Bauer Fairweather
Ich bin die letzte Überlebende, die vor Gericht als Zeuge erschien. Und wenn ich nicht alles, was ich erfahren habe, zu Papier bringe, werden nach meinem Tod keine Akten über die wahren Umstände mehr vorhanden sein.
In der Stadt Betminster, und ungefähr eine gute englische Meile drumherum, bin ich als Dame Roundwood bekannt. Ich habe nie geheiratet, und ich werde es auch nie. Meine einzige noch lebende Verwandte war in der Zeit, von der ich jetzt schreibe, meine Schwester – sie hatte einen Mann namens Morcom geheiratet. Er kam aus Frankreich und war Pferdezüchter. Ab und zu kam er geschäftlich nach England und ging dann wieder.
Mir missfiel Morcom so sehr, dass ich es ablehnte, bei der Hochzeit dabei zu sein. Dies führte natürlich zu einem Streit. Neffen und Nichten hätten mich vielleicht, wenn es welche gegeben hätte, mit meiner Schwester wieder versöhnen können. Doch so wie es war, schrieben wir einander nie, nachdem sie mit ihrem Mann nach Frankreich gegangen war. Und ich sah sie nie wieder, bis sie auf dem Totenbett lag. Soviel zum Anfang über mich.
Umstände, deren Erwähnung hier weder nötig noch angenehm ist, verursachten den Verlust meines Einkommens, als ich noch in der Blüte meines Lebens stand. Ich hatte keine andere Wahl, als das beste aus einem schlechten Handel zu machen und mein Brot als Dienstmädchen zu verdienen.
Nachdem ich mich mit guten Empfehlungen versorgt hatte, stellte ich mich bei Bauer Fairweather als Haushälterin vor. Soweit ich gehört hatte, war er ein wohlhabender Junggeselle, der sein Land fünf Meilen nördlich von Betminster bestellte. Aber auf mein Wort! Ich war nie in seinem Haus oder wechselte je ein Wort mit ihm bis zu dem Tag, an dem ich mich zur Farm aufmachte.
Die Tür wurde mir von einem sympathischen, kleinen Mädchen geöffnet. Ich bemerkte, dass sie ein sehr schönes Gesicht hatte und ihre Stimme eine für ihr Alter bemerkenswert kräftige war. Sie hatte, wie ich ebenso erwähnen sollte, die wundervollsten blauen Augen, die ich je in einem jugendlichen Gesicht gesehen habe. Wenn sie einen ansah, bemerkte man kaum einen leichten Silberblick in ihrem linken Auge und es war auch keine Verunstaltung im eigentlichen Sinne. Die einzige Schattenseite, die ich an dieser sonst angenehmen jungen Person finden konnte, war, dass sie einen sehr tückischen Blick hatte und dass sie niedergeschlagen schien.
Aber wie die meisten Leute war das Mädchen nur allzu bereit, von sich zu erzählen. Ich fand heraus, dass ihr Name Dina Coomb war und dass sie beide Eltern verloren hatte. Bauer Fairweather war ihr Vormund und Onkel und bewahrte ein Vermögen von 10.000 Pfund für sie auf, die sie erhalten sollte, wenn sie mündig wurde.
Was aus dem Geld werde, wenn sie vorher sterben sollte, konnte Dina mir nicht sagen. Die große Taschenuhr ihrer Mutter hatte sie laut Testament ihrer Mutter bereits bekommen. Sie schien in meinen Augen viel wert zu sein und es schmeichelte ihrer Eitelkeit, zu sehen, wie ich ihre große goldene Uhr bewunderte.
»Ich hoffe, Sie bleiben hier« sagte sie zu mir.
Diese Vorliebe gegenüber einer Fremden schien meiner Meinung nach recht plötzlich gefasst zu sein.
»Warum willst du, dass ich hier bleibe?« fragte ich.
Sie ließ ihren Kopf hängen und schwieg. Der Bauer kam von seinen Feldern zurück und ich ging mit ihm hinein, um übers Geschäft zu reden. Dabei bemerkte ich einigermaßen überrascht, dass Dina durch die eine Tür aus dem Zimmer schlüpfte, als ihr Onkel durch die andere hereinkam.
Er war mit meinen Empfehlungen zufrieden und bot mir höflich ein annehmbares Gehalt an. Überdies sah er in seinen Kleidern schnittig, und nicht wie andere Bauern schlampig, aus.
Ich war weit davon entfernt, ein Feind dieses armen Mannes zu sein, wie später fälschlicherweise behauptet wurde, und ich sagte freudig zu, meine Stelle auf dem Bauernhof am nächsten Tag um zwölf Uhr anzutreten.
Ein freundlicher Nachbar aus Betminster namens Master Gouch nahm mich in seinem Kabriolett mit. Pünktlich zur vereinbarten Zeit kamen wir an. Master Gouch blieb mit meiner Reisekiste zurück. Ich öffnete das Gartentor und drückte die Türklingel. Es kam keine Antwort. Ich hatte gerade nochmals geklingelt, als ich im Haus einen Schrei hörte. Dem Schrei folgten Worte, die ich als die von Dina Coomb erkannte.
»Oh, Onkel, töte mich nicht!«
Ich war vor Schreck wie gelähmt. Master Gouch, der den schrecklichen Schrei ebenfalls gehört hatte, sprang aus dem Wagen und untersuchte die Tür. Sie war nicht verschlossen. Gerade, als er über die Schwelle trat, stürzte der Bauer aus einem Raum in den Flur und fragte, was er hier wolle.
Mein lieber Nachbar antwortete: »Sir, Dame Roundwood ist zu einem mit Ihnen vereinbarten Termin zu Ihrem Haus gekommen.«
Darauf antwortete Bauer Fairweather, er hätte es sich anders überlegt und wolle nun ohne eine Haushälterin auskommen. Er sprach verärgert und griff an die Türklinke, um uns auszusperren. Aber bevor er dies schaffte, hörten wir aus dem Zimmer, das er gerade verlassen hatte, ein Stöhnen. Mein Nachbar sagte: »Ich fürchte, dort ist jemand verletzt.«
»Ist es Ihre Nichte, Sir?« fragte ich.
Der Bauer schlug uns die Tür vor der Nase zu und verschloss sie. Uns blieb nichts anderes übrig, als nach Betminster zurückzufahren.
In allen Dingen ein umsichtiger Mann, schlug Master Gouch vor, dass wir eine Weile warten sollten, bevor wir über das Geschehene sprechen, um vielleicht eine Erklärung oder Entschuldigung des Bauern zu hören, wenn er wieder bei Verstand war. Ich stimmte dem zu.
Aber ach! Ich bin eine Frau und zog eine Lady (eine vertraute Freundin) mit ins Vertrauen. Am nächsten Tag wusste es die ganze Stadt. Es wurden Ermittlungen angestellt; einige Feldarbeiter machten einige verdächtige Bemerkungen; der Bürgermeister und die Stadträte hörten davon. Als ich Bauer Fairweather das nächste Mal sah, war er des Mordes an seiner Nichte angeklagt und ich wurde zusammen mit Master Gouch und den Arbeitern als Zeuge geladen.
Die Winkelzüge des Gesetzes waren mir allesamt unbegreiflich. Ich kann nur berichten, dass Dina Coomb vermisst wurde und dass dies, zusammen mit dem, was Master Gouch und ich gesehen und gehört hatten, (wie die Anwälte sagten) im Fall gegen den Bauern sprach. Seine Verteidigung war, dass Dina ein böses Mädchen war. Er meinte, da er die Stellung ihres Vaters eingenommen hatte, sei es nötig, seine Nichte ab und zu mit einem Lederriemen zurechtzuweisen; und wir hätten ihn aufgebracht, als wir ins Haus kommen wollten, als Fremde nicht erwünscht waren und hätten seine Handlungen falsch verstehen können. Zum Verschwinden von Dina konnte er nur darauf schließen, dass sie weggelaufen war, doch wohin, wäre er nicht imstande gewesen, zu entdecken.
Dazu sagte das Gericht folgendes: »Sie haben Freunde, die Ihnen helfen und Sie sind reich genug, die Ausgaben einer gründlichen Suche zu bestreiten. Finden Sie Dina Coomb und bringen Sie sie hierher, um zu beweisen, was Sie gesagt haben. Wir werden Ihnen eine angemessene Frist dafür setzen. Machen Sie das beste daraus.«
Zehn Tage vergingen und wir, die Zeugen, wurden wieder zusammengerufen. Wie es herauskam, weiß ich nicht mehr. Jeder in Betminster sprach davon. Bauer Fairweathers Nichte war gefunden worden.
Das Mädchen erzählte ihre Geschichte und die Leute, die sie gefunden hatten, erzählten ihre Geschichte. Es war alles einfach und geradlinig und ich begann gerade, mich zu fragen, weswegen ich herbestellt worden war, als der Anwalt, der die Interessen des Bauern vertrat, aufstand und darum bat, die Zeugen sollten angewiesen werden, den Gerichtshof zu verlassen. Wir wurden unter der Aufsicht eines Beamten hinausgebracht und wurden vom Gericht hereingeholt, um jeder einzeln die Identität von Dina Coomb zu bestätigen.
Der Pastor von Bauer Fairweathers Pfarrkirche war der erste Zeuge, der hereingerufen wurde. Danach kamen die Arbeiter an die Reihe. Ich war die letzte, die hereingerufen wurde.
Nachdem ich vereidigt worden war und als das Mädchen und ich uns zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, schien meiner Aussage ein außergewöhnliches Interesse entgegengebracht zu werden. Wie es dazu kam, mich in Dinas Gesellschaft zu befinden und wieviel Zeit vergangen war, seit ich mit ihr gesprochen hatte, all diese Fragen beantwortete ich, wie ich sie bereits vor zehn Tagen beantwortet hatte.
Als eine Stimme mir Vorsicht gebot und mich aufforderte, mir Zeit zu lassen und eine andere sagte: »Ist das Dina Coomb?« war ich viel zu aufgeregt – ich mag sogar sagen, viel zu erschrocken, um meinen Kopf herumzudrehen und nachzusehen, wer zu mir sprach. Je länger ich das Mädchen anschaute, um so sicherer fühlte ich, dass ich nicht Dina Coomb anschaute.
Was konnte ich schon tun? Als eine ehrliche Frau, die eine eidesstattliche Aussage machte, war ich gezwungen, die Wahrheit zu sagen, was auch immer diese war. Der Stimme, die mich gefragt hatte, ob das Dina Coomb war, antwortete ich entschieden: »Nein.«
Meine Gründe, die ich dafür angab, waren zwei gewesen. Der erste: Beide Augen des Mädchens blickten so gerade wie sie nur blicken konnten, nicht einmal den Hauch eines Silberblicks konnte ich in ihrem linken Auge entdecken. Zweitens war sie im Gesicht fülliger als Dina, ebenso im Nacken und an den Armen sowie runder in den Schultern. Ich gestand ein, dass sie dieselbe Größe wie Dina hatte, dieselbe Hautfarbe und dieselbe schöne blaue Farbe in ihren Augen hatte, als mich der Anwalt danach fragte.
Aber ich blieb fest bei den Unterschieden, die ich bemerkt hatte – und man sagte, ich wandte das Urteil gegen den Angeklagten.
Wie ich später herausfand, hatten wir in unseren Aussagen nicht übereingestimmt. Die Arbeiter bestätigten die Identität. Der Pfarrer, der Dina hundertmal in der Schule gesehen hatte, sagte genau dasselbe wie ich. Es wurde nach anderen kompetenten Zeugen gesucht und am nächsten Tage gefunden. Ihre Aussagen bestätigten die unseren wieder und wieder. Bald darauf wurden die abscheulichen Eltern gefunden, die ihr Kind für den Betrug verkauft hatten und wurden später mit den Leuten, die das Geld gezahlt hatten, bestraft.
In die Enge getrieben gestand der Gefangene, dass er seine davongelaufene Nichte nicht hätte finden können und dass er aus Angst, verurteilt zu werden und am Schafott wegen Mordes zu sterben, diesen verzweifelten Versuch, sich durch Betrug des Gerichts freigesprochen zu bekommen, unternommen hatte. Sein Geständnis nützte ihm nichts. Seine ernstlichen Beteuerungen der Unschuld nützten ihm nichts; Bauer Fairweather wurde gehängt.
Mit der Zeit schwand die Erinnerung daran. Ich begann, eine alte Frau zu werden und an das Verfahren erinnerten sich nur noch ältere Leute wie ich, als ich einen Brief bekam, der sich auf meine Schwester bezog.
Er wurde für sie vom englischen Konsul in der französischen Stadt, in der sie lebte, geschrieben. Er teilte mir mit, dass sie seit einigen Jahren Witwe war und bat mich, schnellstens an ihr Bett zu kommen, wenn ich sie noch zu sehen wünschte, bevor sie starb.
Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie lebend anzutreffen. Sie konnte nicht mehr mit mir sprechen, aber Gott sei Dank verstand sie mich, als ich sie küsste und sie um Verzeihung bat. Gegen Abend schied die arme Seele aus dem Leben. Ihr Kopf ruhte an meiner Brust.
Der Konsul hatte aufgeschrieben, was sie mir sagen wollte. Ich überlasse den Personen, die dies lesen, das Urteil darüber, wie ich mich fühlte, als ich herausfand, dass mein Schwager der Schurke war, der Dina Coomb bei ihrer Flucht geholfen hatte und so einen unschuldigen Mann zum Tod am Schafott verurteilt hatte.
Auf einer der Geschäftsreisen nach England, von denen ich bereits sprach, hatte er ein kleines Mädchen, das verloren, barfuß und verschreckt unter einer Hecke am Rand der Highroad saß, getroffen und mit ihr gesprochen. Sie gestand, dass sie von zu Hause weggelaufen war, nachdem sie sehr hart verprügelt worden war. Sie zeigte ihm die Male. Ein anständiger Mann hätte sie der Obhut des nächsten Friedensrichters überlassen.
Mein armseliger Schwager aber bemerkte ihre wertvolle Uhr und ermutigte sie zu reden, da er vermutete, sie könnte mit reichen Leuten in Verbindung stehen. Als er seine Erwartungen bestätigt und er um den Nutzen wusste, aus diesen in ihrer hilflosen Situation Vorteil zu ziehen, bot er ihr an, sie zu adoptieren und sie mit sich nach Frankreich zu nehmen.
Meine Schwester, die kein eigenes Kind hatte, fasste zu Dina Zuneigung und glaubte bereitwillig, was ihr Mann ihr auch erzählte. Drei Jahre lang lebte das Mädchen bei ihnen. Sie kümmerte sich wenig um die gute Frau, die immer nett zu ihr war, aber sie hatte einen Narren an dem Verbrecher gefressen, der sie entführt hatte.
Nach seinem Tod wurde diese Person – fünfzehn Jahre alt – wieder vermisst. Sie hinterließ meiner Schwester einen Abschiedsbrief, in dem stand, dass sie einen anderen Freund gefunden hatte; und von da an hatte niemals jemand etwas von ihr gehört, jahrein, jahraus. Dies kam meiner Schwester in den Sinn und dies war es auch, was sie mir auf dem Sterbebett sagen wollte. Da sie nichts von der Verhandlung wusste, war sie sicher, dass Dina zur Nachbarschaft von Betminster gehörte und in ihrem Unwissen dachte sie, ich könnte mich mit Dinas Freunden in Verbindung setzen, falls es solche geben würde.
Bei meiner Rückkehr nach England sah ich es als meine Pflicht an, dem Bürgermeister von Betminster zu zeigen, was der Konsul für meine Schwester geschrieben hatte. Er las es und hörte mich an, was ich ihm zu sagen hatte. Darauf zählte er die Jahre, die seitdem vergangen waren und sagte: »Das Mädchen müsste jetzt mündig sein: Ich werde Nachforschungen in London anstellen lassen.«
Eine Woche später hörten wir von Dina Coomb. Mit einem französischen Mann auf den Fersen war sie in ihre Heimat zurückgekehrt, hatte ihr Erbe eingefordert und ihr Geld erhalten.
NACHWORT – Dieser schreckliche Justizirrtum geschah, bevor über die Prozesse in den Zeitungen berichtet wurde und führte zu einem wichtigen Ergebnis. Seit damals war es die erste und wichtigste Bedingung, um jemanden des Mordes anzuklagen, dass die ermordete Person gefunden und identifiziert wird.