Rückhalt Ihnen gegenüber eröffnet habe. Ich schenkte Ihnen mein vollstes und offenstes Vertrauen, Sir, und so hoch ich auch den Genuß Ihrer Gesellschaft schätze, so kann ich mich doch nicht dazu verstehen, Ihre Freundschaft anders als auf dem Fuße der Gleichheit zu genießen.

Er schlug seinen ungemein anständigen Frack auseinander und schaute seinen Gast mit männlichem, ordentlich tugendsamem Ernst an.

—— Ich will ja nicht beleidigen! rief Mr. Noël Vanstone kläglich. Warum unterbrechen Sie mich denn, Mr. Bygrave? Warum lassen Sie mich nicht ausreden? Ich will ja Niemand beleidigen!

—— Es liegt auch noch keine Beleidigung vor, Sir, sagte der Hauptmann, Sie haben ein treffliches Anrecht auf die Ausübung Ihrer Verschwiegenheit. Ich bin nicht beleidigt, ich beanspruche für mich nur denselben Vortheil, den ich Ihnen eingeräumt habe.

Er stand mit großer Würde auf und zog die Klingel.

—— Sagen Sie Miss Bygrave, sprach er zu dem eintretenden Mädchen, daß unser Spaziergang von heute früh bis zu einer andern Gelegenheit verschoben ist, und daß sie sich nicht die Treppe herunter bemühen möchte.

Dies strenge Verfahren hatte den gewünschten Erfolg. Mr. Noël Vanstone bat dringend erst noch um ein paar Worte unter vier Augen, ehe die Botschaft ausgerichtet würde. Hauptmann Wragge strenges Gesicht gab ein wenig nach. Er schickte das Dienstmädchen wieder hinunter und wartete, indem er wieder Platz nahm, mit ruhiger Zuversicht das Weitere ab. Indem er die Thunlichkeit, seines Gastes Schwäche zu behandeln, berechnete, hatte er einen großen Vortheil vor Mrs. Lecount voraus. Sein Urtheil war nicht durch geheime weibliche Eifersüchteleien irre geleitet, und er vermied den Fehler, in welchen die Haushälterin in ihrer Selbsttäuschung verfallen war, den Fehler, den Eindruck zu unterschätzen, den Magdalene an Noël Vanstone hervorgebracht hatte. Eine der irdischen Mächte, die keine ältere Frau im Stande ist zu ihrem richtigen Werthe abzuschätzen, wenn sie gegen sie in Bewegung gesetzt werden, ist der Zauber der Schönheit an einem Weibe, das jünger ist als Ersteres.

—— Sie sind so hastig, Mr. Bygrave, Sie wollen mir nicht Zeit lassen, Sie wollen nicht warten und hören, was ich zu sagen habe! schrie Mr. Noël Vanstone kläglich, als das Dienstmädchen die Thür der Wohnstube hinter sich zugemacht hatte.

—— Mein Familienfehler, Sir, das Blut der Bygraves. Entschuldigen Sie. Doch wir sind allein, wie Sie wünschten, ich bitte, erklären Sie sich weiter.

Da die Wahl vor ihn gestellt war, entweder Magdalenens Gesellschaft zu verlieren oder Mrs. Lecounts Vertrauen zu täuschen, und er auch nicht die leiseste Ahnung hatte von dem geheimen Hintergedanken der Haushälterin, dabei aber noch durch die unverwandt forschenden Augen des Hauptmann Wragge in die Enge getrieben wurde, so war Mt. Noël Vanstone bald mit seinem Entschluß fertig. Er schilderte verwirrt seine sonderbare Unterredung am Abend vorher mit Mrs. Lecount, holte das zusammengebrochene Papier aus der Tasche und legte es in die Hände des Hauptmannes.

In demselben Augenblicke, wo der Hauptmann das geheimnißvolle Billet sah, dämmerte sofort eine Ahnung der Wahrheit in seiner Seele auf. Er trat bei Seite ans Fenster, ehe er es öffnete. Die ersten Zeilen, welche seine Aufmerksamkeit fesselten, waren folgende:

Haben Sie die Güte, Mr. Noël, das Aeußere der jungen Dame, welche sich jetzt in Ihrer Gesellschaft befindet, mit der Personalbeschreibnng, welche weiter unten folgt und die mir von einem Freunde mitgetheilt worden ist, zu vergleichen. Sie sollen den Namen der geschilderten Person, den ich jetzt noch offen gelassen habe, wissen, sobald der Augenbeweis Sie gelehrt hat, was zu glauben Sie wohl bleiben lassen würden, wenn man Ihnen weiter Nichts böte, als das alleinige Zeugnis; von

Virginie Lecount

Das war für den Hauptmann genug. Ehe er ein Wort von der Schilderung selbst gelesen hatte, wußte er, was Mrs. Lecount gethan hatte, und fühlte sich tief beschämt durch den Gedanken, daß sein weiblicher Gegner ihn doch überlistet hatte.

Es war keine Zeit zum Ueberlegen, die ganze Verschwörung war mit unvermeidlichen! Schiffbruch bedroht. Der einzige Ausweg in der gegenwärtigen Lage Hauptmann Wragge's war, sofort auf die erste Eingebung seiner eigenen Kühnheit hin zu handeln. Zeile für Zeile las er weiter, und immer noch ließ ihn die allezeit schlagfertige Erfindungsgabe, welche ihn bis jetzt noch nie verlassen hatte, im Stiche. Er kam zu dem letzten Satze, den letzten Worten, welche die beiden kleinen Male auf dem Nacken Magdalenens erwähnten. Bei diesem Cardinalpunkte der Schilderung schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf, seine verschiedenfarbenen Augen blinzelten, seine gekräuselten Lippen zogen sich in den Mundwinkeln in die Höhe: Wragge war wieder er selber!

Er drehte sich plötzlich auf dem Absatze vom Fenster um und sah Mr. Noël Vanstone voll und gerade ins Gesicht mit der ruhig düsteren Ankündigung, als ob etwas Ernstes kommen sollte.

—— Bitte, Sir, wissen Sie vielleicht Etwas von Mrs. Lecounts Familie? frug er.

—— Eine achtbare Familie, sagte Mr. Noël Vanstone, das ist Alles, was ich weiß. Warum fragen Sie?

—— Ich wette für gewöhnlich nicht gern, fuhr der Hauptmann fort, aber bei dieser Gelegenheit will ich mit Ihnen wetten, um was Sie wollen, daß in der Familie der Haushälterin Wahnsinn erblich ist.

—— Wahnsinn!? wiederholte Mr. Noël Vanstone erstaunt.

—— Wahnsinn! wiederholte der Hauptmann, indem er ernst den Zeigefinger auf das Billet hielt. Ich sehe die Schlauheit des Irrsinns, den Argwohn des Irrsinns, die katzenartige Tücke des Irrsinns in jeder Zeile dieses traurigen Papieres. Das ist ein weit beunruhigenderer Grund, Sir, als ich je geahnt hätte, für das Betragen von Mrs. Lecount gegen meine Nichte. Es ist mir klar, daß Miss Bygrave irgend einer andern Dame, welche Ihre Haushälterin sehr beleidigt hat, und welche früher vielleicht zu einem Ausbruch von Wahnsinn bei Ihrer Haushälterin in Beziehung stand, ähnlich sieht, und nun in dem gestörten Sinn Ihrer Haushälterin mit jener verwechselt wird. Das ist meine Ueberzeugung, Mr. Vanstone. Ich kann Recht, ich kann aber auch Unrecht haben. Alles, was ich sage, ist dieses: weder Sie, noch irgend Jemand kann der Abfassung dieser unbegreiflichen Urkunde einen vernünftigen Grund unterlegen, eben sowenig dem Gebrauche, welchen Sie davon machen sollen.

—— Ich halte die Lecount nicht für verrückt, sagte Mr. Noël Vanstone mit einem sehr verwirrten Blicke und sehr verlegenem Wesen. Es hätte mir nicht entgehen können, bei meiner Beobachtungsgabe zumal, es konnte mir unmöglich entgehen, wenn die Lecount verrückt gewesen wäre.

—— Sehr gut, lieber Herr, meiner Meinung nach ist sie die Beute einer wahnsinnigen Täuschung. Ihrer Meinung nach ist sie im Besitze ihres Verstandes und hat irgend einen räthselhaften Beweggrund, welchen weder Sie noch ich zu ergründen vermögen. Auf jeden Fall kann es nicht schaden, Mrs. Lecount's Beschreibung auf die Probe zustellen, nicht nur zur Befriedigung der Neugier, sondern zu unserer eigenen beiderseitigen Beruhigung. Es ist selbst verständlich unmöglich, meiner Nichte zu sagen, daß sie einer solchen albernen Probe unterworfen werden soll, wie jenes ihr Billet uns zumuthet. Aber Sie können Ihre eigenen Augen brauchen, Mr. Vanstone; Sie können selber urtheilen und, ob nun verrückt oder nicht verrückt: Sie können wenigstens Ihrer Haushälterin auf das Zeugnis; Ihrer eigenen Sinne hin sagen, daß sie falsch berichtet ist. Lassen Sie mich noch einmal die Beschreibung ansehen. Der größte Theil derselben ist behufs der Feststellung einer Persönlichkeit nicht einen Schuß Pulver Werth. Hunderte von jungen Damen haben hohen Wuchs, schöne Gesichtsfarbe, hellbraunes Haar und hellgraue Augen. Sie werden andererseits sagen, hundert junge Damen haben nicht zwei kleine Male dicht nebeneinander aus der linken Seite des Nackens Vollkommen richtig. Die Male verschaffen uns, was wir Männer der Wissenschaft einen Beweis ad oculos nennen. Wenn meine Nichte die Treppe herunterkommt, so haben Sie meine volle Erlaubniß, sich die Freiheit zu nehmen und deren Nacken zu beschauen.

Mr Noël Vanstone drückte seinen allerhöchsten Beifall über den Beweis ad oculos durch das erste Lächeln und Schmunzeln aus, das er diesen Morgen sehen ließ.

—— Deren Nacken zu beschauen, wiederholte der Hauptmann, indem er das Billet seinem Gast wieder einhändigte und dann zur Thür ging.

—— Ich will selbst hinausgehen, Mr. Vanstone, fuhr er fort, und einmal nachsehen, wie es mit dem Promenadenanzuge von Miß Bygrave steht. Wenn sie unbewußt Ihnen einige Hindernisse in den Weg gelegt hat, wenn ihr Haar etwas zu weit herunter geht, oder ihre Krause ein wenig zu hoch ist, so will ich unter dem ersten besten unverdächtigen Vorwande, den ich ersinnen kann, mein Ansehen anwenden, um diese Hindernisse zu beseitigen. Alles, was ich bitte, ist, daß Sie sich Ihre Gelegenheit mit Takt und Zartheit ersehen und daß Sie meine Nichte nicht auf den Gedanken bringen, daß ihr Nacken für einen Herrn Gegenstand der Betrachtung geworden ist.

Im Augenblick, wo er aus dem Zimmer war, flog er in höchster Eile die Treppe hinan und pochte an Magdlenens Thüre. Sie öffnete in ihrem Ausgeheanzuge, fix und fertig auf das zwischen ihnen verabredete Zeichen, welches sie herunter rufen sollte.

—— Was haben Sie mit Ihren Schminken und Pulvern angefangen? frug der Hauptmann, ohne ein Wort zur Einleitung und Aufklärung zu verlieren. Sie waren nicht in dem Koffer mit Costümen, den ich für Sie zu Birmingham verkaufte. Wo sind sie?

—— Ich habe sie hier, erwiderte Magdalene. Was haben Sie denn vor, daß Sie jetzt darnach begehren?

—— Bringen Sie selbige sogleich in mein Ankleidezimmer, die ganze Sammlung, die Pinsel, Palette und Alles. Verlieren Sie keine Zeit mit Fragen. Ich will Ihnen erzählen, was vorgefallen ist, während wir uns zurecht machen. Jeder Augenblick ist kostbar für uns. Folgen Sie mir augenblicklich!

Sein Gesicht zeigte offen, daß ein ernster Grund zu einem so seltsamen Begehren vorlag. Magdalene nahm ihre Sammlung von Schönheitsmitteln und ging ihm in das Ankleidezimmer nach. Er schloß die Thür zu, ließ sie sich auf einen Stuhl dicht am Fenster setzen und erzählte ihr dann, was vorgefallen sei.

—— Wir stehen am Rande der Gefahr, entdeckt zu werden, fuhr der Hauptmann fort, indem er sorgfältig seine Farben mit flüssigem Leim und einem starken Trockenleim, den er aus einer Flasche, die ihm selbst gehörte, hinzuthat, mischte. Es ist nur ein Ausweg für uns, (binden Sie Ihr Haar auf der linken Seite Ihres Nackens in die Höhe!) —— ich habe Mr. Noël Vanstone gesagt, er solle sich insgeheim die Gelegenheit ersehen, Sie zu betrachten, und ich bin eben dabei, Mrs. Lecount geradezu Lügen zu strafen, indem ich Ihre Male übermale, durch Farbe verdecke.

—— Sie können nicht übermalt werden, bemerkte Magdalene, keine Farbe wird darauf haften.

—— Meine Farbe wird es, bemerkte Hauptmann Wragge Ich habe nachgerade in meinem Leben verschiedene Berufsarten durchgemacht, darunter den Beruf des Schminkens. Haben Sie nie von dergleichen wie ein »blaues Auge« gehört? Ich lebte einmal mehrere Monate in der Nähe von Drury-Lane ganz und gar von blauen Augen [Black-eyes, wörtlich Schwwarz-Augen, heißen im Englischen die Boxer, welche oft ihrer Gladiatorenkünste durch braun und blaue Flecke auf Gesicht und Gliedmaßen an sich tragen. Wir sprechen in diesem Falle von blauen Augen, wo der Engländer die Bezeichnung schwarze Augen hat. W.] Meine Fleischfarbe stand auf Beulen von aller Art, allen Schattierungen und Größen, und sie wird, das verspreche ich Ihnen, auch auf Ihren Malen stehen.

Mit dieser Versicherung tauchte der Hauptmann seinen Pinsel in eine kleine Masse Deckfarbe, welche er in einem Näpfchen gemischt und, so genau es der Stoff gestattete, bis zu der Färbung von Magdalenes Haut erhöht hatte. Nachdem er erst mit einem Battisttuch und etwas weißem Pulver über den Theil des Nackens, auf den er es abgesehen hatte, gefahren war, brachte er auf die Male mit der Spitze des Pinsels zwei Farbenklexe. Das Ganze war in wenigen Minuten vollbracht, und die Male waren wie durch Hexerei verschwunden. Nur eine Untersuchung aus der größten Nähe hätte den Kunstgriff entdecken können, durch den sie verdeckt waren; in einer Entfernung von zwei bis drei Fuß war derselbe nicht herauszubekommen.

—— Warten Sie hier fünf Minuten, sagte der Hauptmann, um die Farbe trocken werden zu lassen, und kommen Sie dann zu uns in das Wohnzimmer. Mr. Lecount selbst wäre in Verlegenheit, wenn sie Sie jetzt sähe.

—— Bleiben Sie noch! sagte Magdalene. Es ist noch Etwas, was Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt haben. Wie kam Mrs. Lecount zu der Beschreibung, die Sie unten gelesen haben? Was sie auch sonst von mir gesehen hat, das Kennzeichen auf meinem Nacken sah sie nicht, es ist zu weit hinten und oben, mein Haar verbirgt es.

—— Wer weiß von diesem Kennzeichen? frug Hauptmann Wragge.

Sie wurde todtenbleich unter dem Schmerz einer plötzlichen Erinnerung an Frank. ——

—— Meine Schwester kennt es, sprach sie schwach.

—— Mrs. Lecount hat vielleicht an Ihre Schwester geschrieben, vermuthete der Hauptmann.

—— Glauben Sie, meine Schwester würde einer Fremden sagen, was eine fremde Person nicht berechtigt ist zu erfahren? Nimmermehr, nimmermehr!

—— Gibt es niemand Anderes, der es Mrs. Lecount sagen konnte? Das Kennzeichen war in den Handplacaten zu York erwähnt. Wer brachte es dahinein?

—— Nicht Nora! Vielleicht Mr. Pendril. Vielleicht Miss Garth.

—— Dann hat Mrs. Lecount an Mr. Pendril oder Miss Garth, noch wahrscheinlicher an Miss Garth geschrieben. Die Gouvernante war vielleicht noch zugänglicher, als der Rechtsanwalt.

—— Was kann sie Miss Garth gesagt haben?

Hauptmann Wragge dachte ein wenig nach.

—— Ich kann nicht sagen, was Mrs. Lecount geschrieben haben wird, sprach er, aber ich kann Ihnen sagen, was ich an Stelle der Mrs. Lecount geschrieben haben würde. Ich würde fürs Erste Miss Garth durch falsche Berichte über Sie erschreckt haben, dann hätte ich nach Einzelheiten über Ihr Aeußeres gefragt, damit eine wohlmeinende fremde Person Sie wieder zu Ihren Freunden zurückführen könnte.

Zornesblitze flammten augenblicklich in Magdalenens Augen auf.

—— Was Sie gethan haben würden, ist Das, was Mrs. Lecount wirklich gethan hat, sagte sie unwillig. Kein Mensch in der Welt, sei es ein Anwalt oder eine Gouvernante, soll mir das Recht streitig machen, meinen eignen Willen zu haben und meinen eigenen Weg zu gehen! Wenn Miss Garth denkt, sie kann meine Handlungen durch einen Briefwechsel mit Mrs. Lecount beherrschen und lenken, so will ich Miss Garth zeigen, daß sie in einem argen Irrthum ist! Wahrlich, es ist hohe Zeit, Haupmann Wragge, daß diese leidigen Gefahren der Entdeckung mit einem Male beseitigt werden. Wir wollen eher, als es Mrs. Lecount oder Miss Garth ahnen, den kürzesten Weg einschlagen, der zum Ziele führt. Wie lange Zeit können Sie mir geben, um einen Heirathsantrag aus dem Geschöpf da eine Treppe tiefer herauszubringen?

—— Ich wage nicht Ihnen lange Zeit zu lassen, versetzte Hauptmann Wragge. Jetzt da Ihre Freunde wissen, wo Sie sind, können sie uns über Nacht auf den Hals kommen. Können Sie es in einer Woche fertig bringen?

—— Ich will es in der Hälfte dieser Frist, sagte sie mit einem harten, verächtlichen Lachen. Lassen Sie uns diesen Morgen beisammen, wie Sie uns zu Dunwich allein ließen, und nehmen Sie Mrs. Wragge mit als Mittel und Vorwand, die Gesellschaft in zwei Partien zu theilen. Ist die Farbe jetzt trocken? Gehen Sie hinunter und sagen Sie ihm, daß ich unverzüglich erscheinen werde.

So Verfehlten zum zweiten Male Miss Garths wohlgemeinte Anstrengungen ihren Zweck. So verwandelte die Macht der Umstände die Hand, welche Magdalenen zurück halten wollte, in das Werkzeug, das sie vorwärts trieb!

Der Hauptmann kehrte zu seinem Gaste in das Wohnzimmer zurück, nachdem er erst unterwegs angehalten hatte, um Mrs. Wragge seine Weisungen für den Spaziergang zu geben.

—— Ich bedaure sehr, daß ich Sie habe warten lassen, sagte er, indem er sich zutraulich an Mr. Noël Vanstones Seite niederließ. Meine einzige Entschuldigung ist die, daß meine Nichte zufällig ihre Haare gerade so gemacht hatte, daß unser Zweck vereitelt wurde. Ich habe sie beredet, die Haartour zu ändern, und junge Damen sind ein wenig eigensinnig in allen Fragen, die ihre Toilette angehen. Geben Sie ihr einen Stuhl an jener Seite von Ihnen, sobald sie hereintritt, und richten Sie Ihren Blick in aller Bequemlichkeit auf ihren Nacken, bevor wir unsern Spaziergang antreten.

Magdalene trat in das Zimmer, als er diese Worte sprach und nahm, als die ersten Grüße gewechselt worden, den ihr gebotenen Stuhl mit der unbefangensten Bereitwiligkeit an. Mr. Noël Vanstone stellte die Kreuzprobe [The Crucian (Crucial) Test, von cross, das Kreuz, —— entscheidende Probe, das lateinische experimentum cruises, Ausdruck aus der Zeit der Gottesurtheile, der Feuerprobe. Die Angeklagten mußten baarfuß über rothglühecde Kreuze von Eisen schreiten, um ihre Unschuld zu beweisen. W.] auf der Stelle an, höchlichst erfreut über die schöne Materie, die der Gegenstand seiner Untersuchung war. Nicht die Spur eines Males war auf irgend einer Stelle der weichen, weißen Fläche von Miss Byhgrave's Nacken zu sehen. Derselbe antwortete ohne Worte, aber beredt auf die blinzelnden Forscherblicke der halbgeschlossenen Augen Mr. Noël Vanstone's mit dem grellsten Widerspruche zu Mrs. Lecounts Unterstellungen. Dieser eine Kernpunkt in den Vorkommnissen des Morgens war von allen Dingen, die bisher vorgefallen, das dem Erfolge nach Wichtigste. Jene eine Entdeckung erschütterte die feste Stellung der Haushälterin bei ihrem Herrn mehr, als irgend Etwas je zuvor.

In wenigen Minuten ließ sich auch Mrs. Wragge blicken und erregte in Mr. Noël Vanstones Seele so großes Erstaunen, als er eben außer dem alles Andere verdrängenden Vergnügen an Magdalenens Gesellschaft überhaupt noch empfinden konnte. Die Gesellschaft verließ alsbald das Haus und lenkte ihre Schritte nach Norden, um nicht vor den Fenstern der Villa Amsee vorüber zu müssen. Zu Mrs. Wragges unsäglichem Erstaunen bot ihr ihr Gatte zum ersten Male im Laufe ihres ehelichen Zusammenlebens höflich den Arm und führte sie den jungen Leuten voran, als wenn das Vorrecht, mit ihr allein zu gehen, ihm einen besonderen Genuß gewährte!

—— Schreite aus! flüsterte der Hauptmann heftig. Laß Deine Nichte und Mr. Vanstone allein! Wenn ich Dich auf einem Blick, den Du nach ihnen zurückwirfst, ertappe, so werde ich die orientalische Kaschmirrobe in der Küche ins Feuer werfen! Wende die Zehen auswärts und halte Schritt; wechsle, halte Schritt!

Mrs. Wragge hielt Schritt, so gut als sie es nur immer vermochte. Ihre mächtigen Kniee schlotterten unter ihr. Sie glaubte steif und fest, Hauptmann Wragge wäre betrunken.

Der Spaziergang dauerte etwas über eine Stunde. Vor neun Uhr waren sie Alle wieder in Nordsteinvilla zurück. Die Damen gingen gleich ins Haus. Wir. Noël Vanstone blieb mit Hauptmann Wragge im Garten.

—— Gut, sagte der Hauptmann, was denken Sie nun von Mrs. Lecount?

—— Zum Henker mit Mrs. Lecount! versetzte Mr. Noël Vanstone in großer Aufregung. Ich bin halb mit Ihnen einverstanden! Ich bin halb einverstanden, meine verteufelte Haushälterin für verrückt zu erklären.

Er sprach zornig und erbittert, als wäre ihm die bloße Anspielung auf Mrs. Lecount ein Gräuel. Seine Farbe kam und ging. Sein Benehmen war zerstreut und unsicher, er schlenderte unruhig im Gartenwege auf und ab. Es würde auch einem weit weniger klarsehenden Blicke als dem des Hauptmann Wragge offenbar gewesen sein, daß Magdalene seine Annäherungen mit unerwarteter Huld, Ermunterung und Entgegenkommen mußte aufgenommen haben, was seine Selbstbeherrschung über den Haufen geworfen hatte.

—— Ich habe nie in meinem Leben von einem Spaziergang soviel Genuß gehabt! rief er in plötzlicher Begeisterung aus. Ich hoffe, Miss Bygrave fühlt sich auch besser darnach. Gehen Sie morgen früh um dieselbe Zeit aus? Darf ich mich wieder anschließen?

—— Jedenfalls, Mr. Vanstone, sagte der Hauptmann mit Herzlichkeit. Entschuldigen Sie, wenn ich auf den Gegenstand noch einmal zurückkomme, aber was werden Sie zu Mrs. Lecount sagen?

—— Ich weiß es nicht. Die Lecount ist ein wahres Hauskreuz! Was würden Sie thun, Mr. Bygrave, wenn ie an meiner Stelle wären?

—— Erlauben Sie mir eine Frage zu stellen, lieber Herr, bevor ich es Ihnen sage. Welches ist Ihre Frühstücksstunde?

—— Halb zehn Uhr.

—— Steht Mrs. Lecount früh auf?

—— Die Lecount ist morgens etwas faul, ich hasse faule Weiber. Wenn Sie an meinem Platze wären, was würden Sie zu ihr sagen?

—— Ich würde Nichts zu ihr sagen, versetzte Hauptmann Wragge. Ich würde sofort auf dem Hinterweg zurückkehren, würde mich Mrs. Lecount in dem vorderen Gärtchen zeigen, als wenn ich vor dem Frühstück einen Gang gemacht hätte, und ließe sie nur denken, daß ich eben aus meinem Zimmer gekommen wäre. Wenn sie Sie fragt, ob Sie heute hierher gehen wollen, so sagen Sie: Nein. Machen Sie sich keine Unruhe, so lange nicht die Umstände Sie nöthigen, eine Antwort zu geben. Dann sagen Sie ihr die volle Wahrheit, sagen Sie, daß Mr. Bygraves Nichte und Mrs. Lecounts Beschreibung gerade in dem wichtigsten Punkte mit einander im Widersprüche sind, und bitten Sie sich aus, daß von dem Gegenstande nie wieder die Rede ist. Das ist mein Rath. Was halten Sie davon?

Wenn Mr. Noël Vanstone in seines Berathers Seele hätte sehen können, so würde er den Rath des Hauptmanns für trefflich geeignet gehalten haben, die Absichten des Hauptmanns zu fördern. So lange Mrs. Lecount im Dunkel gelassen werden konnte über die Besuche ihres Herrn auf Nordsteinvilla, so lange wartete sie wohl, bis sich Gelegenheit fand, mit ihrem Versuch herauszutreten, und so lange konnte man gewiß darauf rechnen, den Anschlag durch keine weiteren Maßregeln von ihrer Seite gefährdet zu sehen. Da Mr. Noël Vanstone aber natürlicherweise außer Stande war, den guten Rath des Hauptmann Wragge von diesem Gesichtspunkte aus zu beurtheilen, so betrachtete er denselben ganz einfach nur als ein ihm unter den Fuß gegebenes Mittel, um für den Augenblick einer Erklärung mit der Haushälterin aus dem Wege zu gehen. Er sagte eifrig, das ihm vorgeschlagene Verfahren wolle er buchstäblich verfolgen, un«d kehrte unverzüglich nach Vlla Amsee zurück.

Bei dieser Gelegenheit wurden die Vermuthungen des Hauptmann Wragge durch Mrs. Lecounts Verhalten in keinerlei art Lügen gestraft. Sie hatte keine Ahnung von dem Besuche ihres Herrn auf Nordsteinvilla, sie hatte sich nothgedrungen zufrieden gegeben, ruhig auf ein Zusammentreffen desselben mit Miss Bygrave bis Ende der Woche zu warten, und behelligte ihn daher nicht mit irgend welchen unverhofften Fragen, als er seine Absicht ankündigte, für heute Nichts mit den Bygraves zu thun haben zu wollen. Alles, was sie sagte, war:

—— Fühlen Sie sich nicht wohl genug, Mr. Noël? oder haben Sie keine Luft?

Er antwortete kurz:

—— Ich fühle mich nicht wohl genug.

Und damit war die Unterhaltung schon zu Ende.

Den nächsten Tag wurden die Handlungen des vorhergehenden Morgens genau ebenso wiederholt. Dies Mal ging Mr. Noël Vanstone ganz entzückt nach Hause, ein Andenken in seiner Brusttasche, er hatte sich zärtlich eines Handschuhes von Miss Bygrave bemächtigt. Den ganzen Tag über nahm er alle Augenblicke, wenn er allein war, den Handschuh heraus und küßte ihn mit einer Innbrunst, welche in ihrer Gluth fast leidenschaftlich zu nennen war. Der elende kleine Mensch schwelgte in diesen seinen verstohlenen glücklichen Augenblicken in einer sprachlosen und heimlichen Seligkeit, die ein ganz neues Gefühl für ihn war. Die wenigen jungen Mädchen, mit denen er in seines Vaters kleinem Kreise z Zürich zusammengekommen war, hatten ein liebloses Vergnügen darin gefunden, ihn als ein niedlich kleines Spielzeug zu behandeln. Den stärksten Eindruck, den er auf ihre Herzen machen konnte, war ein solcher, welchen er mit ihrem Schooßhunde zu theilen hatte. Das tiefste Interesse, das er in ihnen erwecken konnte, war nur eben so groß, als das, was ihnen ein neuer Putz oder ein neues Kleid erregte.

Die einzigen Frauen, die bis jetzt seine Bewunderung herausgefordert und seine Schmeicheleien ernstlich aufgenommen hatten, waren solche gewesen, deren Reize im Verblühen und deren Heirathsaussichten stark in der Abnahme waren. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er jetzt glückselige Stunden in der Gesellschaft eines schönen Mädchens verlebt, an welches er ohne eine einzige demüthigende Erinnerung, die ihn in seiner Selbstachtung herabsetzte, zurückdenken konnte.

So sorgfältig er sich auch zusammennahm, die Veränderung in seinem Blick und Wesen, welche durch das neu in ihm erweckte Gefühl hervorgebracht war, konnte Mrs. Lecount nimmer entgehen. Am zweiten Tage fragte sie ihn ausdrücklich, ob er nicht Anstalt getroffen habe, die Bygraves zu besuchen. Er verneinte es, wie früher.

—— Vielleicht gehen Sie morgen hin, Mr. Noël? frug die Haushälterin weiter und ließ sich nicht irre machen.

Er war nun mit seinen Ausflüchten zu Ende, er war ungeduldig, ihre Fragen endlich los zu werden, verließ sich aus seinen Freund in der Nordsteinvilla und dessen Beistand und antwortete Ja.

—— Wenn Sie die junge Dame sehen, ging Mrs. Lecount weiter, so vergessen Sie mein Papier nicht, Sir, welches Sie in Ihrer Westentasche haben.

Weiter wurde auf beiden Seiten Nichts gesprochen, aber mit derselben Abendpost schrieb die Haushälterin an Miss Garth. Der Brief bekannte sich lediglich zum dankbaren Empfang der Mittheilung von Miss Garth und benachrichtigte sie, daß sie, Mrs. Lecount, in wenig Tagen schon in der Lage zu sein hoffe, wieder zu schreiben und Mr. Pendril nach Aldborough zu rufen.

Spät am Abend, als es im Wohnzimmer auf Nordsteinvilla bereits ganz finster geworden war, und Hauptmann Wragge wie gewöhnlich nach Licht klingelte, war er überrascht, Magdalenens Stimme auf dem Gange zu hören, wie sie dem Dienstmädchen sagte, die Lichter wieder mit hinunter zu nehmen. Sie pochte einen Augenblick später an die Thür und schwebte in der Dunkelheit wie ein Geist ins Zimmer.

—— Ich habe eine Frage an Sie zu richten, wegen Ihrer Pläne für morgen, sagte sie. Meine Augen sind sehr schwach heute Abend, und ich hoffe, Sie werden Nichts dagegen haben, daß die Lichter noch ein paar Minuten wegbleiben.

Sie sprach in leisem, gedämpftem Tone und tastete sich geräuschlos nach einem Stuhle hin, der weitab vom Hauptmann in dem dunkelsten Theile des Zimmers stand. Da er selbst am Fenster saß, so konnte er nur eben noch die dunklen Umrisse ihres Kleides sehen und den schwachen Klang ihrer Stimme hören. In den letzten beiden Tagen hatte er Nichts von ihr gesehen, außer aus ihrem gemeinsamen Morgenspaziergange. Am Nachmittage hatte er seine Frau in der kleinen Hinterstube unten weinend gefunden. Sie konnte ihm nur sagen, daß Magdalene sie erschreckt habe, daß Magdalene wieder so werde, wie damals, als der Brief aus China kam, in der schrecklichen vergangenen Zeit auf der Vauxhallpromenade.

—— Ich habe bedauert von Mrs. Wragge hören zu müssen, daß Sie heute unwohl waren, sagte der Hauptmann, indem er unwillkürlich beim Sprechen seine Stimme beinahe bis zum Flüstern senkte.

—— Es hat Nichts zu sagen, antwortete sie ruhig aus dem Dunkel. Ich bin stark genug zu leiden und zu leben. Andere Mädchen an meiner Stelle wären glücklicher gewesen, sie würden gelitten haben und —— gestorben sein. Es hat nichts zu sagen, es wird ebenso sein nach hundert Jahren. —— Kommt er morgen früh wieder um sieben Uhr?

—— Er kommt wieder, wenn Sie Nichts dagegen haben?

—— Ich habe Nichts dagegen, ich habe mich drein ergeben. Aber ich würde es gern sehen, wenn es eine andere Stunde wäre. Ich sehe so früh am Tage nicht zu meinem Besten aus, ich habe schlimme Nächte und bin müde und wüst, wenn ich aufstehe. Schreiben Sie ihm ein paar Zeilen diesen Abend und sagen Sie ihm, er solle um zwölf Uhr kommen.

—— Zwölf ist doch etwas spät unter den obwaltenden Verhältnissen: Sie werden auf der Promenade gesehen werden.

—— Ich habe nicht die Absicht auszugehen. Lassen Sie ihn in das Wohnzimmer weisen....

Ihre Stimme erstarb, bevor sie den Satz vollenden konnte und verstummte.

—— Und...? sagte Hauptmann Wragge

—— Und lassen Sie mich in dem Zimmer allein, ihn zu empfangen.

—— Ach so! sagte der Hauptmann, ich verstehe. Ich will aus dem Wege gehen in das Speise-Zimmer, so lange er hier ist, und Sie können dann kommen und mit mir sprechen, wenn er fort ist.

Es trat wieder ein augenblickliches Schweigen ein.

—— Muß ich denn durchaus mit Ihnen sprechen? frug sie plötzlich. Ich bin ganz Herr meiner selbst, während er bei mir ist, aber ich kann nicht dafür stehen, was ich vielleicht nachher sage oder thue.

—— O nein, es geht noch auf andere Art, sagte der Hauptmann. Das ist z. B. gleich die erste, die mir einfällt. Lassen Sie den Vorhang über das Fenster Ihres Zimmers oben herunter, ehe er kommt. Ich will hinaus ans Meeresufer gehen und dort in Sicht des Hauses warten. Wenn ich ihn wieder herauskommen sehe, will ich nach dem Fenster sehen. Wenn er Nichts gesagt hat, lassen Sie den Vorhang unten. Wenn er Ihnen einen Antrag gemacht hat, dann ziehen Sie den Vorhang auf. Das Signal ist die Einfachheit selber, wir können einander nicht mißverstehen. Sehen Sie morgen so gut als möglich aus! Machen Sie es fest mit ihm, liebes Mädchen, machen Sie es fest, wenn es Ihnen möglich ist!

Er hatte laut genug gesprochen, um gewiß zu sein, daß sie ihn gehört hatte, aber kein Wort der Antwort kam von ihr. Das tiefe Schweigen wurde nur unterbrochen von dem Rauschen ihres Kleides, welches ihm sagte, daß sie von ihrem Stuhle ausgestanden sei. Ihr Schattenriß schwebte wieder durch das Zimmer, die Thür schloß sich leise, sie war fort. Er klingelte eilig nach Licht. Das Dienstmädchen fand ihn dicht beim Fenster stehend und weniger selbstbewußt aussehend als sonst. Er sagte ihm, daß er sich ein wenig unwohl im Magen fühle und ließ sich von ihm Brandy aus dem Schranke holen.

Wenige Minuten vor Zwölf den Tag daraus begab sich der Hauptmann auf seinen Beobachtungsposten hinweg, indem er sich hinter ein Fischerboot, das auf den Strand gezogen war, versteckte. Pünktlich mit dem Glockenschlag sah er Mr. Noël Vanstone auf Nordsteinvilla zuschreiten und das Gartenthor öffnen. Als die Hausthür sich hinter dem Besuche geschlossen hatte, setzte sich Hauptmann Wragge bequem zurecht neben das Boot und brannte sich seine Cigarre an.

Er rauchte eine halbe Stunde, dann noch zehn Minuten auf seiner Wacht. Er rauchte seine Cigarre bis auf den letzten Stummel aus, den er in seinen Lippen halten konnte. Gerade als er das Ende weggeworfen hatte, öffnete sich die Thür wieder, und Noël Vanstone trat heraus.

Der Hauptmann sah sofort nach Magdalenens Fenster hinauf. In der spannenden Aufregung des Augenblicks zählte er die Secunden. Sie konnte von dem Wohnzimmer bis zu ihrem eigenen Zimmer weniger als eine Minute brauchen. Er zählte bis dreißig, und Nichts zeigte sich. Er zählte bis fünfzig —— und Nichts zeigte sich. Er gab das Zählen auf und verließ ungeduldig das Boot, um nach Hause zurückzukehren.

Als er den ersten Schritt vorwärts that, sah er das Zeichen!

Der Vorhang war aufgezogen.——

Vorsichtig die Höhe des Ufers hinaufsteigend, sah Hauptmann Wragge nach Villa Amsee, ehe er sich auf der großen Promenade zeigte. Mr. Noël Vanstone hatte wieder sein Haus erreicht, er trat eben in die Hausthür.

—— Wenn man mir all Dein Geld böte, um in Deinen Schuhen zu stecken, sagte der Hauptmann und sah ihm nach: so reich Du bist, ich würde doch nicht tauschen.


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